Stichwort: Narrativ
Fabulieren – eine anerkannte Form der Meinungsbildung

Seit jeher werden Geschichten erzählt, die ein Publikum vereinnahmen und im Sinne des Urhebers der Erzählung zu irgendetwas bewegen wollen. Die mehr oder minder freischwebende Produktion von Geschichten ist etwas ziemlich Gewöhnliches, das so gut wie jeder hinkriegt, der mehrere gerade Sätze bilden kann. Seit einiger Zeit allerdings ist ein auf den ersten Blick überraschendes Interesse am Erzählen zu verzeichnen, nämlich aufseiten von Leuten, deren Beruf und Berufung in der politischen wie geistigen Lenkung und Leitung der Gesellschaft besteht, namentlich bei Politikern und Journalisten. Das Interesse richtet sich auf Geschichten, denen eine spezifische Wirksamkeit zugeschrieben wird. Der Name für die einschlägig produktive Kulturtechnik lautet Narrativ.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Gliederung

Stichwort: Narrativ
Fabulieren – eine anerkannte Form der Meinungsbildung

Seit jeher werden Geschichten erzählt, die ein Publikum vereinnahmen und im Sinne des Urhebers der Erzählung zu irgendetwas bewegen wollen. Die mehr oder minder freischwebende Produktion von Geschichten ist etwas ziemlich Gewöhnliches, das so gut wie jeder hinkriegt, der mehrere gerade Sätze bilden kann. Seit einiger Zeit allerdings ist ein auf den ersten Blick überraschendes Interesse am Erzählen zu verzeichnen, nämlich aufseiten von Leuten, deren Beruf und Berufung in der politischen wie geistigen Lenkung und Leitung der Gesellschaft besteht, namentlich bei Politikern und Journalisten. Das Interesse richtet sich auf Geschichten, denen eine spezifische Wirksamkeit zugeschrieben wird. Der Name für die einschlägig produktive Kulturtechnik lautet Narrativ.

1. Erzählen.2020 – die Zuschreibung einer fabelhaften Leistung

„Das ‚Narrativ‘ ist zu einem echten Modewort geworden: in Zeitungen, wissenschaftlichen Aufsätzen oder in der Politik. Alle Welt spricht nicht nur im Narrativ, also in einer erzählerischen Haltung, sondern auch vom Narrativ... Das Narrativ ist – so die allgemeine Definition – eine Sinn stiftende Erzählung, die für mehr als eine Person, nämlich eine soziokulturelle Gruppe, eine Familie, eine Religionsgemeinschaft, eine Partei, eine Nation Sinn erzeugt, Orientierung schafft und gewissermaßen eine Identifikationsmöglichkeit.“ („Fakten? Nebensache! In der Politik entscheidet das Narrativ“, br.de, 7.7.20)

Der zuständige Korrespondent des Bayerischen Rundfunks kann aus der Welt der politischen Kultur berichten, dass das „Modewort“ eine Art von Erzählung bezeichnet, die durch eine Leistung definiert ist. Diese besteht darin, dass die Erzählung einem Kollektiv einen Sinn stiftet. Sie erklärt den Mitgliedern, dass die jeweilige Gemeinschaft für die Vergemeinschafteten gut bis unentbehrlich ist, indem sie ihnen ein alle einbeziehendes Wozu und darin eine Gemeinsamkeit aller Mitglieder anbietet, und zwar eine wichtige: einen geistigen Inhalt, an den sich alle von sich aus halten können; eine in der Geschichte vorstellig gemachte Botschaft, mit der sich alle in eins setzen können. Das Leistungsversprechen, das eine Erzählung als Narrativ auszeichnet, ist allerdings eine zwiespältige Angelegenheit. Einerseits soll die gemeinschaftliche Eigenschaft, welche die Mitglieder zum Kollektiv zusammenfasst, wirklich an ihnen vorhanden, soll die narrativ evident gemachte Identität kein Hirngespinst, sondern ihre Eigenart sein. Andererseits: Die angeführten Kollektive Familie, Religionsgemeinschaft, Partei und Nation haben von Haus aus eine jeweils bestimmte Ordnung und einen Zweck, der ihre inneren Beziehungen bestimmt und dort vorfindlich ist – von deren Inhalt ist in der freischwebenden Frage ‚Wer sind wir?‘, auf die das Narrativ die Antwort liefern soll, gerade abstrahiert. Durch diese Abstraktion ist der maßgebliche Inhalt des wirklichen Zusammenwirkens, sind dessen Gründe und Zwecke herabgesetzt zu äußerlichen Gegebenheiten, die nur den Schauplatz für das Stattfinden der ‚eigentlichen‘ Gemeinschaft und ‚höheren‘ Identität abgeben. Egal, wie sie beschaffen sind, vom Standpunkt des Narrativs aus gesehen repräsentieren sie wesentlich das Eine, nämlich die Lücke an Sinn, Orientierung und Identifikationsmöglichkeit, die das Narrativ schließen soll. Umgekehrt: Wenn eine Geschichte die Lücke schließt, dann gehen beide Seiten in Ordnung, der Sinn, in dem das Kollektiv sich entdeckt, und seine äußeren Umstände, die das Wir fortan als die seinen akzeptieren kann. Der Inhalt, der diese selbstzufriedene Einhelligkeit stiften soll, ist allerdings vollkommen unbestimmt, eine Leerstelle, die durch einen funktionell bestimmten Lückenbüßer gefüllt wird. Es ist nämlich allein die sinnstiftende Wirkung, die ein Narrativ als gültigen geistigen Inhalt identifiziert. Jede allgemeine Behauptung über die Eigentümlichkeit eines Kollektivs geht in Ordnung, wenn sie nur als Geschichte geglaubt wird; die ist so wahr, wie sie ein vorhandenes Kollektiv erfolgreich für sich einnimmt. Der Grundgedanke des Narrativs besteht in der radikalen Trennung der Geltung eines ideellen Gehalts, um die es ihm sehr zu tun ist, von dem Inhalt, der unterstellt, aber als unmaßgeblich eingestuft ist für das einzig Maßgebliche, die vereinnahmende Wirkung. Ein interessantes Wahrheitskriterium – die Gültigkeit eines geistigen Inhalts erweist sich an seiner praktischen Durchsetzung.

Dieser Instrumentalismus enthält ein Geständnis bezüglich des Interesses, das dem Narrativ zu seinem öffentlichen Status verholfen hat. An den Geschichten interessiert die ihnen zugeschriebene Produktivität für die Erzeugung von positiver Voreingenommenheit, was interessant insbesondere für solche Vergesellschaftungen ist, die ihre Ordnung der freien Willensbestimmung ihrer Mitglieder voraussetzen, aber Wert darauf legen, dass diese Unterordnung als höhere Entsprechung zur Selbstbestimmung aller aufgefasst wird. [1] In diesem Sinne gilt der Einsatz von Verstand und Vorstellungskraft zur Erzeugung moralischen Einverständnisses mit Verhältnissen, die diese Art von Selbstbetrug offenbar nötig haben, als eine ehrenwerte Anstrengung. [2]

Was Narrativ heißt, ist eine methodische Hinsicht auf Geschichten, diese auf ihr Potenzial beim Erzeugen oder auch Bekräftigen kollektiver moralischer Voreingenommenheit zu taxieren. Zu dieser überlegenen Perspektive gehört die Gewissheit, dass die erzählerische Sinnstiftung den Status der verbindlichen Wahrheit, den sie einem Kollektiv suggeriert, auf dasselbe beschränkt; und das Einverständnis damit, dass derselbe Inhalt, der für das sinnversorgte Wir wahr ist, für alle anderen nichts anderes sein muss als eine durchschaute strategische Fiktion – beides geht gleichermaßen in Ordnung. Unter dem Titel Narrativ pflegen die Interessenten an erfolgreicher Sinnstiftung, Orientierung etc. keine Selbsttäuschung über deren verlogenen Charakter, stattdessen das abgebrühte Bewusstsein, dass hier eben ein notwendiger Selbstbetrug der Gemeinschaft ausgeführt wird. Wenn die Bedienung des Bedarfs gelingt, hat die Lüge ihre Notwendigkeit erwiesen, Selbstbetrug ist kein Vorwurf mehr, und die strategische Fiktion erhält den Status einer im Geltungsbereich begrenzten, dem Inhalt nach aber gediegenen Wahrheit.

2. Je subjektiv, desto verbindlich

Die Interessenten am Gelingen von Narrativen kennen Bedingungen ihrer Wirksamkeit. An prominenter Stelle stehen zwei Kriterien, welche eine Erzählung erfüllen muss, um auf dem Erfolgsweg, der sie ist, voranzukommen: Plausibilität und Authentizität. Diese Kriterien spezifizieren, was die Wahrheit ist, die narrativ vermittelt werden soll, und sie konkretisieren das Wirkungsideal des Narrativs: Es kommt darauf an, die von der Geschichte sollizitierte freiwillige Zustimmung des Publikums immer unausweichlicher zu machen.

a) Das kritische Urteil der Plausibilität

gesteht einer Geschichte ohne Weiteres zu, dass sie aus der subjektiven Absicht eines Erfinders entsteht, der passende Umstände und Ereignisse auswählt oder auch fingiert und alles so arrangiert, dass seine Idee den Anschein eines stattgehabten Geschehens erhält. Das Kriterium der Plausibilität verlangt aber, dass die Geschichte nicht bloß ein durchsichtiges Konstrukt aus purer Absicht ist, sondern zugleich mehr. Das Mehr entsteht aus dem Erfüllen der Anforderung, dass in der suggestiven Anordnung der zur Erzählung kombinierten äußeren Umstände, Personen und Handlungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit stecken muss, sodass die Geschichte als ein Zusammenhang erscheint, der unabhängig von der Message immerhin möglich ist. Der Anschein, die materielle Repräsentation der Botschaft besitze eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Botschaft, soll dieser eine selbstständige Beglaubigung verschaffen. Als Maßstab für die Begutachtung, ob eine Geschichte mehr als das Konstrukt purer Absicht ist, kommt allerdings nur das vorhandene subjektive Weltbild des Rezipienten in Betracht: Für die Entscheidung, was an einer Geschichte denkbar ist und was nicht, muss er das Erzählte mit dem vergleichen, was er ohnehin schon denkt. Denkbar, insofern also möglich, ist alles, was im Vergleich zweier selbstbewusst ins Spiel gebrachter Vorurteile wechselweise Bestätigung erlangt. Insofern ist nicht ganz unwichtig, an wen die Story gerichtet ist – je nachdem muss das Moment von unabdingbarer Sachlichkeit geformt und dosiert werden. Weitere Vollmacht, als Objektivitätsersatz zu fungieren, erhält die Subjektivität der Rezipienten dadurch, dass Geschichten auch ein formelles Glaubwürdigkeitskriterium, nämlich das einer plausiblen, weil in ihrer immanenten Folgerichtigkeit gut erzählten Geschichte anbieten. Dergestalt werden die geneigten Hörer oder Leser eingeladen, je nach ihrem Geschmack von der Erzählung ästhetisch eingenommen zu sein. Kurz: Plausibilität liegt vor, wenn das absichtsvolle Konstruieren von Ereignisketten und Zustandsbildern auf den subjektiven Beifall derer trifft, die daran die Übereinstimmung mit ihren moralischen Vorurteilen und ästhetischen Vorlieben goutieren. Ein selbstbewusst veranstalteter Bestätigungszirkel – auch eine Art von Allgemeinheit. Er beruht auf der stillschweigenden Übereinstimmung darin, dass grundsätzlich jeder Gedanke Allgemeinheit verdient, der sich eine gegenständliche Anschauung verschaffen kann, kurz: in der selbstverständlichen Gleichsetzung von gültigem Wissen und Weltanschauung. Wenn das die durchgesetzte intellektuelle Sitte ist, dann ersetzt die konstruktive Verbindung zweier Vorurteile durch die Spiegelung beider in einer gemeinsamen Anschauung lässig jede Begründung.

b) Die Authentizität

einer Story ist erst einmal keine Qualität der Geschichte, sondern der Zeugen, die ein Berichterstatter in ihr auftreten lässt. Sie kommt zustande, indem die handelnden Figuren respektive der über sie berichtende Zeuge physische oder moralische Betroffenheit zu Protokoll geben. Betroffenheit in Anschlag zu bringen verschiebt die Sache, um die es geht, in das von ihr affizierte Subjekt. Und es verschiebt das Wahrheitskriterium jeder Aussage in die Distanzlosigkeit von Zeugen, die ausdrücklich nichts als ihre eigene Wahrnehmung von Auswirkungen der thematisierten Sache auf sie selbst artikulieren, aber gerade dank dieser Distanzlosigkeit eine über jeden Zweifel erhabene Glaubwürdigkeit genießen.

Die Reduktion von dem, was vorstellig gemacht wird, auf die Unmittelbarkeit des Vergleichs zwischen einem Ich und seinen jeweiligen Umständen reklamiert die qua Betroffenheit unwidersprechliche Glaubwürdigkeit der Zeugen für die Wahrheit der Erzählung. Das, was deren unmittelbares Erleben an der angesprochenen Lage hervorhebt, wird als objektives Zeugnis für das aufgefahren, was den Kern der jeweiligen Sache ausmacht. Die Wahrnehmung und deren Deutung durch ein – vorzugsweise mehr oder minder schwer ramponiertes – Subjekt erhält den Status eines Fakts, über das kein Nachdenken darüber, was da los ist, mehr hinausreichen kann. Auf diese Weise kommen Erzählungen des Musters „Bauer sein in Meckpomm (!) und schon im zweiten Jahr (!!) kein Regen (!!!)“ oder „Opfer (!) trotzen dank unermüdlicher Samariter (!!) den Bomben aus Damaskus (!!!)“ zu der Ehre, weitreichenden Auffassungen über Landwirtschaft, Klimawandel oder die nicht mehr hinzunehmende Schändlichkeit der Assad-Herrschaft unmittelbare Objektivität zu verschaffen. Zwar handelt es sich bei der mittels Authentizität der Erzählung beanspruchten Allgemeingültigkeit um eine ganz formelle Allgemeinheit, die jeden beliebigen Inhalt aufnehmen kann. Andererseits ist das gerade der Vorzug der Authentizität für das Narrativ. Zwar setzt eine authentische wie jede Erzählung eine Idee davon, was das Erzählte besagen soll, voraus, damit überhaupt eine Auswahl von Zeugen, Zeugenaussagen und den passenden Umständen drum herum zustande kommt. Aber als Störfaktor der Glaubwürdigkeit ist die regieführende Absicht in der gelungenen authentischen Erzählung insofern ausgeblendet, als im Zeugnis der Inhalt und Zweck der Story als unmittelbar vorgefundene Begebenheit, als stattgehabte Wirklichkeit erscheint. Diese Art abstrakt zu denken ist für das Narrativ der Königsweg gültiger geistiger Gemeinschaftsstiftung, weil die Erzählung ihre Botschaft über etwas Gegebenes mit den unmittelbaren Gegebenheiten selbst identifiziert, um die Zustimmung moralisch unausweichlich zu machen. Niemand kann bestreiten, dass die von Assad Bombardierten leiden – dann müssen auch alle dafür sein, dass Assad weggeputzt gehört! Mit dieser Logik versammelt die Geschichte alle, die dem Reporter bei seiner narrativ eingekleideten moralischen Einmischung in den Krieg in Syrien beipflichten, zur Gemeinschaft der Empathischen und daher Guten, und sie scheidet sie von den anderen, die auf der Seite des Unrechts stehen – eine Ausgrenzung, die nicht nur in der Logik des Verfahrens liegt, sondern in der Regel bewusst angestrebt wird, wenn es um die Unterstützung einer Partei in einem laufenden Gewaltkonflikt geht.

Als Vereinnahmung für die Botschaft bedient sich der Fünfminutenbericht über den Bauern, der vor der Kamera seine Sorgen auspacken darf, der gleichen Masche wie die Serie von Reportagen, mit denen ein Kriegsberichterstatter seine Leser ins Bild setzt – sie veranstalten den Bestätigungszirkel zwischen demonstrativ individuellem Affiziertsein der Zeugen und einer freischwebenden generellen Behauptung über die Welt, die sich in deren Zeugnis den passenden Realitätsbeweis verschafft. Auf dieser gemeinsamen Basis haben die unterschiedlichen Akteure, die sich der Verbreitung und Pflege von Narrativen widmen, ein breites Spektrum verschiedener Formen der Publikumsansprache entwickelt. Im Journalismus hat man diese Unterschiede zu regelrechten medien-, wenn nicht firmenspezifischen Ethiken mit einer Spannweite von der Realityshow bis zum investigativen Journalismus ausgebildet. In den auf Massenwirkung programmierten Medien gehört die unverfrorene Manipulation von Fakten bis zur puren Erfindung von Umständen oder Aussagen zur täglichen Routine, die niemanden überrascht. Am anderen Ende der Skala stehen Organe wie Der Spiegel, deren Ethos gebietet, bei der Auflösung aller Fakten in authentische Zeugnisse absolut faktentreu zu bleiben, als regierten die Fakten, die für den Zweck eines Artikels ausgegraben und zusammengestellt werden, über den Zweck, dem sie dienen. [3]

3. Die Sitten der praktizierten narrativen Sinnstiftung

Wie gesagt: Lügen oder andere aus der Absicht moralischer Vereinnahmung geborene interessierte Phantastereien gibt es nicht erst, seitdem die dazu nötige Intelligenztätigkeit durch einen aus dem Lateinischen über das Englische ins Deutsche eingewanderten Terminus veredelt worden ist. Die mit dieser Wortbildung erteilte Approbation einschlägiger Interessen enthält aber schon einiges Anregungspotenzial. Die Erhebung des interessierten Kombinierens, Stilisierens oder auch Erfindens von Dingen, Personen und Geschehnissen in den Status einer hochwirksamen Anrede ans Publikum, die Überhöhung erfolgreich befestigter moralischer Voreingenommenheit zu einer zwanglos hergestellten freiwilligen Gemeinschaft, komplementär die argumentlose Entkräftung von Auffassungen, die einem nicht in den Kram passen, durch die Einstufung als „bloß (d)ein Narrativ“, das alles befeuert einschlägige Kreativität.

a) Die Parteilichkeitserzeugungsmasche

Im narrativen Normalfall ist die Reihenfolge die: Wer für etwas, z.B. Europa, begeistern will, bietet dem Publikum eine Erzählung an, und der vorgesehene Part der Konsumenten besteht darin, die Geschichte zu schlucken und sich für das, wofür sie steht, zu erwärmen. Im Sinne des angepeilten Enthusiasmus beim Adressaten lässt sich diese Reihenfolge aber auch umdrehen:

„Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der frühere Kommissionspräsident Manuel Barroso sowie diverse Künstler und Philosophen haben eines gemeinsam: sie alle fordern ein neues Narrativ für Europa. Angesichts der zahlreichen Herausforderungen unserer Zeit brauche Europa eine neue Erzählung, die direkt ins Herz gehe und die Menschen vom europäischen Projekt überzeuge. Aber was genau macht ein Narrativ aus, das über eine solche Bannkraft zu verfügen scheint, Menschen nachhaltig für eine Sache zu begeistern? ...
Während die Konferenz viele verschiedene Perspektiven auf Europa zusammenbrachte, wurde eines schnell deutlich: Es gibt keine Meta-Erzählung für Europa. Vielmehr sind es gerade die Unterschiedlichkeit, Vielfältigkeit und auch die sehr persönlichen Geschichten zu Europa, die das europäische Projekt zu dem machen, was es ist... Die vielen persönlichen Geschichten, die während der Konferenz erzählt wurden, sind sinnbildlich für Europa. Europa ist Vielfalt. Statt einer einzigen einenden Erzählung sind es die vielen kleinen, persönlichen Geschichten, auf die es ankommt, die darüber entscheiden, ob sich jemand als Europäer fühlt und vom europäischen Projekt überzeugt ist. Statt nach einem neuen Narrativ für Europa zu suchen, sollte Europa daher erlebbar gemacht werden, damit jede und jeder einzelne auch in Zukunft seine eigene Europa-Geschichte erzählen kann.“ („Europa auf Spurensuche nach einem Narrativ“, Friedrich-Naumann-Stiftung, 15.5.19)

Die Aufforderung an die Tagungsgäste, sie sollten mit lauter sehr persönlichen Geschichten jeder etwas Nettes über Europa sagen, enthält das Eingeständnis, dass es ein bestimmendes einheitliches Interesse am europäischen Projekt, woran ein Pro-EU-Narrativ anknüpfen und wovon es überzeugen könnte, nicht gibt. Das Eingeständnis erfolgt nicht nur implizit, sondern wird explizit zum Grund der Tagung erhoben, weil sich mit dem Instrumentalismus der vereinnahmenden Story auch aus dieser Rückzugsposition etwas machen lässt. Die Naumann-Stiftung bestellt und bekommt einen Pluralismus von kleinen Erzählungen – wie schön es beim Schüleraustausch in Frankreich war; damals, als ich zum ersten Mal bei der Urlaubsreise an der Grenze nicht aufgehalten wurde, etc. pp. –, deren Dimension als Stoff für eine neu erzählte Mission für Europa arg klein ausfällt, die aber umso beeindruckender die Kriterien privater Ehrlichkeit und damit unbezweifelbarer Authentizität erfüllen. Authentisch ist daher wohl auch der Tagungsbericht, der schildert, dass offenbar jeder, der sich zum Erzählen einer Geschichte über Europa einladen ließ, zuverlässig in die vorgesehene kollektive Selbstbezirzung des Fußvolks pro EU einstimmte. So zeigt die ‚weiche‘ Art des einschließenden Verfahrens, die Leute durch Geschichten ‚mitzunehmen‘, ihren Vorteil: Wenn sich viele bereitfinden, eine Sache gemeinschaftlich zu affirmieren, und damit sowohl die Sache als gute wie auch sich als die Guten bezeugen, dann kann man sich von dieser moralischen (Selbst-)Vereinnahmung gerade in Sachen Bannkraft ... Menschen nachhaltig für eine Sache zu begeistern einiges erwarten. [4] Und ein kleines Extra-Narrativ zugunsten der Naumann-Stiftung ist, ausweislich des Tagungsberichts, auch noch abgefallen.

b) Die Kritik „bloß ein Narrativ“

Die EU als freundliches Ensemble persönlicher Geschichten zu präsentieren, ist eine Sache. Eine ganz andere ist es, wenn etwas Analoges von anderer Seite versucht wird. Da wird das Narrativ augenblicklich als Zwecklüge entlarvt und mit Hinweis auf seine Verlogenheit zurückgewiesen.

Im September 2020 berichtet die FAZ von folgendem Disput der EU mit China:

„Borrell [der EU-Außenbeauftragte] hat den Gegensatz [der EU zu China] sogar noch verschärft. Er spricht nicht mehr von einer Rivalität unter Gleichen, sondern unterstellt China, dass es seine Partner unterjochen will – wie ein Imperium. ‚Selbst als China das stärkste Land der Welt war, in früheren Zeiten, ist es nie in andere Staaten eingefallen und hat sie erobert, wie es Imperien tun‘, entgegnet Zhang Ming [Chinas Botschafter bei der EU]. Doch das behauptet Borrell gar nicht; er spricht über die Gegenwart. Auch da sieht der Botschafter keinerlei Expansionismus. Seit den Opium-Kriegen gebe es einfach nur den lang gehegten Traum des chinesischen Volks, ‚die Würde und Prosperität der chinesischen Nation wiederherzustellen‘. Wer öfter mit chinesischen Diplomaten oder Politikern an einem Tisch sitzt, kennt diese Erzählungen, in denen immer wieder von ‚Erneuerung der Nation‘, ‚Harmonie‘ und ‚Frieden‘ die Rede ist. Aber die Europäer glauben diesem Narrativ nicht. Deshalb hat Borrell sich für eine andere, eine härtere Sprache entschieden. Er sieht die Gefahr, dass die Chinesen europäische Staaten mit ihrer Rhetorik einlullen.“ (FAZ, 10.9.20)

Der öffentlichen Bekundung der EU, dass sie ab sofort China nicht mehr nur als Partner und wirtschaftlichen Wettbewerber, sondern ausdrücklich als Gegner einstuft (ebd.), tritt der chinesische Botschafter bei der EU mit zwei Geschichten aus der chinesischen Historie entgegen. Die eine setzt dem Vorwurf des Imperialismus die Beteuerung des zu allen Zeiten friedfertigen Charakters chinesischer Außenpolitik entgegen, die andere deutet die schlimmen Erfahrungen, die China im 19. Jahrhundert mit dem europäischen Imperialismus gemacht hat, als seitherige Prägung aller chinesischen Politik hin zu so anerkennenswerten Zielen wie Prosperität und Würde der Nation oder Friede. Die Geschichten von der Grundgüte des chinesischen Volks und Staats verlangen von der EU, die angekündigte Einstufung Chinas als expansive Macht als verfehlt einzusehen und zu unterlassen. Sie transportieren diese Forderung in der Form historischer Erinnerungen, die von den gegenwärtigen Absichten Chinas wegführen, die aber den allgemeinen Geltungsanspruch dieser Absichten repräsentieren: Die angesagte Gegnerschaft wird China nicht gerecht, folglich von China nicht hingenommen. Die legitimatorische Umständlichkeit des Ausflugs in die Geschichte macht die diplomatische Form der Botschaft aus: Die narrative Weichzeichnung erspart den Europäern (an dieser Stelle) die Konfrontation, die im politischen Inhalt der Geschichten enthalten ist.

Die europäischen Adressaten glauben diesem Narrativ nicht. In unverstellter Grobheit signalisiert der EU-Außenbeauftragte, dass er die verbindliche Art des diplomatisch gesitteten Verkehrs zwischen Souveränen (an dieser Stelle) unpassend findet, und besteht darauf, dass in der EU die eindeutige Klassifizierung der chinesischen Außenpolitik als Expansionismus offiziell beschlossen wird. Den EU-Mitgliedsstaaten, die aus ihrem nationalen Interesse spezielle Kooperationen mit China eingerichtet haben, wirft er vor, die Rhetorik der Chinesen, sprich: ihre vereinnahmende Selbstdarstellung, nicht als Rechtfertigung übler Herrschaftsinteressen zu durchschauen; von solchen nämlich, die berechtigte europäische Interessen übergehen und das Recht der EU auf die politische Gleichrichtung aller Mitgliedsstaaten verletzen. Wenn Borrell seine härtere Sprache dagegensetzt, dann verrät seine Gegenrhetorik einiges über das Was und Wozu des Narrativs: Die freundliche Eingrenzung des ‚Wir sind Europäer und das ist gut so‘, das die Naumänner inszeniert haben, legitimiert den Rechtsanspruch einer wirklichen Macht; diese lockere Eingrenzung schließt die harte Ausgrenzung aller anderen Wirs ein und läuft auf einen Rechtsanspruch des geheiligten Ganzen hinaus, der keiner Relativierung fähig ist.

Am historischen Narrativ der Chinesen entlarven europäische Journalisten und Politiker sofort die Absicht, die sich eine abstrakte Behauptung über die Wirklichkeit als ein beobachtbares Geschehen in ihr zurechtfabuliert. Diese Entlarvung richtet sich aber nicht gegen die Konstruktion, sondern gegen die Botschaft. In den weichzeichnenden, vereinnahmenden Geschichten aus Chinas Vergangenheit entdeckt Borrell ein geltend gemachtes Recht, dem er das europäische Recht entgegensetzt. Recht gegen Recht ist von Haus aus eine Gewaltfrage, das Narrativ verhält sich zu beiden Seiten als Rechtfertigung.[5]

Die durch den Einsatz des Schlüsselworts ‚Narrativ‘ wirksame Herabstufung macht sich nicht nur bei Politikern gut, sondern auch beim Einsatz durch Autoritäten der öffentlichen Meinungsbildung.

„Schlagersänger Wendler auf Abwegen ... Wendler verbreitet dieselben verschwörungstheoretischen Narrative, die auch der Sänger Xavier Naidoo, der dafür aus der DSDS-Jury geworfen wurde, und der Koch Attila Hildmann verbreiten.“ (FAZ, 18.10.20)

Die Auffassungen von Wendler und zwei weiteren Kulturschaffenden der Unterhaltungsbranche werden einem Schnelltest auf Übereinstimmung mit der durchgesetzten öffentlichen Moral unterzogen und mit dem schönen Argument Abwege, will sagen: sie weichen davon ab, also sind sie nichtig, in die Ecke der angeblich offenkundigen Idiotien gestellt. Die abschätzige Einordnung als verschwörungstheoretische Narrative ist die ganze Kritik, deren einziger Inhalt ist die Behauptung: Solche Ideen gehören sich nicht nur nicht, sondern verbieten sich von selbst. Das weiß die Redaktion der FAZ ganz genau, weil Wendler et al. gegen eine Gesinnung verstoßen, die der Zeitung selbstverständlich ist. In diesem Sinne zielführend ist auch der Hinweis, dass zwei der drei namentlich genannten Verschwörungserzähler ihre Jobs als gutbezahlte Volksunterhalter verloren haben. Das zeigt schlagend, dass deren Gesinnung nicht das Zeug zur herrschenden Moral hat, welche die FAZ betreut, weshalb sie aus dem Kreis der ehrenwerten Geschichtenerzähler auszuschließen sind.

c) Wir erzählen eine Verschwörungsgeschichte – das Feindbild wird immer klarer

Verschwörungstheorien, neuerdings oft ausdrücklich als Verschwörungserzählungen apostrophiert, stellen eine radikale Ausformung des Ausschlussverfahrens dar, das im Einschlussverfahren jeder Sinngeschichte von einem Wir steckt. Ein klassischer Fall ist das kürzeste bekannte Verschwörungsnarrativ, das von Donald Trump erfundene Kompositum China virus. Es gibt an, wovon die Geschichte handelt: vom pandemischen Virus und seiner Beziehung zu China, von der allgemein bekannt ist, dass die Pandemie in diesem Land ihren Ausgang nahm. Angekündigt ist eine Ursprungsgeschichte, von der jeder alphabetisierte Zeitgenosse erwartet, dass sie den Grund der Pandemie angibt und darin einen Zweck zumindest andeutet, aber eben in der eigenen Logik des Erzählens: Die Geschichte bildet das, was ihr als sachliches Deshalb und Dazu gilt, als ‚Und-dann ... und-dann‘ ab, d.h. als zeitliche Folge von Handlungen und Zuständen. Diese Verwandlung eines sachlichen Grunds und Zwecks in ein Nacheinander von Aktionen und Ereignissen eignet sich gut für die spezifische Absicht, eine schlimme Sache auf eine verborgene böse Absicht zurückzuführen, in der Grund wie Zweck der Schädigung liegen, damit ‚wir‘, die selbstverständlich Wohlmeinenden und Offenen, wissen, wer unser Feind ist. [6] Zum Verfertigen einer solchen Erzählung muss Trump nur das Faktum, dass das Virus zuerst in Wuhan auftauchte, als Beleg für seine persönliche Interpretation nehmen, dass der chinesische Staat der Urheber der Pandemie sei, und das wiederum damit belegen, dass es in der Gegend ein Labor gebe, das Viren erforscht. Die Kürzestgeschichte ist auf die nationale Feindschaftserklärung gegen China hin konstruiert, die unschwer als das einzig Sachliche an dem Gerede kenntlich ist, und damit spricht sie das Kollektiv der guten Amerikaner als eine Kampfgemeinschaft an, die, von einem hinterlistigen Anschlag in ihren vitalen Rechten als Angehörige einer unangreifbaren Nation geschädigt, das nicht hinnehmen werden. Diejenigen, die das glauben, und das sind nicht wenige, beauftragen ihren Führer schon mal vorsorglich mit der gewaltsamen Bestrafung des Übeltäters und legitimieren damit die imperialistische Offensive, die der längst im Programm hat.

4. Der harte Kern der weichen Vereinnahmung

Narrative laden ihr Publikum ein, die präsentierte Story glaubwürdig zu finden und so deren Botschaft Glauben zu schenken. Die Einladung ergeht an das persönliche Dafürhalten der Angesprochenen und legt deren freundlich vereinnahmter Subjektivität beifällige Zustimmung nahe. Das Moment der Beschönigung, das narrative ‚Mitnehmen‘ des Publikums im Sinne der Botschaft dessen ‚Mitgehen‘ anheimzustellen, hat indessen einen harten Kern.

Der harte Kern ist das Interesse, das sich in ein Narrativ kleidet und seinen Anspruch als allgemeinen geltend macht. Es sind widersprüchliche Interessen, an die Narrative bekräftigend und legitimierend anknüpfen, auch abweichende Interessen, wie die emanzipatorischen und transformatorischen Anliegen, die Linke narrativ befördern wollen. Nicht nur die Pro-Europäer haben ihre Narrative, die EU-feindliche AfD hat sie auch, und das ist ihr auch gestattet: Die Partei schmückt eine Meinung aus, die ein patriotisches Interesse verfolgt, und darf dieses Interesse in Geschichten, die es glorifizieren, geltend machen. Die weichen Ein- und Ausgrenzungen der Narrative schweben nicht frei in der Luft, sondern unterstehen ihrer Zuordnung zu den gegensätzlichen Interessen, die sie in konkurrierenden Sinnüberhöhungen veredeln.

Dass diese Erlaubnis, andere als die herrschenden Meinungen zu haben und auszudrücken, die Demokratie adelt und über andere Herrschaftsweisen erhebt, ist selbst ein Narrativ, und zwar ein dauerhaft erfolgreiches. Nicht von ungefähr, denn wenn der harte Kern aller Narrative in dem Interesse liegt, das sie überhöhen, dann ist es konsequent, dass das, was aus den Geschichten wird, nicht an ihnen liegt, sondern an der Macht, die das Interesse für sich aufbieten kann. Zwar darf sich auch das widerspenstige Interesse narrativ äußern, aber über das Gewicht der Geschichte entscheidet das Gewicht der darin affirmierten Macht. Zwar überleben bisweilen Narrative die Nichtigkeit des Interesses, für das sie stehen, aber ihre Überzeugungskraft wie die Glaubensgemeinschaft der Überzeugten schwinden mit ihrem Machtstatus dahin. Umgekehrt setzt das machtvoll durchgesetzte Interesse auch seine Geschichten durch. Die Substanz der narrativen Suggestivkraft liegt in der materiellen Durchsetzungskraft, über welche das erzählerisch überhöhte Interesse verfügt und mit der es handfeste Verbindlichkeit in die Welt bringt. Kurz: Interessen werden nicht durch sie verklärende Geschichten an die Macht gebracht, sondern erfolgreiche Herrschaft beglaubigt Narrative, deren Geschichten so erfolgreich sind wie die Macht, die sie legitimieren.

[1] Vom Standpunkt des Narrativs aus macht es keinen Unterschied, ob es einem Philatelistenverein, einem Fußballklub oder Deutschland einen Sinn nachsagt. Gerade wegen dieser Beliebigkeit fällt auf, dass in den Listen von Beispielen für Narrativbedarf die Nation nie fehlt. Offenbar gilt diese Zusammenfassung aller unter der Herrschaft eines staatlichen Gewaltmonopols Lebenden zu einer irgendwie menschlichen Gemeinschaft als mustergültiger Anwendungsfall für die narrative Sinnstiftung. Bedarf an nationalen Sinn-Geschichten gibt es zuhauf, so viel ist richtig. Unrichtig ist allerdings die Behauptung über den Grund dieses Bedarfs, die in der allgemeinen Bestimmung des Narrativs liegt – dass nämlich die Insassen einer modernen Nation wie Deutschland derartige Geschichten nötig haben, um sich ihres wirklichen gesellschaftlichen Zusammenhangs bewusst zu werden. Die Konkurrenz um den Anteil am Geldreichtum, die alle mit ihren ökonomischen Mitteln betreiben, wird von allen Beteiligten willentlich und im Wissen um den antagonistischen Charakter ihrer Kooperation betrieben, und dass die einzige wirksame Klammer um den Haufen der Konkurrenten in der staatlichen Zwangsgewalt besteht, die allen ihren Bürgern die Rechte und Pflichten gegeneinander wie gegenüber der Staatsmacht auferlegt, entgeht schon gleich niemandem. Dass alle sich mit Wille und Bewusstsein in den Widersprüchen dieser Gesellschaft berechnend bewegen, erzeugt das Bedürfnis, sich einen affirmativen Reim auf diese Verhältnisse zu machen. Wenn die Bürger moderner Staaten ihre ökonomischen Gegensätze wie die Unterordnung aller unter dieselbe Staatsgewalt überhöhen in die Vorstellung einer dieser Gewalt vor- und übergeordneten nationalen Gemeinschaft, in welcher alle Regierten zusammen als die ideellen Auftraggeber dieser Macht firmieren, dann deuten sie den Zwangszusammenhang nicht nur als einziges, sondern auch als passendes Angebot an ihre Selbstbestimmung und legen sich ihre Freiheit zur Anpassung als letztlich doch für sie gut und richtig zurecht. Als Hilfestellung dafür gibt es ein reichhaltiges Angebot anschaulicher Geschichten. Deren Inhalt sieht man prompt an, dass sie keiner Leerstelle und keinem Sinn-Vakuum entsprungen, sondern Zeugnisse von Versöhnungsbedürfnis sind, das sie in aller Regel in das Rechtsbewusstsein eines höheren Wir fortschreiben.

[2] Über deren Notwendigkeit in sozialer, menschlicher, mentalitäts- und kulturgeschichtlicher sowie philosophischer Hinsicht können diverse Geistes- und Sozialwissenschaften die verschiedensten Begründungen abgeben. Das ist schön, aber nicht wirklich nötig, weil mittlerweile alle Welt das so sieht.

[3] Wie peinlich, wenn der publikumswirksamste und vielfach ausgezeichnete Reporter aus diesem Hause dabei erwischt wird, dass er regelmäßig Zeugnisse frei erfand, wenn er gerade keinen passenden Zeugen zur Hand hatte, in der vielfach bestätigten Gewissheit, damit die von ihm beförderten politischen und moralischen Standpunkte nicht schlechter zu bedienen als mit nachweisbaren Funden. Da ist demonstrative Rückkehr zur ehrlichen Faktentreue bei der berechnenden Zusammenstellung von Realitätsfragmenten angesagt. Die Redaktion des Nachrichtenmagazins beginnt die Wiederherstellung der Aufrichtigkeit mit dem zerknirschten Eingeständnis, dass sie selbst die erfundenen Geschichten meist besser als die korrekt recherchierten fand, und vollendet sie mit dem zigfachen Versprechen, künftig die Faktenbasis ihrer Vereinnahmungswirtschaft umso selbstkritischer zu pflegen. Näheres zum Fall Relotius in GegenStandpunkt 1-19.

[4] Auch Linke sehen in dem Verfahren die Chance, mit vereinnahmender Konstruktivität für sich zu werben: „Für eine solidarische Zukunft braucht es mehr als nur die Kritik an Herrschaftsverhältnissen. Ein gutes Leben für alle wird nicht allein dadurch erreicht, dass wir gesellschaftliche Missstände kritisieren. Stattdessen bedarf es einer konstruktiven Perspektive und des Entwurfs von Alternativen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Ansätze für die imaginative Arbeit an solchen Alternativen gibt es einige: So entwickelt etwa Science-Fiction Entwürfe einer Zukunft jenseits von Sexismus und Rassismus, ökologischen und ökonomischen Katastrophen. Außerdem führen aktuell verschiedene making-of-class-Geschichten das politische Potenzial von Literatur wieder deutlich vor Augen. Die konstruktiven Möglichkeiten des Erzählens nutzen auch politische Bewegungen für ihre emanzipatorischen und transformatorischen Anliegen. Durch Narrative werden Fäden der Vergangenheit neu verknüpft und bislang inexistente oder verdrängte Vorstellungsräume einer noch unbekannten Zukunft geschaffen. Dies reicht von der Stilisierung von Carola Rackete oder Greta Thunberg zu Superheldinnen über die auch narrativ-ästhetisch bewältigte Rekapitulation von Vergangenheit und Gegenwart durch die globalen Bewegungen postkolonialer und antirassistischer Provenienz bis hin zu theoretischen Entwürfen mit deutlich fiktionalen Zügen.Trotzdem reicht die Kraft emanzipatorischer Narrative aktuell offensichtlich noch nicht aus, um Gegenentwürfe für eine herrschaftsfreie Zukunft verallgemeinerungsfähig zu machen.“ (Aus dem Aufruf des „Forums für linke Literaturwissenschaft“ zu einer Konferenz mit dem Titel „Die Fäden neu verknüpfen – Linke Narrative für das 21. Jahrhundert“ im Februar 2021)

[5] Ein anderes Beispiel für den wechselseitig polemischen Gebrauch der Relativierung des fremden Rechts und der Zementierung des eigenen: Die Demokraten befürchten, dass Trumps Narrativ, die Briefwahl öffne Wahlbetrug Tür und Tor, Teil eines Drehbuchs ist. Nach der Wahl werde dann wie 2016 behauptet, es seien Wahlzettel an Verstorbene oder nicht Wahlberechtigte verschickt worden, weshalb die Auszählung weiterer Stimmen gestoppt werden müsse. Am Ende komme dann der Supreme Court ins Spiel, für den Trump an diesem Samstag noch schnell eine konservative Richterin nominieren will. (FAZ, 26.9.20) Wenn Trump sein Interesse an der Wahl in eine Prognose über ihren Ausgang und diese in ein Faktum verwandelt, das die Korrektur durch ihn erfordert, dann spricht er als unanfechtbarer Führer, der sein Publikum als seine Gefolgschaft adressiert: Das gute Volk wird das Unrecht an seinem Führer nicht hinnehmen. Er definiert eine harte Rechtsposition, die einschließt, dass das Kollektiv der Unterstützer als Manövriermasse seiner Behauptung im Präsidentenamt eingeplant ist. Der Demokratischen Partei beweist dasselbe Narrativ, dass Trump ein Feind des gesamten demokratischen US-Systems ist, der dessen heilige Einrichtungen missbraucht oder ausschaltet. Dieselbe Erzählung leistet die Rechtfertigung einander feindlich gegenüberstehender Monopolansprüche auf die Staatsgewalt. (Näheres zum Narrativ vom Wahlbetrug in der Chronik eines Kampfs um die Seele Amerikas, GegenStandpunkt 4-20)

[6] Auf nichts anderes richten sich sämtliche Verschwörungstheorien, egal, ob sie Covid-19 auf Machenschaften von Bill Gates oder der Pharmaindustrie oder auf eine finanzkapitalistische Verschwörung zurückführen oder ob sie für etwas ganz anderes noch andere Übeltäter oder auch dieselben haftbar machen. Auch wo solche Darstellungen einander inhaltlich widersprechen, verhalten sie sich zueinander nicht als Konkurrenten, sondern schätzen sich als wechselseitige Unterstützung, kennzeichnen sich mithin selbst als natürliche Verbündete in der gleichen Sache. Kommensurabel sind die unterschiedlichen Geschichten unter dem generellen Gesichtspunkt der geteilten Gewissheit, dass hinter der Seuche etwas ganz anderes steckt, als man uns verrät und glauben macht. Für das, was ‚in Wirklichkeit‘ dahintersteckt, hat jede Theorie ihre Zeugen und deren Glaubwürdigkeit auf der eigenen Seite. Offenbar ist es für viele, die diesen Theorien nicht folgen, verlockend, ihnen mit Faktenchecks entgegenzutreten. Dieses Unterfangen ist hoffnungslos. In den Faktenchecks legen Kritiker der Verschwörungstheorien auf der Grundlage eigener oder auch anderer, jedenfalls ‚unabhängiger‘ Recherchen dar, dass die Fakten den Schuldspruch der Theorien nicht hergeben. Die Hoffnungslosigkeit dieser Gegenprobe besteht darin, dass der Faktencheck selbst von der Glaubwürdigkeit dessen lebt, der ihn anstellt. Dass es in den Augen von Verschwörungstheoretikern um die Glaubwürdigkeit der Faktenchecker schlecht bestellt ist, wenn die von denen angeführten Fakten dem eigenen Glauben zuwiderlaufen, liegt auf der Hand. Außerdem leiden Verschwörungstheoretiker keineswegs an einem Mangel an Fakten, auf die sie verweisen können – ihre Erzählungen bestehen in nichts anderem als einer fortwährend erweiterten Masse solcher Fakten, die immer denselben Schuldigen beschuldigen und damit für die Glaubwürdigkeit eines jeden einstehen, der sich an der gemeinsamen Enthüllungsorgie beteiligt. Dass sie „für Fakten nicht mehr zugänglich“ sind, können beide Seiten sich wechselweise zu Recht vorwerfen.