Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
PKK-Chef Öcalan stellt in Rom Asylantrag
Was aus der Kurdenfrage geworden ist: eine imperialistische Affäre zwischen der Türkei und Italien und noch einigen anderen

Der Führer der PKK Öcalan stellt in Italien Asylantrag, nachdem er von Syrien, bis dahin die Rückzugsbasis der PKK, des Landes verwiesen wurde. Er muss feststellen, dass er in seiner Eigenschaft als Chef des „Kurdenproblems“ für die europäischen Mächte nur soweit von Interesse ist, wie sie ihn zum Mittel ihrer eigenen Berechnungen gegenüber der Türkei machen: Italien bietet sich als Vermittler an, was die Türkei als offen feindseligen Akt zurückweist und was in einen Streit um höchste Rechte zwischen Nato-Mitgliedern mündet.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

PKK-Chef Öcalan stellt in Rom Asylantrag
Was aus der Kurdenfrage geworden ist: eine imperialistische Affäre zwischen der Türkei und Italien und noch einigen anderen

Am 12.11. landet der Führer der kurdischen Arbeiterpartei Abdullah Öcalan in Rom und wird von der italienischen Polizei verhaftet. Der türkische Regierungschef Yilmaz spricht vom empfindlichsten Schlag gegen die PKK und fordert die sofortige Auslieferung des PKK-Chefs an die Türkei. Öcalan beantragt politisches Asyl, und kaum wird seine Ankunft in Rom bekannt, versammeln sich Zigtausende der in Europa lebenden Kurden in Rom und in anderen Städten zu Sympathiekundgebungen für ihren Führer und Manifestationen gegen die türkische Unterdrückung.

Die letzte Offensive des türkischen Militärs im Nordirak und vor allem die militärische Drohung gegen Syrien haben sich als voller Erfolg erwiesen: Die PKK ist militärisch in höchster Bedrängnis. Vor allem hat sie mit der Unterstützung durch Syrien ihre wichtigste Rückzugsbasis und ihre Ausbildungslager verloren. Ihre Führungskader sind auf der Flucht; einige hat die Türkei bereits aufgespürt und in Haft nehmen können. Von Damaskus ausgewiesen hat Öcalan vergeblich ein Land gesucht, das ihn aufnimmt. Nachdem sich bereits mehrere Länder geweigert hatten, ihm Aufenthalt zu gewähren, lehnte auch Moskau seinen Antrag auf politisches Asyl ab, um drohenden diplomatischen Schwierigkeiten mit der Türkei aus dem Weg zu gehen. Als eines der letzten Länder ist der PKK-Führer auf Italien verfallen.

In der jetzigen Regierungskoalition sitzen nämlich einige Parteien, die in den vergangenen Jahren gute Beziehungen zur PKK unterhalten haben. Nicht nur die linken, auch konservative Parteien Italiens stufen die Kurden als verfolgtes Volk ein und werfen der Türkei die Verletzung der Menschenrechte vor. Erst kürzlich konnte in Rom das Exil-Parlament der Kurden tagen, dabei durften die kurdischen Exilpolitiker am Rande der Sitzungen auch mit italienischen Parlamentariern zusammentreffen. Auf diese Rückendeckung hat Öcalan mit seiner Flucht nach Rom gesetzt. Dabei kann er sich freilich kaum versprechen, von dort aus den militärischen Kampf seiner Organisation neu zu organisieren; aber nach der militärischen Niederlage sind die Auslandskurden – in Westeuropa leben eine halbe Million – seine einzige Basis. Durch deren Mobilisierung hofft er den Anspruch auf kurdische Eigenstaatlichkeit noch aufrechtzuerhalten und für politischen Druck auf die Türkei zu sorgen, damit die den Kurden Autonomierechte zugesteht.

Bloß ist er jetzt überhaupt nicht mehr Subjekt der Entscheidung darüber, was für die kurdische Sache getan wird. Wozu die ihm noch verbliebene Basis taugt, wie weit sich die Kurden in Europa überhaupt bemerkbar machen können, hängt gänzlich von den innen- und außenpolitischen Kalkulationen der Gastnationen ab. Von denen sind sie nur geduldet, in der Regel sogar als Sicherheitsrisiko eingestuft. Die europäischen Politiker wissen nämlich sehr wohl zu unterscheiden zwischen der Berufung auf das „ungelöste Kurdenproblem“, um türkische Ansprüche abzuwehren, und einer Parteinahme für die Gründung eines kurdischen Staates im Nahen Osten, zwischen menschenrechtlichen Beschwerden gegenüber anderen Staaten und dem Bedarf ihrer öffentlichen Ordnung, ruhestörende Ausländer unter Kontrolle zu halten. Insofern sind die Demonstrationen der Kurden in Rom und anderen europäischen Städten nur Bekundungen der eigenen Ohnmacht: Ihr Appell, sich für die Aufhebung der türkischen Repression einzusetzen, richtet sich an Regierungen, die selber nur ihre eigenen Ziele gegenüber der Türkei im Auge haben und die Kurdenfrage dafür funktionalisieren. Auch Öcalan selbst hat notgedrungen, in der Hoffnung, der Verfolgung durch die Türkei zu entgehen, sein Schicksal ganz in die Hände der italienischen Regierung gelegt. Was er sich damit einhandelt, hängt also ganz davon ab, wie Italien den Fall in seine Berechnungen gegenüber der Türkei, der EU und der Nato einordnet; und zweitens davon, wie Italiens Partner und Konkurrenten damit umgehen.

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Italien sieht sich durch die Flucht des PKK-Chefs auf sein Territorium dazu herausgefordert, der Türkei gegenüber als Vorreiter des bisher üblichen EU-Standpunkts aufzutreten: Europa hat wiederholt die Handhabung der Kurdenfrage durch die Türkei als Verletzung von Minderheiten- und Menschenrechten angeprangert, um der Türkei den Bescheid zu erteilen, daß sie für die Aufnahme als Vollmitglied in die Gemeinschaft noch nicht reif sei. Die EU nimmt sich also das Recht heraus, die Türkei als eine Nation einzustufen, die Vorschriften in Sachen ordentlichen Regierens und des korrekten Gebrauchs der Macht dulden muß. Die Flucht Öcalans nach Rom nimmt die Regierung D’Alema zum Anlaß, sich im Sinne dieser europäischen Linie als EU-Mitglied zu profilieren, dem eine besondere Funktion bei der Ordnungsstiftung im östlichen Mittelmeerraum zukommt, zumal es sich auch noch als betroffene und insofern für die Ordnungsstiftung besonders berechtige Nation hinstellen kann, nachdem in den letzten Monaten tausende Flüchtlinge aus der Osttürkei an seinen Küsten gelandet sind. D’Alema weigert sich folglich, Ankaras Auslieferungsersuchen nachzukommen, und kann sich dabei auf die italienische Gesetzeslage berufen, nach der die Auslieferung eines Straftäters in ein Land, in dem ihm die Todesstrafe droht, nicht stattfinden darf. Nach acht Tagen Arrest wird Öcalan sogar entlassen, weil ein Gericht den Auslieferungsantrag der Türkei ablehnt, und wird nur im Hinblick auf die Existenz eines deutschen Haftbefehls darauf festgelegt, Rom nicht zu verlassen.

Beim Hinweis darauf, daß die Türkei ein Land ist, das den gehobenen Ansprüchen europäischer Rechtsstaatlichkeit nicht genügt, beläßt es Italien aber nicht. Ausdrücklich bezeichnet D’Alema Öcalan als politischen Kämpfer und brüskiert Ankara mit dem Angebot, bei einer politischen Lösung des Kurdenproblems behilflich sein zu wollen. Damit bietet er sich als Vermittler an, der nicht nur nicht bestellt ist, sondern durch sein Angebot einem Anspruch recht gibt, der nach türkischer Ansicht das größte Verbrechen ist, nämlich Terrorismus. Als wäre er berufen, einen Friedensprozeß zwischen den Kurden und der Türkei, à la IRA und Großbritannien, in Gang zu bringen, fordert er vom PKK-Chef das öffentliche Bekenntnis zu einem Gewaltverzicht und stellt ihm dafür die Gewährung von Asyl in Aussicht. Und sein „Schützling“ nimmt das Moment politischer Aufwertung sofort wahr: In einem Interview mit der Zeitung „Repubblica“ setzt sich Öcalan Yilmaz gegenüber als politische Kraft in Positur und unterbreitet das Angebot, gegen die Gewährung noch auszuhandelnder Autonomierechte den bewaffneten Kampf abzusagen.

Von Seiten der europäischen Partner erhält Italien für seine Bemühung, sich als Initiator eines weiteren Friedensprozesses im Nahen Osten, der Befriedung der Osttürkei, zu betätigen, zunächst einmal aufmunternde Worte. Der deutsche Regierungssprecher: Die Bundesregierung schätze die Bemühungen der italienischen Regierung, mit der sie in dieser Frage eng und vertrauensvoll zusammenarbeite, hoch ein.

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Die türkische Regierung sieht sich durch Italiens Ablehnung, Öcalan auszuliefern, in höchstem Maße brüskiert. Immerhin setzt Ankara derzeit alles daran, den Separatismus der Kurden, der die Nation seit 14 Jahren in Kriegszustand hält, endgültig zu erledigen. Dabei muß es registrieren, daß Italien der Türkei in dieser Frage oberster nationaler Priorität nicht nur seine Unterstützung verweigert, sondern seine Anstrengungen regelrecht konterkariert: D’Alema & Co reden entgegen der türkischen Definition, es gebe kein Kurden-, sondern nur ein Terrorismusproblem (Demirel), von einer unterdrückten Minderheit und die demokratische Öffentlichkeit stellt sich diesen subversiven Kräften für antitürkische Hetze und für den Aufruf zum Kampf gegen die Türkei durchaus zur Verfügung.

Eine Nation, die gerade erst im Nahen Osten unter Beweis gestellt hat, wie sie sich durch ihre militärische Stärke und den Rückhalt bei den USA Respekt verschaffen und auch erlauben kann, im Namen eigener Sicherheitsfragen Nachbarn mit Krieg zu bedrohen, läßt sich das nicht gefallen. Italiens Antrag, sich als Friedensstifter zwischen den Kurden und der Türkei ins Spiel zu bringen, wertet Yilmaz nicht nur als Einmischung in innere Angelegenheiten, sondern als offen feindlichen Akt und fährt dagegen entsprechend große Kaliber auf. Das Muster, das die USA und Israel in der Weltpolitik vorexerziert haben – die Definition ihrer Feinde als Terroristen auf alle Staaten auszudehnen, die diese unterstützen oder mit ihnen sympathisieren –, wendet Ankara nach Syrien nun auf ein EU-Mitglied an. Yilmaz erklärt, Rom mache sich zum Mordkomplizen, und droht: Italien wird als Terroristen-Staat gebrandmarkt, wenn es Öcalan nicht ausliefert.

Die Türkei sieht sich in einem diplomatischen Krieg (Ecevit), belegt Italien – immerhin einen Nato-Partner – mit einem Boykott aller Waffengeschäfte und ruft ihre Geschäftswelt dazu auf, italienische Importe zu boykottieren. Der türkischen Regierung ist die Durchsetzung ihres nationalen Anliegens Nr.1, die Kurdenfrage ein für allemal zu erledigen, und die nationale Ehre, sich von der EU keine Vorschriften machen zu lassen, offensichtlich so wichtig, daß sie die Beziehungen zu ihrem zweitwichtigsten Handelspartner – der wechselseitige Handel beträgt 6 Mrd. Dollar pro Jahr – aufs Spiel setzt, und einen regelrechten Wirtschaftskrieg riskiert. Des weiteren mobilisiert Yilmaz die in Europa vorwiegend als Gastarbeiter lebenden Türken als 5. Kolonne der Türkei: Macht deutlich, daß es auch Türken gibt, die ihrem Land verbunden sind. Er weiß, daß er damit die Regeln des diplomatischen Umgangs zwischen zivilisierten Staaten verletzt, erst recht die zwischen Bündnispartnern, aber darauf kommt es ihm gerade an. Er schwört Italien ewige Feindschaft, wenn es nicht nachgibt, und droht mit Gewalttaten seiner Landsleute in den europäischen Gastländern. Mitglieder seiner Regierung prophezeien den Export des Terrorismus in die europäischen Länder, in denen Kurden leben.

Die türkische Regierung kennt noch ein weiteres Mittel der Eskalation. Sie kündigt Initiativen gegen Rom innerhalb der Nato an, bemüht sich also darum, die Affäre zu einer Angelegenheit für die Führungsmacht der Nato zu machen, damit die Weltmacht Nr. 1. den Nato-Partner Italien in seine Schranken weist und ihm und Europa klarmacht, daß die Türkei sich nicht als ihr Aufsichtsfall behandeln lassen muß. Im Streit mit Europa setzt Ankara darauf, daß die Amerikaner die Türkei, die sie als wichtigen Posten in ihrer Strategie im Nahen Osten aufgebaut haben, nicht im Stich lassen. Des weiteren zielt die türkische Berechnung darauf, daß die USA kein Interesse daran haben, neben sich eine Aufsichtsmacht zu dulden, die, ohne von den USA dazu autorisiert zu sein, wichtigen Partnern der USA Vorschriften macht.

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Damit ist die Kurdenfrage endgültig nur noch der Anlaß für die Austragung ganz anderer politischer Streitfragen innerhalb und zwischen den Nationen, die sich für die Affäre zuständig erklären:

  • In Italien steigert sich der Parteienstreit über die Einstufung der PKK als terroristische oder politische Bewegung, angefeuert von der Frage, ob sich Italien seinen Konfrontationskurs mit der Türkei leisten kann und soll. In Deutschland profilieren sich Politiker mit der Frage, wie prinzipienfest ein Rechtsstaat sein muß, ob er die Durchsetzung seiner eigenen Haftbefehle wegen außen- oder sicherheitspolitischen Opportunitätserwägungen zurückstellen darf. Zudem steht die Handlungsfähigkeit deutscher Außenpolitik auf dem Prüfstand.
  • In der EU kommt Mißstimmung zwischen Italien und Deutschland auf: Außenminister Dini wirft der Bundesregierung vor, Italien im Stich zu lassen. Öcalan sei auf der Grundlage eines deutschen Haftbefehls festgenommen worden, nicht um ihn in Italien zu behalten. Wenn Deutschland sich nun weigert, einen Auslieferungsantrag zu stellen, ist es schuld an dem außenpolitischen Dilemma, in dem Italien nun steckt. Politisches Asyl für Öcalan will sich Italien wegen des Drucks seitens der Türkei und den USA nicht leisten, eine Auslieferung in die Türkei aber auch nicht, weil das eine peinliche Kapitulation gegenüber Ankara bedeuten würde; der Hinweis auf bestehendes italienisches Recht ist dafür lediglich der Titel. Deutschland hat kein Interesse, die Angelegenheit zu seinem Fall zu machen. Es sieht die Gefahr, sich mit einem Prozeß gegen Öcalan erstens ein Sicherheitsproblem mit den in Deutschland lebenden Kurden einzuhandeln, zweitens will es selbst keine Konfrontation mit der Türkei aufmachen.
  • Die türkischen Ausfälle gegen ein Mitgliedsland kann sich die EU allerdings auch nicht gefallen lassen. So warnt nicht nur der europäische Kommissionspräsident Jacques Santer die Türkei vor einer Verletzung des Zollabkommens, falls italienische Waren boykottiert werden, auch die deutsche Regierung läßt verlauten, daß sie Angriffe gegen Italien als Angriffe auf Europa wertet. Die EU sieht sich durch die Überreaktionen Ankaras in der Affäre zugleich darin bestätigt, daß die Türkei wirklich noch nicht reif für Europa ist; andererseits ist die Frage, wie sich dieses Land im Sinne der europäischen Interessen einbinden und domestizieren lassen soll, wieder völlig offen.
  • Die USA verlangen schließlich von ihren Bündnispartnern, daß die Krise in ihrem Sinne gelöst wird. Washington drängt Rom, daran mitzuwirken, daß Öcalan im Sinne des Kampfes gegen den Terrorismus abgeurteilt werden kann. Die amerikanische Regierung besteht also einerseits darauf, daß innerhalb der Nato die Sprachregelung, die sie abgesegnet hat – danach ist die PKK ein Terrorismusproblem –, von allen Partnerländern akzeptiert wird. Andererseits legt sie Wert darauf, daß innerhalb des Bündnisses weitergehender Streit unterbleibt.

So bringt die politische Kultur des Haftbefehls die Wertegemeinschaft der Nato durcheinander, die seit geraumer Zeit ihren Imperialismus als weltweite Verbrechensbekämpfung verkauft.