Wozu brauchen die USA ein „Nationales Raketen-Abwehr-System“?
Amerika schafft Sicherheit – für seine Kriege

Der amerikanische Weltaufsichts-Standpunkt vervollständigt seine Werkzeuge. Das fordert den angesprochenen Atommächten Russland und China neue Berechnungen ab. Und die europäischen Verbündeten sind verstimmt und warnen die USA vor einer „Destabilisierung der Weltpolitik“. Es hilft nichts. Amerika stellt klar, dass es sich bei seinem Aufrüstungsprogramm nicht abhängig macht von den Interessen der minderbemittelten Verbündeten. Das Machtwort kommt bei den Nato-Partnern an – Realismus ist angesagt.

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Wozu brauchen die USA ein „Nationales Raketen-Abwehr-System“?
Amerika schafft Sicherheit – für seine Kriege

1. Die Fähigkeit zu atomarer Abschreckung muss das Monopol der Amerikaner werden

a) Der amerikanische Kongress hat Anfang letzten Jahres fast einstimmig ein Gesetz beschlossen, mit dem die Regierung des Landes verpflichtet wird, „ein nationales Raketenabwehrsystem zu errichten, sobald es technisch machbar ist“. Präsident Clinton hat das Gesetz unterschrieben – und das wohl kaum in der Hoffnung, dass das Scheitern der Technologie ihm die Umsetzung ersparen würde.[1] Das von seiner Regierung vorangetriebene Programm heißt National Missile Defense, kurz: NMD. Durch das gelungene Zusammenwirken von bodengestützten Abfangraketen, Infrarot-Satelliten, speziellen Boden-Radarsystemen, die zweckmäßig auf der nördlichen Erdhalbkugel postiert werden müssen, und der Kommandozentrale namens „Schlacht-Kontroll-Zentrum“ werden sog. „Kill Vehicles“ gegen im Anflug befindliche feindliche Langstreckenraketen bzw. die von ihnen abgeschossenen atomaren, biologischen oder chemischen Sprengköpfe gelenkt, um diese durch die kinetische Energie des Aufpralls außerhalb der Atmosphäre zu zerstören.

Neben dem Programm einer das nationale Territorium schützenden Raketenabwehr, das gegenwärtig in aller Munde ist, ist der Aufbau von „regionalen Abwehrsystemen“ eine längst beschlossene Sache. Bei den zu schützenden „Regionen“ handelt es sich nicht um geographische Bestandteile der USA, sondern um Landstriche in aller Welt, die von fremden Staatswesen besiedelt sind, deren eines oder mehrere von Amerika als Feind betrachtet werden. Überall dislozierbare, in den designierten „Kriegsschauplatz“ vorgeschobene Theater Missile Defense (TMD)-Systeme, sind als akutes Erfordernis unbestritten und sollen schnellstmöglich zum Funktionieren gebracht und verfügbar gemacht werden.[2] Projektiert ist die Entwicklung und Bereitstellung einer ganzen Palette von land- und seegestützten Anti-Raketen, die in der Lage sind, „taktische“ feindliche Flugkörper mit einer Reichweite von bis zu 3500 km in jeder Phase ihres Fluges, und auf jeder Höhenstufe gleich mehrfach, anzugreifen.[3] Auch wenn die Testergebnisse bislang teilweise ähnlich ernüchternd sind wie die von NMD, sollen solche TMDs bis 2010 in allen Weltgegenden stationiert werden bzw. stationierbar sein, die die USA als krisen- oder kriegsträchtig definieren. Die aktuellen Prioritäten gelten der ostasiatisch-pazifischen „Krisenregion“ – offizieller Adressat: Nordkorea – und dem Nahen/Mittleren Osten, in dem die Mehrheit der potenziellen amerikanischen Kriegsgegner ihr Unwesen treibt; daneben soll präventiv ein flexibles und mobiles TMD-System geschaffen werden, das jederzeit an jedem Ort der Welt seinen Dienst verrichten kann.

Der militärische Zweck der geplanten Aufrüstung in beiden Abteilungen geht unmittelbar aus der technischen Leistung hervor, zu der sie befähigen soll: Durch die Ausschaltung bzw. Minimierung des „Risikos“, dass ein wo auch immer in der Welt beheimateter Staat die USA im Kriegsfall durch einen Raketen-Angriff sei es auf auswärtige amerikanische Truppen, Logistik oder Verbündete, sei es gar auf das heimatliche Territorium und die dort versammelten Bevölkerungszentren und Machtmittel nachhaltig schädigen kann, soll eine Schranke der Kriegführung beseitigt werden, welche die stolzen politischen Führer der „einzig verbliebenen Weltmacht“ ihrer überlegenen Kriegsmaschinerie als schwerwiegendes Defizit anrechnen. Die Aufbietung einer wirksamen Defensivwaffe gegen angreifende Atomraketen würde endlich das bislang ausschließlich verfügbare, – militärisch betrachtet – primitive Gegenmittel der Drohung mit einer Vergeltungsoffensive ergänzen, welche die eigene Wehrlosigkeit gegen die feindliche Vernichtungspotenz unterstellte.

b) Warum die amerikanische Nation – unbeschadet der Tatsache, dass sie sich seit Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion laut eigener „Lage-Analyse“ nicht mehr existenziell bedroht sieht – einen Anti-Raketen-Schutzschirm braucht, wird dem eigenen Volk wie den Staaten der ganzen Welt unermüdlich erklärt. Der offiziellen Begründung zufolge sind es die drei bis fünf „Schurkenstaaten“, die nach der Prognose der „Rumsfeld-Kommission“ schon ab 2005 mit illegal beschafften ballistischen Raketen samt ihnen nicht zustehenden Massenvernichtungsmitteln die USA erreichen könnten und das dann womöglich, Verbrecher, die sie sind, auch tun. Eine moralische Verteidigungsideologie, die Schutz vor bösen Aggressoren für die eigenen Rüstungsmaßnahmen ins Feld führt, muss natürlich sein. Allerdings legen gerade die „Argumente“, welche die Art der Bedrohung, die von jenen Schurken ausgeht, belegen sollen, ebenso unmissverständlich wie unverfroren offen, wer hier wem an den Kragen will oder, was dasselbe ist, wodurch man zum Schurken, sprich zum Feind der USA wird:

„Die Führer von Schurkenstaaten dürfen nicht glauben, dass sie die USA erpressen können… Irak, Iran und Nordkorea benötigen keine Langstreckenraketen,um ihre Nachbarn einzuschüchtern. Sie wollen sie, um weiter entfernte Staaten in Nordamerika und Europa zu nötigen und zu bedrohen. Sie gehen offenbar davon aus, dass schon eine kleine Zahl von Raketen, gegen die wir uns nicht wehren können, genügt, um unser Handeln in einer Krise zu beeinflussen“ – bzw. etwas präziser: „um die USA und unsere europäischen Freunde an jeder Aktion zu hindern, welche unsere Sicherheitsinteressen in der Region schützen könnte.“ (US-Verteidigungsminister Cohen, SZ, Dez. 1999)

Diese Bedrohungsdefinition ist so ziemlich das Gegenteil der per Feindbildpflege ausgegebenen Botschaft, wonach das friedliche Amerika sich gegen willkürliche Angriffspläne aus dem Nahen oder Fernen Osten wappnen müsse. Die Notlage, von der die Rede ist, besteht offenbar in dem Sachverhalt, dass sich Staaten, die von vornherein als Objekte amerikanischer Kriegsaktionen besichtigt werden, militärische Mittel der Gegenwehr verschaffen. Die Möglichkeit, dass solche Mächte künftig über wirkungsvolle eigene Erpressungsmittel verfügen, welche die USA bei einer Intervention in Rechnung zu stellen hätten, wird als Angriff auf die Sicherheitsinteressen der Nation definiert, den es mit allen Mitteln zu unterbinden gilt.[4] Wenn Staaten wie Nordkorea und Irak die Ehre zuteil wird, dass die oberste Weltordnungsmacht mit Verweis auf die von ihnen ausgehende Gefahr die Dringlichkeit der Stationierung sowohl eines „Schlachtfeld“-bezogenen als auch eines „jeden Zentimeter des heimischen Territoriums“ schützenden Raketenabwehrsystems auf die Tagesordnung setzt, dann wird deutlich, wie absolut und universell deren imperialistischer Anspruch ist. Der Erfolgsmaßstab ist kein geringerer als der, dass der Freiheit zur kriegerischen Unterwerfung aller potenziellen Dissidentenstaaten kein Hindernis entgegenstehen darf. Ein „Schurkenstaat“ – oder inzwischen höflicher: ein „Staat, der Sorgen macht“ (state of concern) – ist folglich nichts als das negative Spiegelbild des Standpunkts, dass den Amerikanern die unumschränkte Herrschaft über die Welt gebührt: ein Staat, der sich dem amerikanischen Recht auf globale Ober-Aufsicht nicht beugen will, das aus der Überlegenheit der amerikanischen Waffen kommt. Es handelt sich mithin um eine jederzeit aktualisierbare Kriegserklärung an die Adresse von Souveränen, die nicht den gewünschten Gebrauch von ihrer Macht machen.

c) Wenn die USA gemäß ihrer strategischen Optik – Wo lauern Bedrohungen für die Sicherung des amerikanischen Weltordnungskommandos? – in die Welt hinausschauen, dann entdecken sie lauter „neue Herausforderungen“, für deren Bewältigung sie sich rüsten müssen. Da gibt es nicht nur eine Hand voll „Schurken“, also ausgemachte Feinde, die aufrüsten. Der Blickwinkel lässt sich nämlich genauso gut umdrehen. Jede regionale oder lokale Macht, die sich ohne Lizenz aus Washington Raketen und/oder Massenvernichtungsmittel beschaffen will, gerät in den Verdacht, verbrecherische, sprich antiamerikanische Absichten zu hegen; denn wozu bräuchte sie solch hochkalibrige Waffen, wenn sie sich mit der ihr zugewiesenen Rolle im regionalen und globalen Gewalthaushalt zufrieden geben würde! Und schon wächst die Zahl der potenziellen „Schurken“ ganz erheblich: Unter der Rubrik „Bedrohungen des Weltfriedens“ – durch unerlaubte Rüstungsprogramme – firmieren derzeit bereits ca. 25 Staaten, wenn man die offizielle Liste des US-Geheimdienstes beim Wort nimmt.[5]

So betrachtet erscheint den USA die internationale Staatenwelt als ein einziger Sumpf von Proliferation, als Nährboden systematischer Verletzung des unter ihrer Regie mühsam durchgesetzten „Regimes“ der Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen- und Raketentechnologie. Auf diese Weise – als Untergrabung der von den USA verbürgten legitimen Machtverteilung in der Welt und damit ihrer Führungsrolle – nehmen die amerikanischen Politiker den schlichten Sachverhalt zur Kenntnis,

  • dass sich der politische Wille von Staaten, sich für die Konkurrenz mit ihresgleichen mit den modernsten und effizientesten Kriegsmitteln auszustatten und sich dergestalt an den erfolgreichen Vorbildern zu orientieren, nicht durch Verbotsverträge eliminieren lässt.[6]
  • und dass die Fähigkeit zur Verwirklichung dieses Willens dank der allgegenwärtigen Gelegenheit, die das durchgesetzte System des kapitalistischen Welthandels darstellt, grundsätzlich jedem Staat zukommt und höchstens an der mangelnden Zahlungsfähigkeit eine „natürliche“ Schranke findet.

Wenn die USA jetzt TMD und NMD als angemessene Antwort auf „wachsende Proliferation“ proklamieren, so liefern sie das offizielle Eingeständnis, dass das rüstungsdiplomatische Programm, anderen Staaten Waffen vorzuenthalten, zum Scheitern verurteilt – genauer gesagt: nur durch gewaltsame Entwaffung des betreffenden Bösewichts zu vollstrecken ist.

Dem entspricht die doppelte Lehre, die Amerika aus den „neuen Herausforderungen“ zieht. Erstens: Bei künftig fälligen Ordnungsmissionen muss mit dem Schlimmsten gerechnet werden, d.h. damit, dass sich der Gegner mit atomar bestückten Raketen – womöglich sogar auf New York – zu wehren sucht. Zweitens: Die aktuellen militärischen Kapazitäten der USA reichen – deshalb – bei weitem nicht aus, um Bestrafungskriege nach dem Muster der Irak- und Jugoslawien-„Kampagne“ risikolos durchführen zu können oder wenigstens unvermeidliche Verluste in tolerierbaren Grenzen zu halten. Um dem Gegner keine Chance zu lassen, nicht auf dem regionalen „Schauplatz“ der Intervention und erst recht nicht durch die Fähigkeit, das amerikanische Heimatland selbst in den Krieg hineinzuziehen, bedarf es der Entwicklung und Stationierung von Abwehrwaffen, die in der Lage sind, etwaige Raketen-Attacken unschädlich zu machen. Nur so ist sicherzustellen, dass die politische Abschreckung – d.h. die totale Kriegsdrohung im Falle fehlender Unterwerfungsbereitschaft – und die militärische Offensivkraft – für den Fall der Einlösung der Drohung – garantiert einseitig verteilt sind.

d) Der zur Umsetzung anstehende Beschluss der USA, sich für künftige Weltordnungskriege durch den Aufbau regionaler Raketenabwehrsysteme zu präparieren, ist – und zwar noch vor jeder wirklichen Kriegsaktion – ein Eingriff in die weltpolitischen Machtverhältnisse. Schon das unter Einbeziehung auserwählter Freunde vor Ort installierte TMD betrifft nicht bloß aktuelle oder mögliche Feindstaaten vom Kaliber eines Irak oder Serbien. Es zielt darüber hinaus: auf Mächte der größeren Art, die ihrerseits weltpolitisch engagiert und ambitioniert sind – auf eigene Rechnung und durchaus außerhalb der Kontrolle durch die USA. Auf Staaten mit Mitteln und Einfluss also, die entweder bereits involviert sind in der „Krisenregion“ oder – so wie Washington es von sich selber nur allzu gut kennt – „Schurkenstaaten“ als Verbündete für ihre Machenschaften funktionalisieren könnten; die also als „Hintermänner“ im Spiel sind, wenn irgendwo Unruhe entsteht, und durch ihre Rückendeckung die Falschen ermuntern und/oder mit leistungsfähigem Gerät ausstatten; die deshalb eine echte Gefahr für den Zugriff der USA darstellen.

Wer damit vor allem gemeint ist, ist keine Frage. In erster Linie Russland, das Zentrum und der Erbe der alten Gegenmacht des Freien Westens; immer noch Freund des Irak, traditionelle Brudermacht Serbiens, längst nicht endgültig entfremdet vom unbelehrbaren Nordkorea …! In zweiter Linie die Volksrepublik China; auch der ist ihre Vergangenheit als rotes Neben-Reich des Bösen noch lange nicht vergeben; zumal sie von der „kommunistischen Parteidiktatur“ nicht lassen will, Pakistan und den Iran mit Nukleartechnik bzw. Raketen versorgt, Nordkorea nicht endgültig fallen lässt …! Darüber hinaus sind mittlerweile bedrohliche Entwicklungen im Gange, an deren Ende aus konventionellen Regionalmächten atomare Großmächte geworden sein können, ohne dass die USA den Auftrag dazu gegeben haben. Indien ist einer der Kandidaten; sein Beispiel könnte Schule machen.

e) Und genau diese Atommächte sind die – nicht namentlich genannten, dafür umso unmissverständlicher gemeinten – Hauptadressaten von NMD. Allen voran abermals die degradierte Weltmacht Nr.2, die nach wie vor als Einzige imstande ist, sich mit den USA atomkriegsmäßig zu messen; und immer mehr die „aufstrebende Weltmacht“ China, deren wachsende ökonomische Ressourcen die USA ganz selbstverständlich in künftige militärische Stärke übersetzen. Diese Staaten haben schließlich die zum Angriff auf US-Territorium fähigen Massenvernichtungswaffen, gegen deren zukünftig mögliches Auftauchen in unbefugten Händen die USA sich unbedingt wappnen wollen. Die sind also auf alle Fälle betroffen – und zwar in Bezug auf ihre wuchtigsten Kriegsmittel, folglich in ihrer gesamten militärischen Abschreckungs- und Schlagkraft, die sie im Ernstfall gegen die USA aufbieten können –, wenn die Amerikaner einen Anti-Raketen-Schutzschild aufrichten.[7] Das ist den journalistischen Gutachtern in aller Welt, die aus patriotischer Gesinnung heraus das „übertriebene“ Hegemoniestreben der USA ablehnen, natürlich auch aufgefallen, wenn sie angesichts der offiziellen Parole „bloß gegen Schurkenstaaten“ ironisch in Washington anfragen, ob das NMD russische oder chinesische Nuklear-Sprengköpfe dann wohl unbehelligt passieren lassen werde, oder wenn sie kommentieren, dass sie die Sorgen Russlands und Chinas um ihren politischen Stellenwert als den USA im Prinzip ebenbürtige und dementsprechend respektierte Atommächte gut verstehen, wenn auch nicht billigen können. Die entscheidende Qualität des geplanten NMD ist eben unübersehbar: Wenn die führende Atommacht – als erste und bis auf weiteres wohl einzige Macht – ein funktionierendes Anti-Raketen-System errichtet, das in der Lage ist, feindliche Atomsprengköpfe auszuschalten, und so die atomare Verwundbarkeit der eigenen Nation relativiert, dann handelt es sich um einen kriegstechnischen Fortschritt, der die militärischen Kräfteverhältnisse auf der höchsten Ebene der Gewaltkonkurrenz – nämlich derjenigen der „letzten Waffen“ – revolutioniert. Die Verwirklichung eines solchen Defensivsystems eröffnet nämlich ganz neue Kalkulationen mit dem Atomkrieg als realistischer militärischer Option: Sie macht das nukleare Offensivpotenzial des Feindes zu einer technisch bekämpfbaren Waffengattung (wie es Panzer, Flugzeuge und Schiffe längst sind), führt damit den offiziell geächteten „Wahnsinn“ des puren Schlagabtauschs zumindest tendenziell und der Absicht nach zurück auf die Ebene der normalen kriegerischen „Logik“ von Angriff und Verteidigung und macht so das reichlich vorhandene, zudem zweckmäßig für alle möglichen Einsatzzwecke weiterentwickelte eigene atomare Angriffsarsenal erst richtig scharf.[8]

f) Die Errichtung eines NMD setzt die bis heute maßgeblichen Bedingungen der Rüstungskonkurrenz – der Auf- wie der Abrüstung atomarer Kriegsmittel – außer Kraft und kündigt damit die Geschäftsgrundlage aller rüstungsdiplomatischen Vereinbarungen mit dem russischen Kontrahenten auf. Deren „Kernstück“, der Anti-Ballistic-Missile (ABM)-Vertrag, der auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges ausgehandelt wurde und eine flächendeckende nationale Raketenabwehr verbietet, steht als lästiges „Produkt einer überholten Epoche“ zur Abwicklung an. Wieder einmal reißt – ex post! – ein Stück Ehrlichkeit in der Weltpolitik ein. Denn immerhin ziehen die USA, ihres Zeichens Hauptveranstalter der atomkriegsträchtigen Feindschaft gegen die Sowjetunion und ihr realsozialistisches Staatenbündnis, damit eine der ehedem beliebtesten Ideologien regierungsamtlich aus dem Verkehr. Nämlich diejenige, dass die beiden „Supermächte“ sich mit ihrem beiderseitigen Verzicht auf ein nukleares Abwehrsystem um die Aufrechterhaltung eines „strategischen Gleichgewichts“ verdient gemacht, damit den Atomkrieg verhindert und den „Weltfrieden“ gesichert haben. Oder, dieselbe Botschaft im Allgemeinen: dass es die Rüstungsdiplomatie ist, die über den Sinn oder Wahnsinn von Rüstung, über Krieg und Frieden, entscheide. Heute wird mit dem Gestus der Selbstverständlichkeit klargestellt, dass der ABM-Vertrag nichts als das Resultat einer Notlage war – nämlich das förmliche Eingeständnis der ärgerlichen Tatsache, dass die USA über keine wirksamen Gegenmittel gegen die Bedrohung durch Interkontinentalraketen verfügten. Verzichtet wurde also nie, und das „Gleichgewicht des Schreckens“ war nicht etwa ein Grund, die Option eines Atomkriegs aufzugeben. Vielmehr wurde erstens nach Kräften geforscht, entwickelt und getestet, um den Zustand der „Selbstabschreckung“ zu überwinden.[9] Mit diesem schönen Wort drückten amerikanische Politiker und Militärs ihr Leiden an dem Umstand aus, dass der Wille zur kriegerischen Erledigung des „Kommunismus“ auf die Schranke stieß, dass auch die USA einen atomaren Schlagabtausch nicht – jedenfalls nicht mit Gewinn – überstehen würden. Trotz, oder besser: wegen dieses „Dilemmas“ „arbeitete“ man zweitens umso mehr am qualitativen wie quantitativen Ausbau des nuklearen Offensivpotenzials, um einen Atomkrieg „gewinnbar“ zu machen: So entstand das Ideal eines „Erstschlags“, der den Gegner weitgehend entwaffnet, ebenso wie die Notwendigkeit, umgekehrt den Feind von der Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens zu „überzeugen“, d.h. die eigene „Zweitschlagsfähigkeit“ unter allen Umständen zu bewahren. Die rüstungsdiplomatische Einigung auf ein ABM-Verbot enthielt nicht mehr, aber auch nicht weniger als die wechselseitige Versicherung, dass die eigene atomare Kriegskalkulation bis auf weiteres den Vorbehalt einschließt, dass das Risiko eines „vernichtenden Gegenschlages“ nicht auszuschalten, also anerkannt ist. NMD erklärt diesen Vorbehalt für nicht mehr gültig. Es setzt damit den Rest von strategischer Parität zwischen den USA und Russland materiell außer Kraft.

Der Ausstieg aus der 50-jährigen „Atomkriegslogik“ der gegenseitigen Abschreckung ist ein fundamentaler Angriff auf die militärische Selbstbehauptungsfähigkeit Russlands, und die Verlautbarungen der US-Regierung, der „Schutz der amerikanischen Nation“ sei wichtiger ist als die Einhaltung eines anachronistischen Vertrages, demonstrieren, dass dieser Angriff auch bezweckt ist. Dass Russland – ebenso wie China – seine antikapitalistische Staatsräson aufgegeben hat, ist nämlich kein Gund zur Entwarnung für die „einzig verbliebene Weltmacht“, sondern eher schon ein Stachel, die dadurch hervorgerufene Untergrabung der ökonomischen Potenzen dieses Staates zu nutzen, um das Entstehen einer gleichwertigen, weltpolitisch konkurrenzfähigen kapitalistischen Gegenmacht Russland zu verhindern. Das Argument der US-Regierung, ein „limitiertes NMD“ mit 100 oder 200 Abfangraketen könne die 4500 – oder auch die durch START III weiter reduzierten – russischen Atomsprengköpfe gar nicht aufhalten, ist alles andere als eine Widerlegung der „Betroffenheit“ Russlands. Abgesehen davon, dass es unterstellt, dass das Nuklearpotenzial aller anderen Atomstaaten Amerika nicht mehr wird (ab)schrecken können, weiß erstens noch der dümmste Kremlherrscher, dass der erfolgreiche Einstieg in ein Raketenabwehrsystem dessen quantitativen Ausbau nach sich zieht und nicht den Verzicht darauf. Und zweitens wird die neue Qualität amerikanischer Kriegsfähigkeit nicht erst dann erreicht, wenn sie einen Atomangriff des kompletten russischen Arsenals unwirksam macht. Schon die einseitige Option, feindliche Atomwaffen bekämpfen zu können, beendet das „atomare Patt“, indem sie es für den Kriegsgegner unkalkulierbar macht, wie viele Sprengköpfe überhaupt durchkommen, während er umgekehrt „anfälliger“ für einen Entwaffnungsschlag wird.

g) Die amerikanische Regierung ist sich sehr wohl darüber im Klaren: Die Installierung von Raketenabwehrsystemen, die in der Lage sind, Atomraketen jedes Absenders und jeder Reichweite zu bekämpfen und damit die bislang gesicherte militärische Wirkungskraft der Atomrüstung aller anderen etablierten, aufstrebenden oder künftigen Nuklearmächte in Frage zu stellen, während es die Freiheit der USA, von ihren Atomwaffen Gebrauch zu machen, erhöht, ist eine Provokation dieser Mächte. Sie zwingt den konkurrierenden Ordnungs- und Regionalmächten neue Bedingungen erfolgreicher Selbstbehauptung auf. Sie nötigt sie dazu, ihre überkommenen Berechnungen und Mittel zu überprüfen – und zu korrigieren. Die US-Regierung weiß, dass ihr militärisches Aufbruchsprogramm diese Nationen zu verstärktem Aufrüsten provoziert: zur Anschaffung von mehr Angriffswaffen, zur Entwicklung von Gegenmitteln, welche den erfolgreichen Einsatz der Anti-Raketen verhindern, zu eigenen Defensivmaßnahmen oder zu allem gleichzeitig. Weil Präsident Clinton diese Konsequenz, wie überhaupt die Gefahr einer „schweren Belastung der politischen Beziehungen“ zu den betroffenen Staaten wohlweislich antizipiert, hält er jede Menge an internationaler Diplomatie für nötig, um diesen Gefahren entgegenzuwirken. Zu den vier „Kriterien“, die für seine Entscheidung über die Umsetzung von NMD maßgeblich sind, gehört folglich – neben der „technischen Machbarkeit“, der „Bedrohungsanalyse“ und dem Kostenaufwand – viertens und letztens der Aspekt der „politischen Folgen, inklusive für die Rüstungsdiplomatie“. Damit ist jedoch keineswegs gemeint oder auch bloß gesagt, dass die USA ihren politischen Willen zu NMD von der politischen Akzeptanz derer abhängig zu machen gedenken, auf die es gemünzt ist. In Wahrheit geht die Reihenfolge vielmehr genau anders herum, und daran lassen die verantwortlichen US-Politiker auch gar keinen Zweifel:

  1. Wenn die „technologische Reife“ des „hochkomplexen Systems“ hinreichend ist, wird es eingeführt.
  2. Dann – nämlich für ein funktionierendes NMD – sind die veranschlagten 60 Milliarden Dollar allemal gut angelegt.
  3. Eine Bedrohung Amerikas durch feindliche Raketen ist selbstverständlich gegeben, sonst hätte man das ganze Programm ja gar nicht erfunden.
  4. Weil die Durchsetzung des Raketenabwehr-Projekts grundsätzlich beschlossene Sache ist, also über kurz oder etwas länger ansteht, bedarf es einer nachdrücklichen (rüstungs)diplomatischen Offensive in alle Himmelsrichtungen, um die betroffenen Regierungen nach Möglichkeit vom konstruktiven Sinn der Sache zu überzeugen. Dieses Ansinnen ist seiner Natur nach eine weitere Zumutung für die Staaten, deren Belange durch NMD nachhaltig geschädigt werden.

Die diplomatischen Anstrengungen der US-Regierung stehen unter dem beschwichtigenden Motto ‚NMD ist mitnichten ein Grund zur Besorgnis, außer für Schurkenstaaten, die den Weltfrieden bedrohen!‘ Worauf diese Frohe Botschaft abzielt, ist kein Geheimnis. Alle Welt soll die amerikanische „Bedrohungsanalyse“ – sprich die Feindschaftserklärungen der USA – anerkennen und damit zugleich das Recht dieser Nation, als oberster Ankläger, Richter und Vollstrecker gegenüber dem Rest der Staatenwelt zu fungieren. Ausgerechnet jene Staaten, die mit den USA, also gegen sie, um Macht und Einfluss konkurrieren, sollen den geplanten substanziellen Ausbau der militärischen Suprematie Amerikas nicht als Bedrohung ihrer Sicherheitsinteressen nehmen, sondern sich im Gegenteil – in ihrer Eigenschaft als „Mitglieder der internationalen Gemeinschaft“ – gar als Nutznießer einer Raketenabwehr betrachten, die hilft, „verbrecherischen Regimes“ das Handwerk zu legen. An sie ergeht somit die Forderung, diesem Programm im wohlverstandenen Eigeninteresse zuzustimmen. Was eben alles andere heißt, als dass die amerikanische Weltmacht sich von dieser Zustimmung abhängig machen würde.

h) Ebenfalls, wenn auch ein bisschen anders, sind die europäischen und sonstigen Partner, also die verbündeten Konkurrenten der USA betroffen. Denn diese – zum Teil selbst Atommächte – werden ebenfalls in einen minderen militärischen und damit politischen Status versetzt, was gerade im Falle der EU-Staaten dem angestrebten größeren „politischen Gewicht im Bündnis“ nicht gerade dienlich ist (siehe dazu Punkt 3). Auch und gerade sie sollen die USA dazu ermächtigen, ihre militärische Überlegenheit auszubauen, um sich und ihre Freunde wirksamer vor Feinden der Weltordnung schützen zu können. Dafür wird ihnen das Angebot unterbreitet, sich am Aufbau einer universell wirksamen Raketenabwehr zu beteiligen – also einen materiellen Beitrag zu ihrem Gelingen zu leisten. So sollen sie eingebunden und funktionalisiert werden für ein Progamm, das die globale Vorherrschaft der westlichen Führungsmacht – auch über seine auf Emanzipation drängenden Verbündeten – untermauert.

2. Der Widerstand der herausgeforderten Atommächte Russland und China und seine Behandlung durch die USA

a) Russland nimmt das NMD-Programm als den doppelten Angriff auf sein vitales Staatsinteresse, den es in der Tat darstellt: einen auf seine militärische Abschreckungskraft, die nach der Preisgabe des Warschauer Pakts und der ruinösen Wende hin zum so vorbildlich effizienten System des Kapitalismus nur noch in seinem atomaren Arsenal besteht; und gleichzeitig einen auf seinen politischen Großmacht-Status, den das Land wegen dieser einzig verbliebenen Weltmacht-Ressource nach wie vor beanspruchen kann. Die russische Regierung bezieht die in Washington geplante Aufrüstung so sehr auf sich, dass sie deren offizielle Stoßrichtung – präventive Abwehr erpresserischer Gegenwehr seitens so definierter Feinde Amerikas – zum bloßen Vorwand erklärt. Der amtierende Verteidigungsminister Sergejew irrt zwar, wenn er meint:

„Der Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystem ist nur sinnvoll, wenn er der Bekämpfung der strategischen ballistischen Raketen Russlands dient.“

Wobei bloß das „nur“ verkehrt ist, da es die absolute und universelle Zweckbestimmung des Programms leugnet. Das macht aber weiter nichts, wird doch auf diese Weise nachdrücklich unterstrichen, dass Russland das NMD-Programm als einen nicht hinnehmbaren feindlichen Akt der USA betrachtet. Dabei beruft sich die russische Staatsführung auf den Anti-Ballistic-Missile (ABM)-Vertrag von 1972, der einen landesweiten atomaren Schutzschild verbietet; und sie behandelt dieses beiderseitige rüstungsdiplomatische Eingeständnis einer misslichen militärischen Patt-Situation als so etwas wie einen festen politischen Besitzstand, den die Amerikaner willkürlich unterminieren. Dass die Amerikaner das „Kernstück der strategischen Rüstungskontrolle und Abrüstung“ „brechen“ wollen, also für eine überholte Ware halten, weil und sofern sie es sich technologisch und politisch leisten können, ihr Projekt eines atomaren Schutzschildes zu realisieren, ist Putin natürlich nicht entgangen. Im Gegenteil. In Form der Anklage wegen mangelnder Vertragstreue ergeht die bitterernste diplomatische Anfrage, ob und wie weit die USA überhaupt noch gewillt sind, die atomaren Zerstörungskapazitäten der Russen als Schranke ihres Strebens nach konkurrenzloser Weltherrschaft in Rechnung zu stellen. Für den Fall, dass nicht, kündigt die russischen Regierung ihren Widerstand an. Sie warnt vor einer neuerlichen „Spirale des Wettrüstens“, also vor ihrem Willen zu nuklearer Gegen-Aufrüstung, und davor, dass Russland wieder zu einem unberechenbaren Kontrahenten der USA und ihrer Verbündeten werden könnte.[10] Sie bemühen sich um eine „strategische Partnerschaft“ mit China und anderen asiatischen Ländern und werben um Verbündete unter den europäischen NATO-Staaten, wohl wissend, dass die Amerikaner darauf angewiesen sind, Komponenten ihres Abwehrsystems in Nordeuropa zu errichten.[11] Und auch indem sie selbstbewusst verkünden, sie würden auf jeden Fall die passenden Gegenmittel gegen NMD finden, drohen sie mit der ihnen verfügbaren Fähigkeit, den amerikanischen Plan der Neutralisierung der eigenen Abschreckungsmacht zum Scheitern zu verurteilen, wenn die US-Regierung nicht freiwillig ein Einsehen habe.[12]

Die Sache hat nur einen Haken. Der Wille Russlands besteht nämlich gleichzeitig und offenkundig darin, eine Rückkehr zur Konfrontation mit der westlichen Führungsmacht – wenn irgend möglich – zu vermeiden. Und nicht nur das. Auch am Grund dieses Unwillens lassen die verantwortlichen Politiker in Moskau selbst keinen Zweifel: Russland kann sich eine solche Konfrontation überhaupt nicht leisten. Deshalb setzen sie demonstrativ auf ihre Verlässlichkeit in abrüstungsvertraglichen Dingen, während die USA gerade ihren Willen zur strategischen Aufrüstung unter Beweis stellen. Die Duma ratifiziert schnell mal den START II-Vertrag, den sie so lange nicht in Kraft setzen wollte, weil er die russischen Abschreckungspotenzen einseitig und auf Kosten russischer Sicherheit schwäche. Diese Werbung mit der eigenen „Vertragstreue“ soll die USA in Zugzwang bringen, ihrerseits den ABM-Vertrag einzuhalten und die russische Einladung zu einer START III-Abrüstung bis auf je 1500 Sprengköpfe – statt der von den USA vorgeschlagenen 2500 – freudig anzunehmen! Und das, obwohl die öffentlichen wie offiziellen Begründungen für solch eine diplomatische Abrüstungsoffensive nur davon zeugen, dass das eigene Arsenal ohnehin schneller verschrottet als die Verträge es verlangen. So dass nur die weitgehende beiderseitige Reduzierung des Umfangs der atomaren Schlagkraft den Russen eine halbwegs realistische Chance zur Aufrechterhaltung einer gewissen Ebenbürtigkeit bei ballistischen Angriffswaffen lasse.[13]

Schließlich bemüht sich die russische Diplomatie um konstruktive Vorschläge an die Adresse der USA, die allesamt darauf hinaus laufen, dass Washington seinen militärischen Aufsichtsbedarf gegen „Schurkenstaaten“ auf alternative Weise befriedigen kann und soll, wenn nur das „strategische Gleichgewicht“ mit Russland nicht ausgehebelt wird. So überrascht Putin die G8-Kollegen in Japan mit der Botschaft, Nordkorea wäre zur Aufgabe seines Raketenprogramms bereit, wenn die USA und andere „besorgte Staaten“ dem Land im Gegenzug „Raketenmaterial für eine friedliche Erforschung des Weltalls zur Verfügung stellen“ – damit würde auch die Feindschaft gegenüber diesem „Schurken“ überflüssig und somit der vorgebliche Grund für ein NMD entfallen! Oder er bietet der US-Regierung an, das „Non-Proliferations-Regime“ zu stärken und gegebenenfalls einen „gemeinsamen“ Anti-Raketen-Schirm unter Einbeziehung Russlands und Europas aufzubauen, womit Russland vom designierten Objekt zum Mitsubjekt der strategischen Weltkontrolle avanciert wäre. Und er geht sogar so weit, Präsident Clinton regelrecht dazu aufzufordern, im Bedarfsfalle, wenn es denn schon sein muss, dann eben regionale Abwehrsysteme (TDM) in der Umgebung von „Risikostaaten“ zu stationieren – die freilich laut russisch-amerikanischer Vereinbarung von 1997 nur gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen und ohne Rückgriff auf weltraumgestützte Komponenten eingesetzt werden dürfen…

Die USA können derartigen „taktischen Manövern“ (welche die hiesige Öffentlichkeit als „geschickte Schachzüge“ Putins goutiert, die sie aber selbstverständlich sofort durchschaut!) in der Sache nichts abgewinnen, wiewohl sie jedesmal eine „eingehende Prüfung“ der Vorschläge in Aussicht stellen und mitteilen, darin doch eine gewisse Annäherung an ihren Standpunkt ausmachen zu können, so dass man sich vielleicht doch noch „einig“ werde. Sie bestehen auf ihrem Recht zur Ausschaltung jeder potenziellen Bedrohung amerikanischen Territoriums gegen so definierte Feinde der Weltordnung, dementieren täglich, dass NMD die russische Abschreckungskapazität in irgendeiner Weise beeinträchtigt, und weisen den russischen Einspruch als Anmaßung zurück und als „Versuch, die NATO zu spalten“.[14] So, wie die „einzig verbliebene Weltmacht“ jeden ihrer tatkräftigen Beiträge zur Entmachtung der ehemaligen Nr. 2 zu kommentieren pflegte – zuletzt die NATO-Expansion nach Osten und den NATO-Krieg auf dem Balkan –, so lautet die Devise der USA auch diesmal:

„Die Russen sollten kein Veto darüber haben, ob wir ein NMD-System haben werden, die Chinesen auch nicht.“ (Verteidigungsminister Cohen, 7.7.2000)

Die USA lassen keinen Zweifel daran, dass sie sich der Überlegenheit ihrer Militärmacht bewusst sind, und entnehmen der russischen Offensive für eine forcierte strategische Abrüstung die substanzielle Schwäche einer kaputt „reformierten“ Nation, die nur noch von ihrer sozialistischen Erbmasse lebt und – so die selbstgerechte Sicht des Westens – ohnehin bloß mit „Hilfe“ des erfolgreichen Kapitalismus wieder auf die Beine kommen kann.

Mit der Erledigung der 40-jährigen welt- und atomkriegsträchtigen Feindschaft gegen die sowjetische Gegenmacht ist für die USA auch der missliche Zwang entfallen, sich mit dem Gegner, den man nach Kräften totzurüsten suchte, zugleich über die gegeneinander in Stellung gebrachten Gewaltmittel zu verständigen, d.h. ihn darauf zu „verpflichten“, die Schranke, auf welche die eigenen Atomkriegskalkulationen stießen, seinerseits anzuerkennen. Das heißt jedoch nicht, dass die Verfahren der Rüstungsdiplomatie auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Die „Abrüstungsdiplomatie“ der 90er Jahre (START I und II) hat immerhin zu einer parallelen Reduktion von für überflüssig erklärten „Overkill-Kapazitäten“ geführt und damit das Interesse Amerikas, seine überlegene Kriegs-Technologie zum Tragen zu bringen, befördert. Außerdem ist das geläuterte „Reich des Bösen“ nach wie vor der „Risikostaat“ schlechthin: ein immer noch atomwaffenstarrender Kontrollfall, der sich eben deshalb der Kontrolle entzieht. Dies ist und bleibt bis auf weiteres Grund genug für die amerikanische Regierung, Russland einer diplomatischen Sonderbehandlung zu unterziehen. Und zwar gerade dann, wenn sie mal wieder einen substanziellen Angriff auf die russische Machtposition in der Welt auf die Tagesordnung setzt, wie jetzt mit NMD. „Einbindung“ steht an, also eine verstärkte politische Betreuung des Kontrahenten, der nicht „in die Isolation getrieben“, sondern zu einem diplomatischen Geschäft genötigt werden soll: Die formelle Anerkennung Russlands als gleichberechtigter Atommacht wird weiterhin gewährt – gegen die förmliche Zustimmung der Russen zu einem amerikanischen Rüstungsprogramm, das diesen Status gerade untergräbt.

Aus diesem Grund erklärt die US-Regierung den ABM-Vertrag nicht einfach für null und nichtig. Sie unterbreitet der russischen Regierung vielmehr ein Angebot – und was wäre aufschlussreicher als der Umstand, dass Washington darin wirklich ein Angebot sieht: Der ABM-Vertrag als ein „Kernstück des strategischen Gleichgewichts“ soll feierlich in Kraft bleiben, und zwar dadurch, dass Russland seiner „Modifikation“ zustimmt. Wobei der Witz der geforderten „Anpassung“ genau darin besteht, dass seine maßgebliche und für die Russen so entscheidende Materie – das Verbot einer das gesamte nationale Territorium schützenden Raketenabwehr – außer Kraft gesetzt wird! Woran sich grundsätzlich auch dann nichts ändern würde, wenn die Änderung lediglich ein „limitiertes NMD“ genehmigen würde.[15]

Ansonsten bieten die USA der russischen Regierung, als Zeichen der besten Absichten, ganz viel „Kooperation“ an. Allerdings eine Art von Kooperation, die sich sehr gegensätzlich buchstabiert zu der Berechnung, welche die Russen mit ihren Kooperationsanträgen verbinden. Das Muster liefert der NATO-„Befreiungskrieg“ gegen den „Schurken“, pardon: „Verbrecher“ Milosevic. Russland wird durch die Überzeugungskraft der überlegenen Gewalt ausgeschlossen, seine elementaren sicherheitspolitischen Interessen werden als nicht gültig übergangen und auf dieser Grundlage darf sich Russland an der Durchführung des Programms zur Stärkung des amerikanischen Imperialismus beteiligen – nach dessen Vorgaben und auf eine Weise, die dafür sorgt, dass Russland sich nicht weiter störend bemerkbar macht. Ein Institut in Moskau wird eröffnet, das sich zwecks Vertrauensbildung der Früherkennung von Raketenstarts widmen soll. Die USA bezahlen den verarmten Russen ferner – wenn sie NMD akzeptieren – die Renovierung einer Radarzentrale in Sibirien, damit die künftig besser spionieren kann. Und sogar an regionalen TMDs soll die Mitwirkung Russlands prinzipiell willkommen sein. Man stelle sich vor: Die USA oder die NATO nehmen sich eine Intervention gegen Nordkorea oder gegen den Iran vor und russische Abwehrraketen dürfen amerikanische Patriots unterstützen, um dem Schurken keine Chance zu lassen… Auch das von Putin angeregte „gemeinsame TMD“ zum Schutze „Europas“ käme durchaus in Frage, freilich nur „als Ergänzung, nicht aber als Substitut für NMD“ (Sicherheitsexperte Holum, 7.7.2000).

Wenn es das ist, was die Russen wollen!

b) Im Falle der Chinesen wiegt die amerikanische Absicht, ein gegnerisches Atomraketenpotenzial mit vorgeschobenen und heimatnahen Abwehrraketen unschädlich zu machen, nicht minder schwer. Warum, das fasst ein einziger Kurzartikel der US-Presse nach dem misslungenen NMD-Test vom Juli schlagend zusammen – und sein Autor findet gleichzeitig nichts dabei, den regierungsamtlichen Standpunkt seiner Nation Lügen zu strafen, der da heißt, die Rüstungspläne der USA richteten sich mitnichten gegen die Volksrepublik China:

„Der letzte Fehlschlag des in der Entwicklung befindlichen Raketenabwehr-Systems, gestern früh, ändert nichts an den zugrunde liegenden Gründen, sich um solch ein System zu bemühen. Ein solcher Grund wurde letzte Woche von Seiten der chinesischen kommunistischen Führer eloquent vorgeführt, die lautstark dagegen argumentierten. Sie fanden nichts dabei, ihre wahren Beweggründe zu enthüllen: China verlangt ein Recht zu bomben oder einzumarschieren in das demokratische Land Taiwan, und es möchte nicht, dass ihm irgendjemand im Weg steht. Es widersetzt sich einer taktischen Raketenabwehr (TMD), die Taiwan schützen könnte. Und es widersetzt sich einem kontinentalen Abwehrsystem, das Chinas Fähigkeit reduzieren würde, die Vereinigten Staaten mit Atomraketen zu bedrohen und damit, wie Chinas Führer hoffen, Amerika zu entmutigen, Taiwan in einer Krise zu Hilfe zu kommen. Chinas Beschwerden zuzuhören, das bedeutet, einen Grund zu begreifen, weshalb eine Raketenabwehr sein muss.“ (Washington Post, 9.7.2000)

China sieht sich mit dem längst beschlossenen Projekt der USA konfrontiert, im südostasiatisch-pazifischen Raum ein regionales Raketenabwehr-System aufzubauen – unter tatkräftiger Beihilfe der verbündeten Staaten Japan und Südkorea, die zugleich als Schutzobjekte dieses TMD firmieren. Obwohl offiziell Nordkorea als der regionale Bösewicht für die Legitimation des Ausbaus des amerikanisch-japanischen Militärpotenzials herhalten muss, hegt die chinesische Regierung keinerlei Zweifel daran, dass auf diese Weise auch und vor allem Taiwan – diese von den USA aufgepäppelte antikommunistische Insel-Bastion – gegen eine gewaltsame Einverleibung durch die VR China verteidigt werden soll. Der Realismus dieser Beurteilung wird ihr immer wieder aus „Kreisen des Pentagon“ selbst bescheinigt, die offen „die verstärkte Aufstellung von Kurzstreckenraketen an der chinesischen Ostküste gegenüber Taiwan“ als Argument für die Dringlichkeit eines TMD ins Feld führen. Schon damit würde China eine nationale Option mit militärischen Mitteln bestritten, die es als sein ureigenstes Recht, das auf „Wiedervereinigung“ nämlich, reklamiert. Die zusätzliche Errichtung eines NMD, das womöglich schon in der Phase der Stationierung von zunächst 100-250 Abfangraketen ausreichen würde, um die laut CIA lediglich zwei Dutzend atomar bestückten Interkontinentalraketen Chinas zu zerstören und damit seine gesamte Abschreckungsmacht zu neutralisieren, würde das Land in den Augen seiner Führung in den Zustand der Wehrlosigkeit gegenüber militärischer Erpressung durch die USA zurückversetzen, sei es in der Taiwan-Frage, sei es im Falle der absehbaren Verschärfung nationaler Interessengegensätze in der Region. Eine derartige Entmachtung, die einer Niederlage ohne Krieg, rein durch die überlegene Waffentechnik des Gegners, gleichkäme, will China nicht hinnehmen. Und dabei kann es vernehmen, dass, je mehr es gegen eine „unipolare Weltordnung“ und „gefährliches amerikanisches Hegemoniestreben“ polemisiert, umso mehr eine politische Debatte in den USA entbrennt, die sich einzig und allein darum dreht, wie hoch die „chinesische Bedrohung“ heute, in fünf und in zwanzig Jahren zu veranschlagen ist und ob diese überhaupt ohne schärfere Konfrontation mit dem „kommunistischen Regime“ – statt der Gewährung von Handelsvergünstigungen und der Tolerierung angeblich erwiesener „High-Tech-Spionage“ – unter Kontrolle zu halten ist. Auch das Echo der USA auf den vorgeschlagenen Deal, gegen einen Verzicht auf TMD sei man bereit, auf „Proliferation“ von Raketentechnologie in „Krisenländer“ wie den Iran oder nach Pakistan zu verzichten, verspricht keine Entwarnung: Der Vorschlag wird als Schuldeingeständnis gewertet; und es wird darauf bestanden, dass China endlich „seine Verantwortung“ übernimmt. Die geplante Raketenabwehr lasse man sich deswegen aber noch lange nicht abkaufen, da sie der Stabilität in der Region diene, von der doch auch Peking profitiert. Die Drohung mit Gegenmaßnahmen, d.h. mit atomarer Aufrüstung, zu der China „gezwungen“ wäre, wenn die USA seine „Strategie der minimalen Abschreckung“ durch NMD zum Scheitern verurteilen wollten, bestätigt in Washington schließlich eher den überfälligen Handlungsbedarf in Sachen Raketenabwehr, als dass sie ihn bremst.[16] Nach dem gar nicht partnerschaftlichen Motto: Wenn China einen legitimen Selbstschutz der USA vor feindlichen Raketen auf sich bezieht und wie eine Kriegserklärung behandelt, dann führt es offenbar Böses im Schilde!

3. Das Unbehagen der europäischen Verbündeten – und seine gebührende Berücksichtigung durch die Führungsmacht

a) Der bevorstehende Beschluss der amerikanischen Regierung, mit der Umsetzung des NMD-Programms zu beginnen, hat nicht zuletzt die europäischen NATO-Partner alarmiert. Sie, die sich daran zu schaffen machen, die imperialistischen Defizite der Europäischen Union – auch und gerade in der Frage sicherheitspolitischer und militärischer Eigenständigkeit – zu beheben, sind die Allerletzten, die NMD als bloß gegen drei bis fünf „Schurkenstaaten“ gerichtete Prophylaxe ansehen.[17] Mit ihrem zwar diplomatisch formulierten, aber nichtsdestoweniger unüberhörbaren Protest machen sie auf die nachhaltige Betroffenheit ihrer Nationen aufmerksam. Vor allem Frankreich und Deutschland warnen die USA vor einer „Destabilisierung der Weltpolitik“ im Falle eines Präsidentenvotums pro NMD, das „den zentralen ABM-Vertrag über die Raketenabwehr in Zweifel ziehe und einem nuklearen Wettrüsten bestimmter Länder Vorschub leiste“:

„Die nationale Entscheidung der USA werde erhebliche Auswirkungen auf die weltweite Abrüstung, das Verhältnis zu Russland und China sowie auf die europäische Sicherheit haben.“ (Außenminister Fischer auf der NATO-Frühjahrstagung, SZ, 25.5.2000)

Die europäischen Staatsmänner wissen darum, dass das Programm des amerikanischen Freundes den Zweck verfolgt, das nationale Risiko eines Atomkriegs zu minimieren, die nukleare Kriegsfähigkeit der USA zu erhöhen und damit ihre ohnehin schon erreichte Freiheit zu überlegener Kriegführung gegen jeden – noch so hochkalibrigen – Gegner zu vervollständigen. Als Experten der und Partei innerhalb der weltweiten Gewaltkonkurrenz unterstellen sie zu Recht, dass die Überwindung des Dilemmas der eigenen atomaren Verwundbarkeit erstens die Kriegsbereitschaft der obersten Weltordnungsmacht anheizt und zweitens dazu führt, dass gerade die um ihre Sicherheit fürchtenden atomar bewehrten Kontrahenten Amerikas auf Konfrontationskurs gehen und ihre Schlagkraft in der Sphäre der letztentscheidenden Waffen um jeden Preis schärfen werden. Und sie befürchten, dass sie als „geostrategisch“ anfällige und nuklear minderbemittelte Bündnispartner der USA wohl oder übel involviert sind bzw. werden in ein – von ihnen dieses Mal wirklich nicht bestelltes – imperialistisches Kräftemessen, dem sie nicht gewachsen sind. Es bedarf gar nicht unbedingt der Drohung Moskaus mit einer neuerlichen Aufstellung taktischer Atomraketen mit Zielrichtung Westeuropa oder des dezenten Hinweises des russischen Präsidenten auf den „hohen Preis“, den eine europäische Kumpanei mit NMD haben könnte, um Erinnerungen an die Zeiten wach werden zu lassen, in denen noch vom „Kriegsschauplatz Europa“ die Rede war. Und diese Zeiten sollten doch für immer vorbei sein. Eine über NMD herbeigeführte Konfrontation mit Russland würde in jedem Fall das ureigenste und ohnehin prekäre Programm der EU in Frage stellen, sich als einheitliche Macht über ganz Europa aufzubauen, also die Osterweiterung mit der NATO im Rücken voranzutreiben und so die Ausgrenzung Russlands zu vollenden. Die europäische Tagesordnung setzt auf die weitere friedliche Abrüstung Moskaus und verlangt eine politische Diplomatie, die den russischen Kooperationswillen betreut und vereinnahmt, und gerät damit zwangsläufig in Gegensatz zu den Prioritäten der Weltmacht USA.

Die in westeuropäischen Hauptstädten vorgestellten Szenarios, wonach die USA – unter der Rückendeckung von NMD – Kriege beschließen, gegen deren Rückwirkungen auf Europa kein wirkungsvoller Schutz zu haben ist, illustrieren folglich den zweiten Haupteinwand gegen das amerikanische Aufbruchsprogramm:

„Es würde ohne Zweifel gespaltene Sicherheitsstandards im Bündnis herbeiführen.“ (Fischer, SZ, 5.11.1999)

Dass das von den USA verfolgte Ziel der Stärkung nationaler Sicherheit bei der Kriegführung eine schöne Sache ist, leuchtet einem westeuropäischen Staatsmann sofort ein; dass den Europäern dieses Ziel versagt bleibt, während die USA es realisieren, stört ihn gewaltig. Der imperialistische Konkurrenzneid, der hier unumwunden zum Argument wird, demonstriert immerhin den Maßstab, den hiesige Politiker in aller Bescheidenheit anlegen: Mit weniger als dem sicherheitspolitischen Standard der Weltmacht USA wollen sie sich nicht zufrieden geben; und wenn die USA ihre NATO-Mitgliedschaft nicht als Verpflichtung begreifen, den europäischen Verbündeten dieselbe Sicherheit zu garantieren, dann kommen sie zu dem harten Vorwurf, dass sich die Führungsmacht der NATO auf Kosten ihrer Verbündeten stärken, also „abkoppeln“ will. Und das ist selbst für den treuesten NATO-Staat Deutschland glatt ein Grund, zu beschwören, dass die „NATO in Gefahr“ ist – also die eigene Bündnisloyalität in Frage zu stellen. Anlässlich von NMD bekommt das Leiden von Nationen neue Nahrung, die ihre Teilhabe an der Weltherrschaft der Unterordnung unter das Kommando der „Schutzmacht“ USA verdanken. Das gilt sogar für die europäischen Nuklearwaffen-Staaten England und Frankreich, die sich perspektivisch auf den Status von drittklassigen Atommächten herabgestuft sehen; das gilt umso mehr und erst recht für den Nicht-Atomstaat Deutschland. Der hatte sich nach Ende des Kalten Krieges besonders auf eine immer geringere „Rolle der Atomwaffen“ beim militärischen Kräftevergleich gefreut, diese „Tendenz“ dementsprechend wissenschaftlich diagnostiziert und fleißig für nukleare Abrüstung der Großmächte agitiert. Nun sieht sich Deutschland mit einer „Renaissance des Atomaren“ (SZ, 14.7.2000) konfrontiert, bei der man leider – schmerzliche Erblast der letzten Weltkriegsniederlage! – nun wirklich out ist. Unseren grünen Außenminister schmerzt dies so sehr, dass er, durchaus sachgerecht, mit dem möglichen Ende deutscher Enthaltsamkeit in Sachen Atombombe winkt.[18]

Die europäischen Nationen erheben ihren Einspruch im Namen der „Solidarität im Bündnis“ – gegen ein Rüstungsprojekt, das gar kein NATO-Projekt ist, das die USA vielmehr erklärtermaßen in eigener Regie und nach ihren Kriterien beschließen und das gleichwohl bzw. gerade deshalb die militärischen Kräfteverhältnisse im Bündnis substanziell zugunsten der Führungsmacht verschiebt. So fordern sie die „Berücksichtigung europäischer Interessen“ und ein „Recht auf Konsultation“ ein – und protestieren gegen das amerikanische „Verständnis“ von Partnerschaft, demzufolge die NATO keineswegs das kollektive weltpolitische Subjekt für die Regelung der entscheidenden Gewaltaffären ist, sondern ein Instrument zur Sicherung der amerikanischen Suprematie, nicht zuletzt über die Alliierten selber. Was die europäischen Partner eint, ist die negative Gemeinsamkeit, dass sie sich als Opfer des Dominanzstrebens der USA betrachten. Eine EU, die „mit einer Stimme spricht“ und einen politischen Standpunkt gegen das US-Vorhaben bezieht, darf also in den von Wehklagen dominierten Kommentarspalten hierzulande wieder mal vermisst werden. Stattdessen regiert der Wille zu nationaler Schadensbegrenzung in den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten, schön pluralistisch, was die Bündnisvormacht freut.

b) Die USA nehmen die Einwände der europäischen Verbündeten zum Anlass für eine diplomatische Offensive. Der Verteidigungsminister hat das Motto vorgegeben:

„Das beabsichtigte NMD-System kann nicht erfolgreich sein, ohne dass die USA ihre Verbündeten überzeugen, dass sie ihre Opposition aufgeben müssen.“ (Cohen, International Herald Tribune, 27.7.2000)

Den Auftakt der Überzeugungsarbeit bildet ein kostenloser Nachhilfe-Unterricht, eine Hilfe zur Beseitigung der Missverständnisse, auf denen die Kritik der Verbündeten nur beruhen kann. Der amerikanische Botschafter bei der NATO kann alle gängigen Einwände Punkt für Punkt widerlegen[19]:

  • Von „Destablisierung des strategischen Gleichgewichts mit Russland“ kann keine Rede sein. Man versucht ja gerade, „die Sorgen der Russen aufzugreifen“. Erstens, indem man ihnen „versichert“, dass NMD „ihre Abschreckung nicht bedroht“; zweitens, indem man „die strategische Abrüstung weiter verfolgt“; drittens, indem man „Russland Kooperationsprogramme offeriert“. Mehr kann man doch nicht verlangen! Und wenn die Russen darauf nicht einsteigen, soll man das bitte nicht den Amerikanern anlasten.
  • Eine „Abkopplung von amerikanischer und europäischer Sicherheit“ gibt es nicht. Im Gegenteil. Weil NMD „die Fähigkeit der USA stärken würde, um ihre NATO- und Globalverpflichtungen zu erfüllen“. Alle Schurkenstaaten „würden wissen, dass ihnen keine Hoffnung bliebe, uns davon abzuschrecken, unseren Alliierten zu Hilfe zu eilen“. Sollen sie also nur kommen!
  • Dass eine gesteigerte Verteidigungskapazität der USA „die Abschreckung schwächt“, ist absurd. Abschreckung heißt schließlich, „den Gegner zu überzeugen“, dass er „keine Gewinnchancen hat“. Daraus folgt: „Die Verteidigung ergänzt und stärkt die Abschreckung.“ Klar. Oder wollt ihr Europäer etwa, dass auch Amerika abgeschreckt bleibt?
  • Von wegen „übertriebene Bedrohung“. „Wozu bräuchten Nordkorea, Irak und Iran Langstreckenraketen, wenn nicht, um die USA und Europa zu bedrohen“!? Wer mit den USA verbündet ist, ist halt auch mit betroffen!
  • Eine „Erosion des Abrüstungs- und Rüstungskontroll-Regimes“ schließlich ist weit und breit nicht in Sicht. Auch hier stimmt das Gegenteil: „Die von uns vorgeschlagenen Modifikationen (des ABM-Vertrags) dienen dazu, den Vertrag zu bewahren und zu stärken.“ Das ist logisch, sofern die USA ansonsten, wie angekündigt, ganz aussteigen aus dem Vertrag!

Fazit: „Alle Ansichten der Verbündeten werden sorgfältig berücksichtigt“, sind also als Einwände vollkommen unbegründet. Die diplomatische Form der Beschwichtigung der europäischen Partner verhüllt nicht, dass die Amerikaner deren Uneinsichtigkeit nicht verstehen. Die beliebte Gretchenfrage von Verteidigungsminister Cohen – „Wäre ein schwaches Amerika etwa ein besserer Verbündeter?“ – sagt alles. Alle „Widerlegungen“ der europäischer Befürchtungen fassen sich in der Klarstellung zusammen, dass ein starkes Amerika im recht verstandenen Eigeninteresse der Verbündeten liegt, die es schützt, und damit basta. Und umgekehrt gilt: Wenn die das nicht genau so sehen, dann ist es offenkundig schlecht bestellt um ihre Loyalität.

Dementsprechend ergeht in der Form einer konditionalen Prognose eine eindringliche Mahnung an die Adresse der europäischen NATO-Mitglieder, nicht länger den Russen in die Hände zu spielen:

„Wenn die NATO-Alliierten das Projekt annehmen, dann würde sich Russland gezwungen fühlen, seinen Widerstand gegen eine Änderung des ABM-Vertrages aufzugeben.“ (Cohen, ebd.)

Der Vorwurf ist hart und unüberhörbar: Die europäische Kritik dient als Nährboden des russischen Widerstands gegen NMD, grenzt also schon beinahe an politische Sabotage. So fordern die USA ihrerseits Solidarität im Bündnis ein: Über NMD entscheidet zwar Washington allein, aber als mit den USA verbündete NATO-Staaten haben die Länder Europas nichtsdestoweniger die Pflicht, dieser Entscheidung zuzustimmen und die Bedenken anderer Mächte auszuräumen, statt sie zu bestätigen.

Schließlich entkräften die diplomatischen Emissäre der USA den europäischen Vorwurf, sie würden durch NMD in einen inferioren „Sicherheitsstandard“ versetzt, durch das praktische Angebot, sich am Aufbau des Schutzschildes gegen die Raketen möglicher Feinde zu beteiligen. Ein Angebot, das ebenfalls ein Imperativ ist, schon weil die USA gewisse Länder brauchen:

„Ohne X-Band-Radar in Übersee kann man die Raketen nicht kommen sehen. Dann sind unsere Abfangraketen wirklich nicht viel wert.“ (Cohen, ebd.)

Der geforderte materielle Beitrag der Verbündeten betrifft nicht nur England, Dänemark und Norwegen, die wegen ihrer geographischen Lage als Radarstützpunkte und „tracking stations“ für NMD benötigt werden, sondern alle europäischen Alliierten. Sie dürfen sich nämlich am Aufbau eines TMD für Europa beteiligen, d.h. sie haben sich daran zu beteiligen, schon allein wegen des Schutzes amerikanischer Truppen, die ja wohl in Westeuropa bleiben sollen, oder etwa nicht? Natürlich zu den Bedingungen der USA, denen die technologische Führerschaft gebührt. Und überhaupt fehlt es immer mehr an der nötigen „Lastenteilung“. Die europäischen NATO-Partner haben ihre Rüstungskapazitäten endlich, wie versprochen, zu erweitern, um ihrer Verantwortung an der Seite oder in Stellvertretung amerikanischer Interventionskräfte künftig besser als auf dem Balkan gerecht werden zu können – damit die Weltmacht USA ihren genuinen Aufgaben in Sachen „global security“ besser nachkommen kann, zum Beispiel mit einer ordentlichen National Missile Defense.

Alle Argumente und Angebote der amerikanischen Diplomatie gegenüber den Euro-Verbündeten haben die eine Botschaft zum Inhalt und Zweck: Es ist Aufgabe der USA, darüber zu befinden, was an militärischer Aufrüstung fällig ist; sie lassen sich von nichts und niemandem hindern, das Nötige durchzusetzen – machen sich also auch nicht abhängig von den Interessen ihrer militärisch minderbemittelten Verbündeten. Dieses Machtwort ist in Europa angekommen und verstanden worden. Realismus ist angesagt. Wenn Deutschlands Außenminister eigens betont, „dass Amerika in seiner Entscheidung völlig frei ist“, dann ist das ‚leider‘ herauszuhören, mit welchem die Anerkennung des real existierenden Kräfteverhältnisses vollzogen wird. Der Wille, sich mit dem Unvermeidlichen zu arrangieren –

„NMD dürfte – auch wenn der Zeitpunkt der Realisierung offen ist – kaum mehr aufzuhalten sein. Wir müssen uns deshalb – auch in der Allianz – mit allen Konsequenzen auf NMD einstellen.“ (Vertrauliches Eckpunktepapier der Bundesregierung, SZ, 6.5.2000)

– beweist den Politikern der einzigen Weltmacht wiederum, wie Recht sie haben.

[1] So steht es in vielen Zeitungskommentaren in Europa, die dem Projekt skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Der Wunsch ist hier wieder mal der Vater des Gedankens. Warum sollte das nach dem Test ermittelte fehlerhafte Funktionieren der Befehlssignale an das „Kill-Vehicle“ beweisen, das „es“ sowieso unmöglich ist, dass „eine Gewehrkugel eine andere abschießt“? Immerhin ist die Abfangrakete selbst, trotz dieses Fehlers, nur ein paar Meter am „feindlichen Objekt“ vorbei geflogen. Für die amerikanische Regierung geht es nur darum, wann das System einer Raketenabwehr so weit entwickelt ist, dass es seine militärische Funktion erfüllen kann. Die politische Vorgabe projektiert das Jahr 2005 als anzustrebendes (Einstiegs-)Datum, da dies der frühestmögliche Zeitpunkt ist, zu dem man die Verfügung Nordkoreas über Langstreckenraketen erwartet.

[2] 70% der Haushaltsmittel, die für die Abwehr von Raketen verplant sind, sind für TMDs vorgesehen, für NMD 20%.

[3] Diese Zahl markiert keineswegs eine technische Grenze; sie bezieht sich vielmehr auf eine politische Vereinbarung mit der russischen Regierung. In einem Zusatzprotokoll zum ABM-Vertrag von 1997 hat Russlands Jelzin dem Antrag der USA stattgegeben, Abwehrsysteme „mittlerer Reichweite“ zu stationieren. Die Option, diese auch gegen Interkontinentalraketen „in der Start-Phase“ einzusetzen, ist laut US-Verteidigungsminister Cohen durchaus gegeben. (Pressekonferenz, 7.6.2000)

[4] In künftigen regionalen Konflikten sollte TMD den Druck auf die militärischen und politischen Führer der USA reduzieren, Kampagnen- (= Kriegs-)Pläne wegen der Drohung mit oder dem tatsächlichen Einsatz von ballistischen Raketen zu ändern. TMD minimiert insofern das Risiko, die so sorgfältig ausgearbeiteten Pläne aufgeben zu müssen und die Initiative im Kampf zu verlieren. (P. DeBiaso, Theater Missile Defense and National Security Strategy, in Military Review, Nov/Dez 1999)

[5] Womit auch klar ist, dass der Rechtfertigungstitel „Schurkenstaat“ für mehr steht als nur für die real existierenden „Schurken“ von heute. Auf die Frage an Kriegsminister Cohen, ob im Falle eines Einlenkens Nordkoreas und des Irans das NMD-Programm nicht hinfällig sei, erging denn auch die passende Antwort: „Sollen wir unsere Sicherheit etwa abhängig machen von den Absichtserklärungen dieser Staaten und den Konjunkturen ihrer Politik?“ Das wäre ja noch schöner!

[6] Über ein „Motiv“ zur Aufrüstung, speziell im Bereich der ABC-Waffen, geben die Amerikaner ja, wie gesehen, selbst Auskunft: Gerade Staaten wie der Irak, der Iran und Nordkorea, die als „Schurken“ Objekte des von den USA praktizierten militanten Weltherrschaftsanspruchs geworden sind, sinnen auf den Erwerb tauglicher Mittel zur Gegenabschreckung, die auch der mächtigsten Militärmaschinerie der Welt eine gewisse Risiko-Abwägung aufnötigen würden – also auf die Kombination von Waffen maximaler Zerstörungskraft und weitreichenden Mitteln für ihren Transport.

[7] Der im September 1999 für den amerikanischen Senat hergestellte Kommissionsbericht über die gegenwärtigen bzw. in nächster Zukunft zu erwartenden nuklearen Bedrohungen des US-Territoriums handelt von fünf Staaten: den drei „Schurken“ Nordkorea, Irak und Iran sowie – Russland und China, natürlich!

[8] Dass die USA gegenwärtig laut eigener Mitteilung einen neuen Atomsprengkopf entwickeln, der eine speziell dosierte Zerstörungskraft aufweist, ist also nur die andere Seite der Medaille von NMD. Laut New York Times ist aktenkundig, dass 25000 Experten unter weitgehend geheimen Bedingungen die Modernisierung der Atomwaffen vorantreiben. (SZ, 23.8.1997)

[9] Nach dem in den 50er Jahren aufgelegten „Safeguard“-Programm, das nicht zum Erfolg führte, sollte bekanntlich in den 80er Jahren die „Strategische Verteidigungs-Initiative“ unter Präsident Reagan das „Fenster der Verwundbarkeit“ schließen.

[10] Wir werden den Zustand ihres Arsenals nicht kennen und sie werden nicht wissen, was wir tun, das wird das strategische Gleichgewicht durcheinander bringen. (General Dvorkin, russischer Top-Stratege, International Herald Tribune, 6.11.1999)

[11] Putin kommt den Staaten der Europäischen Union mit einer Mischung aus Drohung und Appell: Es ist sehr wichtig, daß die europäischen Staaten für die Erhaltung des russisch-amerikanischen ABM-Vertrages aus dem Jahre 1972 eintreten und vor allem für die Festigung der strategischen Stabilität in der Welt. Es ist bekannt, daß Washington nicht in der Lage ist, seine Pläne allein, ohne die Hilfe der europäischen Verbündeten, in erster Linie Großbritanniens, Dänemarks und Norwegens zu verwirklichen. Indem sie bei sich Elemente des Systems des NMD der USA unterbringen, gehen diese Staaten das Risiko ein, sich in einen Prozess hineinzubegeben, der zu einer nicht vorhersehbaren Zerstörung der strategischen Stabilität führt. Der Preis könnte sehr hoch sein… Ausstieg aus dem ABM-Vertrag, Start etc… (Welt am Sonntag, 11. Juni 2000)

[12] So stellte Präsident Putin mit allem Nachdruck klar, dass Russland weiterhin imstande sein werde, jeden Feind zu vernichten, und zwar mehrmals, an jedem Ort und zu jeder Gelegenheit, selbst wenn es gleichzeitig gegen verschiedene Atommächte kämpfen müsste. (El País, 15.4.2000)

[13] Unterstützer der Ratifizierung von Start II berichten vor der Duma, bei massenhaft russischen Atomwaffen sei ohnehin die Dienstzeit abgelaufen, weshalb sie in den nächsten Jahren ohnehin verschrottet werden müssten. Experten gingen davon aus, dass Hunderte fällig werden und dass sie nur in geringem Umfang Jahr für Jahr durch die neue Topol-Rakete ersetzt werden können. Und zu START III heißt es: Putin bot gestern ein viel niedrigeres Dach an: 1500 Sprengköpfe. Aus seinem Blickwinkel würde dies erlauben, die strategische Parität aufrecht zu erhalten und die Atomarsenale zu einem Preis zu modernisieren, den sich das malträtierte Russland leisten könne. (El País, 15.4.2000)

[14] Cohen schließt messerscharf auf diese hinterhältige Absicht der Russen: Es gibt keine Bedrohung des russischen (Abschreckungs-)Systems, und ich denke, das Argument selbst hat keinen Wert. Aber es handelt sich, glaube ich, eben darum, dass sie ganz klar versuchen, die Europäer abzuspalten und das amerikanische Volk zu spalten mit den Andeutungen, die sie machen. (Interview, 7.7.2000)

[15] Der russische Verteidigungsminister Sergejew hat ja nicht Unrecht, wenn er feststellt, dass die Infrastruktur eines solchen Systems das Entscheidende ist. Wenn sie erst einmal steht und die Verbindung zwischen Kampflenkung, Informationsübertragung und Waffen funktioniert, sei eine Erweiterung seines Wirkumfangs durch zusätzliche Abfangraketen innerhalb kurzer Zeit, z.B. in einer Krise, kein Problem mehr: Die Voraussetzungen hierzu werden heute geschaffen – dem US-Abwehrsystem wird die Fähigkeit zu Grunde gelegt, sein Potenzial zu erhöhen. (SZ, Dez. 1999)

[16] Auf die Frage, ob NMD nicht die atomare Aufrüstung der noch schwächlichen Atommacht China provoziere, antwortete Cohen: „China rüstet ohnehin auf, auch ohne NMD.“

[17] In einem Interview wird dem deutschen Außenminister die sinnige Frage gestellt: Machen die Veränderungen in Korea und nun auch die Öffnung Irans eine Raketenabwehr überflüssig? Worauf Fischer antwortet: Gegenfrage: Geht es denn wirklich um diese Staaten? Die Begründungen für die Raketenabwehr haben sich in den letzten Monaten doch ständig verändert. Ich möchte darüber nicht öffentlich spekulieren. (SZ, 13.7.2000) Die regierungsamtliche Begründung für den Bedarf an NMD hat sich zwar nicht geändert; aber so drückt der Mann aus, dass er sie für eine Legitimation hält, die nicht mit dem tatsächlichen Grund des Programms zusammenfällt.

[18] Er sagte, Deutschlands Verpflichtung, nicht-nuklear zu bleiben, basierte immer auf unserem Vertrauen, dass die USA unsere Interessen schützen würden, dass die USA, als die führende Nuklearmacht, eine Sorte von Ordnung garantieren würden. (…) Ein drive der USA, eine eigene Raketenabwehr aufzubauen, sagte er, würde dieses Vertrauen erschüttern, sofern er Städte in Europa einem größeren Risiko aussetzen würde als jene in Amerika. (Fischer, International Herald Tribune, 8.11.1999)

[19] Alle folgenden Zitate aus der Rede von Alexander Vershbow am 3.6.2000 in Berlin.