„Die Selbstgerechten“
Sahra Wagenknechts Abrechnung mit den Linken

Im April 2021 legt Sahra Wagenknecht ihr Buch „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ vor, das zum Bestseller avanciert. Die Kandidatin der Linken präsentiert eine grundlegende Abrechnung mit ihrer eigenen erfolglosen Partei sowie dem „linksliberalen“ Milieu im Allgemeinen. Sie attackiert eine elitäre Grundeinstellung der Linken, denen sie eine Mitschuld gibt daran, dass die deutsche Gesellschaft an einer Spaltung leidet, am „Zerfall unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts“, am fehlenden „Wir-Gefühl“. Diese negative Diagnose, die umgekehrt ihr positives Programm ergibt, ist der Leitfaden der Schrift.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

„Die Selbstgerechten“
Sahra Wagenknechts Abrechnung mit den Linken

Im April 2021 legt Sahra Wagenknecht ihr Buch „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ vor, das zum Bestseller avanciert. Im Vorfeld des damaligen Bundestagswahlkampfes präsentiert die Talkshow-aktive Kandidatin der Linken eine grundlegende Abrechnung mit ihrer eigenen erfolglosen Partei sowie dem linksliberalen Milieu im Allgemeinen. [1] Wie sie im zweiteiligen Titel ankündigt, attackiert sie eine elitäre Grundeinstellung der Linken, denen sie eine Mitschuld gibt daran, dass die deutsche Gesellschaft an einer Spaltung leidet, am Zerfall unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts, am fehlenden Wir-Gefühl. Diese negative Diagnose, die umgekehrt ihr positives Programm ergibt, ist der Leitfaden der Schrift.

Die Abrechnung trägt ihr einerseits die Verärgerung ihrer linken Mitstreiter, vor allem aber den Beifall von rechtskonservativer Seite ein, auf den sie eher nicht aus ist. Wo sie für die einen, denen sie in ihr linkes (Rest-)Gewissen reden will, die Nestbeschmutzerin ist, die nach rechts abdriftet, dient sie der Häme der anderen als Kronzeugin dafür, dass dieser Resthaufen von Linksaußen sich gerechterweise selbst zerfleischt. Mit derartiger Ausgrenzung und Vereinnahmung hat die folgende Prüfung der Argumente, die diese Kritikerin des Kapitalismus darlegt, nichts am Hut.

I. Die Linken räumen das Feld der sozialen Frage

Den erwarteten Shitstorm aus den eigenen Reihen baut die Autorin im Vorwort des Buches selbst gewissermaßen als erstes Indiz für ihre Diagnose ein. Die Spaltung des Gemeinwesens lasse sich an einer passend intoleranten Meinungskultur ablesen:

„Das Meinungsklima wird nicht nur von Rechts vergiftet.“ (S. 11) „Am Niedergang unserer Debattenkultur hat der Linksliberalismus großen Anteil. Linksliberale Intoleranz und rechte Hassreden sind kommunizierende Röhren.“ (S. 13) „Mit diesem Buch positioniere ich mich in einem politischen Klima, in dem cancel culture an die Stelle fairer Auseinandersetzungen getreten ist. Ich tue das in dem Wissen, dass ich nun ebenfalls ‚gecancelt‘ werden könnte.“ (S. 18)[2]

Wenn Wagenknecht von Linksliberalen spricht, die sie intolerant findet, dann steht dieser den Linken nachgesagte Liberalismus für eine selbstbezogene, individualistische Grundhaltung, die linkssoziales Engagement zu einem privilegierten Lebensstil verkommen lässt. Für die diversen Strömungen des linksliberalen Milieus hat sie sich das Schimpfwort Lifestyle-Linke ausgedacht:

„Dominiert wird das öffentliche Bild der gesellschaftlichen Linken heute von einem Typus, den wir im Folgenden den Lifestyle-Linken nennen werden, weil für ihn im Mittelpunkt linker Politik nicht mehr soziale und politökonomische Probleme stehen, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten.“ (S. 25)

Was sie an einem Beispiel aufspießt, das, wie sie meint, schlagender nicht sein kann:

„Doch, die gesellschaftliche Linke kann noch siegen. Sie kann Multis wie den niederländisch-britischen Konsumgüterkonzern Unilever, zu dem die Marke Knorr gehört, in die Knie zwingen. Aufgrund der Rassismusdebatte in den sozialen Netzwerken, teilte das Unternehmen im August 2020 mit, werde der Knorr-Klassiker Zigeunersauce ab sofort unter neuem Namen, nämlich als Paprikasauce Ungarische Art in den Supermarktregalen zu finden sein. ... Freilich, der verschlechterte Tarifvertrag, den Unilever fast zeitgleich zum heroischen Abschied von der Zigeunersauce den 550 verbliebenen Mitarbeitern im Knorr-Stammwerk Heilbronn mit der Drohung aufgezwungen hatte, den Betrieb andernfalls ganz zu schließen, besteht unverändert. Er bedeutet für die Knorr-Beschäftigten Personalabbau, niedrigere Einstiegsgehälter, geringere Lohnsteigerungen und Samstagsarbeit. Anders als die Zigeunersauce hatte all das allerdings nie für bundesweite Schlagzeilen oder gar für einen Shitstorm der sich links fühlenden Twitter-Gemeinde gesorgt.“ (S. 21)

Ihr giftiger Ton gilt hier dem sprachhygienischen Engagement, das sie als Themaverfehlung kritisiert, weil doch – stattdessen – das Unrecht, das den betreffenden Arbeitskräften widerfährt, für linke Empörung sorgen müsste. Damit offenbaren sich gerade diejenigen, die so gerne mit ihrem moralischen Sensorium hausieren gehen, selber als gefühlskalt, als Moralisten ohne Mitgefühl[3] mit den sozial Schwachen. Die billige Retourkutsche, die der Logik nach wie die Polemik insgesamt immer wieder dem Muster eines Anstatt folgt, läuft dem Inhalt nach auf einen zentralen Punkt der Abrechnung hinaus: Die Freunde des linksliberalen Lebensstils kümmern sich um welche Modeerscheinungen des Zeitgeistes auch immer, anstatt ihrem traditionellen politischen Auftrag als Linke nachzukommen. Dass der aber ihre politische Berufung zu sein hätte, daran erinnert die Autorin mit einem Rückblick auf Zeiten der Arbeiterbewegung, als der moralische Kompass der Linken noch stimmte:

„Links, das stand einmal für das Streben nach mehr Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, es stand für Widerständigkeit, für das Aufbegehren gegen die oberen Zehntausend und das Engagement für all diejenigen, die in keiner wohlhabenden Familie aufgewachsen waren und sich mit harter, oft wenig inspirierender Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Als links galt das Ziel, diese Menschen vor Armut, Demütigung und Ausbeutung zu schützen, ihnen Bildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen, ihr Leben einfacher, geordneter und planbarer zu machen. ... Linke Parteien, egal ob Sozialdemokraten, Sozialisten oder auch, in vielen westeuropäischen Ländern, Kommunisten, vertraten nicht die Eliten, sondern die Unterprivilegierten. Ihre Aktivisten kamen überwiegend selbst aus diesem Milieu, und ihr Ziel war es, dessen Lebensumstände zu verbessern. Linke Intellektuelle teilten dieses Anliegen und unterstützten es.“ (S. 23 f.)

In ihrer Es-war-einmal-Erzählung ruft die Genossin Schlagwörter aus kämpferischen Zeiten auf: Armut, Demütigung und Ausbeutung. Einen Aufruf zu Widerständigkeit und Aufbegehren gegen die oberen Zehntausend hat sie dabei nicht im Sinne. Wie auch? Sie will die Spaltung im Lande ja heilen, keine neue aufreißen. Und auch wenn sie sich auf Sozialisten oder Kommunisten beruft und das Reizwort Ausbeutung auffährt, dann nicht, weil die ehemalige Chefin der Kommunistischen Plattform für eine Befreiung der lohnarbeitenden Klasse agitieren will, gegen das proletarische Dasein als mittellose Arbeitskraft, die dem Eigentümer der Produktionsmittel ausgeliefert ist und sich in den Dienst an der Mehrung seines Reichtums stellen muss, für den ihr Lebensunterhalt wiederum nur Unkosten sind. Den Kern des kapitalistischen Klassengegensatzes meint sie gar nicht, wenn sie die Ausbeutung zitiert. Bei ihr ist jeder Gegensatz, jede Unverträglichkeit, die dem Ausdruck immerhin zu entnehmen ist, sogleich entschärft; sie verharmlost das Verhältnis von Kapital und Arbeit zu einer sozialen Ungleichheit. Aus ausgebeuteten Lohnarbeitern werden so Unterprivilegierte – Menschen, die bloß sozial benachteiligt sind und es schwerer haben; aus einer Kapitalistenklasse, deren Reichtum durch die Ausbeutung der anderen zustande kommt, werden Eliten, deren Reichtum oft ungerecht üppig ausfällt. Den Kampf gegen die Ausbeutung der Lohnarbeiter verwandelt Wagenknecht in ein Streben nach mehr Gerechtigkeit für die einfachen Leute, nach deren Anrecht auf das, was ihnen als den Mitgliedern dieser niederen Schicht eigentlich zusteht. Und das ist bescheiden genug: mehr Sicherheit bei der bleibenden Unsicherheit ihrer Einkommensquelle; Möglichkeiten, es eines Tages besser zu haben, es sich zumindest in ihrem Dasein übersichtlicher einrichten zu können: ihr Leben einfacher, geordneter und planbarer zu machen.

Mit aller Selbstverständlichkeit bespricht Wagenknecht diese Menschen – damals wie heute – als ohnmächtige Schutzbedürftige, angewiesen auf politische Parteigänger ihrer Sache, die sich in der gesellschaftlichen Machthierarchie dafür starkmachen, dass die staatlichen Mittel sozial gerecht eingesetzt werden. Kleine Leute bedürfen der Obhut einer politischen Kraft, die ihre Sondernöte im Getriebe der politischen Herrschaft vertritt und dort der bleibenden Notwendigkeit der sozialpolitischen Fürsprache und Fürsorge nachkommt. Wie alle ihre politischen Kollegen beherrscht auch Wagenknecht die rhetorische Umdrehung, ihre herrschaftliche Betreuung wäre ein Auftrag vonseiten der Betreuten. Diesen buchstabiert sie bescheiden als Dienst, dem gemäß die politischen Führer die Anliegen ihrer Schützlinge immer nur teilten und unterstützten. Als volksnahe Freundin der hart arbeitenden Unterschicht verordnet die linke Politikerin so sich und ihrem Stand den eigenen Beruf als Dauerauftrag, um aus der Warte der politischen Elite die Interessen der ideellen Auftraggeber zum Objekt sozialverträglicher Verwaltung zurechtzudefinieren.

Diesen Paternalismus der Betreuung versagen die Lifestyle-Linken ihrer Klientel, so Wagenknechts Vorwurf. Wenn sie ihrerseits die Armut der Lohnarbeiter in einen Fall von Diskriminierung verwandelt, so als wäre sie das Resultat nicht einer (gerechten, weil) sachgemäßen Behandlung als Lohnarbeiter, sondern einer ungerechten Ungleichbehandlung von Menschen, dann kommt sie freilich dem politischen Moralismus der Linken, über die sie so herzieht, recht nahe. Denn das Engagement gegen Diskriminierung als das Anliegen gleicher, gerechter Behandlung und Anerkennung im Gemeinwesen haben gerade die sich auf die Fahne geschrieben. Das veranlasst Wagenknecht, die Trennlinie umso schärfer zu ziehen:

„Da der Lifestyle-Linke mit der sozialen Frage persönlich kaum in Kontakt geraten ist, interessiert sie ihn auch meist nur am Rande. Also, man wünscht sich schon eine gerechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft, aber der Weg zu ihr führt nicht mehr über die drögen alten Themen aus der Sozialökonomie, also Löhne, Renten, Steuern oder Arbeitslosenversicherung, sondern vor allem über Symbolik und Sprache.“ (S. 26)

Eine gerechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft – vielleicht gut gemeint, aber die ist keine Sache von Gender-Sternchen und so Zeug, mit dem diese Linksliberalen ihre soziale Zielgruppe, nicht zuletzt ihr Wählermilieu, aus den Augen verloren haben: Löhne, Renten, Steuern – das ist das eigentliche Kampffeld gegen die Diskriminierung. Für solche materiellen Ungerechtigkeiten sollten diese Moralisten mal Mitgefühl mobilisieren.

Warum aber lässt den heutigen Linken die ungerechte Armut kalt? Wagenknechts Antwort: Weil er mit ihr persönlich nichts zu tun hat. Meint sie die Linken schlicht damit blamiert zu haben, dass sie nicht tun, was sie selbst für angesagt hält, so verschiebt sie ihren Angriff weg vom Inhalt nun ganz auf die Frage, wie es sein kann, dass die nicht tun, was sie sollten. So befindet sie darüber, was das für welche sind, und verortet den Lifestyle-Typus in einer privilegierten Kaste: Sie baut eine soziologische Theorie auf vom Schichtenwechsel und Aufstieg der Leute aus dem links eingestellten Milieu, die deren Anschauungen mit ihrer sozialen Entfremdung von der angestammten Klientel erklärt:

„Wenn sich Parteien und Bewegungen verändern, wenn sich ihre Erzählungen wandeln, dann liegen die Gründe dafür nahezu immer in Veränderungen des sozialen Milieus, von dem sie getragen werden. Auch die Wandlung von der traditionellen Linken zur Lifestyle-Linken hat solche Ursachen. Sie ist ein Ergebnis des Aufstiegs der neuen akademischen Dienstleistungsberufe und der mit ihnen und aus ihnen entstandenen neuen sozialen Schicht großstädtischer, überwiegend gut verdienender Hochschulabsolventen, deren Lebenswelt und deren Wertekanon sich in dem spiegelt, was heute als links gilt.“ (S. 49) „Die akademische Mittelklasse ist ... heute ein weithin exklusives Milieu, das sich überwiegend aus sich selbst reproduziert und in das Aufstiege von weniger begünstigten Positionen aus kaum noch möglich sind. In seinem Alltag lebt dieses Milieu weitgehend unter sich.“ (S. 91)

Was sich der billigen Logik nach wie eine Entschuldigung anhört, will freilich keine sein. Denn die vulgärmaterialistische Milieu-Theorie, der zufolge die soziale Lage das Denken bestimmt, unterbaut nur den moralischen Vorwurf, dass diese Pseudo-Linken sich bloß vorgeblich für die Mitmenschheit engagieren, im Grunde aber nichts als die eigenen Privilegien – insbesondere guten Verdienst und hohe Bildung – verteidigen, für sich und ihren Nachwuchs reservieren wollen. [4]

Ein Egoismus, der sich schon mit der materiellen Besserstellung der linken Bohemiens verrät. So denunziert Wagenknecht diese Leute als welche, die es sich in ihrer elitär exklusiven Filterblase gemütlich machen, wo sie nichts vom einfachen Volk wissen und unter sich bleiben wollen. Und wenn sie – aus dieser Blase heraus – auf die Straße demonstrieren gehen, dann geht es vor allem um Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung – weshalb ihre Forderungen gerne so überzogen sind, dass sie nicht den Hauch einer Realisierungschance haben. Das wird von ihnen noch nicht einmal als Mangel wahrgenommen, weil es ihnen eben statt um Veränderung (S. 37) um nichts als Selbstbildpflege geht. Alles Lifestyle. [5]

II. Die Linken im Sittenspiegel des braven Volks

Womit die einfachen Leute die politische Solidarität von oben verdienen, verdeutlicht die Autorin mit einer Stilisierung und Heroisierung ihrer Lieblingsschicht, die an die moralische Verehrung des Proletariats [6] linker Arbeiterfreunde von einst erinnert, wenn sie ihre Erzählung von der Arbeiterbewegung um eine große von der Arbeiterschaft ergänzt:

„Die große Erzählung der Industriearbeiterschaft ... war getragen vom Stolz auf die eigene Arbeit, die den materiellen Wohlstand produziert, auf den die gesamte Gesellschaft angewiesen ist. Und sie lebte vom Selbstbewusstsein einer sozialen Schicht, die es durch ihren Zusammenhalt und ihre Solidarität geschafft hatte, ihren Interessen gesellschaftliche Geltung zu verschaffen: gegen das Management, gegen das Kapital und überhaupt gegen die da oben. Wir-Bewusstsein, Gemeinschaftsorientierung, Solidarität und gegenseitige Verantwortung waren Grundpfeiler dieses Weltbilds. Nur Belegschaften, die zusammenhielten, hatten im Betrieb eine Chance gegenüber Vorgesetzten und Management. ... Auch in den Wohnvierteln der Arbeiter waren gegenseitige Hilfe und Unterstützung oft überlebenswichtig. Der Zusammenhalt wurde dadurch erleichtert, dass man sich kannte und einander vertraute. Immerhin arbeiteten viele Industriearbeiter ihr Leben lang im selben Betrieb, in dem oft schon der Vater seine Brötchen verdient hatte. Die Arbeiterschaft war daher überwiegend sesshaft und heimatverbunden.“ (S. 62)

Das Sittengemälde von der sozialen Schicht färbt die ökonomische Kategorie der Arbeit sogleich moralisch-psychologisch ein: Aus der Tatsache, dass diese Klasse zur Lohnarbeit verdammt ist, einen Reichtum produziert, von dem sie nichts hat, wird die Quelle von Stolz und Selbstbewusstsein. Wagenknecht abstrahiert einfach vom Verhältnis der Ausbeutung unter der Regie des Privateigentums und rückt die Arbeit ins idyllische Licht einer verdienstvollen Leistung für die ganze Gesellschaft. Verrückterweise, aber konsequent treiben all die elenden Bedingungen kapitalistischer Arbeit dann das Wahre, Schöne und Gute hervor: Zusammenhalt und Solidarität – aus der Not eines Kampfmittels macht diese Freundin der Unterschicht prompt eine Tugend. Die existenzielle Notlage, die erpresserische Konkurrenz, die das Kapital veranstaltet und ausnutzt, übersetzt sie in die besten Voraussetzungen dafür, ein Weltbild zu kreieren und sich eine intakte Sittlichkeit anzuerziehen – ein Zynismus der dialektischen Art. Der immerhin so genannte Kampf ums Überleben in den Armenvierteln, bei dem man einander aushilft, wird als Lehrmeister für Hilfsbereitschaft und Zusammenhalten gefeiert. Die Arbeiterschicht wird dazu beglückwünscht, dass sie tugendmäßig ein Vorbild für das ist, was die gesamte Gesellschaft – heute mehr denn je – so nötig hat: Wir-Bewusstsein, Gemeinschaftsorientierung, Solidarität und gegenseitige Verantwortung. Am Ende sind diese Leute, die ein Arbeitsleben lang aus ihrem Loch nicht rauskommen, auch noch vorbildlich sesshaft und heimatverbunden, weil sie sich mit ihrem Loch so schön identifizieren.

Leicht durchschaubar also, dass Wagenknecht umgekehrt ihre Lifestyle-Linken in jeder Hinsicht wie das negative Zerrbild dieser Helden der Arbeit zeichnet: Deren Lebensstil macht sich nämlich durch seinen Individualismus verdächtig: Generell schätzt der Lifestyle-Linke Autonomie und Selbstverwirklichung mehr als Tradition und Gemeinschaft. (S. 26) Er macht sich für alle möglichen Lebensstile und Diversity stark, die die Gesellschaft in Wahrheit nicht bereichern, sondern die soziale und nationale Gemeinschaft, somit die Identität des Volks zersetzen:

„Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein.“ (S. 102)

Ist dem Linksliberalen im Innenleben des Gemeinwesens dessen übergreifende Identität egal bis verachtenswert, so tritt er nach außen weltoffen und pro-europäisch (S. 25) auf. Das ist alles andere als das übliche Lob, weil es ebenfalls von seinem Mangel an Zugehörigkeitsgefühl zeugt:

„Zu seinen Überzeugungen gehört, den Nationalstaat für ein Auslaufmodell und sich selbst für einen Weltbürger zu halten, den mit dem eigenen Land eher wenig verbindet.“ (S. 25 f.)

So steigert sie ihre Angriffe vom privaten Lebensstil über das verweigerte Wir-Gefühl bis hin zum Vorwurf der Vaterlandslosigkeit. Angeblich lieben diese Gesellen ihr Land nicht und angeblich haben sie diese Untugend vom Neoliberalismus geerbt. Für Globalisierung zu sein, sprich: für den schrankenlosen Markt, auf dem die anarchische Macht der Monopole herrscht, kommt so gesehen nämlich auf dasselbe hinaus, wie sich als Kosmopolit zu verstehen, da mag dieser Weltbürger den Globalisierungsgegner geben, wie er will. [7]

Wenn die Kritikerin der Linken ihre beiden Geschöpfe – den linken Bohemien und den Helden der Arbeit – aufeinandertreffen lässt, kollidieren also Wertvorstellungen, die gegensätzlicher nicht sein können, und das hat die absehbaren Folgen für ein gestörtes Verhältnis, das sie den Linken anlastet:

„... anstatt diese Menschen [die Armen und weniger Privilegierten] zu respektieren und sich einfach für ihre Interessen stark zu machen, begegnet man ihnen meist in der Attitüde des wohlwollenden Missionars, der die Ungläubigen nicht nur retten, sondern vor allem auch bekehren will. Der Lifestyle-Linke möchte ... [ihnen] ihre wahren Interessen erklären und ihnen ihre Provinzialität, ihre Ressentiments und Vorurteile austreiben. Bei den Adressaten kommt das in der Regel ähnlich gut an wie offene Verachtung, und tatsächlich ist es ja auch nur eine Spielart davon.“ (S. 29 f.)

Wenn man den Kapitalismus mit einer moralischen Erziehungsanstalt verwechselt, in der das Proletariat seinen gesunden sittlichen Instinkt ausbildet, dann wappnet es dieser auch gegen suspekte linke Modeerscheinungen aller Art. Das läuft auf ein sehr prinzipielles Kritiktabu hinaus, denn ob die Ressentiments der guten Leute berechtigt sind oder nicht, der Linke versündigt sich am Paternalismus, zu dem er eigentlich berufen ist, wenn er das Volk von oben herab (S. 28) belehrt.

„Wer Mühe hat, sich von seinem wenig auskömmlichen Gehalt einmal im Jahr einen Urlaub zu leisten oder trotz lebenslanger Arbeit von einer schmalen Rente leben muss, der schätzt es nicht, wenn ihm Leute Verzicht predigen, denen es im Leben noch nie an etwas gefehlt hat.“ (Ebd.)

Auch hier gilt: Ob die Volkserzieherei dieser Linken in der Sache verkehrt ist oder nicht, das einfache Volk hat grundsätzlich ein Recht, so etwas nicht zu schätzen, also sich zu verbitten. Schließlich macht es die trostlose Armut nicht nur selber sittlich integer, sondern es genießt aufgrund seiner Lage überhaupt moralische Immunität – insbesondere gegen Leute, die umgekehrt allein aufgrund ihrer materiellen Besserstellung moralisch disqualifiziert sind, Kritik an ihm zu üben:

„Die Arbeiterschaft etwa, die seit ihrer Entstehung auf Loyalität und Solidarität untereinander angewiesen war und ohne Zusammenhalt ihre Interessen nicht durchsetzen konnte und kann, wird sich den Wert von Gemeinschaftsbindungen ganz sicher nicht von linksliberalen Akademikern ausreden lassen.“ (S. 222)

Die vernachlässigte bis verachtete, ausgerechnet von den Linken verratene Klasse ihrer ideellen Stammwähler zahlt diesen das – eben in der ohnmächtigen Rolle als Wahlvolk – zurück. Die gerechte Strafe sind die Wahlniederlagen der eigenen Partei – der Erfolg / Misserfolg ist auch bei der Politikerin Wagenknecht das letztlich schlagende Argument. Dass der geborene Linkswähler der AfD die Stimme gibt, belegt für sie nur, dass der sich zu Recht von den Linken verprellt fühlt. Wenn die AfD als inzwischen führende ‚Arbeiterpartei‘ (S. 17) diesen Zuspruch missbraucht, um ihrerseits das Volk zu spalten, so ist auch das letztlich die Schuld der Linken, welche die einfachen Leute in die verkehrten Arme treiben. Dabei wäre doch die untere soziale Schicht als Stammklientel der Linken und Vorbild des Gemeinwesens wie gemalt dafür, die große Mission in Auftrag zu geben, nämlich alle Schichten der Gesellschaft in einem Wir zu vereinen.

III. Der Nationalstaat als soziale Heimstatt und Schutzmacht der Unterschicht

Wenn Wagenknecht den Linken ein Kritikverbot an der Gesinnung der einfachen Leute auferlegt, dann betrifft das insbesondere die Identifikation des Volks mit der eigenen Nation, was Linke – wie sie meint: sehr zu Unrecht – als Nationalismus diffamieren:

„Die meisten Menschen verstehen sich auch eher nicht als Weltbürger, sondern identifizieren sich mit ihrem Land und – ganz schlimm! – ihrer Nationalität. In Deutschland etwa fühlen sich 74 Prozent ‚stark oder sehr stark‘ als Deutsche. ... Dieses Ergebnis ... ist für den Lifestyle-Linken das beunruhigende Zeichen eines nach wie vor tief verankerten Nationalismus. Wer von der eigenen Regierung erwartet, sie solle sich in erster Linie um das Wohl der hiesigen Bevölkerung kümmern und diese vor internationaler Dumpingkonkurrenz und anderen negativen Folgen der Globalisierung schützen – ein Grundsatz, der unter traditionellen Linken selbstverständlich war – gilt heute als nationalsozial, gern auch mit der Endung -istisch.“ (S. 32)

Die einstige Maxime der sozialistischen Internationale, dass der Proletarier kein Vaterland hat, hat die Autorin offenbar aus dem Gedankengut der traditionellen Linken gestrichen. Sie weiß im Gegenteil gute Gründe für die Unterschicht wie für den Mehrheitsbürger, sich mit dem eigenen Staat zu identifizieren. Sie führt eine soziale Schutzfunktion ins Feld, die sie dem Nationalstaat zu- und zuguteschreibt und für die doch jeder Linke sein müsste. Selbst staatliche Interventionen zugunsten des Standortkapitals dienen so gesehen am Ende dem Schutz der heimischen Arbeiterschaft, und auch der breite Niedriglohnsektor im Land, den sie selber beklagt, irritiert sie nicht darin, dem Nationalstaat im Kampffeld der internationalen Konkurrenz eine volksfreundliche Mission unterzujubeln. In der Forderung, der deutsche Staat solle sich in erster Linie um das Wohl der hiesigen Bevölkerung kümmern, deutet sich an, wen oder was diese linke Politikerin als die Gefahr für die Wohltaten des deutschen Nationalstaats ausgemacht hat:

„Die Arbeitsmigration führt zu wachsender Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt mit entsprechenden Folgen. ... Der deutsche Niedriglohnsektor ... geht zum einen auf die Arbeitsmarktreformen ... unter Gerhard Schröder zurück, die viele Schutzrechte von Beschäftigten aufgehoben und den Unternehmen die Möglichkeit gegeben hatten, großflächig reguläre Vollzeitjobs durch irreguläre Beschäftigungsverhältnisse zu ersetzen. ... Dass die Löhne allerdings in vielen Branchen um bis zu 20 Prozent sanken und selbst ein jahrelang anhaltendes Wirtschaftswachstum daran nichts ändern konnte, das war allein wegen der hohen Migration nach Deutschland möglich.“ (S. 160 f.)

Da erinnert Wagenknecht daran, wer die Konkurrenz mit den Arbeitskräften regelt bzw. veranstaltet und grenzüberschreitend für sich ausnutzt: Staat und Kapital. Aber letztlich sind die Ausgenutzten, also die Migranten das Problem. Die Konkurrenz auf dem deutschen Arbeitsmarkt soll bitte das Privileg der Einheimischen sein. [8] Das gilt nicht nur für den Arbeits-, sondern auch für den Wohnungsmarkt und den Bildungssektor. Auch da setzt Wagenknecht die nationale Ausgrenzung – nüchtern ökonomisch – mit dem Realismus ins Recht, der vom Gesetz des Marktes – Angebot und Nachfrage – als Sachzwang ausgeht:

„Doch nicht nur verschärfte Konkurrenz um Arbeitsplätze und sinkende Löhne sind ein aus hoher Migration resultierendes Problem für die untere Hälfte der Bevölkerung. Die negativen Folgewirkungen betreffen auch ihre Wohnsituation und die Bildung ihrer Kinder. ... Wenn mehr Zuwanderer kommen, gibt es daher mehr Nachfrage nach Wohnungen in den Armutsvierteln, was auch dort nicht ohne Einfluss auf die Miethöhe bleibt. Zum anderen konkurrieren dann mehr Menschen um die begrenzte und aktuell schrumpfende Zahl verfügbarer Sozialwohnungen.“ (S. 164 f.)

Keine Spur von Nationalismus und Ausländerfeindschaft, bloß eine nüchterne Rechnung. Auffällig nur, dass sie in ihrer Mengenlehre genau weiß, wer da zu viel ist im eigenen Land. Doch auch dafür hat sie einen sachverständigen Realismus parat, der den linken Freunden eines ungebremsten Zuzugs leider völlig abhandengekommen ist; nach dem Motto: „Wer soll das bezahlen?“

„Jedes echte Solidarsystem muss die Zahl der Einzahler und Empfänger in einer gewissen Balance halten, um nicht zusammenzubrechen. Normalerweise wird das dadurch gewährleistet, dass solche Systeme nur einem bestimmten Kreis von Menschen offenstehen. Wer potenziell die ganze Menschheit einbezieht, nimmt in Kauf, dass Solidarsysteme, die im globalen Vergleich überdurchschnittliche Leistungen bieten, nicht länger existieren können. Denn soziale Absicherungen auf dem Niveau der westlichen Länder wären auf globaler Ebene selbstverständlich unfinanzierbar.“ (S. 129 f.)

Das fordert zwar noch nicht einmal der weltoffenste Lifestyle-Linke; [9] Wagenknecht weist trotzdem darauf hin, wie unmöglich, wie selbstverständlich unfinanzierbar diese Vorstellung ist. Der linken Volkswirtin ist einfach selbstverständlich: Die staatliche Konfiszierung von Teilen des Einkommens der Lohnabhängigen für die sozialstaatliche Betreuung der zu dieser Einkommensquelle gehörigen notorischen Notlagen findet sie unter dem Titel Solidarsystem so schön, dass sie daran nichts als ein knappes, also kostbares Gut entdecken kann, das als Besitzstand des nationalen Arbeitsvolkes vom Staat treuhänderisch verwaltet gehört. Sodass die gewisse Balance nur dadurch zu halten ist, dass die Mäuler bloß nicht zu viele werden. Wer dabei zu viel ist, versteht sich wieder von selbst: die Ausländer, die ökonomisch wie die Inländer zwar auch bloß andere reich machen und dabei arm bleiben, aber in den bestimmten Kreis von Menschen einfach nicht hineingehören.

Das Prinzip dieser Solidarität ist also eine exklusive, ausgrenzende Angelegenheit, und das begründet seine Verfechterin mit einer Unterscheidung, die am Ende auch den Schein nüchterner Sachlichkeit ablegt. Wagenknecht hat natürlich nichts gegen die Aufnahme politischer Flüchtlinge; aber solche, die ein besseres Leben suchen, also aus materiellen Motiven aus- und hier zuwandern, die kann sie nicht so gut leiden: Die einen, die Flüchtlinge, müssen ihre Heimat verlassen, die anderen, die Migranten, wollen das nur, „weil sie sich dort [in den reicheren Ländern] eine bessere Perspektive erwarten“ (vgl. S. 142 f.). Da könnte ja jeder kommen. Natürlich fügt sie die bewährt verlogene Sorge an, dass die, die hier zu viele sind, dann ihrem armen Herkunftsland fehlen. Aber unmissverständlich ist die moralische Scheidelinie, die sie zieht: dass es doch schlicht ungerecht ist, wenn Leute in ein Solidarsystem einwandern und von diesem ausgehalten werden, für das sie noch nichts geleistet haben. Wenn 70 % der zum Teil hochqualifizierten Flüchtlinge hier von Hartz IV leben, dann „entstand der Eindruck, dass Hartz-IV-Leistungen Menschen zugutekommen, die eigentlich gar nicht dazugehören und nie für diese Leistungen gearbeitet haben“ (S. 217).

An Grenzziehungen dieser Art, hinter denen die Vorstellung steht, das nationale Gemeinwesen sei so etwas wie ein gerechter Abtausch und Ausgleich von Geben und Nehmen, schließt das Verständnis dafür an, dass die eingeborenen Hilfsbedürftigen dann Nicht-Staatsangehörige aus der schönen Solidargemeinschaft ausschließen wollen und auf einen Sozialstaat mit seinem Solidarsystem pfeifen, wenn der zu Unrecht die Fremden alimentiert. Je mehr das der Fall ist, desto mehr Verständnis dürfen diese Leute für den Gefühlswandel erwarten, der sich bei ihnen einstellen muss:

„Das Gefühl der Verpflichtung gegenüber ärmeren Mitbürgern schwindet in dem Maße, wie der Kreis der Hilfsbedürftigen auf Nichtstaatsangehörige erweitert wird. ... Je mehr die Menschen das Gefühl haben, soziale Leistungen kämen überproportional anderen zugute, also Menschen, mit denen sie sich nicht verbunden fühlen und die in ihren Augen kein wirkliches Anrecht auf gesellschaftliche Solidarität haben, desto mehr verliert sozialstaatlicher Ausgleich an Zustimmung.“ (S. 217)

Und wo die Berufung auf die Sachzwänge des Nationalstaats und seiner Sozialökonomie in Wagenknechts Verständnis fürs gesunde Gerechtigkeitsgespür ihrer Klientel mündet, da ist der Übergang vom patriotisch besichtigten Arbeits- und Wohnungsmarkt zu elementaren Empfindungen des Heimatgefühls schon fast keiner mehr:

„Die Mehrheit ist auch durchaus bereit, Flüchtlingen und Verfolgten zu helfen. Sie möchte allerdings nicht mit immer mehr Zuwanderern um Arbeitsplätze und Wohnungen konkurrieren und sie ist auch nicht einverstanden, wenn sich der eigene Lebensraum bis zur Unkenntlichkeit verändert.“ (S. 197) Und so erscheint es Wagenknecht auch nur natürlich, dass „Menschen ... sich unsicher fühlen, wenn sie in einem öffentlichen Verkehrsmittel allein mit einer größeren Gruppe von Männern unterwegs sind, die eine fremde Sprache sprechen“ (S. 32).

Bei diesen Übergängen braucht man nicht mehr zu fragen, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Wenn sich – welche Perversion! – der Inländer als ‚Einwanderer‘ im eigenen Viertel (S. 169) fühlen muss, wundert sich Wagenknecht jedenfalls nicht mehr, wenn die aggressive Seite des Heimatstolzes hervortritt, die freilich stets aus verständlichen Ängsten sowie dem Gefühl von Bedrohung und Verunsicherung resultiert, da mögen die sachlich noch so absurd sein.

„Menschen werden intoleranter, wenn sie verunsichert sind und sich bedroht fühlen. Die Bedrohung kann ihre soziale Lage betreffen, ihr Lebensumfeld oder ihre Werte und ihre moralische Ordnung. Je größer die Verunsicherung und je akuter die Bedrohung empfunden wird, desto unduldsamer wird der Umgang mit Andersdenkenden, vor allem dann, wenn sie mit der Bedrohung in Verbindung gebracht werden.“ (S. 200)

Intoleranz und fremdenfeindliche Ressentiments können unschön ausarten, aber sie haben im Ausgangspunkt ihren objektiv guten Grund, man muss dem gerade als Linker mindestens mit Empathie begegnen, keinesfalls darf man den bodenständigen Rassismus in die rechte Ecke stellen. Denn besagte Rache der Protestwähler, die der Rechten ihre Stimme geben, weil sie sich von allen anderen politischen Kräften sozial im Stich gelassen und kulturell nicht mehr wertgeschätzt fühlen (S. 174), zeigt nicht, wie Linke glauben machen wollen, deren rechte Gesinnung (S. 184), sondern die rechten Parteien ködern und verführen das eigentlich linke Wahlvolk mit eigentlich linken Programmen. Deren Wähler kritisieren nämlich Egoismus und Profitstreben (S. 178) – und rechte Regierungen lassen sogar linke Taten folgen: Von Trumps Schaffung von Industriearbeitsplätzen unter nationalem Schutzmantel über die couragierte Sozialpolitik der PiS bis zu Le Pens Programm, das wirtschafts- und sozialpolitisch eher links ist (S. 184) – die Linke hat den Rechten ihr Kampffeld überlassen. Andererseits beweist das der Genossin, dass die Signale der Zeit auf links stehen müssen, wenn selbst die Rechten nicht daran vorbeikommen. Und was machen linksliberale Kulturkämpfer? Sie hören die Signale nicht, erfinden sich einen Feind namens rechter Zeitgeist und kämpfen um die Lufthoheit über den Seminartischen (S. 201).

*

Um antiintellektuelle Seitenhiebe ist Wagenknecht nicht verlegen, wenn sie sich als Patronin des schlichten Volks inszeniert. Wenn sie aber meint, ihre Moralpredigt sollte auch noch mit der Autorität der Wissenschaft Eindruck machen, gibt sie selbst die Akademikerin. So unternimmt sie zu Beginn des zweiten Teils des Buches einen Ausflug in die Menschheitsgeschichte, Politologie, Soziologie, Anthropologie, um eines unwidersprechlich zu machen: Die nationalstaatlich eingehegte Sittlichkeit ist nicht nur der Natur des Arbeitsvolks gemäß, sondern sie entspringt der Natur des Menschen schlechthin. Also leiert sie dasselbe, was sie ihrer Erzählung vom Arbeitshelden abgerungen hat, nochmals an einer Erzählung vom Menschengeschlecht heraus:

„Menschen leben in Gemeinschaften und sie brauchen das Miteinander. Das gilt für alle Zeiten und letztlich für alle sozialen Schichten. Jahrtausendelang bedeutete gesellschaftliche Isolation für den Einzelnen sogar den sicheren Tod. Solche Erfahrungen prägen. ... Es bedeutet auch, dass Menschen es zutiefst verinnerlicht haben, im Rahmen von Gemeinschaften zu denken. ... Eine Schlüsselkategorie zur Abgrenzung von Gemeinschaften ist die Unterscheidung von zugehörig und nicht zugehörig. In einer intakten Familie fühlen wir uns anderen Familienmitgliedern enger verbunden als Menschen, die nicht zur Familie gehören. Wir sind eher bereit, Familienmitglieder zu unterstützen als Fremde. ... Das ist kein moralisch fragwürdiges, sondern ein normales menschliches Verhalten.“ (S. 205)[10]

Die so geschichtslosen wie von jeder Gesellschaftsform unabhängigen Konstanten namens Miteinander und Gemeinschaft sind in dem Fall nicht erst von der kapitalistischen Konkurrenz, sondern waldursprünglich von der Natur erzwungene Überlebensstrategien. Dabei fällt auf, wie selbstverständlich sich – schon im Neandertal – aus dem Miteinander das Gegeneinander ergibt, mit der Eingrenzung geht eh und je ebenso naturwüchsig die Abgrenzung einher. Der Gegensatz, der am Kreis der Familie mit dem bloßen Unterschied plausibel werden soll, ob man einander kennt oder nicht, gilt dann, ein paar menschheitsgeschichtliche Stationen weiter, nicht bloß für die eigene Stammesgemeinschaft, sondern für Millionen Volksgenossen, die man nun nicht mehr persönlich zu kennen braucht. Was mit der Steinzeitfamilie und einer wie auch immer definierten Gemeinschaft anfängt, landet zielgenau bei der modernen Nation, also der staatlichen Hoheit und der ihr als Volk zugehörigen und ihrem Kommando unterstellten Gesellschaft:

„Schon sehr früh begannen Menschen, sich auch mit größeren Gemeinschaften zu identifizieren, solchen, in denen sie nicht alle Mitglieder persönlich kannten. ... Zu den besten Zeiten der Arbeiterbewegung war der soziale Status des Arbeiters Kern einer selbstbewussten Identität, die die moralische Pflicht zur Solidarität mit anderen Arbeitern einschloss. Wer sich mit seinem Dorf, seiner Region oder seinem Land identifiziert, fühlt sich all denen, die in einem bestimmten Territorium leben und seine Traditionen, seine Kultur und seine Brauchtümer pflegen, enger verbunden als Menschen, für die das nicht gilt. Dass Mitgliedern einer wie immer definierten Gemeinschaft eher vertraut wird als denen, die nicht dazugehören, ist keine irrationale Marotte, sondern ein Verhalten, das sich jahrhundertelang bewährt hat.“ (S. 205 f.)

Die Erzählung von der schon sehr alten Gewohnheit der Menschen, sich mit Gemeinschaften zu identifizieren, ersetzt jeden Grund, warum sie das tun oder tun sollten. Der selbstbewusste Arbeiter, der wegen des Interessengegensatzes zum Kapitalisten einen Grund zum Zusammenhalten mit seinesgleichen hatte, steht neben dem Dörfler und dem Staatsbürger, der dafür keinen Grund braucht und sich einfach an das Immer-Schon von Tradition und Brauchtum hält. Diese Marken bornierter Zugehörigkeit hält Wagenknecht in Ehren und kann sogar mit dem rechten Schlagwort Leitkultur etwas anfangen:

„Wenn man den Begriff Leitkultur sinnvoll definieren will, sollte man darunter die durch kulturelle Überlieferung, Geschichte und nationale Erzählungen begründeten spezifischen Werte und typischen Verhaltensmuster innerhalb einer Nation verstehen, die Teil ihrer gemeinsamen Identität sind und auf denen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl beruht.“ (S. 240)

Weil sie sich für die Lebenslüge des Klassenstaats, dass alle Gegensätze in einem nationalen Wir aufgehoben sind, so begeistert, schätzt die vormalige Galionsfigur der Linken auch die Leitkultur als den – so nennt sie es affirmativ – Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält und diese Harmonie stiftet.

Der Ertrag dieses Exkurses: Er soll nicht nur Wagenknechts sittliches Leitbild für die Gesellschaft wasserdicht machen, sondern dreht ihre Polemik gegen die Linken eine Volte weiter. Diese Typen, welche „der bindungslose Selbstverwirklichungs-Individualismus und die linksliberale Weltbürgerlichkeit“ (S. 223) umtreiben, müssen sich auch von der modernen Glücksforschung sagen lassen: Menschen streben nicht nur nach Freiheit und Autonomie, sondern auch nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit. (S. 224) Soll heißen: Dieser linke Typus hat sich nicht nur vom einfachen Volk, sondern letztlich von dem entfremdet, was nur menschennatürlich ist. Solche Linke negieren den Patriotismus nicht nur bei ihren Adressaten, sondern unterdrücken dieses durch Jahrtausende bewährte, normale, also urmenschliche Bedürfnis nach Zu- und Zusammengehörigkeit an sich selbst.

IV. Der vom Nationalstaat regulierte Kapitalismus: Ein Idyll völkischer Gerechtigkeit

Wenn die Autorin ihren programmatischen Gegenentwurf einer in einem gebändigten Kapitalismus lebenden Gesellschaft vorstellt, stellt sie diesen unter die Maxime Leistungsnarrativ. Während sie dem Lifestyle-Linken nachsagt: Überkommene Werte wie Leistung, Fleiß und Anstrengung findet er uncool. (S. 26) – bekennt sie sich tapfer zu ebendiesen Werten und behauptet: Wertkonservativ und zugleich links zu sein, ist kein Widerspruch. (S. 226) Schließlich versteht sich Wagenknecht nach wie vor als Kritikerin des Kapitalismus, und den kritisiert sie genau aus der Warte dieser konservativen Werte.

So ist in diesem System einiges in Schieflage, gerade da, wo es ohne Leistung was zu holen gibt. Von dem Ruin des nationalen Sozialsystems durch Zuwanderer, die zu diesem nichts beigetragen haben, war schon die Rede. Auch vom bedingungslosen Grundeinkommen hält diese Linke gar nichts, denn es ist ein Almosen ohne Gegenleistung, was nicht zuletzt dem Arbeitsstolz der Betroffenen abträglich ist. Der Hund ist aber vor allem am anderen Ende der sozialen Hierarchie begraben, wo die Reichen (sich) ihr Einkommen nicht redlich verdienen. Gemeint sind Unternehmer, die ihr Eigentum nur ererbt haben, und natürlich die Finanzhaie, die sich im Zuge von Wirtschaftsliberalismus und Globalisierung (S. 257) länderübergreifend breitgemacht haben und die Wirtschaft in ihren Klauen halten. Wenn Wagenknecht mehrfach davon spricht, dass das zentrale Ziel kapitalistischen Wirtschaftens darin besteht, aus Geld mehr Geld zu machen (S. 60, vgl. S. 273 f.), meint sie gar nicht, damit das ökonomische System kritisiert und verurteilt zu haben, in dem der materielle Lebensprozess der Gesellschaft – Arbeit und Produktion – der endlosen Selbstvermehrung des Geldes unterworfen ist. Es kommt nämlich ganz darauf an: Wenn ein funktionierender Wettbewerb herrscht, dann zwingt er die Unternehmen dazu, ihren typisch kapitalistischen Bereicherungstrieb mit nützlichen Leistungen für das gesamte Gemeinwesen zu befriedigen: mit technischem Fortschritt, neuen Produkten und immer produktiver gemachter Arbeit. Dann stellt sich der gesellschaftliche Ertrag ein, den Wagenknecht offenbar – jenseits des zentralen Ziels und des eigentlichen Antriebs – für den noch eigentlicheren Sinn der Veranstaltung hält. [11] Dass die gelobte Steigerung der Arbeitsproduktivität nur stattfindet, um den Gewinn des Unternehmens zu steigern, indem der in jedem produzierten Gut enthaltene Lohnkostenanteil verringert (S. 60) wird, ist der linken Volkswirtin klar; dass also die Arbeiter im Verhältnis zum Reichtum, den sie der anderen Seite schaffen, ärmer werden, wenn sie für denselben Lohn immer mehr Produkte herstellen, bzw. wenn immer weniger Leute von der Produktion dieser Güter als Lohnarbeiter leben können – das hält sie wohl für einen Preis der Mehrung des gesellschaftlichen Wohlstands, der nicht weiter ins Gewicht fällt. Dem Kapitalismus unserer Tage macht sie nämlich den Vorwurf, genau diesen Fortschritt schuldig zu bleiben, nämlich innovationsfaul geworden zu sein. Weder erbringt er noch beruht er auf einer gesellschaftlich nützlichen Leistung:

„Der Kapitalismus ist schon lange nicht mehr so produktiv und innovativ, wie er einmal war und wie es ihm heute noch zugeschrieben wird. Er ist auch längst keine Leistungsgesellschaft mehr, sondern eine, in der die Herkunft wieder entscheidend für die persönlichen Lebenschancen ist und nicht die eigene Anstrengung.“ (S. 272 f.)

Da kann sich die kapitalistische Wirtschaft mit grüner Energie, Digitalökonomie [12] und Silicon Valley täglich neu erfinden, wie sie will. Da wird zwar an allen möglichen Ecken und Enden Geld verdient, werden hohe Gewinnspannen realisiert – misst man das aber an der Fiktion, kapitalistischer Fortschritt sei eigentlich doch für etwas anderes, nämlich für das Lösen von Gesellschafts- oder Menschheitsproblemen da, ergibt sich die Diagnose vom Misserfolg: Der Kapitalismus lebt sich heute überwiegend in Bereichen aus, die zur Lösung der wirklich großen Probleme kaum etwas beitragen (S. 273). Er dient nicht einem leistungsgerecht ermittelten Allgemeinwohl. Den Idealismus ihres Beurteilungsmaßstabs verwechselt Wagenknecht so radikal mit dem System selber, dass sie glatt meint, dieses funktioniere nicht mehr, wenn es die Verwirklichung ihrer Vorstellungen schuldig bleibt.

Wagenknecht selber hält sich freilich für alles andere als eine Idealistin. Mit einem wirklich grotesk verklärenden Blick auf die Aufstiegsgesellschaft der deutschen Nachkriegszeit führt sie vor, dass es weder weltfremd noch umstürzlerisch ist, vom Kapitalismus die Rückbesinnung auf das Gute in ihm einzufordern; er war nämlich ihrer Auffassung nach schon einmal viel weiter:

„Tatsächlich belohnte die westliche Aufstiegsgesellschaft bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts persönliche Leistung, Bildungsbemühungen und Fleiß. Die soziale Schichtung war durchlässig geworden, wer sich anstrengte, konnte sich hocharbeiten, diese Erfahrung hatten Millionen Menschen gemacht. ... Ebenso trifft zu, dass die ersten anderthalb Jahrhunderte kapitalistischen Wirtschaftens von einem beispiellosen technologischen Wandel und einem noch nie dagewesenen Produktivitäts- und Wohlstandswachstum begleitet waren.“ (S. 270 f.) „Wenn der Kapitalismus seine beste Zeit in den fünfziger bis siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte, lag das nicht zuletzt daran, dass er damals nicht annähernd so kapitalistisch war wie heute.“ (S. 282)

Was also macht den Unterschied zwischen gutem und bösem, mehr oder weniger kapitalistischem Kapitalismus aus? Der Profittrieb wird zu arg und ungerecht, wenn die berüchtigten Monopole den fairen Wettbewerb aushebeln. Und wo wie die Gewinne der Digitalökonomie ... auch die der Finanzbranche überwiegend auf Wertabschöpfung und nicht auf Wertschöpfung (S. 278) beruhen, da mündet Wagenknechts Unterscheidung wieder in die ökonomisch sachfremde, weil moralische Entgegensetzung von raffendem und schaffendem Kapital. Sie zeichnet das fiktive, schon in sich widersinnige Idyll einer an der Schaffung von Gebrauchswerten sowie an der leistungsgerechten Verteilung des Geldreichtums orientierten Produktionsweise und kennt deren Feinde:

„Zu einer echten Leistungsgesellschaft gehört natürlich auch das ... Leistungseigentum ... also ein Eigentum, das sicherstellt, dass von den Früchten der Arbeit in einem Unternehmen die profitieren, die diese Arbeit leisten, von der Geschäftsführung bis zum einfachen Arbeiter, nicht aber unternehmensfremde Eigentümer, die die Betriebsstätte noch nie von innen gesehen haben.“ (S. 299)

Dieses echte Leistungseigentum scheidet nicht länger die Eigentümer der Produktionsstätten von mittellosen Dienstkräften und die Arbeit von ihrem Produkt, sondern es stellt sicher, dass die Leistungsträger im Betrieb vom bodenständigen Chef bis zum Hilfsarbeiter an einem gemeinsamen, zumindest gerecht aufgeteilten Wohlstand arbeiten, wie auch immer sich so eine Gerechtigkeit begründen mag. So gesehen wird der Kapitalist ein echter Unternehmer, der mit seinen Beschäftigten den Leistungswillen gemein hat:

„Die Motivation echter Unternehmer ist, wie schon Schumpeter wusste, eine andere als die von Kapitalisten. Unternehmer gründen Unternehmen, arbeiten in ihnen und machen sie groß. Kapitalisten investieren Geld und wollen Rendite sehen.“ (S. 293)

Auf der Bühne von Wagenknechts Rührstück finden alle Figuren der kapitalistischen Gesellschaft zum großen Miteinander. Echte Unternehmer, solide Banker sind ebenso mit von der Partie wie die gute Pflegekraft, der einfache Arbeiter und gute Ingenieure und motivierte Facharbeiter, die wieder an die Lebenslüge des selbst verdienten sozialen Aufstiegs durch harte Arbeit glauben dürfen – nur die Erzählung ‚Vom Tellerwäscher zum Millionär‘ (vgl. S. 52) erscheint Wagenknecht etwas übertrieben. Die Kluft von arm & reich soll nur eben nicht allzu groß werden, wenn jeder an seinem Platz in der Hierarchie der gerechten Unterschiede zum Gemeinwohl und damit zum Wir-Gefühl beiträgt.

Wie schön könnte es also zugehen, wäre da nicht der Sündenfall der Globalisierung, der Herrschaft des großen Geldes, der Überfall der Heuschrecken und der den fairen Wettbewerb verzerrenden Monopole. Dafür, dass der Kapitalismus und seine Gesellschaft wieder ins Lot kommen, wäre der Staat – auf die globale Ebene bezogen: der Nationalstaat – gefordert, um bändigend einzugreifen. Der Kapitalismus gehört letztlich auch zu seinem eigenen Wohl eingehegt und stark reguliert (S. 282). Diesen Idealismus, die eigene Wertvorstellung der Ökonomie als deren eigentlichen Zweck zu unterstellen, überträgt Wagenknecht konsequent auf den Staat. Nur so kommt sie zu dem weltfremden, negativen Befund: Der Staat gibt sich auf. (S. 280) Und genau das wäre skandalöserweise auch ganz im Sinne der Lifestyle-Linken mit ihrer Geistesverwandtschaft zum Neoliberalismus.

*

Ein starker Staat. Unter seiner volksfreundlichen Regie lauter arbeitsame, hochanständige, heimatverbundene Volksgenossen, wo jeder weiß, wo er hingehört. Wo man unter sich ist, gestützt von einem ausländerarmen Solidarsystem. Keine Schmarotzer oben wie unten. Wo man sich endlich wieder ungeniert zu einem nationalen Wir-Gefühl bekennen kann. Mit dieser Beschwörung einer nationalen Sittlichkeit empfiehlt Wagenknecht ihren vom rechten Weg abgekommenen linken Gefährten die Rückbesinnung auf ihren sozialen Auftrag. Der besteht nicht nur im Zynismus der Bewältigung der Sozialen Frage, d.h. in der Einhegung der Wirkungen von Ausbeutung und Armut vom Standpunkt des Staates aus, also in der Entschärfung der Gefahr von Spaltung – oder gar Klassenkampf – für die Nation. Wagenknecht schafft es, diesen Zynismus, die nationale Funktionalität sozialer Vorkehrungen und Rücksichten, die Beheimatung der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft, als deren ureigenes Bedürfnis und eigentliches gutes Recht zu präsentieren, das Linke zu befriedigen hätten. Wir-Gefühl, Gemeinsinn und sozialer Zusammenhalt im Kapitalismus: Das ist – nicht nur vielleicht – die Überwindung des Kapitalismus, die sie meint:

„Mit der Auflösung dieses Wir-Gefühls und der zunehmenden Distanz zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen – egal ob durch Zuwanderung, wachsende soziale Ungleichheit, linksliberale Identitätspolitik oder eine Kombination aus allem – verschwindet daher auch die wichtigste Voraussetzung für eine Politik, die den Kapitalismus mindestens bändigen, perspektivisch vielleicht sogar überwinden kann.“ (S. 219)

[1] Zu diesem linksliberalen Milieu zählt die Autorin Teile der Grünen, Klimaschützer, Antirassisten ... Der eigenen Partei Die Linke, in ihr insbesondere den sogenannten Bewegungslinken, hält sie den Opportunismus vor, sich deren Themen angebiedert zu haben, zulasten des sozialen Profils. Mit ebender Begründung ist jüngst Oskar Lafontaine aus der Partei ausgetreten.

[2] Als Wagenknecht 2018 die Initiative Aufstehen! ins Leben gerufen hat, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und die Unzufriedenheit der Zukurzgekommenen nicht den Rechten zu überlassen, hat sie sich mit Anschuldigungen an ihre Partei und überhaupt mit der Benennung von Schuldigen zwar noch sehr zurückgehalten. Der Partei hat dieses bewusst über die Parteigrenzen hinweg angelegte Engagement ihrer damaligen Fraktionsvorsitzenden aber schon seinerzeit sehr missfallen. Zur Kritik ihres Aufrufs zum Aufstehen! siehe: A. Gauland: Populismus! – S. Wagenknecht: Aufstehen! Zwei Bewegungen der missachteten Anständigen – ein Vergleich in GegenStandpunkt 4-18.

[3] So lautet die Überschrift des ersten Kapitels.

[4] Unter der Überschrift Abschottung nach unten und Wiederkehr des Bildungsprivilegs ordnet Wagenknecht den Verrat, den diese linksliberalen gut verdienenden Großstadtakademiker (S. 81) am Kampf für soziale Gerechtigkeit begehen, gleichsam als historisch-materialistische Tendenz ein: Dass privilegierte Schichten, die in Phasen sozialer Offenheit entstanden sind und deren Mitglieder zu großen Teilen auf soziale Aufstiegsbiografien zurückblicken, irgendwann versuchen, selbst ein exklusives Milieu zu werden, das seine Privilegien nur noch an die eigenen Nachkommen weitergibt, ist kein neuer Vorgang, sondern historisch das Übliche. (S. 87)

[5] Der Lifestyle-Linke kann es Wagenknecht nicht recht machen: Stellt er nicht zu hohe, sondern leicht erfüllbare Forderungen, sind sie – siehe auch Zigeunersauce – allzu billig: Den Mindestlohn zu erhöhen oder eine Vermögenssteuer für die oberen Zehntausend einzuführen ruft natürlich ungleich mehr Widerstand hervor, als die Behördensprache zu verändern, über Migration als Bereicherung zu reden oder einen weiteren Lehrstuhl für Gendertheorie einzurichten. (S. 39)

[6] Den Begriff Proletariat hat die einst als kommunistische Chefideologin verschriene Politikerin mittlerweile ebenso aus ihrem Wortschatz gestrichen wie Arbeiterklasse oder gar Klassenkampf, weil sie eben auf dem Standpunkt des verträglichen Einbaus der ausgebeuteten Klasse in die Gesellschaft steht. Das ausgediente Vokabular erinnert an eine im System begründete Spaltung der Gesellschaft, von der Wagenknecht nichts wissen will.

[7] Den ersten Teil ihres zweiteiligen Werks überschreibt die Autorin mit Die gespaltene Gesellschaft und ihre Freunde, wobei die heutigen Linken das unselige Erbe des Neoliberalismus angetreten hätten: Zwischen Neoliberalismus und Linksliberalismus gibt es einige Unterschiede, aber auch große Überschneidungen. Beide ... sind mit Wirtschaftsliberalismus und Globalisierung nicht nur prinzipiell vereinbar, sondern legitimieren genau diese politische Agenda. (S. 92) Und für beide gilt das Sündenregister: Die Mobilitäts- und Flexibilitätsansprüche kollidieren mit dem Anspruch, eine stabile Familie zu gründen, ebenso wie mit Heimatverbundenheit und lokaler Verwurzelung. Auch für religiösen Glauben, die Wertschätzung von Traditionen, bildungsbürgerlichen Humanismus oder den Bezugsrahmen einer Nation war in der neuen Erzählung kein Raum mehr. (S. 95)

[8] Wagenknecht ist in diesem Zusammenhang voll des Lobes für die Gewerkschaften, die für die durch sie vertretene deutsche Arbeiterschaft unablässig eine restriktive Zuwanderungspolitik gefordert und mit erkämpft haben.

[9] Sie behauptet: Je linker jemand sein möchte, desto radikaler fallen seine diesbezüglichen Forderungen aus, bis zu der Extremposition, dass jeder Mensch das Recht haben muss, seinen Wohnsitz in jedes beliebige Land der Welt zu verlegen, und dort nicht nur Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern auch Anspruch auf alle vorhandenen sozialen Leistungen haben soll. (S. 56)

[10] Dass in der von ihr bemühten Wissenschaft nach dem selben Strickmuster – man liest in die Geschichte oder Gesellschaft das Prinzip hinein, das man ihr entnehmen will – auch die genau gegenteilige Erfindung beliebt ist, weiß die gebildete Frau. Wo der homo vom Miteinander nichts wissen will und als Egoist oder böser Wolf auftritt, weist sie diese Theorie schlicht wieder mit dem Menschenbild zurück, das ihr gefällt: Die Menschen sind von dem Erbe geprägt, als soziale Wesen über Jahrhunderte in Gemeinschaften gelebt und gelernt zu haben, wie wichtig faire Kooperation für das eigene Überleben ist. (S. 209)

[11] Dass diese Kritikerin des Kapitalismus die Kritik nicht am ökonomischen Zweck als solchem, sondern vermittels eines idealistischen Maßstabs festmacht, wird auch in einem anderen Kontext deutlich:

Eine Ökonomie, deren zentraler Antrieb darin besteht, aus Geld mehr Geld zu machen, beruht auf jener kalten Kosten-Gewinn-Kalkulation, für die Tradition und Brauchtum, Religion und Moral, nur störende Hindernisse sind. (S. 213)

 Zur ausführlichen Kritik von Wagenknechts Kapitalanalyse einschließlich ihrer Wunderrezepte für die Heilung von dessen Verfehlungen siehe auch: Sahra Wagenknechts Hit. ‚Freiheit statt Kapitalismus‘ – damit der ‚kreative Sozialismus‘ den Kapitalismus wieder auf Vordermann bringt! in GegenStandpunkt 1-12.

[12] Apropos Digitalindustrie: An dieser sieht die Autorin einen Überwachungskapitalismus am Werk, in dem Internetmonopolisten die demokratische Meinungsfreiheit und -kultur untergraben: Die Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Ansichten findet dadurch immer weniger statt, was echten demokratischen Meinungswettbewerb ebenso untergräbt wie ein allgemeines Wir-Gefühl (S. 320). Kaum zu glauben: Letztlich läuft irgendwie alles auf einen Anschlag auf das Wir-Gefühl hinaus.