Selenskyjs Siegesplan
Ein Offenbarungseid über eine ukrainische Illusion und den westlichen Zynismus im 6. Halbjahr des Ukraine-Kriegs
Es läuft nicht gut für die Ukraine. Ihr Kriegsziel, die Rückeroberung ihres gesamten Territoriums, rückt immer weiter in die Ferne, vielleicht sogar endgültig außer Reichweite. Es gelingt ihr umgekehrt seit Monaten immer weniger, dem Vormarsch der russischen Übermacht in der Ukraine standzuhalten. Vom Standpunkt der ukrainischen Führung muss es aber weitergehen. Eine Alternative zum Töten und Sterben für das Überleben der eigenen Herrschaft auf ukrainischem Boden sieht diese für ihr Volk nicht vor.
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Selenskyjs Siegesplan
Ein Offenbarungseid über eine ukrainische Illusion und den westlichen Zynismus im 6. Halbjahr des Ukraine-Kriegs
Es läuft nicht gut für die Ukraine. Ihr Kriegsziel, die Rückeroberung ihres gesamten Territoriums, rückt immer weiter in die Ferne, vielleicht sogar – wie die regierenden und journalistischen Experten immer öfter vermelden – endgültig außer Reichweite. Es gelingt ihr umgekehrt seit Monaten immer weniger, dem Vormarsch der russischen Übermacht in der Ukraine standzuhalten. Sie ist fast an der gesamten Front in der Defensive und muss eine umkämpfte Stellung nach der anderen verloren geben. Ihre Armee wird dezimiert, ihre militärische wie zivile Infrastruktur fortschreitend zerstört, das Land immer unbewohnbarer gemacht.
Von ihren westlichen Sponsoren wird sie dabei nach wie vor mit standhaften Solidaritätsbekundungen überschüttet. Diese können freilich den immer fester werdenden Standpunkt nicht zudecken, dass sie der Ukraine nicht mehr zutrauen, die Initiative im Kriegsgeschehen zurückzugewinnen; dass sie den Abnutzungskrieg nicht viel länger durchhält und ihn auf mittlere Frist verlieren wird. Die Waffen, die sie für nötig hält, um den Krieg zu wenden, die Zerstörung von Land und Leuten endlich wieder für ihren Souveränitätsanspruch produktiv zu machen, bekommt sie nicht. Was sie seit zweieinhalb Jahren an Aufrüstung stattdessen bekommt, taugt exakt dazu, beim Verschleißen der russischen Militärmacht ihr eigenes sachliches und menschliches Kriegsinventar so weit abzunutzen, dass sie nun an einen Punkt gekommen ist, an dem es nicht mehr weitergehen kann.
Vom Standpunkt der ukrainischen Führung muss es aber weitergehen. Eine Alternative zum Töten und Sterben für das Überleben der eigenen Herrschaft auf ukrainischem Boden sieht diese für ihr Volk nicht vor. Verhandlungen über einen möglichen Waffenstillstand, bei denen bloß die Besiegelung ihrer fortschreitenden Verluste droht, kommen da nicht infrage.
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Aus dieser Lage heraus startet die Ukraine im Spätsommer eine überraschende Offensive: Sie „trägt den Krieg nach Russland hinein“ (Selenskyj). Obwohl ihrem Militär die Ressourcen zur Verteidigung der aktuellen Frontlinie jetzt schon fehlen, verlagert es seine wertvollen Eliteeinheiten und Luftverteidigungssysteme und fällt mit mehreren Brigaden in die russische Region Kursk ein, wo es nach eigenen Angaben 1000 km² unter seine Kontrolle bringt. Obwohl die Ukraine selbst fortschreitende Gebietsverluste zu verzeichnen hat, entschließt sie sich dazu, den Spieß umzudrehen und die territoriale Integrität ihres übermächtigen russischen Gegners durch Invasion und Besetzung seines Territoriums zu verletzen. Für dieses spektakuläre Vorwärtsmanöver nennt der militärische Chef der Ukrainer auffallend defensive Gründe:
„In der detailliertesten Erklärung der Gründe für den Einmarsch skizzierte Syrskyj die Hauptziele der Operation: Russland soll daran gehindert werden, Kursk als Ausgangspunkt für eine neue Offensive zu nutzen, Moskaus Streitkräfte sollen von anderen Gebieten abgelenkt werden, es soll eine Sicherheitszone geschaffen und der grenzüberschreitende Beschuss von zivilen Objekten verhindert werden, es sollen Kriegsgefangene gemacht und die Moral der ukrainischen Truppen und der Nation insgesamt gestärkt werden.“ (cnn.com, 5.9.24)
Mit einem Auftakt dazu, aus eigener Kraft den Krieg zu wenden, ist der Einmarsch jedenfalls nicht zu verwechseln. Es handelt sich dabei – militärisch gesehen – eher um ein verzweifelt offensives Verteidigungsmanöver aus der Unterlegenheit heraus. [1] Der politische Chef der Ukrainer macht dabei sogleich deutlich, dass es um weitaus mehr geht; die Offensive nach Russland hinein soll vor allem eine demonstrative Botschaft in die ganze Welt hinausschicken:
„Wir sind Zeugen einer bedeutenden ideologischen Verschiebung: Das naive, illusorische Konzept der sogenannten roten Linien gegenüber Russland, das die Einschätzung des Krieges durch einige Partner dominierte, ist in diesen Tagen zerbröckelt... Die Welt sieht, dass in diesem Krieg alles nur vom Mut abhängt – unserem Mut, dem Mut unserer Partner. Von mutigen Entscheidungen für die Ukraine, vom Mut, die Ukraine zu unterstützen.“ (Selenskyj laut FR, 20.8.24)
Was „die Welt sieht“, das sollen die westlichen Unterstützermächte endlich möglich machen. Sie sollen der offensiven Rücksichtslosigkeit der Ukraine gegen die roten Linien der russischen Atommacht entnehmen, dass diese „ein Bluff“, ihre bisher gültigen Beschränkungen im Einsatz der NATO-Waffen also hinfällig sind. „Die Welt sieht“ aus Selenskyjs Perspektive, dass es für die mächtigen Ausstatter der Ukraine keinen Grund mehr gibt, sich auf diese Rolle zu beschränken; sie könnten endlich alles Nötige tun, um aus dem Mut der Ukrainer den glorreichen Sieg ihres Staates zu machen. Aus Selenskyjs Sicht müssen sie das auch, und zwar sofort. Immerhin leistet sich die Ukraine mit dem Einmarsch in Kursk eine Kriegsaktion, die den Übergang vorwegnimmt, für den er damit bei ihren Sponsoren wirbt. Der „mutige“ Einmarsch – den die Ukraine also gerade nicht trotz, sondern wegen ihrer heillosen Unterlegenheit unternimmt – soll die NATO entsprechend in Zugzwang bringen.
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Dieses offensive Plädoyer einer Nation, die an dem „Konzept“ westlicher Kriegführung zugrunde geht, für das sie seit zweieinhalb Jahren hergerichtet wird; dieser Versuch, sich aus der akuten Ohnmacht heraus als das Gegenteil davon zu behaupten, als ein Kriegssubjekt nämlich, das für seinen Kriegszweck jede nötige Unterstützung verdient und lohnend macht – das ist auch der Gehalt des eigenartigen „Siegesplans“, mit dem Selenskyj wenige Wochen später bei seinen NATO-Partnern vorspricht, soweit sie ihm eine Bühne dafür bieten. Der Plan beinhaltet zunächst die durch die Kursk-Offensive praktisch gewordene, demonstrative Forderung an die NATO, den Krieg der Ukrainer, den sie bislang nur unterstützt, endlich zu einem veritablen NATO-Krieg gegen Russland zu machen: Die Bündnismitglieder sollen ihre an die Ukraine gelieferten Luftabwehrsysteme mit eigenen Abschüssen von NATO-Territorium aus ergänzen und alle nötigen Waffen freigeben, um die Ukraine dazu zu befähigen, den Krieg auf russisches Gebiet zu verlagern.
Schon damit wird deutlich, dass es der Ukraine um mehr geht als die Forderung nach mehr und weiterreichenden Waffen zur Durchsetzung ihrer Kriegsziele. Es geht ihr um nicht weniger als einen neuen Status gegenüber ihren mächtigen Ausstattern, streng genommen um die Auflösung des ganzen Verhältnisses von Auftraggeber und Vorposten, das den Krieg des Westens und die Rolle der Ukraine darin überhaupt ausmacht. Das entscheidende Element von Selenskyjs Siegesplan besteht entsprechend in der „bedingungslosen Einladung“, die die NATO der Ukraine endlich aussprechen soll. Mit ihrer geballten Militärgewalt soll sie zusammen mit der Ukraine Putin beibringen, dass sein Kriegsziel einer neutralen, entmilitarisierten Ukraine ungeachtet aller russischen Erfolge auf dem Schlachtfeld unumkehrbar verloren ist. Dazu schwebt Selenskyj ein „umfassendes nichtnukleares strategisches Abschreckungspaket“ vor, „das ausreicht, um den Staat vor jeder militärischen Bedrohung durch Russland zu schützen“, die Ukraine also in einen hochgerüsteten NATO-Frontstaat verwandelt und Russland genau das beschert, was es im Kampf um seinen Status einer einspruchsfähigen Weltordnungsmacht als die ultimative Bedrohung seiner nationalen Souveränität definiert hat.
Darin, dass die NATO diese Entmachtung Russlands nicht schon vor Jahrzehnten vollzogen hat, macht Selenskyj den historischen Fehler aus, dem die Ukraine nun zum Opfer gefallen ist:
„Seit Jahrzehnten nutzt Russland die geopolitische Unsicherheit in Europa aus, insbesondere die Tatsache, dass die Ukraine nicht Mitglied der NATO ist. Dies hat Russland dazu verleitet, in die Sicherheit der Ukraine einzugreifen. Eine Einladung an die Ukraine, der NATO beizutreten, könnte für das Erreichen des Friedens von entscheidender Bedeutung sein.“ (zitiert nach pravda.com.ua, 16.10.24)
Die Deutung, die Selenskyj seinen Unterstützern da anbietet, ist ein erkennbar gezieltes und offensichtlich aus der Verzweiflung geborenes Missverständnis des gesamten Kriegs. Die westlichen Sponsoren können seit Beginn des Kriegs, auch und gerade bei allen risikobereiten Eskalationen ihrer eigenen Kriegsbeteiligung, nicht oft genug wiederholen: Ihr Kriegsziel einer Entmachtung Russlands schließt gerade nicht die „naive“ oder „ideologische“ Beschränkung, sondern den so klarsichtigen wie eisernen Anspruch ein, es ohne direkten Konflikt mit Russland zu vollstrecken. Der Krieg, den die NATO gegen Russland führen will, ist und bleibt ein Ukraine-Krieg, der in und vermittels dieses Landes geführt wird. Ausgerechnet die durch diesen Krieg vollzogene Ruinierung seines Landes, ausgerechnet den an der Ukraine geführten Beweis, dass sie Kriegsmittel ihrer westlichen Sponsoren ist, führt Selenskyj an, wenn er mit der Forderung an sie herantritt, sie mögen die Ukraine endlich aus der elenden Rolle als bloßes Werkzeug befreien, das sie als ihren Stellvertreter Krieg führen und ausbluten lassen, und sie zu einem echten, gleichrangigen Verbündeten aufwerten, für den sie alles einsetzen. [2] Angesichts dessen, dass die kriegerische Ruinierung des Landes seine Nützlichkeit für die Abnutzung Russlands fragwürdig gemacht hat, sucht Selenskyj nach weiteren Angeboten, mit denen er vor allem in Hinblick auf die anstehenden US-Wahlen das Interesse von skeptischen republikanischen Deal-Makern an der Fortsetzung und Eskalation des Krieges sowie der Aufwertung der Ukraine wecken und seinem „Siegesplan“ den Schein eines echt lohnenden Deals verpassen will. Dabei bedient er sich des Mottos von Trump „Frieden durch Stärke“ und findet auch nach einigen Jahren Abnutzungskrieg noch gute Gründe, warum sich eine verlässlich prowestliche und autonome Ukraine für die Weltmacht auszahlt: Auch wenn die Nation nicht einmal ihre akuten Rekrutierungsprobleme zum Ersatz der gravierend verschlissenen Einheiten an der Front lösen kann, könnten die unversehrten Reste immer noch als „die größten und erfahrensten Streitkräfte“ nach dem Ende des jetzigen Kriegs zur Entlastung der Weltmacht die US-Kontingente in Europa ersetzen und ihren kampferprobten Dienst an der europäischen Friedensordnung fortsetzen. Und auch wenn schon keine Industrie- oder Förderanlagen mehr stehen, verfügt das Land immer noch über „natürliche Ressourcen“ unter seinen verminten Böden, darunter auch „strategisch wichtige Materialien“, die die Partner im „globalen Wettbewerb“ stärken könnten, sofern die Ukraine die territoriale Hoheit über sie nicht ganz verliert und sie dem Feind in die Hände fallen – als wäre das die Eintrittskarte zur NATO. Mit jedem Werbeargument wird deutlicher: Mit seiner Kriegsaktion, seinem Siegesplan und seinen Angeboten wird hier ein ohnmächtig abhängiges Opfer vorstellig.
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Entsprechend fallen die Reaktionen der zwei wirklich entscheidenden Kriegssubjekte aus:
Der russische Kriegsgegner spricht der Ukraine gleich in mehrfacher Hinsicht die Fähigkeit ab, diesem Krieg eine neue strategische Qualität zu verleihen. Erstens behandelt die russische Führung die Besetzung ihrer Gebiete wie alle bisherigen Angriffe auf ihr Kernland als „Terror-Aktion“ des „Kiewer Nazi-Regimes“ und seiner westlichen Unterstützer, die sie „angemessen“ mit einem großangelegten Antiterroreinsatz im Rahmen der „militärischen Spezialoperation“ beantworten wird. [3] Von dem unterlegenen Gegner lässt sie sich keine neue strategische Lage aufnötigen, sondern nutzt umgekehrt dessen Truppenverlagerungen im Zuge der Kursk-Offensive als Gelegenheit, die eigene Offensive im Donbass voranzutreiben, und nimmt sich in ihrer militärischen Überlegenheit die Freiheit, sich das Abräumen der ukrainischen Truppen in Kursk nach eigenem Ermessen einzuteilen. Mit dieser Einordnung der Offensive stellt die russische Atommacht zweitens klar, dass die Ukraine gar nicht in der Lage ist, mit ihrem Einfall in eine Grenzregion die atomare Abschreckungsfähigkeit Russlands herauszufordern. Diese gilt dem einzig entscheidenden Gewaltsubjekt: der NATO. Für entsprechend randständig und irrelevant hält Russland drittens die diplomatische Siegesplan-Offensive der Ukraine und nimmt sie nur ein weiteres Mal zum Anlass, seine Bedingungen für Friedensgespräche dagegenzusetzen. [4]
Das NATO-Sponsorenkollektiv stellt sich zur Kursk-Offensive zunächst so, dass es einerseits der Ukraine auf allen diplomatischen Kanälen jedes Recht dazu zuspricht, ohne andererseits in das einzuwilligen, wofür sie überhaupt ihre Offensive unternommen und ihren Plan entworfen hat: die Adoption des ukrainischen Kriegsziels als sein eigenes und der Ukraine selbst als seinen gleichwertigen Alliierten. Die NATO-Mächte dementieren, an Planung wie Durchführung des Einmarschs irgendwie beteiligt oder auch nur darüber informiert gewesen zu sein. Gerade weil die Ukraine nur durch westliche Unterstützung zu dieser Aktion fähig gewesen ist, und gerade weil diese Eskalation das Risiko eines direkten NATO-Russland-Kriegs in neuer Weise steigert, bestehen sie umso ausdrücklicher darauf, dass es sich bei den über die Grenze rollenden NATO-Panzern um eine autonome Aktion der ukrainischen Kriegspartei handle. [5] Wer da eine Lüge heraushört, sollte auch die deutliche Ansage zur Kenntnis nehmen. Die ist einerseits gegen die russische Atommacht gerichtet, die davon ausgehen muss, dass sie es noch bei weitem nicht mit einem ernsthaften direkten Kriegseinsatz der NATO zu tun hat, und andererseits an den ukrainischen Stellvertreter selbst. Von ihm lässt sich die NATO nicht in Zugzwang bringen; nach eigenen Maßgaben und Kalkulationen lässt sie Krieg führen; das hat die Ukraine bis auf weiteres ohne die geforderte bedingungslose Unterstützung inklusive der Freigabe des Einsatzes von weiterreichenden NATO-Waffen tiefer ins russische Kernland hinein zu tun.
An ihrem „Konzept“ des Kriegs gegen Russland zweifelt die NATO allenfalls in einer Hinsicht: Die Fähigkeit des Stellvertreters, ihm weiterhin gerecht zu werden, wird immer fragwürdiger. Dadurch, dass der bis an den Rand der Untauglichkeit als Kriegspartei verschlissen wird, sieht sich die US-geführte NATO nicht zu einer Aufgabe ihres frei berechnenden Umgangs mit dem Krieg und ihrem dafür benutzten Instrument genötigt. Sie hält ihren Stellvertreter am Leben, sorgt für den Fortbestand seiner Handlungsfähigkeit als Kriegspartei und seiner staatlichen Existenz überhaupt, damit er als ihr Instrument und gemäß ihren Vorgaben fungiert, ohne dass er seinem Kriegsziel näher gebracht würde und ohne dass er aus dieser Indienstnahme irgendwelche Ansprüche an die NATO ableiten könnte. Sofern diese Rollenverteilung feststeht, kann der Westen umgekehrt mit der offensiven Verzweiflungstat der Ukraine durchaus etwas anfangen: Sie soll dann eben die Reaktionen Russlands und überhaupt die Grenzen dessen austesten, was mit dem Stellvertretermodell noch geht. In genau dem Sinne soll die Ukraine – und zwar gerade in dem Moment, wo sie bei ihren Sponsoren um Entlastung fleht – vor ihrer eigenen Haustür kehren. Sie soll schauen, was ihr eigenes Volk noch hergibt, insbesondere das Einzugsalter für den Militärdienst von 25 auf 18 Jahre absenken, bisher noch gepflegte Rücksichtnahmen auf die Zukunft ihres Volkes fallen lassen und so für den dringend benötigten Nachschub für die dezimierten Einheiten an der Front sorgen. [6] Wenn sie sich nur entschieden genug auf ihre eigenen Fähigkeiten besinnt, die ihr der Westen mit seiner Aufrüstung so großzügig entwickelt, dann ist sie laut des noch amtierenden US-Verteidigungsministers auch ohne weiteres NATO-Engagement zum Sieg fähig. [7]
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Die Erpressung wirkt. Zumindest insoweit, als die Ukraine sich bereit erklärt, den Anspruch auf eine Absenkung des Einzugsalters „zu berücksichtigen“, also die bisherige Berücksichtigung der Rolle der jüngeren Erwachsenengenerationen im zivilen Leben als künftige Familienväter und ausgebildete Fachkräfte entsprechend zu überdenken. Aber wiederum nur dann, wenn eine „Zunahme der Waffenlieferungen aus dem Westen“ erfolgt. [8] Darüber hinaus verweist Selenskyj auf die nordkoreanischen Truppen, die Russland als Verstärkung der eigenen Kräfte in der Region Kursk angeblich aufmarschieren lässt, und erneuert damit seine abermalige Forderung nach NATO-Truppen auf ukrainischem Boden:
„‚Das ist der erste Schritt zu einem Weltkrieg‘. Das sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf einer Pressekonferenz in Brüssel zu einem möglichen Eingreifen Nordkoreas. Würde die NATO auf Truppen aus Pjöngjang in der Ukraine mit eigenen Soldaten reagieren, würde sich aus dem von Aggressor Russland begonnenen Ukraine-Krieg schnell ein weltweiter Konflikt entwickeln. Doch: Eine NATO-Entscheidung zur Entsendung von Kampftruppen gilt dagegen derzeit als ausgeschlossen, eben weil Bündnismitglieder wie Deutschland und die USA befürchten, dass dadurch ein Dritter Weltkrieg ausgelöst werden könnte. Selenskyj forderte dennoch eine internationale Reaktion. ‚Die Ukraine wird faktisch gezwungen sein, in Europa gegen Nordkorea zu kämpfen‘, konstatierte der Staatschef am 26. Oktober 2024 in seiner abendlichen Videobotschaft. Das Ausbleiben entschlossener Schritte der Verbündeten motiviere den russischen Präsidenten Wladimir Putin nur zu weiterem ‚Terror‘.“ (FR, 30.10.24)
Sein Appell wirkt – auch wenn er weiterhin nicht in ukrainischem Sinne erhört wird: NATO-Soldaten wird es zwar definitiv nicht geben, aber die Auftraggeber und Ausstatter der ukrainischen Soldaten leisten durchaus ihren eigenen Beitrag zur weiteren Funktionalität des Stellvertreters für ihren Kriegszweck: Die US-Administration nimmt die nordkoreanischen Soldaten zum Anlass, die Bewaffnung der Ukraine auf die nächste Stufe der Eskalationsleiter zu heben. Biden erteilt ihr die lang geforderte Lizenz, die gelieferten weiterreichenden Waffen auch gegen russisches Territorium einzusetzen – zunächst begrenzt auf die Region Kursk, wo die Ukraine sie auch umgehend zum Einsatz bringt. Damit vollziehen die USA und ihre Verbündeten immerhin genau jenen Eskalationsschritt, von dem Russland sie mit einer Revision seiner Nukleardoktrin abschrecken wollte. Auf die jüngsten ukrainisch-westlichen Eskalationen hatte die russische Führung mit einer Anpassung ihrer Atomwaffendoktrin an die „neuen Umstände“ reagiert und sich dabei konkret auf den Einsatz konventioneller NATO-Waffen gegen russisches Territorium bezogen. Sie präzisiert darin die Bedingungen, unter denen der Gegner mit einem atomaren Gegenschlag zu rechnen hat. [9] Entsprechend bleiben die ukrainischen Angriffe mit den weiterreichenden westlichen Waffen nicht unbeantwortet: Putin nimmt sie zum Anlass, seinerseits dem Krieg einen neuen „globalen Charakter“ zuzuschreiben, und schreitet zur Gegeneskalation. In der Logik der bisherigen Eskalation russischer Atomdrohungen lässt er nun erstmals unter Kriegsbedingungen eine neuartige Mittelstreckenrakete testen und führt damit eine atomar bestückbare Waffengattung in den Ukraine-Krieg ein, deren Reichweite sich auf sämtliche europäischen Hauptstädte erstreckt. Als Adressat dieser Drohung werden die USA über den Einsatz der Rakete vorab informiert, ihre Zerstörungskraft – die Atomsprengköpfe bleiben außen vor – geht allerdings wie gehabt auf die Ukraine nieder. Aus der Reihe westlicher Militärexperten und sogar aus Kiew kommen inzwischen verhaltene Überlegungen zu einem Tausch „Land gegen Sicherheit“ für die nicht besetzte Rest-Ukraine, der die Katastrophe für das Land unterbrechen und ihre Fortsetzung aufschieben könnte.
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Was weiter aus dem Ukraine-Krieg wird – dies die demokratische Ironie der Geschichte – haben die US-Wähler in die Hand einer neuen Administration gelegt, ohne dafür irgendein eigenes Urteil zu dem Krieg zu brauchen. Trump überprüft und revidiert das gesamte US-Engagement auf der Welt nach dem radikal anspruchsvollen Kriterium, dass keine fremde Macht Amerikas Interessen stören darf und die USA keinen Kostenaufwand für andere betreiben, der sich nicht unmittelbar für die Weltmacht auszahlt. In Bezug auf den laufenden Stellvertreterkrieg ist es noch offen, ob Putin mehr stört oder Selenskyj zu viel kostet.
[1] Die ukrainische Unterlegenheit erklärt Syrskyj dabei zur Quelle innovativer Kriegführung:
„Im Gespräch mit Amanpour, kurz nachdem er am Donnerstag die Frontlinien inspiziert hatte, sagte Syrskyj, es bestehe kein Zweifel daran, dass die Ukraine bei ihrem Versuch, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen, waffentechnisch und personell unterlegen sei. ‚Der Feind hat einen Vorteil bei der Luftwaffe, bei den Raketen, der Artillerie, der Menge an Munition, die er verwendet, und natürlich beim Personal, den Panzern und Schützenpanzern‘, sagte er. Aber Syrskyj sagte auch, dass die Tatsache, dass Russland einen derartigen materiellen Vorteil hat, die Ukraine gezwungen hat, den Krieg intelligenter und effizienter zu führen. ‚Wir können nicht auf dieselbe Art und Weise kämpfen wie die Russen, also müssen wir zuallererst den effektivsten Ansatz wählen, unsere Kräfte und Mittel unter maximaler Ausnutzung von Geländemerkmalen und technischen Strukturen einsetzen und auch die technische Überlegenheit nutzen‘, sagte er und verwies auf das fortschrittliche ukrainische Drohnenprogramm und andere selbst entwickelte High-Tech-Waffen.“ (cnn.com, 5.9.24)
[2] Als einzig mögliche Alternative zur NATO-Einladung bringt Selenskyj die atomare Wiederbewaffnung der Ukraine ins Spiel und erinnert mit Verweis auf das Budapester Memorandum, bei dem die Ukraine leichtfertig auf ihre Atomwaffen verzichtet habe, an das unbedingte Recht seines Landes auf existenzielle Schutzgarantien durch die NATO-Atommächte. Der Verweis auf die Atomwaffe, deren einzigartige Qualität darin besteht, die Siege des Feinds zu entwerten, bringt noch mal zum Ausdruck, worum es Selenskyj geht: Die aktuelle Kriegslage verlangt eine qualitative Eskalation, die Russlands bisherige Erfolge rückgängig machen kann und so einen ukrainischen Sieg wieder in den Bereich des Möglichen rückt. In diesem forschen Anspruch auf atomare Wiederbewaffnung als entscheidendes Mittel autonomer staatlicher Selbstbehauptung hängt Selenskyj freilich erst recht von der Erlaubnis und der tatkräftigen Unterstützung seiner großen westlichen Partner ab. Entsprechend schnell rudert er nach einer Unterredung mit dem NATO-Sprecher wieder zurück und versichert: „Wir machen keine Atombomben.“
[3] „Der russische Föderale Sicherheitsdienst (FSB) soll zusammen mit der Nationalgarde Rosgwardija die Leitung der Antiterroroperationen übernehmen und den effektiven Kampf gegen ukrainische Sabotage- und Aufklärungsgruppen in den Grenzgebieten sicherstellen, sagte Präsident Wladimir Putin... Am 9. August wurde in den Regionen Kursk, Brjansk und Belgorod mit den Antiterroroperationen begonnen. Das Informationszentrum des Nationalen Antiterrorkomitees erklärte, dies sei notwendig, um die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten und terroristische Angriffe des Kiewer Regimes zu unterbinden, das einen beispiellosen Versuch unternommen habe, die Lage in einer Reihe von Regionen Russlands zu destabilisieren.“ (TASS, 12.9.24)
[4] „Friedensinitiativen – jedenfalls wenn sie aus dem Westen kommen – lassen die russische Staatsspitze eher kalt; genauso der so genannte ‚Siegesplan‘ des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Kremlsprecher Dmitri Peskow machte das gerade erst wieder deutlich. ‚Sie wissen, dass jeder Krieg auf die eine oder die andere Weise mit Frieden endet. Aber für uns gibt es absolut keine Alternative zum Erreichen unserer Ziele‘, erklärte er. Sobald diese Ziele erreicht seien, werde auch die ‚militärische Spezialoperation‘ beendet sein.“ (Tagesschau, 24.9.24) „Noch bevor der ukrainische Präsident seine Rede im Parlament beendete, reagierte auch schon Moskau auf Selenskyjs ‚Siegesplan‘. Putins Sprecher Dmitri Peskow sagte, dass ‚dies höchstwahrscheinlich derselbe Plan der Amerikaner ist, uns bis zum letzten Ukrainer zu bekämpfen, den Selenskyj nun getarnt und als Friedensplan bezeichnet hat‘. Dahinter stünde nichts anderes als die amerikanische Absicht, den Krieg weiterzuführen. Peskow fügte hinzu, dass die einzige Option für die Ukraine darin bestehe, ‚die Sinnlosigkeit der von ihr verfolgten Politik zu erkennen‘ und die Gründe zu verstehen, die überhaupt erst zum russischen Einmarsch vor fast 1000 Tagen geführt haben.“ (Berliner Zeitung, 26.10.24)
[5] Die hiesige Öffentlichkeit, die das Kriegsgeschehen emsig begleitet und den moralischen Kompass ihres Publikums eicht, begegnet auch diesem Eskalationsschritt mit der selbstgerechten Gewissheit, dass ungeachtet der Fortschritte des Ukraine-Kriegs ‚wir‘ zu keiner Kriegspartei werden – das ergibt sich schlicht aus der Parteilichkeit für den diesbezüglichen Anspruch der eigenen Führung. Als propagandistische Pflichtübung gewährt sie dem moralischen Dilemma, dass nun erstmals seit dem zweiten Weltkrieg wieder deutsche Panzer in russisches Territorium einfallen, einen kurzen Gastauftritt in ihren Feuilletons, um mit Verweis auf die neuen Eigentumsverhältnisse dieses von uns gelieferten Militärgeräts klarzustellen, dass sich dieses Problem wirklich kein national verantwortungsbewusster und historisch gebildeter Zeitungsleser machen muss. So bestätigt die Offensive der Ukraine und die Erinnerung an rote Linien, die beim bisherigen Einsatz der westlichen Waffen von deren Sponsoren gezogen wurden, ganz im Sinne Selenskyjs die hiesige Öffentlichkeit nur in ihrer Gewissheit, dass dergleichen selbstgesetzte Beschränkungen in der Eskalation des Kriegs schon immer nur Putin geholfen haben.
[6] „Ein hochrangiger [US-]Regierungsbeamter äußerte die Sorge, im Kampf gegen Russland könne es bald an Soldaten mangeln. Die Ukraine stehe vor einem ‚existenziellen Rekrutierungsproblem‘, sagte er. ,Die einfache Wahrheit ist, dass die Ukraine derzeit nicht genügend Soldaten mobilisiert oder ausbildet, um ihre Verluste auf dem Schlachtfeld zu ersetzen und gleichzeitig mit Russlands wachsendem Militär Schritt zu halten‘, sagte der Beamte... Es sei ‚einfache Mathematik‘, sagte die Gewährsperson aus der US-Regierung. Demnach gehe die Ukraine davon aus, dass sie etwa 160 000 zusätzliche Soldaten benötige. Auch andere Verbündete der Ukraine haben nach Angaben aus europäischen Regierungskreisen die Sorge geäußert, dass es Kiew weniger an Waffen als vielmehr an Soldaten fehle... Das Weiße Haus stellte später klar, dass die US-Militärhilfen für die Ukraine nicht abhängig vom Wehrpflichtalter seien. ‚Wir werden der Ukraine auf jeden Fall weiterhin Waffen und Ausrüstung schicken. Wir wissen, dass das lebenswichtig ist‘, erklärte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates in Washington, John Kirby. Die USA seien der Auffassung, dass Kräfte das ‚Wichtigste‘ seien, was die Ukraine brauche, fuhr Kirby fort. ‚Daher sind wir auch bereit, unsere Ausbildungskapazitäten zu erhöhen, wenn sie geeignete Maßnahmen ergreifen, um ihre Reihen aufzufüllen.‘“ (tagesschau.de, 28.11.24)
[7] „Verteidigungsminister Lloyd Austin verteidigte die US-Beschränkungen für Langstreckenraketen in der Ukraine und betonte in einem Interview mit Fox News, dass das kriegszerstörte Land Russland auch ohne solche Fähigkeiten ‚absolut‘ besiegen könne... ‚Ich denke, sie sind in der Lage, weiterhin Langstreckenangriffe durchzuführen, und das werden sie auch tun‘, so Austin, ‚die Ukraine verfügt über viele Fähigkeiten, die wir in Form von Drohnen bereitgestellt haben.‘ ... ‚Sie haben auch die Möglichkeit, ihre eigenen Drohnen zu produzieren. Sie sind sehr effektiv. Tatsächlich haben wir gesehen, wie sie Angriffe oder Operationen durchgeführt haben, die 400 Kilometer jenseits ... der Grenze und sogar noch weiter reichen.‘“ (Fox News, 22.10.24) Für die Entwicklung der eigenständigen Potenzen der Ukraine, den Krieg nach Russland auszuweiten, stiftet die US-Führungsmacht prompt weitere 800 Millionen zum Ausbau der Drohnenproduktionskapazitäten.
[8] „Und wenn europäische oder amerikanische Beamte eine Idee bezüglich des Mobilmachungsalters haben, möchte ich unsere Partner bitten, ihre Arbeit zu tun, und wir werden unsere tun.“ (zitiert nach strana.news, 30.11.24)
[9] „Wörtlich sagte Putin: ‚Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit noch auf etwas anderes lenken: In der aktualisierten Fassung des Dokuments wird vorgeschlagen, dass eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Kernwaffenstaat, aber mit Beteiligung oder Unterstützung eines Kernwaffenstaates, als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation betrachtet werden sollte.‘ Der Kreml veröffentlichte ein Video der Rede Putins zu Beginn des Treffens des Sicherheitsrats-Gremiums zur atomaren Abschreckung. Putin betonte, dass sich die neu gefassten Dokumente zum Einsatz strategischer Atomwaffen auch auf das benachbarte Belarus bezögen, das mit Russland einen Unionsstaat bildet. Dort hatte Putin bereits Nuklearwaffen stationieren lassen. Experten des Verteidigungs- und des Außenministeriums, des Sicherheitsrats und anderer Behörden hätten die Doktrin ausgearbeitet. ‚Wir sehen, dass sich die aktuelle militärisch-politische Lage dynamisch verändert‘, sagte Putin. Demnach ist der Einsatz von Atomwaffen auch möglich, wenn die Existenz der beiden Staaten durch Angriffe auch mit konventionellen Waffen bedroht ist. Putin verwies darauf, dass dies etwa bei massiven Luftangriffen mit Kampfflugzeugen, Marschflugkörpern, Drohnen, Hyperschallwaffen und anderen Flugobjekten der Fall sein könne. Festgelegt worden sei aber in der Atomstrategie auch, dass der Einsatz von Nuklearwaffen die äußerste Maßnahme zum Schutz der staatlichen Souveränität sei.“ (Rheinische Post, 25.9.24)