„Noch ist Polen“ schon wieder „nicht verloren“

Zusätzlich zu den nicht wenigen Krisenfällen im europäischen Bündnis hat sich seit dem Regierungswechsel Polen zu einem solchen ausgewachsen. Nach Aussage von Europa-Funktionären hat er das Zeug dazu, im Verein mit den anderen das Bündnis zu sprengen.

Die Art von Krise, die Polen in das Bündnis hineinträgt, liegt laut EU-Parlamentspräsident Schulz im Verstoß gegen die sakrosankte demokratische Geschäftsordnung: „Die Vorgänge in Polen ähneln tatsächlich einem Staatsstreich“; EU-Kommissar Oettinger fordert, dass Europa „seinen Rechtsstaatsmechanismus aktiviert und Warschau unter Aufsicht stellt“ (FAZ, 5.1.16). Laut FAZ hat die PiS nämlich eine „Offensive gegen die Bastionen der Gewaltenteilung“ eröffnet, „in zwei gezielten Vorstößen versucht, nach Exekutive und Legislative auch die dritte und die sogenannte vierte Gewalt im Staate unter Kontrolle zu bringen – die Gerichtsbarkeit und die Presse“ (FAZ, 7.1.16).

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„Noch ist Polen“ schon wieder „nicht verloren“

Zusätzlich zu den nicht wenigen Krisenfällen im europäischen Bündnis hat sich seit dem Regierungswechsel Polen zu einem solchen ausgewachsen. Nach Aussage von Europa-Funktionären hat er das Zeug dazu, im Verein mit den anderen das Bündnis zu sprengen: Flüchtlingskrise, Brexit-Abstimmung, der Konflikt mit Polen: Nie war das Ende der EU so nahe... [EU-Kommissar] Oettinger warnt, ... dass ein Auseinanderfallen der Union eine ernsthafte Gefahr sei. EU-Parlamentspräsident Schulz: Die EU war nie so herausgefordert, wie sie das zurzeit ist. Die FAZ dehnt die Problemdefinition gleich auf den ganzen osteuropäischen Raum aus:

„Seit Jahren fremdeln die alten Staaten Kerneuropas mit den nach 2003 beigetretenen ehemaligen Ostblock-Staaten... Bis zur Flüchtlingskrise ließ sich das meist übertünchen. Nun aber wirft selbst mancher Berufseuropäer in Brüssel die Frage auf: War die Ost-Erweiterung ein Fehler?“ (FAZ, 16.1.16)

Die Art von Krise, die Polen in das Bündnis hineinträgt, liegt laut Schulz im Verstoß gegen die sakrosankte demokratische Geschäftsordnung: Die Vorgänge in Polen ähneln tatsächlich einem Staatsstreich; Oettinger fordert, dass Europa seinen Rechtsstaatsmechanismus aktiviert und Warschau unter Aufsicht stellt (FAZ, 5.1.16). Laut FAZ hat die PiS [1] nämlich eine

„Offensive gegen die Bastionen der Gewaltenteilung“ eröffnet, „in zwei gezielten Vorstößen versucht, nach Exekutive und Legislative auch die dritte und die sogenannte vierte Gewalt im Staate unter Kontrolle zu bringen – die Gerichtsbarkeit und die Presse“ (FAZ, 7.1.16).

Die polnische Gegenseite protestiert in aller Schärfe und besteht darauf, dass ihre Maßnahmen von sozusagen therapeutischen Notwendigkeiten diktiert sind. Außenminister Waszczykowski: Wir wollen lediglich unseren Staat von einigen Krankheiten heilen, damit er wieder genesen kann. (welt.de, 4.1.16)

Der Streit darum, wie sehr oder wie wenig ähnlich andere Staaten mit Medien und Staatsanwälten verfahren, ob der polnische Handlungsbedarf noch zur europäischen Wertegemeinschaft passt oder als Indiz für abweichendes Verhalten zu klassifizieren ist, geht seinen Gang. Ein typisch europäisches Quidproquo: Behandelt wird die Interessenkollision als eine Frage der Einhaltung der – doch von allen Seiten gemeinsam gewollten – Geschäftsordnung. Der Sache nach bekämpft wird so ein Programm von Kaczyński & Co., das sich von dieser Geschäftsordnung im Namen der Heilung der Krankheiten der polnischen Nation gerade befreit. Von Respekt vor den Bastionen der Gewaltenteilung lassen sich die Leute von der PiS nämlich wahrlich nicht leiten; sie haben ja alle Hände voll damit zu tun, ihre Politik gegen Institutionen wie das Verfassungsgericht durchzusetzen, die ein rechtlich kodifiziertes Eigenleben führen und dieses auch noch nutzen, um den Rettern der Nation in den Arm zu fallen – ein klarer Beweis dafür, wie gespalten und heruntergekommen Polen ist. Und wie nötig es ist, sich bei der Aufgabe, Recht und Gerechtigkeit im Land wiederherzustellen, Staat und Volk wieder an einem gesunden, nationalkatholisch-polnischen Staatswillen auszurichten, durch nichts und niemanden bremsen zu lassen: nicht durch irgendwelche Rücksichten auf die Bündnis-Raison oder Mahnungen aus Brüssel zur Einhaltung der in der EU vorgeschriebenen demokratischen Prozeduren und auch nicht durch Belehrungen aus europäischen Hauptstädten, und schon gleich gar nicht, wenn die aus Deutschland kommen.

Ein enttäuschter Nationalismus rechnet ab

„‚Braucht Ihr Polen nur als Pufferzone zu Russland? Als Lieferant billiger Arbeitskräfte? Als Zulieferer und verlängerte Werkbank für große deutsche Konzerne? Oder sind wir Polen, bei allen wirtschaftlichen Größenunterschieden, ein Partner Deutschlands, zumindest bei der Lösung der Probleme in unserem Teil Europas?‘... Polen sei seit 16 Jahren Mitglied der NATO, führte Waszczykowski nun in der ‚Bild‘-Zeitung aus. Noch immer aber liege der Sicherheitsstatus seines Landes weit unter dem Westeuropas.“ (Waszczykowski, Spiegel Online, 4.1.16)

Da wird unüberhörbar ein sehr grundsätzlicher Ton angeschlagen: ein gekränkter Nationalstolz sieht sich ausgenützt und erniedrigt durch Deutschland, eine hochgradig bedrohte Nation im Stich gelassen gegenüber der Gefahr aus dem Osten. Was die neue Regierung damit von Europa einklagt, ist die Einlösung historischer Rechte einer erniedrigten, beleidigten, aber wieder auferstandenen Nation.

Diesen in neuer Schärfe vorgetragenen politischen Anspruch, an dem Polen seine Rechnungen mit der EU bemisst, leitet es einerseits aus seiner RGW-Vergangenheit her, in der es als einer der wichtigsten Partner der Sowjetunion mit viel Land und Volk, mit Schwerindustrie, Werften, Rüstungsindustrie, insgesamt – woran sich inzwischen kaum noch jemand erinnern dürfte – in OECD-Statistiken als zehntgrößte Industrienation der Welt geführt wurde, über eine eigene Rüstungsindustrie und eine beachtliche Streitmacht verfügte. Obwohl das alles durch den Systemwandel stark dezimiert worden ist und die heutigen Potenzen trotz aller Erfolge in der EU nur zu einem Kapitalstandort dritter Klasse hinreichen, haben sich die polnischen Ambitionen keineswegs an den geschrumpften Mitteln relativiert, die polnischen Staatsführer machen hartnäckig weit reichende eigene Rechte geltend. Die Forderungen, die Polen gegen das Bündnis erhebt, sind und bleiben nämlich andererseits vom nationalen Blick auf die geostrategische Lage bestimmt, vom

„polnischen Trauma des 20. Jahrhunderts – Objekt und Verfügungsmasse im europäischen Machtspiel der anderen zu sein. Die heutige Vergangenheitspolitik der Nationalkonservativen zielt darauf ab, diesen Mechanismus anzuprangern und dadurch für die Zukunft zu verhindern. ‚Nichts über uns ohne uns‘ ist die Faustregel.“ (Adam Krzemiński, Redakteur des polnischen Wochenmagazins Polityka, zur ersten Regierungsperiode Kaczyński, Die Welt, 18.10.07)

Polen begreift sich als eine Nation, die zwischen den zwei übermächtigen Nachbarn Deutschland und Russland – Österreich ist ja inzwischen ausgeschieden – einen gewissermaßen immerwährenden Kampf um ihre Selbstbehauptung zu führen gezwungen ist und deshalb mit allem höheren und niederen Recht der Welt ihren Anspruch durchfechten muss, sich zu einer ernstzunehmenden europäischen Macht aufzubauen – dafür wollte und will Polen die EU instrumentalisieren.

Die Leitlinie dieser polnischen Politik bildet in der einen Himmelsrichtung ein fundamentales Misstrauen gegenüber Russland, insbesondere seitdem Putin darum bemüht ist, die russische Weltmacht zu reparieren. Russland soll endlich einen Kniefall vor Polen abliefern, mit Schuldeingeständnissen in Sachen Weltkrieg II, Katyń etc. – und wenn es das tut, wird mit der Forderung nach Wiedergutmachungsleistungen nachgelegt. Polen betätigt sich an vorderster Front im Kampf, um Russland sein Nahes Ausland abspenstig zu machen, vor allem im Fall von Weißrussland, der Ukraine und Georgien; es setzt sich ebenfalls an die Spitze bei der Herstellung eines abschreckungsmächtigen Militäraufbaus an der Ostflanke der NATO und macht seine Linie nicht im Geringsten davon abhängig, ob Putins Politik faktisch eine Bedrohung Polens darstellt oder bezweckt. Der neue Außenminister kennt da ein Prinzip der Staatenkonkurrenz, nach dem er ganz autonom aus der relativen Schwäche Polens die bedrohlichen Absichten des großen Nachbarn deduziert:

„Polens Geschichte zeigt uns: Wir können es uns nicht leisten, schwach zu sein. Denn das weckt nur die Lust anderer Staaten, gegen uns vorzugehen.“ (Waszczykowski)

Eine eigenwillige Sorte Imperialismus: Polen beansprucht nicht viel weniger, als dass Russland seinen Machtstatus und seine Einflusssphäre nach polnischen Maßstäben herunterschrauben soll; es beansprucht ein Recht, Russland weiter einzuzäunen und zu demontieren; ein Standpunkt, der gewisse Merkmale von Größenwahn aufweist, d.h. mangels ausreichender eigener Machtmittel offenkundig mit der Berechnung auf die Machtmittel anderer hantiert.

In der anderen Himmelsrichtung weiß sich Polen einerseits grundsätzlich auf konstruktive Beziehungen zu Deutschland angewiesen, weil es dessen Potenzen für seine nationalen Pläne auszunützen gedenkt, und andererseits begleitet es die deutsche Dominanz im Bündnis ebenfalls mit Misstrauen. Für gefährliche Absichten der früheren Besatzungsmacht Deutschland hat man ja genügend Anhaltspunkte beim deutschen Revanchismus gefunden, mit der langjährigen Anfechtung der Oder-Neiße-Linie, seinen offensichtlich unsterblichen Vertriebenen und ihrer Preußischen Treuhand, Steinbachs Zentrum gegen Vertreibungen usw. usf. Auch wenn auf dem Gebiet inzwischen vieles abgehakt werden konnte, weil der deutsche Imperialismus eine ganz andere Statur angenommen und kleinliche Streitereien um Grenzen und deutsches Eigentum in Polen nicht mehr nötig hat, wenn sich sein Kapital gewissermaßen ganz Polen auf geschäftsmäßigem Weg einverleibt – für Polen bleibt das Ärgernis der deutschen Vorherrschaft im Bündnis. Gerade auch deshalb, weil dieses Deutschland auf Verständigung mit Russland aus ist, um sich da noch einen ganz anderen Partner herzurichten, und sich damit über polnische Interessen hinwegsetzt.

So besteht das markante Leiden Polens in der EU darin, dass es in den Rechnungen der Führungsmacht immer wieder die Missachtung polnischer Ansprüche entdeckt, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit eine neue Variante des Hitler-Stalin-Pakts wittert, aber zugleich eben von diesem Deutschland gar nicht loskommt, weil es als Anlagesphäre vor allem deutschen Kapitals und größter Nettoempfänger in der EU substantiell auf diese Macht verpflichtet ist und weil sein ganzer ostpolitischer Auftritt nur so weit trägt, wie er durch die Macht der Bündnisse gedeckt ist, in denen eben dieses Deutschland eine maßgebliche Rolle spielt.

Für die polnischen Politiker erwächst das höhere Recht, das sie für ihre Nation beanspruchen, seit jeher ganz selbstverständlich aus Polens historischen Verdiensten und Leiden. Als Vorkämpfer für die Befreiung vom Kommunismus kann die Nation ja wohl mit Fug und Recht die Dankbarkeit des Westens einfordern; mit ihrer international anerkannten leidvollen Geschichte als ewig geteilte und verhinderte Nation kann sie das Recht auf Wiedergutmachung gegenüber den Nationen geltend machen, die Polen überfallen und niedergehalten haben.

Die wirkliche Historie gehorcht zwar nicht im mindesten solchen Kategorien von Schuld und Sühne, Verbrechen und Wiedergutmachung, sondern hat Polen schlecht behandelt – da hat es vor allem das große Pech, dass sich der Kriegsverlierer Deutschland längst schon zum imperialistischen Schwergewicht ausgewachsen hatte, ehe Polen überhaupt die Gelegenheit bekommen hat, ihm seine nationale Rechnung zu präsentieren, nachdem es 1953 im Rahmen von Stalins Versuch, für ein entmilitarisiertes neutrales Gesamtdeutschland zu werben, zum Verzicht auf Reparationen gezwungen worden war. Und es sind auch nicht die moralisierenden Fassungen der nationalen Geschichte, die dem polnischen Rechtsstandpunkt zu seiner Selbstgewissheit verholfen haben, sondern wiederum geopolitische Berechnungen größerer Mächte, die Polen mit einer entsprechenden diplomatischen Behandlung versehen haben.

Erstens hat Deutschland mit seiner Diplomatie der Schuldbekenntnisse und des offensiven Schämens Polen beeindruckt und in der Auffassung bestärkt, dass man ausgerechnet als Opfer über Rechte verfügt.[2] Willy Brandt hat in Warschau seinen Kniefall zelebriert, Generationen deutscher Politiker haben die Litanei von deutscher Schuld und Sühne gegenüber Polen heruntergebetet. Allerdings war die Demonstration deutscher Schuldgefühle auf etwas ganz anderes als Wiedergutmachung berechnet, nämlich auf den strategischen Gewinn des Wandels durch Annäherung, auf das – erfolgreich erreichte – Ziel, Polen als wichtigsten Partner der Sowjetunion aus dem Warschauer Pakt und dem Comecon herauszubrechen; umgekehrt haben sowjetische Politiker diese Bündnisse ja auch immer als Schutz vor deutschem Revanchismus deklariert.

Zweitens hat die EU ihre Ausdehnung nach Osten mit einigen Versprechungen an den dortigen Staatsmaterialismus betrieben. Bei ihrem Zugriff auf das aufgelassene östliche Bündnis, wie auch schon vorher, hat sie den Neuzugängen mit der Redeweise vom Aufholprozess eine Art Wiedergutmachung für das historische Unrecht in Aussicht gestellt, als Nationen von europäischem Zuschnitt unter die Sowjetherrschaft gefallen zu sein: nämlich das Recht auf eine ähnliche politische und ökonomische Machtentfaltung wie die Westeuropäer. Was speziell von Polen (angefangen mit Wałęsa und seiner Forderung nach einem Marshall-Plan) ausgesprochen wörtlich genommen worden ist, in dem Sinn, dass nun Europa für die Einlösung dieses Rechts zuständig wäre. Da hat Polen Enttäuschungen kassieren müssen – was zur Entstehung einer euro-skeptischen Linie im Land einiges beigetragen hat.

Drittens schließlich bezieht Polen sein Selbstgefühl als anspruchsberechtigte Nation entscheidend aus der Unterstützung von seiten der Weltmacht USA. Wegen seines strategischen Stellenwerts für die Sowjetunion hat es seit jeher das Interesse Amerikas auf sich gezogen, und seit dem polnischen Aufstand genießt es die besondere Pflege und Freundschaft der Supermacht, die dem freiheitsliebenden Volk für seine Dienste beim Abwickeln der sowjetischen Weltmächtigkeit und dem fortgeschriebenen Containment Russlands dankt, indem sie Polen zu einem ihrer wichtigsten allies in Europa rechnet.

Mit den USA im Rücken hat es Polen nicht nötig, sich wie andere Osteuropäer an eine subalterne Stellung in der EU zu akkommodieren und mit seinem nationalistischen Groll abzufinden. Es nimmt sich das Recht auf eine eigene Außenpolitik, getrennt von und neben dem EU-Konsens, auf eine externe Stellung zur EU, betreibt an EU und NATO vorbei seine separate Sicherheitspolitik mit Amerika und leistet sich einen ziemlich anspruchsvollen Militarismus: Eines der größten Gräuel für die herrschende Klasse ist der Verdacht – siehe Waszczykowski –, der NATO nur als Pufferstaat zu dienen.

Seine Karriere in der EU bemisst Polen denn auch immer an seinen hochgreifenden politischen und strategischen Maßstäben; die an die Macht gewählte PiS tritt damit an, dass sie der Vorgängerregierung da Versagen auf ganzer Linie attestiert. Beweise dafür findet sie im politökonomischen Status, zu dem der polnische Standort unter dem Regime der EU hergerichtet worden ist, eben zum „Lieferanten billiger Arbeitskräfte, Zulieferer und zur verlängerten Werkbank für große deutsche Konzerne“.

Die polnische EU-Bilanz

Die polnische Wirtschaft: Produkt einer Kapitalisierung durch Anschluss, d.h. der Erschließung durch Auslandskapital unter dem EU-Reglement

Polen hat die sogenannte Transformation durchgemacht, sich also die Neueinrichtung seiner ökonomischen Basis nach den Regeln des westlichen Kapitalismus vorgenommen und den Zusammenbruch der ererbten produktiven Grundlage wegen deren Untauglichkeit für die Maßstäbe rentablen Produzierens erleben müssen. Das europäische Bündnis hat sich dem systembedingten Mangel an Kapital in Osteuropa, etwas schief wahrgenommen als Wegbrechen der Märkte, mit dem Versprechen gewidmet, den zu beheben: Dem bei ihnen ja reichlich vorhandenen Kapital sollten „nur“ die nötigen Rechte eingeräumt werden, um dessen Dienste für den nationalen Aufbau in Anspruch zu nehmen, im Namen von Liberalisierung und Öffnung sollten alle Hindernisse fürs auswärtige Kapital, dessen Zugriff von der staatlichen Hoheit über das andere System verhindert wurde, weggeräumt werden. Allerdings bedeutet die Einrichtung solcher Freiheiten fürs Kapital die Unterwerfung unter drastische Imperative, nicht zuletzt unter den gesamten Katalog von Regelungen und deren weitere Fortschreibung, die die EU für ihren Binnenmarkt erlässt, d.h. in der Sache die Unterwerfung unter den europäischen Stand der Ausschaltung von Standortkonkurrenz. Durch den von diesem Reglement gebotenen Verzicht auf Instrumente des ökonomischen Nationalismus, auf den Einsatz politischer Machtmittel zur Korrektur von und Einflussnahme auf Konkurrenzresultate werden der Standort und dessen Inventar dem vom Kapital veranstalteten Vergleich umfassend ausgesetzt.

In erster Linie ist da die radikale Beseitigung von Staatseigentum verlangt, das Gebot heißt Privatisierung: Alles ist dem Maßstab der Rentabilität zu unterwerfen, und wenn es dem nicht genügt, wenn Staatsbetriebe keinen potenten kapitalistischen Käufer finden oder in privatisierter Form nur mit Verlusten weiterwirtschaften, sind sie wertlos und müssen stillgelegt werden. Unter dem Titel Transformation hat da eine gewaltige Enteignung stattgefunden, wobei sich die polnische Seite auch immer wieder gegen einen nationalen Ausverkauf, die aus Brüssel verlangte Stilllegung formell privatisierter oder in Staatseigentum befindlicher Unternehmen wegen mangelnder Rentabilität, gesträubt hat, um sich die als zukünftig funktionierende Geldquellen zu erhalten oder als Hebel, um das Wachstum an anderer Stelle zu befördern. Im Fall der Kohlegruben, Stahlhütten, Werften etc. hat Polen immer wieder gegen Auflagen der EU verstoßen und sich den Verdacht der EU-Institutionen auf unerlaubte Subventionen und unlautere Konkurrenz zugezogen.

Auf Grundlage der weitgehenden Abwicklung des industriellen Erbes ist das Transformationsland festgelegt auf das Programm, Auslandskapital auf den Standort zu ziehen, d.h. auf eine Konkurrenz mit äußerst beschränkten Mitteln, weil es ja gerade über keine erfolgreiche Akkumulation verfügt, um sich zum Angebot für Kapitalanlage zu machen.

Sein erstes und wichtigstes Angebot besteht daher in einer ausgebildeten Arbeiterklasse, die auf Grund des Systemwechsels und ökonomischen Zusammenbruchs in Existenznot versetzt wurde, also ein enormes Reservoir von Billiglöhnern darstellt, das sogar billige Asiaten aussticht, denn es wohnt ja direkt hinter der europäischen Ostgrenze, staatlicherseits noch eigens verbilligt durch die Subventionierung von Lohnkosten und Qualifizierungsmaßnahmen in Sonderwirtschaftszonen. Die internationale Autoindustrie hat dieses Angebot mit Billiglohn-Dependancen wahrgenommen, daneben ist Polen zum größten europäischen Produzenten von elektrischen Haushaltsgeräten sowie Unterhaltungselektronik aufgestiegen, eben zu einer ausgedehnten „verlängerten Werkbank“; dazu kommen ähnliche Niederlassungen in der Landwirtschaft sowie Call-Center aller Art in der Dienstleistungssphäre.[3] Dieses gern gerühmte polnische Wachstum beruht auf einem Lohnniveau, das für große Teile der Beschäftigten nicht die mindeste Existenzsicherung vorsieht.

In der Konkurrenz um Attraktion von Auslandskapital hat Polen mit weiteren Billigangeboten bei allen staatlich verursachten Kosten operiert und sich mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen als Steuerparadies präsentiert. Zum Verzicht auf staatliche Einkünfte durch Sonderregelungen bei den Steuergesetzen kommen da auch Ausnahmeregelungen bei anderen Vorschriften sowie die staatliche Finanzierung einer fortschrittlichen Infrastruktur und Subventionierung von Investitionen – alles mit entsprechenden Folgen für den nationalen Haushalt.

Zunutze gemacht hat sich die verlangte Öffnung vor allem auch das Handelskapital mit entsprechenden Folgen für die heimischen Lieferanten und den überkommenen Kleinhandel, die wenig Chancen gegenüber der Kapitalmacht der großen europäischen Handelskonzerne haben. Die monopolisieren einerseits erfolgreich die zahlungsfähige Nachfrage, verfügen aber andererseits längst über europaweit organisierte Bezugsquellen. Die Benützung des Standorts durchs Handelskapital unterwirft zusammen mit dem EU-Reglement des Agrarmarkts v.a. den polnischen Bauernstand dem Rentabilitätsvergleich mit der industrialisierten Landwirtschaft der alten EU-Länder und betätigt sich als Hebel für ein großflächiges Bauernlegen.

Das Resultat ist ein Typus von Wachstum, der sich dank der Radikalität der Öffnung vor allem in auswärtigen Bilanzen niederschlägt. Was Zulieferer angeht, bedienen sich die Kapitale europaweit, ganz frei nach ihren Kosten-Ertrags-Rechnungen, so dass diese Sorte Benützung in Polen zwar einen Exportboom stiftet, aber einen sogenannten ‚importlastigen‘, der sich in einer entsprechenden Handelsbilanz niederschlägt. Die östlichen Standorte figurieren dabei als Durchgangsstufe der internationalen Kapitalbewegung, die im Wesentlichen auf Ausnützung des Billiglohns und anderer kostensenkender Faktoren zielt und auch nur ungefähr so viel an Reichtum im Land hinterlässt. Diese Art Einbeziehung in die europäische Wertegemeinschaft zeichnet sich durch weitere Wirkungen auf Land und Leute aus. Das aus der ehemals sozialistischen Vollbeschäftigung verabschiedete nationale Arbeiterreservoir wird auch nur bedingt in Anspruch genommen, so dass sich große Teile der Bevölkerung nach wie vor zur Arbeitsemigration gezwungen sehen. Aufgrund der Konzentration des Wachstums auf die grenznahen und mit der nötigen Infrastruktur versehenen Gebiete im Westen verkommen und verwahrlosen große Teile des Landes im Osten.

Die neue Regierung tritt jetzt mit einer Bilanz der ökonomischen Karriere an, die Polen unter den EU-Richtlinien vollzogen hat – und die fällt reichlich negativ aus.

„Sind wir eine Zulieferwirtschaft?“

„‚Polen zeigt Anzeichen einer abhängigen Volkswirtschaft, charakterisiert durch niedrige Kosten und einen kleinen Anteil an der Wertschöpfung‘, so beginnt der Bericht ‚Kapitał zagraniczny: Czy jesteśmy gospodarką poddostawcy?‘ herausgegeben von der Kalecki Stiftung, unterstützt von der polnischen Nationalbank NBP. Ein erstes Indiz für die periphere Lage der Wirtschaft Polens ist der Umstand, dass die Hälfte der in Polen tätigen ausländischen Unternehmen ihre Gewinne ins Ausland transferiert und somit keine Steuern in Polen abführt... Ebenfalls negativ bewertet werden die Sonderwirtschaftszonen in Polen. ‚Unternehmen mit ausländischem Kapital profitieren von staatlichen Subventionen, obwohl sie verhältnismäßig geringere Steuern zahlen, als inländische Unternehmen.‘ Nur ein Fünftel der Unternehmen in den SWZ seien polnische Unternehmen. Die ausländischen Investitionen schufen zwar Arbeitsplätze, aber nicht ausreichend qualitativ hochwertige Stellen...
Der Bericht hebt hervor, dass Polen alle Anzeichen einer ‚Zulieferwirtschaft‘ aufweist, vor allem bezogen auf den deutschen Markt. Einerseits gehen ein Viertel der polnischen Exporte nach Deutschland, andererseits ist die polnische Konjunktur stark von der deutschen abhängig, da seit einer Dekade eine ‚auffällige Synchronisierung‘ der Konjunkturzyklen beider Länder zu beobachten sei. In der Lieferkette für die deutsche Industrie stellt Polen ein starkes Glied einer geringen Wertschöpfung am Export dar. “ (ahk.pl, 4.11.15, zitiert nach polentoday.de)

Die PiS stört sich nicht nur am Maß der staatlichen Einkünfte, das dem Bedarf, den Standort auf Vordermann zu bringen, entgegensteht, sondern ebenso sehr an der Machart von polnischem Erfolg, der, an ihren Maßstäben gemessen, Polen nicht genügen kann und darf, weil auf diese Weise die Nation zum puren Anhängsel Deutschlands degradiert worden ist. Oder, wie der Chef der PiS sich ausdrückt, verlangt ist ein zivilisatorischer Sprung, den wir vollziehen müssen, um die einzuholen, die permanent vor uns sind. (Jarosław Kaczyński in der Sejmdebatte zur Regierungserklärung von Ministerpräsidentin Beata Szydło am 18.11.15, laender-analysen.de) Aus der nationalen Optik inspiziert stellt sich die kapitalistische Erschließung Polens wesentlich als ausländische Machenschaft dar, die die Nation in ein Abhängigkeitsverhältnis vor allem von Deutschland hineingezwungen hat und die ihm zustehende nationale Größe verweigert.

Das ärgerliche und entwürdigende Verhältnis zum Auslandskapital gedenkt die neue Regierung umzukehren und das fremde Kapital zu Diensten an Polen zu zwingen, Tribute einzutreiben für einen Haushalt, in dem Polen ganz groß geschrieben wird.[4]

Der neue Wirtschaftsminister fühlt sich zwar auch wieder genötigt, die Beschwerden des Auslandskapitals über die programmatischen Aussagen der PiS zu beschwichtigen; auf dessen Beitrag zu polnischem Wachstum will man keinesfalls verzichten, wir wollen die Zusammenarbeit mit ausländischen Investoren intensivieren, aber: „[Wir wollen] gleichzeitig das Wachstum einheimischer Firmen beschleunigen und mehr Wohlstand in den Händen von Polen aufbauen.“[5] Nach der Vorstellung der Retter Polens braucht das Land eine Akkumulation, die qua Pass der Veranstalter auf Erfolg und zielgerichteten Aufstieg der Nation verpflichtet sein muss – damit es unter Führung der PiS die politische Schranke überwinden kann, auf Dienste am Auslandskapital und damit v.a. auf dessen politische Heimstätte Deutschland verpflichtet und im Interesse des eigenen Erfolgs darauf festgelegt zu sein, sich diesem Nachbarn immerzu akkommodieren und unterwerfen zu müssen.[6]

Als Nettoempfänger in der EU auf deren Kriterien für Fortschritt verpflichtet

Die Abwicklung seiner realsozialistischen ökonomischen Grundlagen nach Maßgabe der EU-Beitrittskriterien hat Polen auf zwei Quellen für seinen Wiederaufbau festgelegt, neben der Attraktion von Auslandskapital ist es auf die Mittelzuteilung aus dem Brüsseler Haushalt elementar angewiesen. Auf dieser Grundlage hat es nach dem Absturz zu Beginn der 90er Jahre wieder ein Wachstum hingelegt,[7] aber eben auch das damit verbundene institutionalisierte europäische Hineinregieren in die verschiedenen Wirtschaftssphären in Kauf nehmen müssen. Den Maßstab der nötigen politischen Emanzipation Polens von der Vorherrschaft europäischer und besonders deutscher Instanzen legen die Leute von der PiS auch an diese zweite Quelle des bisherigen Wachstums an, an die EU-Fonds im Rahmen des europäischen Agrarhaushalts, der Struktur- und Kohäsionspolitik.

Schon die früheren Regierungen haben es dabei mit dem großen Lager der Nettozahler in der Union zu tun bekommen, denen bei jeder Haushaltsbeschlussfassung und erst recht in der Krise der europäische Haushalt immer viel zu groß ausfällt [8] – ein Streit, der zur Zeit aus Anlass der Flüchtlingskrise gerade wieder hochkocht und einen neuen Grad an moralischer Gehässigkeit erreicht; demnach soll die Erschließung Osteuropas für europäisches Kapital ein Akt der Nächstenliebe und Solidarität gewesen sein, während die heutige osteuropäische Hartherzigkeit beweist, dass diese Länder soviel Zuwendung gar nicht verdienen. Demgegenüber besteht die neue Regierung nicht nur auf einem Recht auf diese europäischen Geldflüsse, sie beansprucht auch das Recht darauf, entgegen der Ausrichtung der europäischen Wachstums- bzw. Krisenpolitik nationale Korrekturen vorzunehmen – gemäß ihrer autonomen Beschlussfassung.

In der Abteilung Landwirtschaft hat auf Grundlage der EU-Töpfe und -vorschriften eine komplette Umwälzung samt einem großen Bauernlegen stattgefunden, d.h. die Sortierung in einen produktiv gemachten Teil der polnischen Agrarwirtschaft – auch das zumeist durch ausländische Kapitaleigner und Verarbeitungsindustrie – und eine beträchtliche Zahl konkurrenzunfähiger winziger Bauernbetriebe, die mehr als Subsistenzwirtschaft und Auffangbecken für die durch die „Modernisierung“ produzierte Arbeitslosigkeit fungieren.

Die PiS scheut vor dem Streit mit der EU nicht zurück, um diesen kopfstarken Teil des Nährstands samt seiner für die Nation weniger ökonomisch als sozial und sittlich wertvollen Funktionen zu erhalten. Statt im Sinne von Stabilitäts- und Fiskalpakt haushaltspolitische Vernunft walten zu lassen und zu sparen, setzt sie das vernichtende kapitalistische Urteil über das polnische Landvolk so gut es geht außer Kraft: sie bezuschusst die Versicherung der Bauern und will die Zuschüsse aus Brüssel neu verhandeln. Außerdem soll die polnische Heimaterde vor dem Ausverkauf an Ausländer besser geschützt werden – auch das ein Anschlag auf die geheiligten Freiheiten des Binnenmarkts.

In der Abteilung Energie wiederum steht Polen einer deutsch-dominierten EU-Politik gegenüber, die im Namen der Rettung des Klimas ganz Europa auf CO2-Senkung, eine entsprechende Umwälzung der nationalen Energieversorgung und Übernahme deutscher Fortschrittstechnologie verdonnern will. Rücksichtnahmen auf eine ganz anders organisierte nationale Energieversorgung sind dabei nicht vorgesehen, es gibt zwar europäische Zuschüsse, die aber im Falle Polens, das seinen Strom zu 90 Prozent aus Braun- und Steinkohle produziert, bei weitem nicht an die erforderlichen Investitionen heranreichen. Dagegen hat sich schon die Vorgängerregierung aufgestellt: Polen bleibt Kohle-Land, machte Premier Donald Tusk schon Wochen vor der Klimakonferenz klar: ‚Für uns ist weiterhin die Kohle am wichtigsten. (Deutschlandfunk, 11.11.13) Die PiS-Regierung kündigt nun an, dass sie die einschlägigen EU-Beschlüsse kippen will:

„Er wolle das Klimapaket der Europäischen Union neu verhandeln, erklärte der Chef der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit. ‚Wir hätten dem nicht zustimmen sollen‘, sagte Kaczyński. ‚Man hätte ein Veto einlegen können.‘“ (Energiepolitik: Polen sucht Ärger, Zeit Online, 28.10.15)

Dem EU-Regime im Finanzsektor samt Haushaltsvorschriften im Namen des Euro unterstellt

Zum Programm der EU, die Ostgebiete zu Bestandteilen ihres Binnenmarkts herzurichten, hat des Weiteren deren Überantwortung ans Finanzkapital gehört, was angesichts des dortigen Mangels an Kapital dazu geführt hat, dass die europäischen Banken mit ihren Kreditmassen ein Geldwesen installiert haben, das selbstredend ihren Rechnungen gehorcht und nur sehr bedingt einer am nationalen Wiederaufbau-Programm orientierten Geld- und Kreditpolitik zur Verfügung steht. Lohnend war da zum Beispiel die Erschließung einer großen neuen Kundschaft durch zinsgünstige Kredite in Schweizer Franken, die das Währungsrisiko geschickterweise ganz auf die Seite der Kreditnehmer verlagert hat, so dass der Kursverlust des Złoty gegenüber dem Franken seit der Lehman-Krise eine beträchtliche Menge polnischer Kreditnehmer in Zahlungsnöte gebracht oder ruiniert hat. In der Krise hat Polen zudem die Macht des internationalen Finanzkapitals in Gestalt von Kapitalabzug und Abstufung seiner Währung zu spüren bekommen; das hat ihm eine im Vergleich mit anderen EU- bzw. Euro-Ländern mindere Qualität des Standorts und seiner Währung bescheinigt und die Vorstellungen vom „Aufholen“ in der europäischen Staatenhierarchie blamiert.[9]

Auch gegenüber dem Bankensektor hegen die polnischen Machthaber den Verdacht, ausländischen Machenschaften ausgeliefert zu sein; der befindet sich immerhin zu 60 Prozent in den Händen ausländischer Geldhäuser;[10] frühere Versuche polnischer Regierungen, die Übernahme des Kreditwesens durch Auslandsbanken zu verhindern oder zu bremsen, sind auf den Einspruch der EU-Kommission gestoßen und als nicht vereinbar mit dem Binnenmarkt-Reglement abgeblockt worden.

Im Streit um die Entlastung der mit Franken-Schulden belasteten polnischen Kreditnehmer hatte die PiS-Regierung eine neue Schadensverteilung zuungusten der Banken angekündigt, wird aber damit konfrontiert, dass zum einen die ausländischen Banken Verstöße gegen Investitionsschutzabkommen geltend machen, also mit möglichen Strafen aus Brüssel drohen. Zum anderen warnt aber auch die polnische Finanzmarktaufsicht davor, dass damit kleinere Institute, d.h. vor allem polnische, möglicherweise Konkurs anmelden müssten. Ganz unabhängig von diesem Streit hat sich die PiS vorgenommen, mit einer Sondersteuer von jährlich 0,44 Prozent auf das Kapital von Banken und Versicherungen den Sektor zu einem gewissen Beitrag am nationalen Programm zu verpflichten.

In diesem Sinn scheut sich die neue Mannschaft auch nicht, sich in ihren Ankündigungen an einer heiligen Kuh europäischer Finanzkultur zu vergreifen, der Unabhängigkeit der Nationalbank, um auch die in den Dienst des nötigen nationalen Aufbruchs zu stellen:

„Die PiS will ‚das Paradigma der Rolle der Zentralbank‘ aufgeben, sagte der Ko-Autor der Wirtschafts-Agenda der PiS, Paweł Szałamacha [mittlerweile Finanzminister] ... ‚In die Liste der Aufgaben der Nationalbank könnte Wirtschaftswachstum aufgenommen werden und die Bank könnte eine Strategie, ähnlich wie die der Bank von England (BoE)‘ einschlagen... Die BoE kreditiert Geschäftsbanken, die ihrerseits Kredite an Firmen vergeben, während die PiS für eine direkte Kreditvergabe an besondere Sektoren eintritt, u.a. an Transportwesen, Energiewirtschaft, Infrastruktur und Wohnungsbau...
Zentralbankreserven sollen mobilisiert werden, um Geschäftsbanken zu beinahe Nullzins-Konditionen mit Kredit zu versorgen, damit die sie an Firmen für Investitionen weiterverleihen... Die Zentralbank muss die Aufsicht behalten, damit die Geschäftsbanken diese Fonds nicht dazu benutzen, nur Rentenpapiere zu kaufen.“ (warsawvoice.pl, 23.10.15)

Auch bei der staatlichen Haushaltsführung machen sich schließlich die von der EU gesetzten Bedingungen und Zwänge geltend: einerseits die Verpflichtung auf eine Standortkonkurrenz, die kaum andere Mittel zur Verfügung hat, als sich mit der Garantie geringer Kosten um Kapitalanlage zu bemühen, also auch damit, als Steuerstaat Zurückhaltung zu üben, andererseits die Maastricht-Kriterien der EU mit ihrer Verpflichtung auf Haushaltsdisziplin, so dass sich die staatlichen Dienste für ein nationales Wachstum sowohl am beschränkten Steueraufkommen wie an der Berücksichtigung dieser Kriterien zu relativieren haben. Weil das der neuen Regierung entschieden zu wenig Handlungsfreiheit bietet, leuchtet ihr weder die vorgeschriebene Abstinenz der Nationalbank von einer direkten Kreditierung der „Realwirtschaft“ ein noch die Aussicht, sich mit dem Beitritt zum Euro noch mehr in das europäische Korsett der Haushaltsfinanzierung hineinzubegeben.

Ein entschiedenes Nein zum Euro

Während die Tusk-Regierung bemüht war, die Maastricht-Kriterien demonstrativ zu erfüllen und sogar ihre freiwillige Teilnahme am Fiskalpakt – der maßgeblich von Deutschland durchgedrückten Verpflichtung auf eine restriktive Verschuldungspolitik – verkündet hat, das aber, um sich die endgültige Entscheidung in Sachen Euro vorzubehalten, lehnen Kaczyński & Co. die Mitgliedschaft definitiv ab:

„Polen wird in der absehbaren Zukunft auf die Übernahme des Euro verzichten, um die Fallen einer Euro-Mitgliedschaft zu vermeiden, und eine souveräne Geldpolitik betreiben... Szałamacha... ‚Unser Land mit seinen fundamentalen Attributen wie Souveränität, Grenzen, Bürgern und Kultur ist keine Last, die wir loswerden möchten, oder dessen Verwaltung wir outsourcen möchten‘... Die Konvergenzkriterien sollten ein optimales Umfeld schaffen, aber die Ergebnisse liegen ja auf der Hand: Die Geschichte der Euro-Übernahme durch schwächere Länder, zum Beispiel in Südeuropa, die Kapitalzuflüsse mobilisiert haben, haben zu einem Anstieg des privaten Verbrauchs geführt, aber nicht dazu, das industrielle Rückgrat dieser Länder zu stärken.“ (Warsaw Voice, 13.11.15)

Nationalökonomische Vorteilsrechnungen, mit dem Euro über ein international starkes, unzweifelhaft solides Kreditgeld zu verfügen, lässt die PiS-Regierung nicht mehr gelten, sie kann sich da ja auch auf die Fallen berufen, in die zwischenzeitlich einige Euro-Länder geraten sind, an denen die Heilsamkeit des Euro-Regimes jetzt bis zu deren Ruin durchdekliniert wird. Entscheidend für sie, wie der Finanzminister argumentiert, ist aber die Qualität des nationalen Geldes als fundamentales Attribut der Souveränität; und von diesem Standpunkt aus hören die PiS-Leute aus der Einladung, sich dem Euro anzuschließen, nicht ganz zu Unrecht den Angriff auf die verbliebene polnische Souveränität heraus, ja die Vollendung der deutschen Hegemonie über Polen, wie die Außenministerin der ersten Regierung Kaczyński, Anna Fotyga, die schon Polens Beitritt zum Fiskalpakt als Schritt zur Unterwerfung unter die Pax Germanica kritisiert hat.[11] Kurz: Polen will sich die mit dem Euro-Regime einhergehende weitere politische Degradierung zum Vasallenstaat unter deutsch-französischer Vorherrschaft nicht gefallen lassen.

In den polnischen Rechnungen figuriert Europa zwar immer noch als eine für das Wirtschaftsleben der Nationen entscheidende Bedingung, als ein Ensemble von Sachzwängen, die man nicht einfach wegschmeißen kann – als Aufpasser über die „vier Grundfreiheiten“ und die Wirtschaft soll die EU ruhig weiterbestehen. Aber in der Krise des Euro und der Euro-Staaten sieht man offensichtlich die Chance, Polen von der schädlichen Fremdbestimmung aus Brüssel zu befreien und gewisse Bündniszwänge abzurüsten. Die Euro-Krise im Lichte seines Geschichtsbewusstseins lehrt Waszczykowski, dass genau das auf der gesamteuropäischen Tagesordnung steht:

„Ich bin Realist. Hunderte Jahre lang schien es, als würde das Römische Reich ewig bestehen. Geschichte lehrt uns, das Bewusstsein zu haben, dass etwas schiefgehen kann. Unsere Antwort heißt: Erhalten wir die EU als Institution, die über die vier Grundfreiheiten und die Wirtschaft wacht und auch mit der NATO kooperiert. Doch die EU der zwei Geschwindigkeiten besteht bereits, ausgelöst nicht durch uns, sondern durch westliche EU-Staaten, die den Euro in einer fehlerhaften Weise einführten. Die zwei Geschwindigkeiten können dabei parallel einhergehen. Die Euro-Länder wollen uns zeigen, sie seien das Herz Europas, aber dieses Herz entwickelt sich schlecht. Länder, die wie Polen eine eigene Währung haben, entwickeln sich besser als die Staaten der Euro-Zone.“ (Interview mit Waszczykowski, Berliner Zeitung, 14.12.15)

Kampf um die EU-Geschäftsordnung, gegen die Subsumtion als Mitglied dritter Klasse unter die deutsch-französische Hegemonie

Auch im Hinblick auf die Versuche Polens, sich in der EU einen gewichtigeren Status zu verschaffen,[12] um über den Ausbau des Bündnisses, vor allem aber die Ausrichtung der Außenpolitik in seinem Sinne mitzubestimmen, hat die PiS-Regierung schließlich eine negative Bilanz gezogen.

Visegrád und andere Bündnisse statt Weimarer Dreieck

Das deutsch-französische Duo hat Polen im Rahmen der Osterweiterung zwar eine herausgehobene Rolle unter den künftigen Partnern konzediert, eine Beteiligung an ihrer gemeinsamen Führung in Gestalt regelmäßiger Konsultationen im Format des Weimarer Dreiecks, das allerdings mit einer eher einsinnigen Zweckbestimmung. Einerseits sollte die mit dem Dreierformat spendierte Anerkennung die antideutschen Ressentiments in Warschau beschwichtigen [13] und andererseits den gewichtigsten der Anschlusskandidaten einbinden, um mögliche Eigenwilligkeiten und Sonderwege in dieser Region von vorneherein auszuschließen. Denn schließlich gilt Polen auch als Führungsnation im osteuropäischen Lager und der Visegrád-Gruppe, hat auch fallweise für Blockadeallianzen gesorgt.[14]

An der untergeordneten Stellung Polens in der Hierarchie der Euro-Staaten hat die diplomatische Sonderstellung nichts geändert. Umgekehrt hat das deutsch-französische Führungspaar in den letzten Jahren das Dreieck eher als überflüssig erachtet, die Linie der europäischen Außenpolitik eigenständig definiert und die restlichen Bündnispartner vor vollendete Tatsachen gestellt.

Im neuen Geist der nationalen Emanzipation hat Waszczykowski nun das Weimarer Dreieck aufgekündigt, dieses Format hat sich erschöpft (polentoday.de, 8.4.16).

Polen setzt daher auf die Aufwertung des Visegrád-Bündnisses mit Ungarn, Tschechien und der Slowakei zwecks Herstellung eines europafeindlichen Lagers in der EU. Nachdem der Konflikt mit Deutschland und der EU-Kommission mit der Flüchtlingskrise und dem Streit um den demokratischen Sittenkodex beim Regieren neues Material bekommen und sich verschärft hat, versichert sich Polen der Unterstützung durch seine Nachbarn, und Waszczykowski kündigt die Ausdehnung der Zusammenarbeit ... mit denjenigen an, mit denen uns eine geographische, oft aber auch mentale Nähe verbindet ... im Ostseeraum ... auch die Länder des Westbalkans, Bulgarien und Rumänien. Die Migrationskrise ist eine ernste Bedrohung für die soziale, religiöse und ethnische Stabilität in den Ländern des Westbalkans. Die mentale Nähe besteht offenkundig weniger in slawischen Wurzeln als in der Ablehnung der deutsch-dominierten Flüchtlingspolitik, die diese Länder überrollt.

Um sich gegen das übermächtige Merkel-Europa zu behaupten, stiftet die neue Regierung politische Allianzen, wo immer sie kann: Man stellt sich hinter die von Großbritannien verlangte EU-Reform, ein Stück Abrüstung des Brüsseler Zentralismus. Das Rechtsstaatsverfahren der EU-Kommission gegen Polen versucht Kaczyński mit Unterstützung aus Budapest auszuhebeln, so dass die FAZ schon eine neue Krise heraufziehen sieht: die

„Gefahr einer Fragmentierung der krisengeschüttelten Europäischen Union. Es drohe ein östlicher Block (mit westlichem Rückenwind aus Großbritannien) mit einer Bevölkerung von 90 Millionen Menschen zu entstehen.“ (FAZ, 15.1.16)

Waszczykowski: Welche Union will Polen?

Der Mann von der PiS kündigt an, dass er und seine Kollegen sich das Recht herausnehmen, eine Union zu fordern, die besser zu ihren Ambitionen passt. Sie wollen

„eine führende Rolle [spielen] beim Aufbau eines stärkeren, flexibleren und solidarischen Europas“. „Stärker“: vor allem gegen das „kriegführende Russland im Osten“. „Flexibler“: ohne „Einbeziehung der Europäischen Kommission oder des Europäischen Parlaments in unsere inneren Angelegenheiten“. „Solidarisch“: „Wir sagen ‚nein‘ zu einem supranationalen föderalistischen Europa.“ (Waszczykowski, FAZ, 24.1.16)

Die polnische Antwort auf die deutsche Politik, die Integration der Europäer immer weiter zu vertiefen, in Sachen Geld und Kredit, Steuern und Schulden, Grenzregime und Flüchtlinge, sie immer weitgehender deutschen Interessen zu unterwerfen, heißt einfach ‚nein‘. Schon das zweite Mitgliedsland nach Großbritannien stellt sich dem deutschen Kurs in dieser Grundsatzfrage entgegen, will die Verpflichtung im Vertrag von Rom auf eine immer engere Union kippen und verbittet sich darüber hinaus eine Einmischung der EU-Instanzen in seine inneren Verhältnisse. Damit steht keineswegs der Austritt aus der EU auf dem Programm, sondern der Anspruch, die EU in diesem Sinn zu „reformieren“. Und das ist, so konstruktiv es auch vorgetragen werden mag, ein frontaler Angriff auf die Bündnisraison, so wie sie in Berlin begriffen wird. Das weitere Zusammenwachsen, die Finalität des europäischen Bündnisses, d.h. die Herstellung eines imperialistischen Subjekts in Gestalt eines Staatenbundes, der sich freiwillig, aber unauflöslich in eine entschiedene Hierarchie unter deutsch-französischer Führung begibt, verträgt sich nicht einmal mit einem Stillstand der Vergemeinschaftung; ein Rückbau des institutionalisierten Supranationalismus, wie er Polen unter den Titeln Flexibilität und Subsidiarität vorschwebt, ist im Prinzip nicht verhandelbar.

Aufstand gegen die außenpolitische Linie der EU im Namen der polnischen Feindschaft gegenüber Russland: „Mehr NATO, weniger EU

„Heute können wir nicht mit der Hand auf dem Herzen sagen, dass die EU über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verfügt, die diesen Namen verdient... Wir müssen die strategische Zusammenarbeit zwischen EU und NATO neu definieren.“ (Waszczykowski, FAZ, 8.4.16)

Vor allem im Namen seiner Ostpolitik hat Polen verlangt, bei der sicherheitspolitischen Ausrichtung Europas mitreden zu dürfen, und zwar auf Augenhöhe mit den Führungsmächten. Das muss schon deswegen sein, weil die Nation ausgreifende revanchistische Interessen in Richtung Litauen, Weißrussland, Ukraine [15] hat, sich aber in erster Linie für außerordentlich von Russland bedroht erklärt – eine Diagnose, die leicht zu haben ist, wenn man nur seine staatsmännischen Interessen ausgreifend genug und die Überführung der russischen Nachbarstaaten unter die westliche Kontrolle als existentielle Notwendigkeit polnischer Sicherheit definiert.

Dabei weiß Polen das erpresserische Potential der EU zwar enorm zu schätzen und reklamiert ein Recht darauf, für sein imperialistisches Anliegen die Wucht der gesamten EU zu mobilisieren, muss dann aber immer wieder realisieren, dass es mangels eigener Statur mehr auf das Bündnis angewiesen ist als umgekehrt. Die Durchsetzung polnischer Interessen gelingt immer nur so weit, wie sie auf gleichgelagerte imperialistische Interessen anderer treffen: Die schwedisch-polnische Initiative der östlichen Partnerschaft z. B. leuchtet Deutschland als Gegenprogramm zur Mittelmeerunion und als durch und durch europäisch gestrickte Vergeltung für den russischen Georgien-Krieg ein und wird deswegen zum EU-Programm; und auch im Fall der Ukraine dürfen sich die polnischen Anti-Russland-Strategen über einen Sieg ihrer kompromisslosen Linie freuen. Von der Förderung der „Orangen Revolution“ in Kiew bis zur neuen NATO-Aufstellung in Osteuropa weiß Polen Europa hinter sich – allerdings für seinen Bedarf dann doch immer nicht genug. Statt einer klaren Feindschaftserklärung an die Adresse Moskaus verfolgt Deutsch-Europa auch weiterhin eine doppeldeutige Linie: Einerseits lässt es bei der imperialistischen Machtprobe mit Russland am Fall der Ukraine mit Sanktionen und Aufrüstung nicht nach, andererseits will es einfach nicht auf den Versuch verzichten, daneben um Russland für konstruktive Beziehungen zu werben, um es für seinen Bedarf zu domestizieren.

Dass ihre Vorgänger an der Macht in Warschau aus dieser Konstellation den Schluss gezogen haben, sich zuweilen auch wieder zu mäßigen, um die Rückendeckung durch die EU nicht zu verlieren,[16] wertet die jetzige Mannschaft schlicht als Verrat an der Nation, laut Kaczyński war die Außenpolitik der Tusk-Regierung eine einzige große Katastrophe. (polen-heute.de, 6.4.14)

Mehr NATO

Mit einem Blick auf die geopolitische Landkarte verlangt der polnische Präsident kategorisch, dass sich das westliche Militärbündnis endlich wieder als solches regelrecht aufstellt, damit Polen auch die ihm angemessene Rolle als echter Frontstaat spielen kann:

„Duda erklärte, die NATO nutze Polen als ‚Pufferzone‘. Dies dürfe so nicht weitergehen: ‚Wir wollen die wirkliche östliche Flanke der Allianz sein.‘ Wenn man heute die Verteilung der Militärbasen anschaue, bilde Deutschland die östliche Grenze der Militärallianz. Wenn aber Polen und andere zentraleuropäische Länder die wahre Flanke der NATO darstellten, erscheine es ihm natürlich, ‚dass, als logische Schlussfolgerung, Basen in diesen Ländern errichtet werden‘.“ (wsws.org, 21.8.15)

Da ist es natürlich ebenso logisch, dass die Allianz den Restbestand der mit Russland gepflegten Diplomatie über den Haufen werfen und die NATO-Russland-Grundakte von 1997 annullieren muss, damit das Bündnis dauerhaft Truppen in Polen stationieren kann. Waszcykowski sagte, das Abkommen schaffe ‚Ungleichheit‘ zwischen neuen und alten Mitgliedern. (DW, 27.11.15) Denn das, was das Bündnis 2014 auf dem Gipfel von Wales vereinbart hat – mehr Großmanöver, rotierende Stationierungen und die NATO-„Speerspitze“ – reicht hinten und vorne nicht:

„Die polnische Sicht habe sich hier ‚weiterentwickelt. Früher glaubten wir, die Speerspitze reicht.‘ Heute halte man dagegen die ‚Anwesenheit verbündeter Truppen‘ für notwendig.“ (Waszczykowski, FAZ, 22.1.16)[17]

Mehr an Begründung als die ewige Bedrohungslage Polens durch die Anwesenheit einer größeren Macht im Osten, „bewiesen“ durch deren Aktionen in der Ostukraine, braucht die polnische Politik nicht, um sich das größte Kriegsbündnis aller Zeiten ins Land zu bestellen.[18]

Umbau des Staats zur Rettung der Nation vor ihren Feinden

Die polnische Politik leidet elementar daran, dass die nationalen Ambitionen in einem groben Missverhältnis zu ihren faktischen Machtmitteln stehen. Der Widerspruch, dass Polen gerade im Namen seiner ausgreifenden Ambitionen einerseits auf das europäische Bündnis substantiell angewiesen ist, auf die ökonomische Fundierung seiner Staatsmacht aus der Teilnahme am Binnenmarkt, aus seiner Benützung als Anlagesphäre von Euro-Kapital, aus der Anbindung des Złoty an den Euro ebenso wie auf das politische Gewicht, das es nur als Bestandteil dieses Machtblocks erhält, dass es dabei andererseits aber auf eine subalterne Position in der Hierarchie der EU-Staaten festgelegt bleibt, hat sich in einem dauerhaften Kampf zweier Linien in der polnischen Politik niedergeschlagen. Während die Politik der Vorgänger-Regierung auf den Versuch berechnet war, mit einer kompromissbereiten Linie, zuweilen auch mit demonstrativer Deutschlandfreundschaft garniert, mehr aus der EU herauszuholen,[19]) präsentiert die PiS die Gegenrechnung, dass Polen mit dieser Linie auch nicht über die Einsortierung als mittelprächtiges EU-Mitglied hinausgekommen ist, das sich im Namen seiner beschränkten Mittel immerzu der Bündnisraison beugen muss.

Die Kaczyński-Partei hat demgemäß systematisch die nationale Unzufriedenheit mit dem geschürt, was aus Polen im Bündnis geworden ist, um ihre Linie durchzusetzen: Nicht weniger als die Rettung der Nation steht für sie auf der Tagesordnung. Wenn Polens heilige nationale Rechte mit Füßen getreten werden, müssen feindliche Kräfte am Werk sein, die die Kampfkraft der Schicksalsgemeinschaft von Staat und Volk untergraben. Die PiS kennt viele innere und äußere Feinde, denen mit Entschiedenheit entgegengetreten werden muss.

Den entscheidenden Hebel zur Errettung der Nation, die Staatsmacht, hat sie schon mit einem Erdrutschsieg erobert – jetzt ist deren entschiedener Einsatz geboten, um Volk und Herrschaft im Namen der nationalen Mission zu einen und das Volk zu der Größe zu führen, die ihm eigen ist.

Was der PiS aus Brüssel als Verstoß gegen den rechtsstaatlichen Kodex vorgeworfen wird, verstehen deren Führer anders, als quasi lebensrettende Maßnahmen, um dem Staat sein unangreifbares Machtmonopol zurückzuerobern: eine Reorganisation des gesamten Staatsapparats zu dem Zweck, endgültig und gründlich die kommunistischen Feinde der Nation auszuräuchern, die sich in allen Institutionen festgesetzt haben und Polen im Inneren untergraben. Antikommunismus geht schließlich, auch ohne dass leibhaftige Kommunisten vorhanden wären. Umgekehrt muss es die einfach geben, sonst wäre die Nation ja ganz anders aufgestellt.[20]

Das Etikett postkommunistisch ist die Chiffre für die leitende Idee, dass die Befreiung Polens von diesem Unrechtssystem noch gar nicht richtig stattgefunden hat, so dass die Regierungsmannschaft mit ihrem ausgeprägten anti-kommunistischen Verfolgungswahn großangelegte Säuberungen nicht nur im gesamten Staatsapparat, sondern auch in der Wirtschaft für dringend geboten hält. Der neue Verteidigungsminister Macierewicz kündigt an,

„die Lustration (d.h. Durchleuchtung und Säuberung) der Eliten wieder aufzunehmen, die seinerzeit Anhänger des Realsozialismus aus dem öffentlichen Dienst entfernen sollte... Nun will Macierewicz den Geltungsbereich des Lustrationsgesetzes auf die Privatwirtschaft ausdehnen und auch dort die Beschäftigten ab einer bestimmten Hierarchiestufe zwingen, ihre Vergangenheit offenzulegen.“

Zudem plant er die Abschaffung des Berufsbeamtentums:

„Vom Abteilungsleiter im Ministerium aufwärts sollen Leitungsposten nach ‚ideeller Verbundenheit mit der parlamentarischen Mehrheit‘ vergeben werden.“ (Junge Welt, 6.1.16)

Um die Zersetzer in Staat und Wirtschaft aufzuspüren, die sich hinter ihrer Beamten- oder Managermaske verbergen und sich perfiderweise als gute Polen tarnen, braucht es viel mehr Polizeistaat, damit

„elektronische Kommunikation künftig nach dem Belieben der Ermittlungsbehörden abgehört und überwacht werden kann... Die maximale Dauer der einzelnen Überwachungsmaßnahmen wird auf 18 Monate erhöht, beim Verdacht von Spionage gibt es keinerlei zeitliche Begrenzungen. Verboten bleibt einzig die Nutzung von Informationen, die dem Beicht- oder Anwaltsgeheimnis unterliegen. Eine Reihe bisher geltender Zeugnisverweigerungsrechte, etwa von Journalisten oder Ärzten, entfällt.“ (Junge Welt, 18.1.16)

Zur Wiederherstellung eines schlagkräftigen Gewaltmonopols bedarf es dann auch der Unterstellung des Justizapparats unter das Justizministerium, damit er mit einer klaren Befehlsstruktur versehen als Instrument der nötigen Säuberungen zum Einsatz kommt. Wie kann denn eine Justiz unabhängig sein, wenn sie zur umfassenden Befreiung Polens von den „Krankheiten des Staats“ gebraucht wird?!

„Wir müssen den demografischen Niedergang durchbrechen.“ (Ministerpräsidentin Szydło in ihrer Regierungserklärung)

Zur Wiederauferstehung der Nation braucht es als zweites die Gesundung des Volkskörpers. Die Wirkungen des Kapitalismus auf Land und Leute [21] will die neue Regierungsmannschaft nicht länger dulden; sie beschädigen nämlich das Volk in seiner staatstragenden Bedeutung. Wahlkampf und Sozialprogramm der PiS widmen sich ausgiebig dem Volk in seiner Eigenschaft als Familie:

„Die polnischen Familien sind sehr wichtig. Familien, nicht nur junge, brauchen Arbeit und eine würdige Bezahlung, eine Wohnung und eine gute Gesundheitsversorgung.“ (Szydło, Regierungserklärung)

Auch die Verwahrlosung der Landbevölkerung in den Gebieten, denen kein geschäftlicher Nutzeffekt abzugewinnen ist, sowie die modellhaft kapitalistische Erschließung mit ihrem Nebeneinander von Industriezusammenballungen und abschiffenden Landesteilen – „es gibt in Polen Orte, von denen man sagen kann, dass sie eine besondere gesellschaftliche Herausforderung darstellen, die Entwicklung des Landes darf sich nicht auf einige Metropolen konzentrieren“ –, schädigt in erster Linie die Nation. Die Regierung macht zielsicher nicht die Kriterien geschäftstüchtiger Rentabilitätskalkulationen, sondern die ausländische Herkunft der Benützer von Land und Leuten für den Schaden verantwortlich:

„Das polnische Dorf braucht einen guten Hausherrn... Unser Projekt führt den tatsächlichen Schutz des polnischen Bodens vor unkontrolliertem Ausverkauf ein, der heute unter vollkommenem Umgehen des Rechts stattfindet und in der gegenwärtigen Form offenkundig der polnischen Staatsräson schadet.“ (Szydło, Regierungserklärung)

Für Politiker vom Schlage Kaczyńskis bergen die kapitalistischen Geldrechnungen, um die sich in Polen wie anderswo in der zivilisierten Welt alles dreht, eine unbedingt abzuwendende Gefahr: Nein, nicht bloß und auch nicht in erster Linie die, dass die nationalen Geschäftemacher zu wenig verdienen, sondern die, dass der ungebremst wirkende Kommerz die sittliche Einheit von Oben und Unten, das Allerheiligste der Nation, kaputtmacht. Die Konkurrenz ums Geld, die auch für die PiS nun einmal das Lebensgesetz moderner Gesellschaften ist, muss von einem Staat, der auf sein Volk hält, erstens so moderiert werden, dass es nicht (und schon gleich nicht wegen auswärtiger Geschäftemacher) verelendet, sondern ein ehrliches Auskommen finden und stolz auf sich und seine Nation sein kann, statt – was für eine Schande für Polen! – mit Müll-Arbeitsverträgen nur ausgebeutet zu werden und aus Not der Heimat den Rücken kehren zu müssen. Schließlich ist ein großes, starkes und patriotisch gesinntes Volk doch das Allerwichtigste für einen Staat, der erklärtermaßen viel mit ihm vor hat.

Zweitens hat eine gute Herrschaft dafür Sorge zu tragen, dass das Volk leben kann, wie es sich gemäß seinen nationalen Werten, Sitten und Bräuchen – Familie, Beten, Arbeit; Singen, Heimat, Polen; Arbeit, Fleiß, Familie; Woytila, Singen, Polen – gehört. Und nicht, wie die Propheten einer falsch verstandenen bindungslosen Freiheit es ihm vorschreiben wollen: mit legalisierter Abtreibung, Schwulenehe und sonstigem Schmutz und Schund, die dem Narzissmus und der Ausschweifung im Namen eines modernen europäischen Lebens den Weg bereiten. Auf diesem Feld der Pflege der moralischen Verfassung der Volksgenossen stellt die PiS die Bemühungen ihrer Vorgänger-Regierungen locker in den Schatten; derzeit arbeitet sie daran, die polnische Frau mit dem restriktivsten Abtreibungsrecht in Europa zu beglücken.

Beten statt Kindergeld

Der Wahlkampf der PiS ist mit der Ankündigung vieler sozialstaatlicher Maßnahmen geführt worden, von denen im Verlauf der ersten Monate Regierungstätigkeit dann nicht allzu viel übrig geblieben ist. Die neue Regierung will sich dann wohl doch keine allzu gravierenden Abweichungen von der in Europa verlangten Haushaltsdisziplin leisten und die Verhängung von Sanktionen riskieren. Sie macht sich aber offensichtlich auch keine übermäßigen Probleme aus gebrochenen Wahlversprechungen. Beispielhaft wird das großartige Versprechen eines allgemeinen Kindergelds von 500 Złoty (110 Euro) mittlerweile abgerüstet. PiS-Politiker wissen nämlich, dass Geld nicht alles und die Familie vielmehr als Brutstätte des Patriotismus unersetzlich ist:

„Alleinerziehende und unverheiratete Eltern dürften nicht gegenüber Eheleuten ‚privilegiert‘ werden. Das Kindergeld dürfe keinen ‚Anreiz bieten, Ehen scheitern zu lassen‘ oder auf die Heirat zu verzichten.“ [22]

Das wichtigste Nahrungsmittel fürs Volk ist immer noch der Patriotismus, und auch auf diesem Feld muss aufgerüstet werden, nachdem das federführende Deutschland mit seiner vom Marxismus inspirierten deutschen Leitkultur die sittliche Lebenskraft Polens bedroht:

„Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit traditionellen polnischen Werten nichts mehr zu tun.“ (Waszczykowski, Spiegel Online, 4.1.16)

Die neue Regierungschefin Szydło ist sich sicher, dass ein starker Staat auf der patriotischen Gesinnungseinheit seines Volks beruht: Der Staat ist nicht nur eine Organisation, sondern auch eine moralische Qualität.[23]

Auch Funk & Fernsehen, bislang durchseucht von marxistischen Ideen, die mit polnischen Werten nichts zu tun (SZ, 3.1.16) haben, sind auf Linie zu bringen und deren Personal wird schon entsprechend neu sortiert.[24]

Die Gesundheit der nationalen Seele steht für die PiS schließlich weit über der des Körpers, weshalb sie mit der Trennung von Kirche und Staat genauso wenig anfangen kann wie mit einer Gewaltenteilung, die nur das nötige staatliche Durchregieren hemmt. Die Symbiose der Partei mit dem Nationalkatholizismus [25] setzt die Tradition fort, dass das wahre Polen seit seinem Leidensweg unter sowjetischer Fremdherrschaft seine Heimstatt und wahre Volksgemeinschaft in der Gemeinschaft der Gläubigen gefunden hat. Warum sollte Polen auch, nachdem das absurde Bündnis zwischen unzufriedenen Arbeitern und bigotten Priestern über eine gottlose Herrschaft triumphieren konnte, diese nationale Kampfgemeinschaft kündigen, schließlich hat es sich ja schon wieder einer neuen Sorte Fremdherrschaft, der aus Brüssel, zu erwehren und der Hauptfeind steht nach wie vor im Osten. Und auch bei dieser Frontstellung steht Polen – Gott sei Dank! – überhaupt nicht allein da.

Der entscheidende Hebel aller polnischen Bemühungen, sich gegen die Bremser und Russlandfreunde in der EU aufzustellen: die Waffenbrüderschaft mit Amerika

Das Recht auf eine eigenständige Außenpolitik, das sich Polen gegenüber der EU herausnimmt, hat schon immer auf der Gewissheit beruht, dass es dabei eine ganz andere Macht hinter sich weiß. Es sieht sich abgesichert durch die Sonderbeziehungen mit den USA, in seiner Rolle als Speerspitze der amerikanischen Organisation mittel- und osteuropäischer Staaten zu einem antirussischen Block. Es profiliert sich deshalb in der Etappe des Irakkriegs als treuer Bündnispartner der USA und stellt sich als Bestandteil des neuen Europa offensiv gegen das alte auf, spielt auch eine gewisse Rolle als alliierter Mitstreiter im Irak.

So kämpft Polen unentwegt darum, die Macht der USA hinter seine nationalen Ziele zu bringen, indem es sich für die amerikanische Weltordnung unentbehrlich zu machen versucht, was dem Charakter dieser Ordnung entsprechend vor allem auf dem Gebiet der Entfaltung militärischer Macht stattfindet. Polen bietet der Weltmacht militärische Dienstleistungen, siehe Irak-Krieg, dann die Stationierung von Bestandteilen der amerikanischen Raketenabwehr, an EU und NATO vorbei, damit sich die USA umgekehrt funktińonalisieren lassen für den weiteren Aufbau Polens zur Militärmacht und den Ausbau seiner Rüstungsindustrie.

Diese tiefe Völkerfreundschaft wissen die USA sehr zu schätzen, und das erst recht, seitdem sie sich vorgenommen haben, die Ukraine-Krise dazu zu verwenden, Russland zu einer Regionalmacht zu degradieren.

Ein Analyst in European Affairs stellt dem amerikanischen Kongress die diesbezüglichen Leistungen Polens vor Augen: Die Lage des Landes, kopfstarkes Volk, starkes Militär –

„von den zentraleuropäischen und baltischen Ländern, die der NATO beigetreten sind, bei weitem das bevölkerungsreichste Land, die größte Wirtschaft und der wichtigste militärische Akteur“ (Dieses und die folgenden Zitate aus: „Poland and Its Relations with the United States“, Derek E. Mix, Analyst in European Affairs, Congressional Research Service, November 17, 2015, fas.org)

und vor allem eine ausgeprägte Liebe zur amerikanischen Leadership –

„mehr als viele andere europäische Länder erwartet Polen von den Vereinigten Staaten, dass sie die Führung übernehmen“.

Ein außerordentlich nützlicher Verbündeter mit seiner ansehnlichen Wehrkraft, die neuntgrößte Armee in der NATO und ungefähr 99.300 Militärpersonal in den verschiedenen Branchen. Ausdrücklich gelobt werden auch die vernünftige Haushaltspolitik –

„trotz budgetärer Engpässe hat Polen ein breites Programm zum Ersatz des Materials aus der Sowjetära und zum upgrade seiner Kampfpanzer und anderen Panzerfahrzeuge, Helikopter, Luftabwehrwaffen, Drohnen und Kampfausrüstung der Soldaten aufgelegt“ –

und die stattliche Panzerarmee, die Polen in dem auf Frieden abonnierten Europa in Schuss hält,

„über 900 Kampfpanzer, darunter mehr als 175 deutsche Leopard 2A4/5, mehr als 500 sowjetische T-72M1, und über 230 PT-91 (modernisierte T-72)“.

Der Bündnispartner macht sich zudem als Kunde der amerikanischen Rüstungsindustrie nützlich, hat im Dezember 2014

„40 Lockheed Martin AGM-158 cruise missiles zusammen mit upgrades für die F 16 Kampfflieger im Wert von ungefähr 250 Millionen Dollar“ bestellt. „Im April 2015 unterschreibt Polen einen 2 Milliarden-Dollar-Vertrag mit Raytheon über ein Patriot-Raketen-System, 8 Patriot-Batterien, ausgerüstet mit dem ‚Wisla‘-Mittelstrecken-System als Element eines modernisierten nationalen Raketen- und Luftabwehrsystems, die in das NATO-Raketen-Abwehrsystem eingegliedert werden.“

Bei der Beschaffung neuer Kampfhubschrauber galt es dann allerdings die Enttäuschung zu bewältigen, dass sich die vorletzte Regierung für den Airbus Caracal anstelle des Sikorsky S-70i Black Hawk entschieden hatte, und das trotz der engen Verbundenheit des amerikanischen Unternehmens mit der polnischen Verteidigungsindustrie. Diesen überraschenden Missgriff hat die neue Regierung jetzt auch ganz im Sinne des amerikanischen Patrons korrigiert. Auch die gedeihliche Zusammenarbeit der beiderseitigen Rüstungsindustrie wird lobend vermerkt – US-Verkäufe von Militärgütern in Höhe von über 4,7 Milliarden Dollar in den Jahren 1996 bis 2013 – umgekehrt gehen ungefähr zwei Drittel der polnischen Rüstungsexporte in die USA, vor allem Komponenten wie Militärelektronik, Flugzeuggehäuse und Getriebe. Da betätigt sich die polnische Seite zwar auch vorwiegend als Zulieferer, was in dem Fall aber überhaupt nicht als störend empfunden wird; schließlich bezieht Polen dafür auch reichlich amerikanische Militärhilfe.

Des Weiteren ist die polnische Verteidigungsbereitschaft, die ohne sofortige auswärtige Hilfe von seiten der Verbündeten schon sehr weit kommen will, sehr erfreulich, ebenso gut aber auch die Tatsache, dass Polen unentwegt mehr amerikanische Hilfe in Gestalt von Militär verlangt. Es leistet dem großen Partner den unersetzlichen Dienst, sich für die Durchsetzung der amerikanischen Strategie in Europa von hilf- und schutzlosen Objekten russischer Aggression rufen zu lassen, und sekundiert den USA auch beim Neuaufstellen der NATO zur Wiederbelebung der europäischen Front gegen Russland in Gestalt einer bis an die Ostgrenze des Bündnisses vorgeschobenen Stationierung von permanenten, d.h. rotierenden NATO-Truppen, die in dieser Gegend mittlerweile auch ziemlich permanent Manöver abhalten. Zweckmäßigerweise muss das nötige Material nicht auch noch mit rotieren, sondern kann gleich dableiben.

„Die Vereinigten Staaten werden Abrams Panzer, Kampffahrzeuge und selbstfahrende Haubitzen in den baltischen und zentraleuropäischen Ländern deponieren, um die Aktivitäten der rotierenden Mannschaften zu unterstützen.“ [26]

Dableiben dürfen mittlerweile auch ein paar Kommandozentralen der NATO,

„6 neue Force Integration Units, darunter eine in Bydgoszcz, Polen. Diese multinationalen Kommandozentralen sind dazu da, die schnelle Aufstellung der high-readiness forces in der Region zu organisieren.“

In seinem Vorhaben, sich so weit wie möglich selbst verteidigen zu können, will sich Polen in Zukunft auch der Wehrkraft seiner Zivilgesellschaft bedienen; die PiS betreibt mit großer Energie

„die Bewaffnung und Förderung von paramilitärischen Milizen unter dem Namen Freiwillige Heimatarmee nach dem Vorbild der amerikanischen Nationalgarde... Seit Frühjahr 2014 konnten diese paramilitärischen Gruppen die Zahl ihrer Mitglieder auf fast 80 000 verdoppeln. Im Vergleich dazu bestehen die regulären polnischen Streitkräfte aus 120 000 Soldaten... Es existieren etwa 120 eigenständige paramilitärische Einheiten. Sie werden mit Gewehren, Panzer- und Flugabwehrwaffen ausgerüstet. Es wird sogar erwogen, sie mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen zu bewaffnen.“ [27]

So kümmern sich einerseits die USA mit ihrer „European Reassurance Initiative“ nach Kräften um die polnischen Bedrohungsgefühle, deren Berechtigung sie in ihren Planspielen gar nicht drastisch genug ausmalen können. Andererseits tut Polen selbst alles, was in seinen Kräften steht, um das Bedrohungsszenario umzukehren. Kaczyński:

„Polen benötige gut gerüstete Soldaten, auch NATO-Kräfte – am besten US-Amerikaner, um sich sicher zu fühlen. Der Politiker fürchtet, dass ‚Russland uns angreifen könnte‘. Daher bräuchte es eine starke Armee, damit in Polen bei einem Angriff ‚ein richtiger Krieg ausbricht und nicht irgend so eine Intervention‘.“ (polen-heute.de, 6.4.14)

Das sind eben so die Probleme eines abhängig beschäftigen Militärstaats, dass man nie so genau weiß, wie viel Krieg man der Führungsmacht wert ist und ob man nicht doch bloß als Stolperdraht verplant wird. Was würde Kaczyński eigentlich zu der historischen Ironie sagen, dass heutzutage ausgerechnet Polen Deutschland das erlesene Drangsal eines Frontstaats abnehmen möchte? Der PiS-Chef denkt aber ebenso wie seinerzeit Deutschland mit seiner Vorneverteidigung lieber konstruktiv, an den Aufbau einer mächtigen Streitmacht, um die Verlegenheit eines Frontstaats überwinden und dem Iwan eine Zeitlang eine Schlacht auf Augenhöhe liefern zu können, solange bis und damit die Großmacht im eigenen Bündnis einfach nicht umhin kann, Kaczyńskis tiefem Wunsch nach einem richtigen großen Krieg nachzukommen.

Ganz ungetrübt ist freilich auch die amerikanisch-polnische Völkerfreundschaft nicht. Die polnischen Berechnungen kommen nicht darum herum, dass man das Objekt der Entscheidung anderer ist, die ihre eigenen Kalkulationen anstellen. Polen ist für Amerika als vorgeschobener Stationierungsort der amerikanischen Militärmaschine zwar außerordentlich brauchbar, aber die amerikanische Dankbarkeit geht noch nicht einmal so weit, ihm dieselben Visa-Freiheiten zu genehmigen wie den westlichen EU-Mitgliedern. Dafür darf es im Juni 2016 einen NATO-Gipfel ausrichten, auf dem der amerikanisch-europäische Streit, wie viel Russland-Feindschaft zur Bündnis-Raison gemacht werden muss, fortgesetzt wird.

[1] Der Name der Partei lautet bezeichnenderweise „Recht und Gerechtigkeit“; ein Hinweis auf das Sendungsbewusstsein, mit dem Kaczyński und Gesinnungsgenossen antreten: Sich bloß aufs Recht zu berufen, ist ihnen offensichtlich zu dürftig; unter der allerhöchsten Instanz, der Gerechtigkeit, wollen sie es nicht tun.

[2] Die Kaczyński-Partei hat sich die Karriere Israels einleuchten lassen und explizit zu einer Politik mit der Opferrolle bekannt:

Die gezielte Vergangenheitspolitik sollte die Polen in ihrem Selbstverständnis stärken und die Nachbarn dazu zwingen, die polnische Geschichte zur Kenntnis zu nehmen. Ministerpräsident Jaroslaw Kaczyński machte kein Hehl daraus, dass man die ‚deutschen Schuldgefühle stärker ausnützen‘ und die polnischen Interessen bei den Nachbarn offensiv und ‚nicht auf den Knien‘ durchsetzen müsse. (Krzemiński, Die Welt, 18.10.07)

[3] Große Bedeutung hat in den letzten Jahren die Auslagerung von Geschäftsprozessen an externe Dienstleister nach Polen bekommen. Das betrifft neben Buchhaltungs- und Finanzdienstleistungen auch IT-Bereiche und das Transportgewerbe . (Polen Jahresmitte 2009, gtai.de, 1.6.09)

[4] Ihren Wahlerfolg verdankt die PiS nicht zuletzt der Mobilisierung nationaler Ressentiments, einerseits gegen die ausländischen Handelsketten –

Das polnische Finanzministerium hat Pläne zur Einführung einer neuen Steuer angekündigt, die vor allem bei ausländischen Supermarktketten erhoben werden soll... Das Geld soll sozialen Zwecken dienen, beispielsweise der Zahlung von Kindergeld in Höhe von 500 Złoty ab dem zweiten Kind. (FAZ, 27.1.16)

– und andererseits gegen die Banken:

In den Jahren 2013 bis 2015 verband sich die Abneigung eines großen Teils der Polen gegen die ausländischen Banken und Konzerne im Land, die große Gewinne machten, aber nicht vor Ort versteuerten, mit der Überzeugung, das gegenwärtige System würde jegliche Änderung verunmöglichen. Darum fasste die PiS die Parole, alles von Grund auf zu verändern, indem man gegen solch mächtige Firmen vorgeht. (NZZ, 13.1.16)

[5] Wirtschaftsminister Morawiecki: Wir müssen Nischen besetzen, etwa Drohnen bauen oder generische Medikamente herstellen. (SZ, 9.2.16)

[6] Die anspruchsvolle Zukunftsprojektion des Ministers – deshalb wollen, ja müssen wir polnische Firmen aufbauen, die weltweit konkurrieren, die nach China, nach Indien, nach Afrika gehen können – bewegt sich im Rahmen dieser Dialektik von europäischen Sachzwängen und polnischen Wünschen; für die nötige Aufholjagd veranschlagt er immerhin 50, auch 70 Jahre. Und vorerst fällt auch erst einmal die Aufgabe an, die großen Unternehmen mit Staatsbeteiligung – die Energieversorger, aber auch die Bank PKO BP, der Düngemittelhersteller Azoty Puławy, die Gütersparte der Eisenbahn und die Holding ‚Polnische Öl- und Gaswirtschaft‘ (PGNiG) (Junge Welt, 11.2.16) – zu sanieren, mit neuem Kapital auszustatten und vor einer unerwünschten Übernahme durchs Ausland zu schützen.

[7] Wegen des Vergleichs mit dem vorausgegangenen Zusammenbruch fallen die Ziffern so imposant aus:

Seit dem EU-Beitritt konnte sich die polnische Wirtschaftsleistung mehr als verdoppeln, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg von knapp über 40 % des EU-Durchschnitts auf beinahe zwei Drittel... Insgesamt wurden Polen über die kommenden sieben Jahre 82,5 Mrd. Euro zugeteilt... Wie im vergangenen Finanzierungszeitraum fließt das meiste Kapital auch zukünftig in den Ausbau der breit gefassten Infrastruktur: Transport, Bildung, Arbeitsmarkt; sowie Umweltschutz. (gtai.de, 30.10.14)

 Dass sich die Zweckbestimmung der EU-finanzierten Infrastruktur nicht unbedingt mit polnischen Vorstellungen deckt, gibt der neue Außenminister mit seinem Verdacht zu Protokoll, Polen sei für Deutschland nur eine Transitzone für den Warenverkehr nach Russland (Waszczykowski, SZ 23.10.15).

[8] Die EU-Kommission hat zwar vorgeschlagen, für die Haushaltsperiode 2014 bis 2020 die Kohäsionsmittel von 308 auf 336 Milliarden Euro zu vermehren, aber London, Paris, Berlin wollen sparen. Polen, der Hauptnutznießer, versucht deshalb, für die kommende ‚Bataille‘, wie Europaminister Dowgielewicz das Ringen unlängst nannte, die Empfängerländer zu mobilisieren. Im Juni hat die Regierung Donald Tusk die ‚Freunde der Kohäsionspolitik‘‘ (die Osteuropäer plus Griechenland, Spanien und Portugal) zu ersten Absprachen nach Warschau geladen, und im soeben zu Ende gegangenen Wahlkampf hat Tusk die Verteidigung der Brüsseler Kohäsionstöpfe zu seinem strategischen Hauptziel erklärt. (FAZ, 25.11.11)

[9] Da hat sich dann allerdings die große Völkerfreundschaft mit den USA bezahlt gemacht: Die Weltmacht hat Polen (gemeinsam mit Mexiko) eine Ausnahmestellung verschafft, nämlich zu Beginn der Lehman-Krise eine flexible Kreditlinie beim IWF erwirkt, auf die es bei Bedarf nicht als Betreuungsfall, sondern ohne Auflagen zurückgreifen kann, und damit dafür gesorgt, dass die generelle Kreditwürdigkeit der Nation außer Zweifel gestellt worden ist.

[10] An polnischen Banken gibt es nur die PKO S.A., hervorgegangen aus der ehemaligen staatlichen Sparkasse der Volksrepublik, und ein Netz kleiner, ständig am Rande des Bankrotts manövrierender und in verschiedene Betrugsmanöver verwickelter Kreditkassen (SKOK). Der Rest gehört, auch wenn er traditionelle polnische Namen führt, Deutscher Bank und Commerzbank, Crédit Agricole, Unicredit, ING und vielen anderen. (Junge Welt, 6.1.06)

[11] Ziel der berlinhörigen Regierung Tusk sei eine Euro-Einführung durch die Hintertür des Fiskalpaktes. (Die Presse, 8.1.13)

[12] Beim Aushandeln der Machtfragen in der EU hat sich Polen immer wieder die Freiheit herausgenommen, mit einer Blockade oder einem Veto zu hantieren, was gegen die ungeschriebenen Spielregeln verstößt. Das Land hat sich in ein unbequemes Mitglied einer EU verwandelt, die nur dann stark ist, wenn es ihr gelingt, mit einer Stimme zu sprechen. (El País, 25.11.07) Unter anderem im Streit über die Stimmengewichtung im EU-Ministerrat bei der Abfassung des Lissabon-Vertrags, in dem der übrig gebliebene Kaczyński-Zwilling als Ministerpräsident mit der polnischen Variante von patria o muerte, mit der Parole Quadratwurzel oder der Tod für die Höherbewertung polnischer Stimmrechte gekämpft hat. Wobei der Tod auch noch in anderer Hinsicht eine Rolle in der polnischen Mathematik spielt: ‚Wir verlangen nur das, was uns genommen wurde. Hätte Polen nicht die Jahre 1939 bis 1945 durchgemacht, wäre es heute ein Staat mit einer Bevölkerung von 66 Millionen, wenn man sich auf demographische Kriterien beruft.‘ (FAZ, 21.6.07)

[13] Was nur sehr bedingt gelungen ist, bei jedem europäisch-russischen Deal, egal, ob es dabei um Öl, Raketen oder Fleisch geht, lassen sich die polnischen Politiker den Hitler-Stalin-Pakt einfallen. Aktuelle Beispiele der „Vergangenheitspolitik“:

Die ausländische Kritik an seinem Kurs erinnere ihn an ‚1956‘ und ‚1968‘, also an die sowjetischen Interventionen in Ungarn und der Tschechoslowakei... Verteidigungsminister Antoni Macierewicz sagte, die deutsche ‚Aggression‘ gegen Polen sei ‚beunruhigend und empörend‘. Die Deutschen versuchten den Polen wieder einmal zu ‚diktieren, was echte Freiheit ist‘. Justizminister Zbigniew Ziobro attackierte Oettinger in einem offenen Brief, in dem er den Kommissar immer wieder als Deutschen ansprach und nicht als Repräsentanten der EU... Der stellvertretende Verteidigungsminister Bartosz Kownacki etwa hat daran erinnert, dass die ‚Großväter und Väter dieser Leute das Blut von Millionen Polen an ihren Händen haben, unter anderem auch das meiner Vorfahren‘. Auch Justizminister Ziobro griff zu diesem Stilmittel. Oettingers Forderung europäischer ‚Aufsicht‘ kommentierte er mit den Worten, schon sein Großvater habe als polnischer Untergrundoffizier im Zweiten Weltkrieg gegen solche ‚deutsche Aufsicht‘ gekämpft... Kaczyński: ... ‚Wir brauchen wahrlich keine deutsche Hilfe, wenn es um Demokratie geht‘, hat er Ende 2015 gesagt. Deutschland sei Polen nach wie vor ‚viel, ja sogar sehr, sehr viel schuldig, in jedem Sinn, vom Moralischen bis hin zum Wirtschaftlichen‘. Kaczyński wiederholte die alte Behauptung seiner Partei, den polnischen Verzicht auf deutsche Reparationen von 1953 ‚gebe es nicht‘, denn er sei bei den zuständigen Stellen der Vereinten Nationen nie hinterlegt worden. ‚In den 70 Jahren, die seit dem Ende des Krieges vergangen sind, wurden diese Angelegenheiten nie erledigt, und rechtlich sind sie weiter aktuell.‘ (FAZ, 12.1.16)

[14] Zum Beispiel für eine Koalition neuer Mitgliedstaaten, die sich Ende 2008 formierte und eine für sie günstigere Lastenteilung in der europäischen Klimapolitik durchsetzen konnte. („Polen in der EU: Bremser oder Schrittmacher?“, aus bpb: Polens Rolle in der internationalen Politik, 2.8.11)

[15] Gedacht wird da an etliche Ostgebiete, die nach dem ersten Weltkrieg unter Piłsudski unter polnische Hoheit geraten waren, vor allem mit Galizien ein großer Teil der heutigen Ukraine. Im Fall der Ukraine fordert die PiS jetzt die Zulassung Polens zum Normandie-Format. Schließlich hat es, als es selbst noch mit Hyperinflation und Wirtschaftszusammenbruch zu tun hatte, schon weit voraus gedacht und die europäische Angliederung der Ukraine verlangt. Ein polnischer Ex-Präsident durfte auch schon einmal eine führende Rolle spielen und während der Orangen Revolution den damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch zum Rücktritt erpressen, einer der Höhepunkte in der polnischen Tradition, sich als Scharfmacher in der EU-Ostpolitik zu engagieren.

[16] Die Regierung Kopacz hat versucht, die Russland- und Ukraine-Politik in Richtung auf ein behutsameres Vorgehen zu modifizieren. Im Oktober 2014 sagte Kopacz vor dem polnischen Parlament, sie sei besorgt angesichts der ‚Isolierung Polens aufgrund ‚unrealistischer Ziele‘ im Ukraine-Konflikt, und fügte hinzu, ‚das Ziel meiner Regierung ist ein pragmatischer Umgang mit dem, was in der Ukraine vor sich geht‘.“ („Poland and Its Relations with the United States“, Derek E. Mix, Analyst in European Affairs, Congressional Research Service, fas.org, 17.11.15)

[17] Andernfalls kann sich Polen auch vorstellen, sich einen eigenen „Bündnisgürtel“ zu verschaffen, das sogenannte Intermarium, eine Idee aus der Piłsudski-Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die ursprünglich darauf abzielen sollte, ein Bündnis zwischen Deutschland und Russland zu verhindern, indem ein starker Bündnisgürtel durch Osteuropa gezogen wird. In diesem Fall gehören zum angedachten Gürtel Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Weitere Gürtel-Komponenten, die mit dem Intermarium zusammengesteckt werden sollen, um Russland im Westen einzukreisen, sind die Türkei, Aserbaidschan und Georgien. Die Ukraine soll ebenfalls zum Intermarium gehören... Duda reaktivierte das Konzept: ‚Ich denke darüber nach, einen Partnerschafts-Block zu gründen, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und an die Adria erstreckt. Der Staat ist stark, wenn er von Verbündeten umgeben ist‘. (Deutsche Wirtschafts Nachrichten, 2.1.16) Washington betrachtet die Idee angeblich mit Wohlwollen, wie einst G.W. Bush, der viel für ein starkes Polen als Anführer eines „Neuen Europa“ übrighatte. Dass die polnischen Nachbarn, die Herr Duda weiträumig verplant, Russland eventuell nicht ganz so bruchlos als Hauptfeind verbuchen, ist im polnischen Strategieentwurf weniger wichtig.

[18] Die unabänderliche wahre Natur dieses Gegners, seine abgrundtiefe Polenfeindschaft liegt für die PiS sowieso auf der Hand, und das heißt für die Partei vor allem, den Anschlag von Smolensk neu aufzurollen. Dass 2010 die polnische Delegation samt Kaczyński-Bruder, dem damaligen Staatspräsidenten, auf dem Weg zu einer feierlichen Erinnerung an das Massaker von Katyń, zu Tode gekommen ist, kann nach der Logik des politischen Verfolgungswahns, der Kaczyński eigen ist, schlechterdings nicht an der Entscheidung der polnischen Offiziere gelegen haben, trotz russischer Warnungen wegen dichtem Nebel auf dem nationalen Großauftritt zu bestehen und in Smolensk zu landen. Auch wenn das Event von Russland als Akt der Versöhnung gedacht war – das himmelschreiende Unrecht hat auf russischem Boden stattgefunden, so dass es ja wohl keine weiteren Beweise für die russische Täterschaft braucht. In die historische Opferrolle Polens wird regierungsamtlich ein Stück nationale Legendenbildung eingefügt, damit der Nation ihre historische Mission auch klar genug vor Augen steht.

[19] Nach innen hat Tusk diese Linie mit der Wahlkampfparole verkauft, er wolle den Menschen warmes Wasser in der Leitung statt ideologischer Visionen garantieren (Zeit Online, 8.10.11), also anstelle erfolgloser nationaler Großmäuligkeit das Volk lieber mit materiellen Leistungen versorgen. Die materielle Besserstellung ist für das Volk in seiner überwiegenden Mehrheit dann doch nicht zustande gekommen, was Tusks liberale Mannschaft mit ihrem kapitalistischen Credo und Anleihen bei der amerikanischen Konkurrenzmoral quittiert hat:

 „Der Vater der polnischen Wirtschaftsreformen der Wendezeit und Galionsfigur der Liberalen Leszek Balcerowicz meinte jüngst auf die Frage, wie man den Schwachen in der Gesellschaft helfen könnte: ‚Wenn sich jemand die Ohren abfrieren will, können wir es ihm nicht verbieten.‘ Er bezeichnet die Müllverträge [damit sind Arbeitsverträge mit wenig oder keiner sozialen Absicherung gemeint, siehe Fußnote 21] als antikapitalistische Propaganda. Der für seine scharfe Zunge bekannte PO-Politiker Stefan Niesiołowski kommentierte vor zwei Jahren die Statistik, wonach fast eine Million Kinder in Polen unterernährt seien, mit den Worten: ‚Das ist unmöglich. Früher haben wir Ampfer am Straßenrand und Früchte von den herumstehenden Bäumen gesammelt und wir waren alle satt. Warum tut das niemand mehr?‘“ (telepolis, Marcin Pietraszkiewicz, 8.2.16)

 Die PiS hat es daher leicht gehabt, mit der Parole von der Hartherzigkeit der Tusk-Regierung und einigen sozialen Versprechungen die polnische Wählerschaft massenhaft auf ihre Seite zu bringen.

[20] Hassfiguren wie Tusk und Merkel verdanken ihre Karriere einwandfrei der Stasi: „In seinem Buch Polska naszych marzeń (Polen unserer Träume), das kurz vor den Wahlen erschien, deutete Kaczyński an, dass Angela Merkel nur dank Stasi-Unterstützung zur Bundeskanzlerin gewählt wurde.“ (Wikipedia) Und auch gegen den legendären Wałęsa wird der Verdacht erhoben, als Spitzel für den polnischen Geheimdienst gearbeitet zu haben, weil er nach der Übergabe der Macht durch die polnische KP aus realpolitischen Gründen nicht die Säuberungen durchgeführt hat, die die Kaczyńskis damals verlangt hatten.

[21] Er ernährt das Volk nicht, benützt es in Polen weitgehend unter prekären Beschäftigungsbedingungen bzw. so wenig, dass es sich in großen Mengen in Richtung Westeuropa in Bewegung gesetzt hat:

Mehrere Millionen Menschen arbeiten mit Werk- oder Zeitverträgen, die ihnen wenig oder keine soziale Absicherung bieten – ein entscheidender Grund, dass, wie die PiS beklagt, zwei Millionen Arbeitsemigranten ihre Steuern in Großbritannien oder Deutschland zahlen und ihre Kinder dort zur Welt bringen. Die PiS will nun der Arbeitsschutzinspektion das Recht geben, bei Betriebsprüfungen Werkverträge in Arbeitsverhältnisse umzuwandeln, wenn die Beschäftigungsverhältnisse Merkmale des Arbeitnehmerstatus aufweisen. Sie plant auch, analog zum Mindestlohn einen Minimalstundensatz von zwölf Złoty bei Werkverträgen vorzuschreiben. (Junge Welt, 21.1.16)

Über 20 % der Beschäftigten, v.a. junge Menschen, arbeiten mit sog. Müllverträgen, meist sind sie nicht rentenversichert. Nach österreichischer oder deutscher Definition würden gut 80 % der Polen auch 25 Jahre nach der Wende im Prekariat leben, noch weit unter Hartz IV oder der Mindestsicherung. (Marcin Pietraszkiewicz, telepolis, 8.2.16)

[22] Auf die Frage, was sie einer Alleinerziehenden sage, deren Einkommen knapp über dem Grenzbetrag liege und die deshalb leer ausgehe, hat die Sprecherin der PiS-Fraktion auch die passende Antwort parat: Soll sie sich doch wieder einen Mann suchen und noch ein Kind bekommen. (Junge Welt, 6.2.16)

[23] In dem Sinne verspricht sie, sich über die gesamte Bildungspolitik, aber auch die Kulturpolitik herzumachen, damit die endlich auf die Funktion zugeschnitten werden, die Stärkung der patriotischen Einstellungen, den Wiederaufbau und den Aufbau des polnischen Gedächtnisses, für die sie schließlich da sind. In Zukunft gibt es ordentlich Staatsknete für vaterländisches Dichten: Mit Unterstützung öffentlicher Mittel sollten Werke entstehen, die Polen und der Welt von unseren hervorragenden Landsleuten, unseren Helden erzählen. Sie werden eine Inspiration für die kommenden Generationen der Polen sein. Schämen wir uns nicht, das Ethos der polnischen Helden aufzubauen. (Szydło, Regierungserklärung) Unter einer Regierung, die das Volk zu einer weltanschaulich geschlossenen Truppe moralisch aufrüstet – Leitkultur! –, sind dessen Potenzen zum Heldentum unerschöpflich.

[24] Das erste neue Mediengesetz ist in Kraft und erlaubt die grundlose Kündigung der Führungskräfte. Ein zweites Mediengesetz soll die Rundfunk- und Fernsehanstalten in nationale Kulturinstitute umwandeln. Dann würden alle Journalisten innerhalb von drei Monaten arbeitslos, es sei denn, die neuen von der PiS eingesetzten Direktoren bieten ihnen einen neuen Arbeitsvertrag an.

[25] PiS-Chef Kaczyński bedankt sich bei Pater Tadeusz Rydzyk, dem Chef des nationalkatholischen Senders Radio Maryja und dem angeschlossenen Fernsehsender TV Trwam (Ich bleibe treu) für dessen nachdrückliche Wahlkampfhilfen mit 20 Millionen Złoty (umgerechnet 4,5 Millionen Euro) für die von Rydzyk nebenher betriebene Hochschule für Kommunikation und Medien in Toruń... Gleichzeitig plant die PiS einen weiteren Millionenzuschuss zur Fertigstellung eines seit Jahren unvollendet herumstehenden ‚Heiligtums der Göttlichen Vorsehung‘ in Warschau. (Junge Welt, 6.2.16)

[26] In diesem Jahr wollen die USA den Haushalt für das Equipment von 800 Millionen Dollar auf 3.4 Milliarden aufstocken. Die zusätzlichen Waffen und Ausrüstungen gehen nach Polen, Rumänien, Ungarn, den Baltischen und anderen Staaten, damit die Allianz jederzeit über eine voll bewaffnete Kampfbrigade in Nähe der russischen Grenze verfügt. (Foreign Policy, February 2, 2016) Passend dazu der Kommentar einer Pentagon-Mitarbeiterin Evelyn N. Farkas, bis Oktober 2015 auf höchster Ebene zuständig für die Politik gegenüber Russland und der Ukraine: ‚Das ist eine wirklich große Sache, und die Russen werden ausrasten.‘ (Junge Welt, 3.2.16)

[27] Auf die Art und Weise gelingt es auch, Teile der arbeitslosen Jugend von der Straße zu holen und einer sinnvollen Beschäftigung zuzuführen:

Kandidaten werden durch eine kostenlose, von der Regierung organisierte militärische Ausbildung angeworben. Den Teilnehmern werden Karrieren als Berufssoldaten versprochen. Die Rekrutierung von Jugendlichen konzentriert sich auf die ländlichen Gebiete in Ostpolen, wo Armut und Arbeitslosigkeit besonders hoch sind. (Dorota Niemitz, 29.1.16, wsws.org)