Die Affäre Claas Relotius
Skandal beim Spiegel
Kurz vor Weihnachten erlebt der Spiegel „das Schlimmste, was einer Redaktion passieren kann“. Das Magazin muss einräumen, „dass Claas Relotius, 33 Jahre alt, einer der auffälligsten Schreiber des Spiegel, ein bereits vielfach preisgekrönter Autor, ein journalistisches Idol seiner Generation, kein Reporter ist, sondern dass er schön gemachte Märchen erzählt, wann immer es ihm gefällt.“ Relotius muss eingestehen, dass erhebliche Teile seiner in den vergangenen Jahren veröffentlichten Reportagen frei erfunden sind; in der Folge verliert der Autor seinen Job, vor allem aber sehen der Spiegel und eine ganze Reihe weiterer namhafter Presseorgane sich schwer beschädigt, nämlich in ihrer Glaubwürdigkeit.
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Die Affäre Claas Relotius
Skandal beim Spiegel
Kurz vor Weihnachten erlebt der Spiegel den größten anzunehmenden
Unfall, das Schlimmste, was einer Redaktion passieren
kann
. Zwecks Krisenbewältigung trägt die
Onlineredaktion fleißig eigene und fremde Stellungnahmen
zusammen, das letzte Heft des Jahres wird umgewidmet, und
sogar Tränen vergießen die erschütterten Angestellten
nach offizieller Aussage. Das Magazin muss nämlich
einräumen, dass Claas Relotius, 33 Jahre alt, einer
der auffälligsten Schreiber des Spiegel, ein bereits vielfach
preisgekrönter Autor, ein journalistisches Idol seiner
Generation, kein Reporter ist, sondern dass er schön
gemachte Märchen erzählt, wann immer es ihm gefällt.
(Spiegel, 22.12.18) Relotius
muss eingestehen, dass erhebliche Teile seiner in den
vergangenen Jahren veröffentlichten Reportagen frei
erfunden sind; in der Folge verliert der Autor seinen
Job, vor allem aber sehen der Spiegel und eine ganze Reihe weiterer
namhafter Presseorgane sich schwer beschädigt,
nämlich in ihrer Glaubwürdigkeit.
Die Geschichten, die Relotius veröffentlicht, stimmen vielleicht nicht, aber sie bringen ganz offensichtlich ansonsten alles mit, was es braucht, um den Autor zu einem Stern des deutschen Journalismus aufsteigen zu lassen: die detailreiche Schilderung von Schicksalen wie z.B. dem des 13-jährigen Jungen, dessen als Mutprobe gemeinter Streich Assad provoziert und damit den syrischen Bürgerkrieg ausgelöst haben soll und der sich fortan für dessen Opfer verantwortlich fühlt:
„In solchen Texten zieht sich die Gegenwart einmal auf ein lesbares Format zusammen, große Linien der Zeitgeschichte werden fassbar und schlagartig wird das Große ganz menschlich verständlich. Wer als Reporter über solches Material verfügt, und wer Talent hat für Dramaturgie, kann daraus Gold spinnen wie im Märchen.“ (Spiegel, 22.12.18)
Dem Spiegel ist natürlich
bekannt, dass die Linien der Zeitgeschichte
nicht
von syrischen Jungen bestimmt werden, sondern von den
maßgeblichen Mächten diesseits und jenseits des
Atlantiks, die ihre Interessen gegeneinander betätigen
und dafür auch den Übergang zu kriegerischer Gewalt nicht
scheuen. Auch damit macht er ja seine Leser in den
entsprechenden journalistischen Formaten vom
Hintergrundbericht bis zum Politiker-Interview vertraut.
Daneben aber und damit die Leserschaft nicht verpasst,
wie sie den syrischen Konflikt zu nehmen hat, leitet der
Spiegel sie in Form von
Reportagen dazu an, zwischendurch auch einmal gründlich
von den eigentlichen Akteuren weg- und auf einzelne
betroffene Figuren hinzusehen. Deren Schicksale werden
den Lesern als Nussschale des Weltlaufs aufbereitet, in
der sie entdecken können sollen, was sich mit dem besten
Sehvermögen dort nicht entdecken, sondern nur mit dem
entsprechenden Mutwillen hineinlesen lässt: die großen
Linien
der großen Politik. Der Mensch im Leser soll
sich, unter Absehung all dessen, worum in Syrien
eigentlich gekämpft wird, in die individuell menschlichen
Opfer quasi unmittelbar einfühlen – damit er einen
überhaupt nicht individuell menschlichen bzw. unmittelbar
fühlbaren falschen Dreischritt nachvollzieht: Erstens
sind das Wesentliche an den menschlichen Opfern
die politischen Täter, an deren Willen und Taten
zweitens nur ihre Verurteilung als
verbrecherisch zählt. Um drittens auf die dann ganz offen
politische Forderung zu kommen, dass Assad ‚unsere‘
Feindschaft verdient und Staaten wie die USA und
europäische Mächte offensichtlich noch viel mehr tun
müssen, um den Staatsverbrecher Assad unschädlich zu
machen. Nach diesem Muster widmet sich Relotius auch dem
antiterroristischen Treiben Amerikas: Er macht die
moralische Fragwürdigkeit des weltweiten Antiterrorkriegs
der USA menschlich verständlich
, indem er diese
globale Großtat der amerikanischen Weltmacht
„zusammenzieht“ auf das „lesbare Format“ einer Reportage
über das Unrecht, das Amerika in Guantanamo verübt – in
Gestalt eines unschuldig inhaftierten Angestellten eines
Waisenhauses, der sich nach Jahren der Folter ein Leben
in Freiheit gar nicht mehr vorstellen kann. Er macht auch
die Verwerflichkeit von Trumps Einwanderungspolitik
fassbar
, indem er das tragische Schicksal einer
Mutter mit Kind, die vor ihrem prügelnden Ehemann in die
USA fliehen will, der nationalistischen Bigotterie
inoffizieller rechter Grenzschützer und Trump-Liebhaber
nördlich der Grenze gegenüberstellt. So, an den
unmaßgeblichen Figuren der Weltpolitik, spitzt Relotius
in seinen Reportagen das Treiben der maßgeblichen
Subjekte in Sachen Krieg, Grenzschutz oder
Antiterrorkampf auf die wesentliche Botschaft zu: für
bzw. gegen wen man dabei zu sein hat, wer Täter bzw.
Opfer oder zur Aufsicht Berufener ist. Die Schilderung
der Gefühle und Motive der Betroffenen der Politik und
der Dramen, die sich im Laufe der Geschichten abspielen,
bringt ganz plastisch und fühlbar die moralische
Quintessenz der Affären zum Ausdruck – und zwar genau
die, die hierzulande gültig ist. So wird also
aus imperialistischen Gewaltaffären Gold gesponnen.
Damit es dem Publikum hinreichend leichtgemacht wird, sich in die Betroffenen der geschilderten Gewaltorgien einzufühlen, geizt Relotius nicht mit Details, schildert das Wetter, das Aussehen von Leichen und lässt seine Protagonisten auch gerne mal singen:
„Die Musik erweitert den Assoziationsraum der Geschichten, sie werden überwältigend sinnlich an diesen Stellen, sie geben der Fantasie der Leserschaft Futter. Das Schreiben fühlt sich dann filmisch an, es beginnt ein ‚Kino im Kopf‘, und diese Formulierung gehört nicht zufällig zu den stehenden Redewendungen bei Preisverleihungen an Journalisten.“ (Spiegel, 22.12.18)
Preiswürdig ist eine Reportage also dann, wenn sie den Leser emotional vereinnahmt. Dann steht das Geschriebene ganz im Dienste der Einladung an die Leser, sich auf die dargebotenen Geschichten und damit auf die mit ihnen eingenommene Perspektive einzulassen. Doch was, wenn sich die zur Botschaft passenden Schicksale und Bilder nicht so recht finden lassen?
„Journalisten setzen das Bild der Welt zusammen – wenn sie dabei lügen, stimmt die Welt nicht mehr. Die Verführung ist stark, dieses Bild ein wenig aufzupolieren, es funkeln zu lassen...Selbst der solideste Reporter, die leidenschaftlichste Reporterin kennt die Tage, an denen bei der Recherche nichts läuft wie gewünscht: das Meer vor Libyen spiegelglatt und kein Schlepperboot in Sicht; das Dorf in Sachsen, wo der Neonazi-Aufmarsch sein soll, ausgestorben und kein Nazi weit und breit; der Gesprächspartner maulfaul und uninspiriert... Mancher spürt dann die Versuchung, dem hölzernen Bürgermeister einen würzigen Satz in den Mund zu legen.“ (SZ, 22.12.18)
Mit ihrem Verständnis für die starke Versuchung, der ein
Journalist ausgesetzt ist, bekennt sich die SZ zu dem
Verfahren, mit dem Relotius aufgeflogen ist, und zu dem
Anliegen, für das er seine Fakten erfunden hat: Ihr gilt
es als ganz normal, dass ein Reporter zu seiner längst
feststehenden Einordnung und Bewertung politischer
Ereignisse und Taten sich Belegmaterial zusammensucht,
Fakten eben, die seiner Beurteilung Recht geben sollen.
So konstruiert er das Bild der Welt
, das dann auch
zeigt, was es zeigen soll. Genau dieses Verfahren können
Journalisten bei anderen, politisch unliebsamen
Standpunkten als Verschwörungstheorie durchschauen und
verurteilen, als theoretische Konstruktion nämlich, die
um ihrer ideologischen Botschaft willen in die Fakten
Zwecke und Zusammenhänge hineinliest, die sich nicht aus
ihnen ergeben. Der Unterschied zu den verachteten
Verschwörungstheoretikern, auf den seriöse Journalisten
so Wert legen, besteht eben nicht im Verfahren und im
Umgang mit den Fakten, sondern in der Übereinstimmung mit
oder der Abweichung von der national gültigen Sortierung
der Welt in Freund und Feind. Relotius jedenfalls hat
sich nicht den Vorwurf ‚Verschwörungstheoretiker‘
eingefangen, sondern den des Betrügers in einer guten
Sache.
Weil diese Tour der Öffentlichkeit, Fakten als Belege für
vorher feststehende politmoralische Deutungen
aufmarschieren zu lassen, von dem permanenten Verdacht
des Schwindels begleitet wird – nicht zuletzt durch sie
selbst –, pflegt der Spiegel das Ethos: Sagen, was
ist.
Er leistet sich eine große Extra-Abteilung
‚Dokumentation‘, die jedes noch so unwichtige Detail
akribisch auf seine Korrektheit hin überprüft und im
Zweifelsfall anmahnt:
„Beschreibt der Redakteur etwa, dass er auf einer Reise in Tansania am Wegesrand Kakteen sieht, dann prüft die ‚Dok‘: Gibt es dort überhaupt Kakteen? Antwort: nein!“ (Spiegel, 22.12.18) „Kaum ein anderes Medium betreibt so viel Aufwand, um den Anspruch einzulösen: Was wir schreiben, das stimmt.“ (Spiegel Online, 19.12.18)
Es stört die Zeitschrift nicht, dass die lokale Fauna, die Farbe eines Kleidungsstücks oder eine Hintergrundmusik überhaupt kein Verhältnis zur politischen Botschaft einer Story hat und als Beleg für die Berechtigung ihrer Urteile sachlich gar nicht taugt – als Belege beansprucht sie diese Details aber trotzdem: als Belege nämlich für die Seriosität der Recherche. Auf diese Weise soll die Detailversessenheit den Anspruch auf Geltung des Geschriebenen begründen. Die nachweisliche Existenz irgendwelcher, für den Gegenstand der Reportage belangloser Fakten und Umstände verbürgt die Qualität der journalistischen Arbeit und damit die Glaubwürdigkeit des Journalisten.
Denn Glaubwürdigkeit ist für die etablierten Profis der bürgerlichen Öffentlichkeit ein unverzichtbares Gut. Ohne den Glauben in das von ihnen Berichtete, also ohne die Anerkennung der von ihnen beanspruchten Autorität, die Leitlinien des Meinens mit allem Recht zu bestimmen, können sie ihrem Geschäft offenbar nicht nachgehen. Das ist Relotius eigentliche Sünde: Er hat dieses Vertrauenskapital der Presse und damit ihre Geschäftsgrundlage beschädigt. Und das ausgerechnet in Zeiten, in denen es um diese ohnehin nicht zum Besten steht:
„Uns ist bewusst, dass der Fall Relotius den Kampf gegen Fake News noch schwerer macht, für alle: für die anderen Medien, die an unserer Seite stehen, für die Bürger und Politiker, denen an einem wahren Bild von der Realität liegt.“ (Spiegel, 22.12.18)
Diejenigen im Volk, denen das Bild von der
Realität
, wie es die etablierte Öffentlichkeit
verbreitet, nicht einleuchten will und die deshalb den
Vorwurf der Lügenpresse erheben, bedienen sich
schließlich derselben Logik. Sie haben schon länger den
Verdacht, dass es mit der Objektivität der Öffentlichkeit
nicht weit her sein kann, wenn sie die wirklich wichtigen
Fakten unter den Tisch fallen lässt, von kriminellen
Ausländern viel zu wenig und von vermeintlichen Nazis
viel zu viel berichtet, und sehen sich durch Relotius
auch prompt bestätigt.
Der Spiegel betreibt
daher fleißig die fällige Aufarbeitung der Affäre: Zum
einen kreuzigt er Relotius in aller gebotenen
Anschaulichkeit; zum anderen spart er auch nicht mit
Selbstkritik. Jetzt, da die Lügen aufgeflogen sind,
bekennt sich der Spiegel
gemeinsam mit seinen Kollegen zu seinem Bewusstsein
davon, wie heikel diese Form der Meinungsbildung dann
eben doch ist. Ein ausgeprägter Zweifel wäre von Anfang
an geboten gewesen, den allen voran sie selbst ihrer
Berichterstattung hätten entgegenbringen müssen. Es ist
eine der wichtigsten Eigenschaften von Journalisten:
Misstrauen. Manchmal braucht man sie leider auch
gegenüber Kollegen. Im Fall Relotius gab es davon zu
wenig.
Angesichts der Detailfülle der gefälschten
Reportagen kommen sie einhellig und selbstkritisch
zerknirscht zu dem Urteil, sie waren doch von Anfang an
zu schön, um wahr zu sein
– und bezichtigen sich
des Versagens: Wo wir es doch eigentlich – nämlich
berufsbedingt auf der Hut vor einem erwartbaren Spektrum
von interessierten Verfärbungen bis zum Betrug – hätten
merken müssen; warum nur haben wir ihm dann geglaubt?
„Es gehört zur Grundausstattung des Menschen, im Umgang mit Wahrheit und Wahrscheinlichkeit erstaunlich großzügig zu sein, solange kein Grund zum Zweifeln besteht. Dann ist die Bereitschaft, noch die unglaublichsten Geschichten für wahr zu halten, solange sie nur plausibel wirken, ziemlich grenzenlos... Und sein Elend wird nun ins Unermessliche wachsen, weil man ihm, dem Ertappten, am Ende kein einziges Wort mehr glauben wird.“ (Spiegel, 22.12.18)
Nicht über die Eigenart ihres Gewerbes, sondern über ihre
leichtgläubige Menschennatur wollen sie also gestolpert
sein. Weil erstere über jeden Zweifel erhaben ist – zu
der bekennen sie sich ja ausdrücklich –, gilt es in
Zukunft eben ganz besonders heikel zu sein im Umgang mit
den Fakten. Das Rezept heißt daher erstens: mehr vom
Selben. Wenn auf die eigenen Reporter offensichtlich so
wenig Verlass ist, dann muss die Dokumentation in Zukunft
eben noch genauer hinschauen. Dann muss also das
institutionalisierte Misstrauen gegenüber den
dargestellten Fakten ausgeweitet werden, um das Vertrauen
in die damit transportierten Urteile zu retten. Zweitens
heißt es: schonungslose Ehrlichkeit. Jedes noch so
unschöne Detail des Betrugs wird offengelegt, auch
geäußerter Kritik am Spiegel der gebührende Raum gegeben,
damit die Affäre Relotius nicht den immer wieder gehegten
Verdacht bestätigt, dem Spiegel wären die Lügen nicht
aufgefallen, weil ihm die transportierten Feindbilder so
gut gepasst hätten. Umgekehrt sollen die eingeräumten
Lügen erst recht von der Glaubwürdigkeit der Zeitschrift
zeugen; das Schlimmste, was einer Redaktion passieren
kann
, soll also auf den Betrüger eingegrenzt werden,
sodass man auch weiterhin und umso nachdrücklicher darauf
bestehen kann: Das Bild von der Realität
, das der
Spiegel für das
wahre
hält, braucht schöne Geschichten.