NATO heute
Unvereinbare Interessen am Fortbestand einer Militärallianz, die den gemeinsamen Feind überlebt hat
Es gibt keine gemeinsame Agenda der „westlichen“ Erfolgsnationen des Kapitalismus mehr in der obersten imperialistischen Gewaltetage, in der sich Weltkrieg und Weltfrieden entscheiden. Es gibt das Bedürfnis jeder Nation, die Staatenwelt der Mehrung des – eigenen – staatlichen Reichtums dienstbar zu machen. Der Ordnungsbedarf, der daraus erwächst, ist ein dauerndes Kampfprogramm. Wann und wo für Ordnung gesorgt werden muss, wie diese auszusehen hat und auf welche Weise sie herzustellen ist, das hängt davon ab, wer eine nicht hinnehmbare Schädigung seiner Rechte konstatieren muss und deshalb auf Korrekturen drängt.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- I. Eine reale existierende Kriegsmaschinerie mit laufenden Einsätzen – ohne gemeinsamen Feind und Weltordnungsauftrag
- II. Der globale Antiterrorkrieg der USA fordert die loyale Unterstützung der ‚European allies‘, deren Interessen er durchkreuzt
- III. Das ‚alte Europa‘ eröffnet eine weltpolitische Alternativstrategie gegen den amerikanischen Monopolanspruch aufs Weltordnen – und fordert deren Anerkennung als neue Basis einer „echten“ transatlantischen Kooperation
- IV. Die aktuellen Hauptfälle auf der transatlantischen Agenda: Irans Atomprogramm und das Waffenembargo gegen China
NATO heute
Unvereinbare Interessen am Fortbestand einer Militärallianz, die den gemeinsamen Feind überlebt hat
Dass „es“ zwischen den USA und ihrem europäischen Nato-„Pfeiler“ nicht mehr klappt, ist bekannt. Die Frage nach der Tiefe des „Grabens“ ist zum Dauerthema der nationalbewussten Meinungsmacher diesseits und jenseits des Atlantik geworden. Sie findet unterschiedliche Antworten: angefangen von den verharmlosenden, denen zufolge die „menschliche Chemie“ zwischen den Führern „nicht stimmt“; über Steigerungen der Art, dass nachhaltige „Differenzen über Werte“ das alte Europa vom neuen Amerika trennen; bis hin zu der endgültig Pessimismus-trächtigen Diagnose, wonach die „hard power“-Methoden der USA zur Durchsetzung von Freiheit und Demokratie einfach konfligieren müssen mit der minder gewaltbereiten „soft power“-Strategie der Europäer. Diese Liste über die „Hintergründe“ des transatlantischen Zerwürfnisses zu bereichern, womöglich noch einen – antiamerikanisch motivierten – Komparativ draufzusetzen, haben wir nicht vor. Die Frage ist nämlich falsch: Sie geht am Inhalt des Gegensatzes vorbei.
I. Eine reale existierende Kriegsmaschinerie mit laufenden Einsätzen – ohne gemeinsamen Feind und Weltordnungsauftrag
1.
Kein Zweifel. Das Bündnis zwischen Amerika und Europa funktioniert weiterhin, über alle „Spannungen“ und „Zerreißproben“ hinweg. Es funktioniert in Gestalt seiner gefestigten Institutionen, vom Nato-Rat bis hin zur Nuklearen Planungsgruppe, von der integrierten Kommandostruktur bis zu den multinationalen, der Nato zugeordneten Kampfverbänden samt regelmäßigen Manöverübungen. Es handelt sich um die Erbmasse aus 4 Jahrzehnten intensiver „arbeitsteiliger“ Vorbereitung eines Weltkriegs, dessen Feind und Zweck nie in Frage standen. Denn die „gemeinsamen Werte“, welche dem von den USA eingerichteten und angeführten Militärbündnis den vielgelobten Zusammenhalt verliehen haben sollen, drückten in der Tat das vor und über aller Konkurrenz festgehaltene ‚System‘-, modern: Ordnungsinteresse der verbündeten kapitalistischen Nationen aus: an der Niederringung eines weltmächtigen „Sowjetkommunismus“, dessen „Ostblock“ für die USA eiserne Schranke einer wahrhaft globalisierten Vorherrschaft war und für Westeuropa, Westdeutschland speziell, den Tatbestand unrechtmäßiger Okkupation von eigentlich „zu uns gehörenden“ Macht- und Reichtumsquellen erfüllte. Gemeinsame „Abschreckung“ plus „Vorwärtsverteidigung“ im erwarteten Ernstfall, um das Werk der „Eindämmung“ der Russen erfolgreich zu vollenden, das waren folglich die verbindlichen Kernelemente einer allgemeinen Strategie des „Westens“, welcher sich auch und gerade das Nato-Mitglied und designierte „Schlachtfeld“ BRD tatkräftig verschrieb. Die dafür aufgebaute militärische Bürokratie gibt es nach wie vor; sogar gemeinsam verwaltete Atombomben, die den Amerikanern gehören, aber bei Bedarf von deutschen Tornados ins Ziel befördert werden sollen; eine transatlantische Rüstungskooperation pflanzt sich ebenfalls fort – augenfällig dann, wenn ein Projekt (wie derzeit das Luftverteidigungssystem MEADS) in Verdacht gerät, bloß eine Erblast aus alten Zeiten sein. Und wo die alten „Strukturen“ den Erfordernissen „moderner (Interventions-)Kriegführung“ nicht genügen, finden „Reformen“ statt, sei es bei den Hauptquartieren, bei der Integration und Interoperabilität der Teilstreitkräfte oder bei der Bewaffnung.
Das Bündnis leistet auch einiges. Mit dem Krieg gegen das Restjugoslawien des „Milosevic-Regimes“ hat es sich immerhin eine neue Aufgabe verpasst: die militante Durchsetzung eines Kontrollregimes über den rechten, sprich menschenrechtlichen Gebrauch und die legitime Reichweite fremder staatlicher Macht, also über erwünschte und verbotene Grenzverschiebungen, die Beseitigung unannehmbarer „völkischer Unterdrückung“ und die Befreiung unterdrückter Nationalitäten zu völkischer Selbstbestimmung – in Europa und anderswo „out of area“. Offiziell zu Ehren gekommen ist damit die imperialistisch korrekte Gleichung, dass Selbstverteidigung des Bündnisses und seiner Mitglieder kriegerische Ordnungsstiftung in jedem Erdenwinkel gebietet, also keine Grenzen kennt. Wo die Geschäftsinteressen weltweit reichen, die ein Staat zu schützen hat, da ist die universell gesicherte Geschäftsordnung lebenswichtig für die Sicherheit des Staates, der im Konkurrenzerfolg „seines“ Kapitals die Quelle seiner Macht hat und weiß.
In diesem Sinn – der Herstellung und Sicherung eines erwünschten Aufsichtsregimes – agiert die Allianz auch nach Ende des Bombenkriegs gegen Belgrad, wenn und wo sie in Aktion ist:
- durch den Einsatz von „Stabilisierungs“-Truppen an Brennpunkten der „neuen Weltordnung“, sei es auf dem Balkan, sei es in Afghanistan, um den per Krieg erzeugten Frieden alternativlos zu machen;
- durch Patrouillenmissionen auf See, um strategisch wichtige Routen und Regionen (wie den Nahen Osten) vor terroristischen Aktivitäten zu schützen;
- durch Expansion nach Osten, wodurch die Nato das Bündnisterritorium erweitert, die ehemaligen Bündnispartner, im Falle der Baltenrepubliken gar Bestandteile der Sowjetunion, russischem Zugriff und strategischem Einfluss entzieht, um sie – durch die militärische Beistandsgarantie verbrieft – unwiderruflich vor einem „neoimperialistischen Rückfall“ Russlands zu bewahren;
- durch expansive Allianzpolitik über die Bündnisgrenzen hinaus, wiederum nach Osten („Partnership for Peace“ im Kaukasus und in Zentralasien), aber auch nach Süden („Mittelmeerdialog“), um systematisch Einfluss zu nehmen auf auswärtiges Militär, darüber auf militärische Zielsetzungen und Fähigkeiten und so auf die Staatsräson ganzer Länder: auf dass falsche staatliche Abhängigkeiten, unberechenbare Schaukelpolitik, terrorismusförderliche Instabilitäten etc. beseitigt und eine dauerhafte sicherheitspolitische Kooperation mit verlässlichen lokalen Herrschaften institutionalisiert werden können.
2.
Aber: Trotz all dieser kriegspolitischen Leistungen, welche in öffentlichen Lobreden die Vitalität und fortgesetzte Bedeutung der Nato beweisen sollen, ist eines unübersehbar. Das transatlantische Bündnis hat mit der friedlichen Kapitulation der Sowjetunion seine selbstverständliche Existenzgrundlage – die bis zum Atomkrieg eskalationsbereite gewaltsame Bestreitung von deren (Ko-)Existenzrecht – verloren, und eine neue „gemeinsame Bedrohung“, welche zur Abwehr eine dauerhafte strategische Einheit des „Westens“ erfordern und garantieren würde, ist nicht an die Stelle der alten getreten. Auch der einzige echte Nato-Krieg, der Jugoslawien galt, verdankte sich vor allem einer auf diesen Fall bezogenen Interessenkomplementarität von Europäern und Amerikanern, die auf konträren Berechnungen und Zielsetzungen beruhte: Während es der EU um die Funktionalisierung der amerikanische Kriegsmacht ging, um den Balkan für die Unterwerfung unter ihr herrschaftliches Kommando reif zu machen, lag Amerika an einem erfolgreichen Exempel, um sich als der (einzig) fähige und maßgebliche Sicherheitsgarant Europas vorzuführen und zu behaupten. Eine Grundsatzentscheidung für die Nato als das berufene Kollektivsubjekt fürs Kriegführen ist daraus bekanntlich nicht geworden – wie auch! –, wohl aber der Ehrgeiz der EU, die Ordnungsmissionen und damit die Gewaltregie vor Ort der Nato, sprich den USA möglichst aus der Hand zu nehmen, und das Misstrauen der USA gegen eben diese Absichten sowie die generelle Abneigung Washingtons gegen einen „war on committee“, der die souveräne Kriegshoheit der einzigen Weltmacht durch den lästigen Zwang zur Abstimmung mit impotenten Partnern unnötig beeinträchtigt. Die Nato ist nicht mehr der organisatorisch vergegenständlichte gemeinsame Kriegswille der in ihr organisierten Nationen gegen einen feststehenden Feind, geschweige denn gegen einen hochkarätigen, der über atomare „Massenvernichtungsmittel“ mit „gesicherter Zweitschlagskapazität“ verfügt und so die kapitalistischen Großmächte in ein Bündnis zwingt. Damit ist auch ihr Nutzen fraglich.
Es gibt keine gemeinsame Agenda der „westlichen“ Erfolgsnationen des Kapitalismus mehr in der obersten imperialistischen Gewaltetage, in der sich Weltkrieg und Weltfrieden entscheiden. Es gibt das Bedürfnis jeder Nation, die Staatenwelt der Mehrung des – eigenen – staatlichen Reichtums dienstbar zu machen. Der Ordnungsbedarf, der daraus erwächst, ist ein dauerndes Kampfprogramm. Wann und wo für Ordnung gesorgt werden muss, wie diese auszusehen hat und auf welche Weise sie herzustellen ist, das hängt davon ab, wer eine nicht hinnehmbare Schädigung seiner Rechte konstatieren muss und deshalb auf Korrekturen drängt. Über ihren kriegerischen Bedarf befinden Amerikaner wie Europäer also je nach den wohlunterschiedenen Erfordernissen, Ambitionen und Fähigkeiten ihrer souveränen Staatsgewalten und unabhängig von allen tradierten „Bündnisverpflichtungen“ – als Konkurrenten. Die derzeitige Hochkonjunktur der beschwichtigenden, versöhnlich scheinenden diplomatischen Absichtserklärungen, wieder eine solide und zukunftsträchtige Bündnisgrundlage zu „suchen“, zeugt einerseits davon, wie weit die Gegensätze im globalstrategischen Bedarf beider Seiten – spätestens nach der amerikanischen Irakkriegsentscheidung – bereits gediehen sind, zweitens von der Gewissheit, dass die Eskalationsgefahr, die aus den nächsten Etappen der US-Agenda (Iran, China-Embargo) erwächst, beträchtlich ist; und sie signalisiert drittens, dass beide Seiten eine Konfrontation, also die Aufkündigung der Allianz, verhindern wollen. Weder die USA noch die Führungsmächte der EU wollen auf die Nato verzichten, freilich aus sehr unterschiedlichen Gründen. Die Nato ist selbst zu einem Objekt der Konkurrenz zwischen ihren Mitgliedern geworden. Welche nützlichen Dienste sie für wen, gegen wen, wann und wo, unter wessen Führung und mit welchen Mitteln verrichten kann und sollte, das ist – ebenso grundsätzlich wie Fall-bezogen – zur unvermeidlichen Streitfrage avanciert.
II. Der globale Antiterrorkrieg der USA fordert die loyale Unterstützung der ‚European allies‘, deren Interessen er durchkreuzt
Das fortdauernde Interesse der Führungsmacht an der Nato als ihrem Bündnis ist gleichbedeutend mit dessen Zerstörung: Indem die USA wie selbstverständlich darauf bestehen, dass die von ihnen gegründete antikommunistische Militärallianz weiterhin als das fungiert, was es für sie in der Tat immer schon war – Mittel ihrer Weltherrschaft –; indem sie sich also kraft ihrer überlegenen Gewalt über den kleinen, aber zumindest für die designierten Partner entscheidenden Unterschied hinwegsetzen, dass sich die alte politische Substanz des Beistandspakts und damit der wechselseitige Nutzen aus ihm erledigt hat, zwingen sie die Verbündeten, sich zwischen ihren genuinen staatlichen Interessen und der verlangten Gefolgschaft zu entscheiden. Genau so wird die „Bündnissolidarität“ untergraben. Das aber ist nicht gewollt. Im Gegenteil: Bezweckt ist die Indienstnahme und Zurichtung des Bündnisses für Funktionen, die sich aus dem von Amerika eigenwillig und eigenmächtig beschlossenen Kriegsprogramm zur Durchsetzung der ‚Neuen Weltordnung‘ ergeben.
Dafür belegt Amerika die Europäer mit Beschlag.
Ohne Erpressung ist die gewünschte „Einbindung“ natürlich nicht zu haben. Die Erfolgs-Voraussetzungen hierfür sieht die amerikanische Regierung als gegeben, in der fundamentalen Drangsal der europäischen Staaten nämlich, mit der sie aus der siegreichen Epoche des Kalten Krieges herausgekommen sind: Diese haben auf der einen Seite – nicht zuletzt durch den Genuss der durch die große Schutzmacht verbürgten Sicherheit und Freiheit – einen rasanten Aufstieg hingelegt, verbuchen und erweitern ihre Reichtumsquellen und ihren politischen Einfluss rund um den Globus, brauchen und wollen also im Grunde eine eben solche Geschäftsordnung für eine allzeit benutzbare Staatenwelt wie die USA. Sie verfügen auf der anderen Seite nicht über die nötigen Mittel und Fähigkeiten – das Kriegspotential –, um ihren Ordnungsbedarf aus eigener Machtvollkommenheit zu garantieren, und haben deswegen auch keine Chance, ihre imperialistischen Konkurrenzinteressen als globalstrategische Alternative gegen die USA in Stellung zu bringen. Die fröhlich verkündete Diagnose Europa kann sich nicht selbst verteidigen
(Burns, vormals Nato-Beauftragter, jetzt Staatssekretär von Außenminister Rice) drückt diese Gewissheit aus. Sie konstatiert eine strategische Abhängigkeit Europas und meint die programmatische Absicht, die EU auf diese Abhängigkeit – von Amerika – als bleibende Grundlage europäischer Sicherheitspolitik festzulegen. Diese muss, so der Imperativ, nach wie vor hauptsächlich in der Bereitschaft bestehen, die US-Kontrolle über die Staatenwelt zu verstärken.
Für die USA ist andererseits nämlich klar, dass sie Europa brauchen
, um der Welt ihren Ordnungswillen aufzuzwingen – und das durchaus wegen der beträchtlichen Macht, die sich hier angesammelt hat. „Brauchen“ in doppeltem Sinn: Erstens fordert das Programm, mit dem sich die USA als die unbestrittene und unbestreitbare Weltordnungsmacht durchsetzen wollen, selbstverständlich und als zentralen Bestandteil die politische Unterordnung der potenten Konkurrenznationen, die als potentielle „Rivalen“ im amerikanischen Visier sind – wozu auch ein auf imperialistische Autonomie zielendes Projekt Europa gehört.[1] Und zweitens will Amerika Europa, d.h. dessen Mittel gebrauchen – seine Leistungen als Mitmacher sind gefragt.[2] Die Staaten der EU sollen als in der und per Nato dienstverpflichtete Mitglieder einer stehenden „Koalition der Willigen“ fungieren, auf die Amerika – nunmehr ganz allein nach seinem Ermessen und Bedarf – jederzeit zurückgreifen kann, so als hätte sich an den guten alten Zeiten des gemeinsamen Kalten Kriegs gar nichts geändert. Denn das ist ja die neue Prämisse des „Antiterrorkriegs“: dass die USA sich von nichts und niemandem daran hindern lassen dürfen, ihre nationalen Sicherheitsbedürfnisse frei und für die ganze Welt verbindlich zu definieren und mit maximaler Effizienz zu vollstrecken. Politische Gefolgschaft und „Beiträge“ zur kriegerischen Aufmischung, Neusortierung und pro-amerikanischen Säuberung der Staatenwelt sind also verlangt: militärische, finanzielle, Nachkriegsstabilisierungshilfe, nation-building-Betreuung, Frauenförderung, Koran-Interpretationshilfe etc., wenn und wann immer sie in Washington bestellt werden. Dafür definieren der US-Präsident und seine Mannschaft großzügig die Interessen Europas in ihr laufendes Weltkriegsprogramm hinein, das bekanntlich Freiheit und Demokratie in der Welt verankert und damit bloß die totale Endeinlösung der Nato-Gründungserklärung vorsieht!
Der seit dem Terrorangriff des 9/11 mit aller Macht umgesetzte amerikanische Beschluss, die erreichte, bislang beispiellose militärische Überlegenheit zur Terrorisierung all jener Staaten einzusetzen, von deren Boden real oder potentiell Gefahren für die eigenen, buchstäblich grenzenlosen Sicherheitsinteressen ausgehen, sorgt zwangsläufig dafür, dass elementare Interessen, Besitzstände wie Ambitionen, der europäischen Partner-Nationen angegriffen werden. Diese werden teils beschränkt, teils beschädigt.
- Ersteres, die handfeste Beschränkung, ist vor allem rund um den Kaukasus und in Zentralasien offensichtlich: Amerika okkupiert mit seinen multiplen Armeestützpunkten und kaum abzulehnenden Kooperations(an)geboten die staatliche Hinterlassenschaft der Sowjetunion, schließt damit faktisch und absichtlich – auch – die Europäer weitgehend vom Zugriff auf Rohstoffquellen und von der Zurichtung der Erbmasse auf die eigenen Bedürfnisse aus. Und das in einer sowohl für die „Versorgung“ des Kapitals mit Ressourcen als auch für die Ausstattung der Großmächte mit strategischen Machtpositionen überaus wichtigen Weltregion. Statt der von der EU anvisierten Ausweitung des eigenen Zuständigkeitsbereichs in die weitere „Nachbarschaft“ des Ostens, über die osterweiterte EU und ihre neue „Peripherie“ hinaus, steht drei Jahre nach dem Krieg gegen Afghanistan der Großteil des besagten „Raumes“ faktisch unter dem Einfluss der USA, dessen Bestreitung vor allem von Russland erfolgt, das sich gegen eine Einkreisung durch die Supermacht wehrt.
- Letzteres, die handfeste Schädigung, tritt derzeit hauptsächlich im „Breiteren Mittleren Osten inklusive Nordafrika“ ein. Mit ihrem Demokratisierungs-Feldzug: den beiden Kriegen, die gelaufen sind; dem Nährboden für arabisch-islamischen Widerstand und Terrorismus, der durch sie geschaffen bzw. potenziert ist; der Androhung weiterer Kriege gegen Verbrecherregimes; den Reform-Befehlen an die Adresse bislang befreundeter islamischer Regierungen, welche die Haltbarkeit der staatlichen Ordnung gefährden, die selbige Regierungen bislang garantiert haben usw. usf. – mit all diesen festen Bestandteilen der umstürzlerischen US-Agenda untergraben die Amerikaner nicht nur die Geschäftsbedingungen für die dort involvierten europäischen Kapitalisten. Sie durchkreuzen damit zugleich die laufende politische „Kooperation“ des sich formierenden EU-Blocks mit seiner erdölreichen süd-südöstlichen Gegenküste, machen einiges an erobertem Einfluss zunichte, stören in jedem Fall nachhaltig alle Pläne zur Intensivierung der Einflussnahme. Und deren ehrgeizige Zielsetzung bestand immerhin – und besteht immer noch – in der Schaffung eines politökonomisch auf die EU orientierten und von ihr kontrollierten „Mittelmeerraums“, welcher der weiteren ökonomischen und strategischen Machtentfaltung Europas dient, indem er die Osterweiterung der Union um eine (etwas andere Art von) Süderweiterung komplettiert.
Und genau dafür, für die Durchsetzung und Sicherung des amerikanischen Kommandos über den internationalen Gewalt-Haushalt, sind und bleiben die USA an der Nato interessiert: Sie ist als ein Instrument vorgesehen und einkalkuliert, die europäischen Konkurrenten zu Amerikas Bedingungen auf eine Welt(kriegs)politik zu verpflichten – von der feststeht, dass sie (auch) zu Lasten Europas geht.
III. Das ‚alte Europa‘ eröffnet eine weltpolitische Alternativstrategie gegen den amerikanischen Monopolanspruch aufs Weltordnen – und fordert deren Anerkennung als neue Basis einer „echten“ transatlantischen Kooperation
1.
Ein Teil Europas, speziell und eindeutig Deutschland als die Macht, die zwischen dem traditionellen US-Antipoden Frankreich und dem US-treuen Großbritannien immer noch die entscheidende Rolle für die Ausrichtung des „europäischen Pfeilers“ spielt, verweigert seine Teilnahme am Irakkrieg und damit seine Indienstnahme durch die USA. Er lässt sich nicht abschrecken durch die – „Pro oder contra Amerika“, etwas Anderes gibt es nicht! – Drohung, mit der bedingungslose „Bündnistreue“ eingefordert wird, sondern verweigert auch und gerade dieser feindseligen Polarisierung der Staatenwelt die Anerkennung, welche die Bush-Regierung allgemein verbindlich machen will. Die EU-Führungsnationen Deutschland und Frankreich decken damit auf, und das natürlich für ihr europäisches Projekt insgesamt, dass ihr imperialistisches Eigeninteresse mit dem neuen Weltkriegswillen der USA nicht mehr zur Deckung zu bringen ist. Und das ist durchaus grundsätzlich gemeint. Denn daran besteht von vornherein kein Zweifel, dass sich die Ablehnung der Gefolgschaft beim Angriff auf das „diktatorische Saddam-Regime“ nicht bloß auf den Sonderfall Irak bezieht – der bildet ja nicht allein die „Achse des Bösen“, der „Schurken“ und „Tyranneien“ –, sondern ihrerseits exemplarisch und erklärtermaßen für die ganze Kriegsagenda der USA und deren Zielsetzung gilt.
Der amerikanische Antiterrorkrieg eröffnet den europäischen Konkurrenz-Partnern eine Alternative, die keine Vorteile verspricht, wohl aber den sicheren Schaden garantiert: Das Mitmachen bei einem Feldzug gegen die zu Feinden Amerikas erklärten Staaten, die für Europa gar keine Feinde sind, bedeutet statt Zugewinn an autonomer Macht politische Unterordnung. Als Anhängsel der USA macht Europa sich die aufgebauten nützlichen Beziehungen kaputt, und damit auch die Berechnungen, auf denen sie beruhen. Und das gilt nicht nur in Bezug auf die direkt angegriffenen Objekte der US-Mission, sondern überhaupt. Denn die erfolgreiche Erschließung politischer Zugriffsrechte zum Vorteil Deutschlands wie der EU verdankt(e) sich nicht selten gerade dem Umstand, dass deren „Angebote“ an Amerika vorbei und in Konkurrenz zu den Diktaten des „Dollar-Imperialismus“ erfolgen. Die andere Option Europas, die Kriegsdienstverweigerung, besitzt, Imperialismus-immanent betrachtet, erst recht keine Attraktivität. Nicht nur, dass die Verweigerer von Kriegen, die trotzdem und dann eben ohne Deutschland und Frankreich stattfinden, sich plötzlich aus Weltgegenden gewaltsam ausgegrenzt sehen, in denen ihre eigenen Interessen verankert sind und gewahrt werden wollen. Sie riskieren darüber hinaus, dass die Weltmacht ob der unterlassenen Hilfeleistung dazu übergeht, die Abweichung zielstrebig zu ahnden und daraus ein eigenes Programm zu machen.
2.
Die Staaten Europas, die beide schädlichen Alternativen vermeiden wollen, haben ein „Gegenkonzept“. Es heißt multipolare Weltordnung
. Diese diplomatische Formel steht für ein Programm zur Beschränkung Amerikas, das aber so aussehen soll, als ginge es bloß um einen alternativen und weniger konfliktträchtigen, also besseren Weg zu dem gemeinsamen Ziel einer stabilen Weltordnung.[3]
Europa, allen voran der klassische deutsch-französische „Motor“ der Formierung eines „handlungsfähigen“ Gewaltsubjekts, will die globalstrategische Grundsatzentscheidung – für die aus Washington vorgegebene Sortierung und Gleichschaltung der Staatenwelt oder gegen sie – nicht anerkennen, nicht in Kraft treten lassen und so praktisch entkräften. Das ist ein ehrgeiziges Programm, von dem Schröder und Chirac sehr gut wissen, dass sein Erfolg oder Misserfolg eine „Frage der Kräfteverhältnisse“ ist, also seinerseits die Mobilisierung von „Kräften“ erfordert, die diesen Standpunkt teilen, das heißt Amerikas hegemoniale Offensive unbedingt bremsen wollen. Genau dafür sucht das EU-Führungsduo den Schulterschluss mit anderen Macht-„Polen“, bewährten wie sich aufschwingenden Großmächten eben: mit Staaten wie Indien, Brasilien etc., aber vor allem mit Russland und China. Diese Staaten kommen also nicht etwa, wie vulgär-kapitalistisch bebrillte Kommentatoren unermüdlich monieren, ‚bloß‘ wegen niederer Wirtschaftsinteressen in den Genuss „strategischer Partnerschafts“-Anträge aus Deutschland und Frankreich, sondern wegen ihrer – antiamerikanisch brauchbaren – Machtpotenzen.[4] Genau die Eigenschaft, welche Russland und China zu bevorzugten Objekten amerikanischer Kontroll- und Eindämmungspolitik macht, macht ihre derzeitige Attraktivität für die Selbstbehauptungsbemühungen des „alten Europa“ aus. Nur zusammen mit Staaten diesen Kalibers, mit diesen aber schon, traut die europäische Führungsachse sich ein praktisch wirksames Veto gegen die Vorgaben zu, die Washington kraft seiner überlegenen Macht erlässt. Die Stärkung russischer und chinesischer Macht ist, jedenfalls gemäß dieser strategischen Berechnung, kein Problem, sondern erwünscht. Umso mehr wiegen dann schließlich die ‚Tatsachen‘ eines nicht den US-Vorgaben folgenden „multilateralen“ Imperialismus, welchen die drei „Multi-Pole“ untereinander organisieren, für den sie Dritte mobilisieren und mit dem sie Amerika konfrontieren können. Ihr gemeinsamer Nenner ist das negative Verhältnis zum Programm der USA, die Welt unter ihr Ordnungsmonopol zu zwingen.
3.
So klar der Antiamerikanismus dieses Projekts, so entschieden ist zugleich – in Wahrheit: deswegen – das Interesse des dissidenten Europa, es nicht zum Bruch mit den USA kommen zu lassen. Weil Deutschland und Frankreich sich den amerikanischen Imperativen zur Unterordnung verschließen und ihre Suche nach mächtiger Verstärkung in der Staatenwelt für Amerika eine Provokation darstellt, dürfen Absage und Gegnerschaft in der Grundsatz-„Frage“ von Krieg und Frieden auf keinen Fall das letzte Wort sein. Denn die globale Kriegsfront gegen verbrecherischen, sprich un-amerikanischen Gebrauch von staatlicher Gewalt, ist – über alle anders gearteten europäischen Interessen hinweg – eröffnet, zum Teil bereits vollendete, zum Teil drohende Tatsache und verlangt kategorisch eine „realistische“ Beurteilung der „Lage“ durch die um Selbstbehauptung bemühten Konkurrenten. Und die besagt:
Ein Gegenprogramm, das die Feindschaft der USA heraufbeschwört, kann man sich nicht leisten. Europa ist zu schwach, um Amerikas kriegerischem Weltordnungswillen eine gleichrangige, gleichermaßen durchschlagende globalstrategische Alternative entgegenzusetzen. Darin hat die Regierung in Washington Recht. Und daran werden auch die angestrengten Initiativen, eine „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ in Gang zu bringen, die den störenden Pluralismus und die militärische Inferiorität Europas perspektivisch überwinden soll, so schnell nichts ändern. Recht haben die US-Strategen auch in dem zweiten Punkt:
Europa will sich das Fortwirken des jahrzehntelangen gemeinsamen Kontrollregimes über die Staatenwelt, die in allerlei Institutionen (von den G7/8 über die WTO, den IWF bis zur Weltbank) vergegenständlichte Koordination der konkurrierenden kapitalistischen Ausnutzung des Globus durch die Haupt-Weltwirtschaftsmächte, erhalten. Denn diese Mitzuständigkeit für eine allgemein verbindliche politökonomischen Rahmenordnung war und ist das bleibende Guthaben, welches die Amerikaner den Europäern als Gegenleistung für ihre Allianzdienste gegen die Sowjetunion konzediert haben. Das Ende dieser Konzession hätte einen „Rückfall“ in die ungeordnete Weltmarkt-Konkurrenz der Nationen zur Folge. Damit würde den militärischen Erpressungsfähigkeiten eine unmittelbar ökonomische Bedeutung – als Instrument der Aneignung und Sicherung von Reichtumsquellen – zuwachsen, das eigene Rüstungsdefizit offen gelegt und der Zwang unabweisbar, mit dem europäischen Nachholbedarf auf diesem Feld in ganz anderer Weise Ernst zu machen als es geplant und „haushaltsverträglich“ verkraftbar ist.
Deswegen sind die deutsch-französischen Protagonisten der EU heftig bemüht, die Umsetzung ihres „Gegenkonzepts“ gegen den kriegerischen „Unilateralismus“ der USA mit der Anerkennung ihrer „Rolle“ als Führungsmacht und Garant einer nützlichen Weltordnung zu verbinden. Das ist zwar ein Widerspruch, aber genau die Strategie, welche sie praktizieren. Die sich häufenden kritischen „Was denn jetzt?“-Anfragen seitens europäischer Staatsmänner wie Meinungsmacher an die Adresse von Schröder und Chirac, ob sie nun ernsthaft einen antiamerikanischen Kurs einschlagen oder an einer konstruktiven Verbesserung der transatlantischen Beziehungen arbeiten wollen, werden folgerichtig in Berlin wie Paris als völlig unpassend zurückgewiesen.[5] Sie wollen eben beides. Sie treiben den Antiamerikanismus so und so weit, wie sie ihn für ungefährlich halten. Das Hin und Her hat also Methode. Speziell die deutsche Politik mit ihrem frech-verlogenen Motto einer „selbstbewussten Partnerschaft“ führt sie fleißig vor: Sie geht erstens von der Überlegenheit Amerikas und seiner dadurch verbürgten praktischen Kriegsfreiheit aus, sie bestreitet den USA weder Titel noch Recht, Freiheit und Demokratie in der Welt zu verankern und eine gefügige und flächendeckend brauchbare „sichere Welt“ zu stiften. Sie geht zweitens auf Distanz. Sie versucht, wo immer möglich, aus ihrer Ablehnung der (pro-)amerikanischen Aufmischung der Welt und der Abgrenzung ihrer Zielsetzungen von denen der Amerikaner ein Angebot zu machen – und zwar gegenüber Staaten jeder Sorte und jeden Kalibers: gegenüber den Großmächten ebenso wie gegenüber erklärten Feinden der USA oder anderweitig von deren Demokratisierungsmission betroffenen politischen Souveränen.[6] Was sie anbietet, reicht von einer gemeinsamen Front gegen amerikanische Gefolgschaftsforderungen bis zu jeder Menge von Geschäftsbeziehungen (Rüstungsgüter inklusive) ohne politische Diskriminierung. Darin eingeschlossen sind lauter „friedliche“ Erpressungsmanöver: Den diversen Adressaten wird vorbuchstabiert, was speziell sie zu tun und zu lassen haben, um sich die Feindschaft der USA zu ersparen und den Nutzen aus der europäischen Kooperationsbereitschaft zu sichern. Diese nach eigenem nationalen Kalkül variierenden Pressionen dienen drittens auch noch als (Bündnis- und Versöhnungs-)Angebote an die amerikanische Regierung, deren Ziele man auf die Tour arbeitsteilig, mit leicht differierenden, aber umso effektiveren Methoden befördere. So beantragt man eine Lizenz für die im Weißen Haus beargwöhnten Umtriebe, zumindest deren Duldung durch die Krieg führende Weltmacht. Alles in allem: Schröder, Chirac und Co. arbeiten zielstrebig daran, unter Ausnutzung des amerikanischen Kriegswillens und der Opposition, die er weltweit erzeugt, die eigenen imperialistischen Interessen zu verfolgen, d.h. die ihnen zu Gebote stehenden Mittel und Optionen zu erweitern.[7]
4.
Wenn die Diskrepanz zwischen der globalen Reichweite europäischer Interessen und dem beschränkten Gewaltpotential zu ihrer autonomen Sicherung das „alte Europa“ auch nicht daran hindert, über den beim Irakkrieg eingenommenen Standpunkt der bloßen Verweigerung („Nicht mit uns!“) hinaus ein imperialistisches „Gegenkonzept“ gegen die Amerikanisierung der Staatenwelt in Angriff zu nehmen, so ist doch das Risiko solch eines Unternehmens offenkundig. Von daher bekommt auch das europäische Interesse an der Nato seine eigen- und durchaus neuartige Bedeutung.
Das politisch-militärische Bündnis, das seinen Dienst als gewaltsamer Garant deutsch-europäischer Interessen versagt, soll dazu beitragen, das zum Gegensatz unvereinbarer weltpolitischer Ansprüche entwickelte Verhältnis zu den USA positiv auszubalancieren. Als Institution verkörpert die Nato – für den deutschen Kanzler wie für den französischen Präsidenten – nach wie vor das europäische Bedürfnis, die mächtigste Kriegsmaschinerie der Welt als Rückversicherung gegen die Bestreitung ihrer „Sicherheit“ seitens Dritter in Anspruch zu nehmen; und dieser Anspruch soll und kann einstweilen nicht aufgegeben werden. Umgekehrt steht die Nato und ihre Erhaltung für die Versicherung bleibender Loyalität der europäischen Partner, die
umso wichtiger ist, als die Gefolgschaft in den entscheidenden Fragen der praktizierten Weltpolitik aufgekündigt ist. Die Glaubwürdigkeit dieser Versicherung verlangt wirkliche Dienste an Amerika, d.h. nolens volens auch für deren Weltordnungsfeldzug. Wegen dieser ihrer Funktion fallen die geleisteten „Beiträge“ so streng dosiert, wohl kalkuliert und von Fall zu Fall verschieden, mal handfest, mal lächerlich-mickrig oder ganz aus – je nachdem, ob es sich bloß um „symbolische“ Unterstützung zwecks purer Bündnispflege oder (darüber hinaus) um den Versuch handelt, auf diese Weise selbst ordnungspolitische Zuständigkeit gegen ein US-Zugriffsmonopol auf Staaten und ganze Regionen zu erobern (wie in Afghanistan). In jedem Fall sollen diese Bündnis-erhaltenden Interventionen dazu taugen, sich – unterhalb der „letzten Fragen“ von Krieg und Frieden – den Nutzen aus einer gemeinsamen Beaufsichtigung des globalen Kapitalismus und seiner staatlichen Subjekte zu erhalten.
Diesem guten Grund für die Allianz entspricht die negative Kalkulation der Schadensbegrenzung, die man den Akteuren mittlerweile getrost unterstellen darf: Die Preisgabe der Allianz wäre die Liquidierung der organisierten Kooperation mit den USA als Militärmächte – also die definitive Abkopplung Europas von der Kriegsagenda, welche die Weltmacht USA beschlossen haben und am Laufen halten. Bei dem fortgeschrittenen Stand des globalstrategischen Gegensatzes wäre das ein geradezu gefährliches Unterfangen. Mit der Hinnahme des von Deutschland und Frankreich forcierten EU-Projekts, sich als „eigenständiger Sicherheitsakteur“ aufzustellen und aufzurüsten, wozu die USA nur unwillig und unter der Bedingung einer „Nato first“-Geschäftsordnung bereit sind, ist es dann jedenfalls vorbei. Das europäische Konkurrenzinteresse verbietet also die Kündigung der Allianz!
Umgekehrt kommt eine „Wiederbelebung“ der Nato im Sinne der von Amerika dekretierten „neuen Herausforderungen“ nicht in Frage. Als Instrument und Transmissionsriemen zur Sicherung von Vasallendiensten seitens der europäischen Partner, als stehende „Koalition der Willigen“ für jeden amerikanischen Gebrauch, steht ein von der deutsch-französischen Achse geführtes Europa nicht zur Verfügung.[8]
Die Aktivitäten der Allianz, soweit sie schlussendlich zustande kommen, vom gemeinsamen Raketenabwehrprojekt bis zur Ausbildung irakischer Offiziere (Ja bitte, aber nicht im Irak!), leiten sich folgerichtig aus diesem widersprüchlichen Interesse an der Nato ab. Der Grund für die Dauerbeschwerde des Generalsekretärs, dass selbst bei „einstimmiger politischer Unterstützung“ eines US-Antrags im Nato-Rat keine (entsprechenden) militärischen Beiträge folgen, ist damit ebenfalls geklärt. Die Gesichtspunkte und Richtlinien für die Entsendung von Soldaten und Gerät oder die Aufstellung einer Nato-Response-Force ergeben sich eben nicht aus einem gemeinschaftlich verfolgten Kriegs-Ziel, vielmehr samt und sonders aus dem heiklen Doppelbeschluss Europas, die strategische Partnerschaft mit dem und eine strategische Gegenposition gegen den großen Verbündeten gleichzeitig zu praktizieren.
Deswegen ist umgekehrt auch jeder der in großer Zahl anstehenden Konfliktfälle – angefangen von jeder „demokratischen Revolution“ im Umkreis Russlands bis zur Taiwan-„Frage“ – ein harter Test darauf, ob und wie lange diese Balance hinzukriegen ist.
IV. Die aktuellen Hauptfälle auf der transatlantischen Agenda: Irans Atomprogramm und das Waffenembargo gegen China
Europas führende Imperialisten betreiben den Aufstieg ihrer Union zur Weltordnungsmacht gleichen Ranges wie ihr großer amerikanischer Verbündeter – und sind mit einer US-Politik der gewaltsamen Umgestaltung der Staatenwelt konfrontiert, die sie um den Stellenwert ihrer Länder in der Weltpolitik fürchten lässt, den sie schon errungen und sicher geglaubt hatten. Aus dieser bitteren Erfahrung haben sie gelernt, dass sie gar nicht präventiv genug auf Amerikas Präventivkriege reagieren können, durch die sie zu Helfershelfern oder Außenseitern degradiert werden; so agieren sie im „Fall“ Iran. Und sie haben den Schluss gezogen, dass sie gut daran tun, selber voranzugehen und eine Kampagne zur Sammlung der Staaten zu starten, die über strategische Interessen und Mittel verfügen und gleichfalls darunter leiden, dass die „letzte übrig gebliebene Supermacht“ sich ein Monopol auf Kontrolle über und gewaltsame Eingriffe in die innere Ordnung der Nationen und den zwischenstaatlichen Verkehr, auf die Setzung strategischer Richtlinien für die Staatenwelt, auf die Zuteilung von Rechten an souveräne Regierungen wie auf die Kriminalisierung anderer herausnimmt: Russland[9] und China avancieren so zu Vorzugspartnern der bestimmenden Kontinentalmächte Europas.
Die Iran-Diplomatie der EU-Troika: Ein neuer Versuch der präventiven Kriegsdienstverweigerung
1.
Aus Sicht der USA repräsentiert der Staat der Mullahs den Kriegsgrund, dessentwegen seit der Ausrufung des ‚Kampfes gegen Terrorismus‘ nicht nur amerikanisches Militär schon an diversen Schauplätzen unterwegs ist und den nach dem Willen der Weltmacht alle Staaten der Weltgemeinschaft grundsätzlich als allgemeinverbindlich anzuerkennen haben: Im Iran hat sich ein anti-westliches, speziell anti-amerikanisches, undemokratisches, menschen- und speziell frauenverachtendes Regime verbunkert. Des ‚Terrors‘ und seiner Unterstützung ist es längst überführt, seine unverdrossen weiter betriebenen destabilisierenden Machenschaften in Afghanistan, Irak, Libanon und eigentlich überall in der Region belegen, dass der Iran das ‚Zentrum des Terrorismus‘ ist: Iran bleibt der weltweit wichtigste staatliche Unterstützer von Terror.
(Bush, Rede zur Lage der Nation, 4.2.05) Der Iran starrt schon jetzt vor Waffen, hat weitreichende Raketen, versucht seit geraumer Zeit, sich mit allen erdenklichen verbotenen Mitteln atomare Sprengköpfe zu verschaffen, und selbstverständlich steht bei diesem Staat die Fähigkeit, Waffen einzusetzen, unmittelbar für seinen Willen zur Kriegsführung: Ich rede nicht über Uran oder Raketenmaterial oder einen Sprengkopf; ich rede darüber, was einer mit einem Sprengkopf tut.
(Powell, lt. NZZ, 18.11.04). In etwa stellt der Iran also das Kombinat von Bedrohungen vor, wie die Weltmacht zusammen mit ihrer ‚Koalition der Willigen‘ es im Namen ihrer eigenen Sicherheit wie zum Schutz der Weltgemeinschaft insgesamt im Irak präventiv ausgeschaltet hat, und auch in Bezug auf das Anspruchsniveau des Kriegsziels ist die Analogie perfekt: Letztlich zu tilgen ist die von dem Staat Iran ausgehende Bedrohung nur durch die Auswechslung des Regimes, das gegenwärtig in diesem Vorposten der Tyrannei
(Rice, FAZ-net, 4.2.05) regiert.
Offiziell betreibt die Weltmacht allerdings noch keine aktive Politik des Regimewechsels in Teheran
(ebd.), sondern eine irgendwie mehr passive. Sie hält sich erklärtermaßen extrem zurück, begnügt sich mit der politischen Ächtung und ökonomischen Schwächung des Staates mittels Embargo und Sanktionsdrohungen gegen alle, die es unterlaufen, und treibt im Inneren des Landes unter der Parole ‚Demokratisierung‘ alles voran, was CIA und andere Fachbetriebe an zersetzendem Einwirken unterhalb einer offiziellen Invasion hinkriegen – letztlich muss ein ‚regime-change‘ ja doch sein; wie anders wäre die Hoffnung des iranischen Volkes auf Freiheit
(ebd.) zu erfüllen?! Gleichzeitig wird die eigentlich längst fällige offizielle Kriegserklärung ordentlich auf ihren diplomatischen Weg gebracht: mit der Einschaltung der IAEO, der Wiener Kontrollbehörde zur Überwachung des ‚Atomwaffensperrvertrags‘ – Non Proliferation Treaty, NPT –, von der die Sache an den Sicherheitsrat der UN weitergeht, der dann wieder vor der Wahl steht, einmal mehr übergangen und seiner Irrelevanz überführt zu werden oder die USA mit einem präventiven Verteidigungskrieg gegen Massenvernichtungswaffen in falschen Händen zu beauftragen. In umsichtiger Vorausschau wird den Verbündeten schon mal höflich mitgeteilt, wofür die besorgte Weltfriedensmacht sie demnächst, und zwar noch deutlich nachdrücklicher als im Fall Irak, in Anspruch zu nehmen gedenkt: Ich denke, dass unsere europäischen Verbündeten zustimmen, dass das Verhältnis Teherans zu den Menschenrechten und seinem eigenen Volk verabscheuungswürdig ist.
(ebd.) Im Iran verfolgt die freie Welt ein gemeinsames Ziel: Um des Friedens willen muss das iranische Regime die Unterstützung des Terrorismus beenden und darf keine Atomwaffen entwickeln. Zur Gewährleistung der Sicherheit freier Nationen kann keine Option dauerhaft ausgeschlossen werden.
(Bush, 21.2.)
2.
Inwieweit die Nato-Führungsmacht mit ihrer Warnung vor iranischen Atombomben und Raketen, die bis nach Europa reichen könnten, tatsächlich eine ernsthafte Sorge der Europäer um ihre militärische Sicherheit trifft und ein „vitales Interesse“ an der vorsorglichen Eliminierung dieser Gefahr weckt; ob Deutschland, Frankreich und Großbritannien auch von sich aus die Notwendigkeit entdeckt hätten, den Mullahs den Weg zur atomaren Bewaffnung zu versperren, noch bevor sie wirklich auf diesem Trip sind; wie ernst die Chefs der führenden EU-Nationen ihrer rückblickende Selbstkritik meinen, sie hätten auch ohne amerikanisches Gezeter die entstehende Bedrohung ernst nehmen und von sich aus dagegen vorgehen müssen: Das wird kaum je zu ermitteln sein. Denn alle ihre diesbezüglichen Sorgen, soweit es sie gab und gibt, sind überlagert von den ganz anderen, gewichtigeren und dringlicheren Problemen, die das Vorgehen der US-Regierung für sie aufwirft.
Nämlich erstens schon wieder durch die große weltpolitische Grundsatzfrage, wie man sich in Europa dazu stellen soll und damit fertig werden kann, dass der übergroße Verbündete sich die Freiheit herausnimmt, nach eigenem Ermessen Feinde und Kriegsgründe zu definieren, letztinstanzlich über strategische Fronten auf dem Globus und den Einsatz von Gewalt zu befinden und den ganzen Rest der Welt, sogar die wichtigsten Partner, mit einer Politik der irreversiblen Entscheidungen und der mehr oder weniger vollendeten Tatsachen zu konfrontieren. Dass Amerika nach Afghanistan, wo man sich noch zum Mitmachen entschließen konnte, und nach dem schon viel schwerer wiegenden Fall Irak, über den die Europäer sich untereinander und die kontinentalen Führungsmächte sich mit Washington zerstritten haben, nun bereits den dritten Krieg avisiert, verschärft diese Grundsatzfrage ganz erheblich.
Die Feindschaftserklärung aus Washington trifft zweitens einen Staat, der für die EU von noch weit größerem Interesse ist als selbst der Irak; einen Staat, den die Union auf alle Fälle nicht als Gefahrenherd ausgrenzen und bekämpfen, sondern als kooperativen Kontrahenten vereinnahmen will und mit dem sie es in dieser Hinsicht auch schon weit gebracht hat: einen wichtigen Erdöl-Lieferanten und Handelspartner, voller großer Chancen für europäisches Kapital; eine einflussreiche Ordnungsmacht in der Region mit einem dringlichen Bedürfnis, für ihre Ambition auf noch mehr regionale Ordnungsmacht namhafte Unterstützer zu finden; ein ganz wichtiger Akteur im Nahost-Konflikt, der Israels Übergewicht wenigstens ein wenig ausbalanciert und so einen kleinen Beitrag dazu leistet, dass Europa sich überhaupt als „Schiedsrichter“ oder „Vermittler“ aufspielen kann… Um alles, was sie mit diesem volkreichen Ölstaat an erfolgreichen Wirtschaftsbeziehungen unterhalten und demnächst noch mehr in Gang bringen wollen, was sie sich an politischem Einfluss verschafft haben und demnächst selbstverständlich noch mehr zu verschaffen gedenken, um einen aussichtsreichen, viel versprechenden imperialistischen Besitzstand also müssen die Europäer fürchten, wenn die Amerikaner daran gehen, den Iran praktisch unter ihr Verdikt ‚Unrechtsregime mit Massenvernichtungswaffen‘ zu subsumieren.
Hinzu kommt drittens, dass jedes weitere Vorgehen der USA gegen das Mullah-Regime, von einem Krieg gegen Iran ganz zu schweigen, noch viel mehr als bisher die Staatenwelt in weitem Umkreis, die islamische zumal, aufmischen, im Innern durcheinander bringen, in ihren Außenbeziehungen auf die Alternative ‚Pro oder contra Amerika‘ festnageln – und die Europäer auf jeden Fall bis auf Weiteres aus ihrem südöstlichen „Vorhof“ und aus dessen zu ordnungspolitischem Zugriff einladenden politischen Affären und Streitigkeiten ausmischen würde. Am Ende müsste man in London, Paris und Berlin womöglich ohnmächtig zusehen, wie die USA zusammen mit Israel einer ganzen Weltgegend ein neues politisches Arrangement aufzwingen.
Was viertens wieder zu der Ausgangsfrage zurückführt, was die EU imperialistisch überhaupt wert ist, wenn sie nicht einmal in ihrer nächsten Nachbarschaft, auf einem Gelände dringlichsten kommerziellen wie politischen Interesses, von direkter Bedeutung sogar für die eigene militärische Sicherheit, von sich aus die bestimmenden Fakten zu setzen vermag, sondern einmal mehr nach amerikanischen Vorgaben eingemischt oder ausgegrenzt wird.
Das ist so ungefähr die wirkliche imperialistische Problemlage, mit der sich die drei ehrgeizigen Führungsmächte der EU – Großbritannien mit seiner im Irak-Krieg erneut unter Beweis gestellten „special relationship“ zu den USA diesmal zusammen mit den „Verweigerern“ Deutschland und Frankreich – herumschlagen, wenn sie sich nunmehr so engagiert mit dem Atomenergieprogramm des Iran befassen.
3.
Denn das ist der erste Schluss, den diese drei Staaten aus der Kampfansage der USA gegen die Regierung und die gesellschaftliche Verfassung des Iran ziehen: Sie nehmen nicht etwa einen Streit mit ihrem amerikanischen Verbündeten über die richtige Einschätzung und Behandlung der Mullah-Herrschaft auf, nötigen nicht etwa Washington zu einem Abgleich der beiderseitigen Interessen in der Region, machen schon gar nicht Front gegen den Militarismus der Weltmacht; sie fallen mit einer diplomatischen Offensive über Amerikas nächstes Opfer her. Dem Regime in Teheran tragen sie ein politisches Geschäft an, das Wirtschaftsinteressen und Kriegsdrohung auf ebenso verzwickte wie unehrliche, also äußerst diplomatische Weise miteinander verkoppelt. Dem Iran werden erst einmal die schönsten Geschäftsbeziehungen zur EU in Aussicht gestellt, einschließlich einer engen ‚Zusammenarbeit‘ beim geplanten Aufbau einer Atomenergieindustrie in dem Land; dafür muss die Regierung in aller Form auf das nach dem Buchstaben des „Nicht-Verbreitungs“-Vertrags ihr zustehende Recht und nicht nur das, sondern auch und vor allem auf die Entwicklung der technologischen und industriellen Fähigkeit verzichten, einen kompletten Nuklearbrennstoffkreislauf zu betreiben – also zu einer zivilen Atommacht etwa nach dem Beispiel der BRD zu werden, die zwar auf „Wiederaufarbeitung“ und „Schnelle Brüter“ verzichtet hat, mit ihrer nukleartechnischen Infrastruktur aber die Herstellung von Atombomben jederzeit beherrschen würde. Genau das will die iranische Regierung erreichen; vielleicht ähnlich wie die BRD und andere zivile Atommächte tatsächlich nicht mit dem Ziel, sich ein paar Atombomben ins Arsenal zu legen, aber mit der Fähigkeit dazu und mit dem anerkannten Recht, über diese Fähigkeit auch zu verfügen; denn das wäre – vom kommerziellen Nutzen ganz abgesehen – gleichbedeutend mit der unwiderruflichen Etablierung des Landes als respektable und von der staatlichen Mitwelt auch respektierte Größe im auserlesenen Kreis der potentesten „Industrienationen“, direkt unterhalb der Elite der tatsächlichen Atommächte als potentiell atomwaffenfähige Macht; das Land hätte sich damit einen Vorsprung als wichtige Regionalmacht verschafft und eine Bedeutung, die nach dem Kalkül der Regierung sogar die USA zu rücksichtsvollerem Umgang veranlassen könnte. Genau dieses hohe Ziel soll der Iran aufgeben, eintauschen gegen die entgegenkommende Bereitschaft der EU-Mächte, dem Land eine um wichtige Teile amputierte Atomenergieindustrie zu konzedieren und sich im Gegenzug als Garantiemacht dafür aufzubauen, dass entscheidende Elemente für eine potentielle Atomwaffenproduktion außer Reichweite des Mullah-Regimes bleiben; denn das versteht sich von selbst, dass ein so eingreifendes Kontrollregime über die iranische Atomwirtschaft auf keinen Fall den üblichen Überwachungsmechanismen der IAEO überlassen bleiben könnte. Der verlangte Verzicht kommt einer weitgehenden Unterwerfung des iranischen Souveräns unter die Kontrolle der Europäer gleich und ist deswegen auch nicht für Geld und gute Handelsbeziehungen zu haben. Über deren Ausbau wird zwar hingebungsvoll und bis ins Detail verhandelt; der gesamte ‚Verhandlungspoker‘ lebt aber von der Drohung, mit der die EU-Troika ihrem Partner gegenübertritt: Falls dessen Nachgiebigkeit, die Bereitschaft zu garantierter Unterordnung unter ein europäisches Überwachungsregime zu wünschen übrig lässt – diplomatisch ist die Rede von ‚objektiven Garantien‘ des Iran dafür, dass er seine Atomindustrie im Stand der Unfähigkeit hält, Atombomben zu entwickeln –, würde die Affäre vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gebracht, also die Diskussion über die völkerrechtliche Strafwürdigkeit des iranischen Projekts eröffnet und in der Folge der Entscheidungsprozess über die Zulässigkeit einer militärischen Gewaltaktion gegen das Land eingeleitet.
Für die Verhältnisse in der Welt der Souveräne ist dies eine sehr schöne Drohung: handfest, dabei entgegenkommend, verlogen, unmissverständlich … Sie hat nur einen Schönheitsfehler: Die Kriegsdrohung, die so höflich in den Raum gestellt wird, liegt gar nicht in der Hand der EU-Häuptlinge. Denn sie geht gar nicht von ihnen aus. Sie liegt unabhängig von ihnen auf dem Tisch. Sie drohen mit der Kampfansage der USA, können selber also nur damit drohen, diese zu unterstützen; zurücknehmen können sie sie nicht. Das Einzige, was sie ihren iranischen Verhandlungspartnern in Aussicht stellen können, ist Einflussnahme auf den Kriegskurs der Amerikaner. Der ‚Verhandlungspoker‘ mit den Mullahs in Teheran ist deswegen in Wahrheit doch einer mit der Bush-Administration in Washington.
4.
Mit ihren Bemühungen, dem Iran eine von ihnen wahrgenommene Aufsicht über sein Atomenergieprogramm aufzunötigen, versuchen die großen Drei von der EU recht eigentlich, den USA ihren Krieg gegen das verhasste Mullah-Regime abzukaufen. Nachdrücklich erklären sie sich voll und ganz einverstanden mit dem offiziell bekundeten Willen der US-Regierung, ein weiteres Ausufern des Atomwaffenbesitzes auf gar keinen Fall zuzulassen; sie beschwören die restriktive Anwendung des ‚Sperrvertrags‘ auf Irans Nuklear-Industrie als überragendes gemeinsames Ziel, das sie in lückenloser Übereinstimmung mit der Weltmacht verfolgen – und sie inszenieren damit bewusst und berechnend ein diplomatisches Quidproquo. Denn das ist ihnen völlig klar, das ist überhaupt der Ausgangspunkt und der wahre Grund für die Dringlichkeit ihrer diplomatischen Intervention, dass der Vertrag und der damit in die Welt gesetzte internationale Rechtstitel „Non Proliferation“ für Amerika im Fall Iran allein dafür gut ist, die angesagte Kriegserklärung gegen die dortige Regierung zu legitimieren – also für die eigene Moral sowie außerdem als diplomatischer Hebel, um den Rest der Staatenwelt auf die Linie der eigenen anspruchsvoll ausgreifenden Sicherheitsinteressen und Umräum-Bedürfnisse im „Broader Middle East“ festzulegen. Die Europäer nehmen umgekehrt die Rechtfertigung beim Wort, den Rechtstitel für die Sache und tragen Washington das politische Geschäft an, ein europäisch-iranisches Abkommen, das der EU die imperialistisch äußerst interessante Position einer Kontroll- und Aufsichtsmacht in ihrem südöstlichen Vorfeld verschaffen würde, gegebenenfalls mit der Aufhebung des Verdikts über das Mullah-Regime und einer Zurücknahme seiner Kriegserklärung zu honorieren und so überhaupt erst praktisch wirksam werden zu lassen.
Die Bush-Administration fühlt sich durch dieses Angebot aus dem alten Europa zunächst provoziert, argumentiert, dass der Iran für seine nuklearen Aktivitäten bestraft und nicht belohnt gehört
(New York Times, 15.11.04), ringt sich aber bald zu dem gelassenen Standpunkt durch, dass sie die „Ausschöpfung aller diplomatischen Mittel“, die dann zu gegebener Zeit durch ihr „Scheitern“ die Unabwendbarkeit des angesagten Krieges beweisen, ganz gut den Europäern überlassen kann: Faktisch bleibt es ihr ja immer vorbehalten, die allenfalls erzielten Zugeständnisse der iranischen Seite als unzureichend zurückzuweisen. Deswegen vergibt sie sich auch nichts, wenn sie zwischendurch mal die Verhandlungslinie der EU-Troika unterstützt und mit ‚incentives‘ winkt, mit Ersatzteilen z.B. für die iranischen Zivilflieger amerikanischer Herkunft, die ihr eigenes Embargo nicht ins Land gelangen lässt, oder mit dem denkbaren Eintritt des Iran in die WTO in 6 bis 10 Jahren, dann also, wenn der ‚regime change‘ über die Bühne gegangen sein wird:
„Sollten die Verhandlungen scheitern, dann ist mit einer Überweisung des Falles an den UN-Sicherheitsrat zu rechnen. Auf diese gemeinsame Linie haben sich die Europäer kürzlich mit der amerikanischen Regierung verständigt. Danach würde Washington eine Einigung mit den Iranern unterstützen, etwa durch Befürworten einer WTO-Mitgliedschaft Irans oder die Lieferung von Flugzeugersatzteilen; im Gegenzug erklärten sich die Europäer dazu bereit, die Angelegenheit vor den Sicherheitsrat zu bringen, falls die Gespräche scheitern. Als völkerrechtliche Grundlage dürfte eine vermutete Bedrohung der internationalen Sicherheit geltend gemacht werden, die wohl damit begründet würde, dass eine militärische Zielsetzung des iranischen Atomprogramms nicht auszuschließen sei.“ (FAZ, 23.3.)
Die transatlantische Sprachregelung für Ziel und Ende eines Verhandlungsprozesses, der für die USA ohnehin nichts anderes als ein Stück Vorkriegs-, also Kriegsvorbereitungsdiplomatie ist, liegt also schon fest.
Deswegen ist es andererseits auch kein Wunder, dass die iranische Regierung sich ihrerseits mit Zugeständnissen an die EU sehr zurückhält. Ihr Projekt, eine Potenz zu erlangen, die eventuell doch sogar den Amerikanern Respekt abnötigen würde – auch Mullahs wissen über den „dual use“ eines geschlossenen Brennstoffkreislaufs Bescheid, und womit man sich als angefeindete Nation im Bedarfsfall gut verteidigen kann –, gibt sie nicht billig her:
„Wenn der geschlossene Brennstoffkreislauf das Problem der Europäer ist, sind Verhandlungen zwecklos. … Aber wenn sie besorgt darüber sind, wir könnten Atombomben bauen, sind wir in jeder Hinsicht auf eine umfassende Vereinbarung vorbereitet, die sicher garantiert, dass Iran nicht nach Atomwaffen strebt.“ (Moussavian, iranischer Verhandlungsbeauftragter in Nuklearfragen, lt. Tehran Times, 11.1.05)
Den ‚Verhandlungspoker‘ selbst gibt die Regierung andererseits also genauso wenig auf: Das möchte man in Teheran schon austesten, wie ernst die Europäer es mit ihrer Alternative zur Kriegspolitik der USA meinen und wie viel weltpolitisches Gewicht sie gegen diese Politik zusammenbringen. Europas Unterhändler werden daher mit Angeboten bedient – Inspektionen der IAEO ohne Voranmeldung, auch in Anlagen zur Uran-Anreicherung, kann man sich z.B. vorstellen: Beschluss des Parlaments Anfang Mai –; sie sollen sich dann aber auch einmal entscheiden, ob sie ehrliche Verhandlungen
mit einem souveränen Iran wollen oder sich nur als Übermittler absolut unangemessener
amerikanischer Drohungen und einseitiger Diktate
verstehen, und sich endlich einmal mehr Eigenständigkeit gegen die Weltmacht zutrauen: Die Europäer können doch nicht demonstrieren, dass sie unfähig sind, internationale Streitfragen zu lösen; schließlich wäre das eine sehr bittere Erfahrung für sie.
(ebd.) Teheran fordert die EU zur imperialistischen Nagelprobe heraus: zur Offenlegung ihrer Entschlossenheit und ihrer Macht, gegen die USA als Schutzmacht einer aus Washington angefeindeten souveränen Nation aufzutreten.
5.
Damit treffen die Mullahs ins Schwarze. Denn das ist tatsächlich die Entscheidungsfrage, auf die alle imperialistischen Emanzipationsbemühungen im Angesicht amerikanischer Präventivkriege in letzter Konsequenz unweigerlich und unausweichlich hinauslaufen; und die haben die EU-Führer – mit aller diplomatischen Vor- und Rücksicht, ohne Vorentscheidung in dem einen oder anderen Sinn, eher in der Absicht, einer klaren Entscheidung auch diesmal nach Kräften auszuweichen – mit ihrer diplomatischen Intervention in Sachen Iran auf ihre weltpolitische Tagesordnung gesetzt: ob sie es wagen und vermögen, die Weltmacht an einem Feldzug zur Entmachtung einer in Amerika verhassten, in Europa und anderswo für brauchbar erachteten Staatsgewalt zu hindern – oder ob sie sich einmal mehr spalten, teils auf Linie bringen, teils ausmischen lassen und ihr diplomatischer Einsatz am Ende nichts weiter gewesen sein wird als ein Dokument ohnmächtigen Widerstrebens gegen einen US-Krieg und im Endeffekt sogar ein Beitrag zu dessen Legitimation.
Und so viel machen die alten Europäer mit ihrem diplomatischen Manöver, mit ihrem gewollten „Missverständnis“ der amerikanischen Feindschaftserklärung als gesamtwestliche Sorge um die Wirksamkeit des ‚Atomwaffensperrvertrags‘ und mit ihrem Bemühen um eine von den Amerikanern gar nicht gewollte Nachgiebigkeit der iranischen Seite schon deutlich: Ein Urteil über Gefährlichkeit oder Kooperationsbereitschaft des „Schurkenstaates“ der USA und damit die Entscheidung über eine Beteiligung an deren militanter Iran-Politik, einen Freibrief dafür oder eine Absage behalten sie sich vor; und wie die Entscheidung ausfällt, das kann auch der Bush-Regierung nicht egal sein. Nicht, weil sie damit rechnen müsste, dass die EU den USA wie einst die Sowjetunion als Schutzmacht souveräner Feinde Amerikas entgegentreten würde. Wohl aber muss selbst ‚die letzte Supermacht‘ sich fragen, ob sie einen neuen Akt in ihrem Anti-Terrorismus-Krieg, und dann auch gleich einen Feldzug gegen den Iran, ohne Beihilfe ihrer kapitalistischen Konkurrenten oder sogar gegen deren – und sei es lückenhafte – Ablehnungsfront leichter durchhalten könnte als die ausgegrenzten Partner ihre Absage. Die entsprechende Entscheidung der europäischen Führungsmächte hat umso größeres Gewicht, als von einem amerikanischen Vorgehen gegen diesen Staat nicht bloß sie, immerhin die alten Verbündeten, sondern auch die meisten übrigen Mächte, die in der Staatenhierarchie von heute etwas zählen, in verschiedenen Hinsichten negativ betroffen, sogar geschädigt und auf jeden Fall herausgefordert wären. Russland ist neben der EU die zweite bedeutende Macht, die im Staat der Mullahs weniger einen regionalen oder gar weltpolitischen Gefahrenherd als einen äußerst nützlichen Geschäftspartner sieht; viel mehr noch als die Europäer und in Konkurrenz zu denen wirkt es am Aufbau einer Atomenergiewirtschaft in dem Land mit und macht sich neben der EU und gegen sie und mit deutlich weniger Respekt vor Amerikas Verdikt über angebliche Atomwaffenpläne Teherans anheischig, den Brennstoffkreislauf einer inskünftigen iranischen Nuklearwirtschaft so unter Kontrolle zu halten, dass dem „Non Proliferation“-Regime Genüge getan wäre: Das mag zwar auf der einen Seite die Position des Iran im ‚Verhandlungspoker‘ mit der EU-Troika stärken, vor allem aber stärkt es auf der anderen Seite die Macht der Europäer, auf die nächsten Kriegsentscheidungen der US-Regierung einzuwirken. Die können in gleicher Weise darauf bauen, dass die beiden aufstrebenden asiatischen Großmächte China und Indien ein sehr grundsätzliches Interesse daran haben zu verhindern, dass die ‚Supermacht‘ an Teheran ein drittes Exempel ihrer gewaltsamen Weltverbesserungspolitik statuiert; beide Mächte halten es sogar für angebracht, mit dem Iran gerade jetzt weitreichende Projekte zur Gewinnung und zum Transport von Erdgas zu vereinbaren. Im Ernstfall braucht Amerika deswegen zwar noch immer keine militärisch gleichrangige Gegenmacht zu fürchten, die ihm seinen Militarismus untersagen könnte. Einen guten Teil der kapitalistisch nutzbar gemachten Staatenwelt hätte es aber politisch gegen sich: Das ist die Machtposition, mit der die EU-Troika sich gegenüber den Mullahs als wohlmeinender erpresserischer Vermittler aufspielt und dem großen Verbündeten gegenüber als Partner, der dessen Krieg überflüssig machen könnte.
Im Idealfall hätte am Ende eine Kriegsdrohung der USA den widerspenstigen europäischen Verbündeten zu zwei dicken Erfolgen verholfen, nämlich zu einem Durchbruch im Ringen um Kontrollmacht über den Mittleren Osten und zu einem exemplarischen Beweis ihrer Macht, dem militanten Weltordnungswillen Amerikas die Spitze abzubrechen – gleich zwei zusätzliche starke Argumente für Washington, bis zum bitteren Ende hart zu bleiben.
Deutschlands und Frankreichs ‚symbolische Interaktion‘ mit der VR China: Eine neue ‚strategische Partnerschaft‘ gegen Amerikas Weltkontrollmonopol
Die transpazifischen Beziehungen zwischen USA und China sind eine Sache, die transatlantischen zwischen dem großen und den kleinen Nato-Partnern sind eine ganz andere – könnte man denken; aber so ist es nicht. Was sich zwischen der ‚Volksrepublik‘, die gern viel mehr als bloß das sein will, und der ‚Supermacht‘, die Ostasien als ihre ‚Gegenküste‘ und deswegen auch den Westpazifik als ihren Herrschaftsbereich mit Beschlag belegt, an guten wie vor allem an problematischen und feindseligen Beziehungen entwickelt, das wird vor allem in Berlin und Paris genauestens beobachtet, begutachtet, und es wird zielsicher in einem Sinn ausgewertet, dass nicht bloß in Washington der Eindruck entsteht, das alte Europa würde hier einen Konflikt mit der Weltmacht geradezu suchen.
1.
China hat es mit seiner von der Staatspartei streng durchorganisierten Wende zum Kapitalismus zu einem der wichtigsten Handelspartner, zur weltweit am meisten versprechenden Kapitalanlagesphäre, mit seinen Bilanzüberschüssen sogar zum Gläubiger der USA gebracht. Darüber hat sich jede Menge Konfliktstoff angesammelt: Vom mangelhaft ausgeprägten Respekt der Chinesen vor dem „geistigen Eigentum“ westlicher Warenproduzenten bis zur völlig falsch, nämlich zum Nachteil amerikanischer Konkurrenten bewerteten nationalen Währung nehmen US-Politiker dem neuen großen „Global Player“ alle möglichen Errungenschaften und Erfolge übel. Im Rahmen der globalen „Wettbewerbs“-Ordnung, in die die Volksrepublik als WTO-Mitglied mittlerweile fest eingebunden ist, gehen politökonomische Konflikte solcher Art jedoch erst einmal ihren friedlichen Gang; sie gehören zum Geschäft und sind im Preis mit drin.
Viel mehr und viel fundamentaler stören sich die USA an der Tatsache, dass da eine aus kommunistischen Vorzeiten her stammende monopolistisch herrschende Staatspartei ihr großes Land und ihr riesiges Volk mit Methoden unter Kontrolle hält, die dem amerikanischen Demokratie-Kodex widersprechen. Wenn nämlich irgendwo auf der Welt das System der freien Konkurrenz im politischen wie im Erwerbsleben nicht fraglos als der allein menschengemäße „way of life“ anerkannt, durchgesetzt, praktiziert und jede Abweichung davon tätig bereut wird, dann fassen verantwortungsbewusste US-Politiker das als Feindschaft gegen ihre gesellschaftliche Geschäftsordnung, in der Konsequenz als Angriff darauf auf; und wenn eine bedeutende Nation die amerikanische Herrschaftsform auf die Art praktisch kritisiert, dann fürchten sie um die Sicherheit ihrer Nation. Eine umsichtige nationale Sicherheitspolitik verlangt folglich mindestens die kämpferische Eindämmung, das ‚Containment‘ von Staaten, die Amerika als Vorbild und damit überhaupt als legitime Weltmacht ablehnen; eigentlich stehen „Reformen“, nötigenfalls die Zerstörung der alten und der Aufbau einer neuen Obrigkeit an.
Mit ihrer Offensive für eine in diesem Sinne sicherere Welt beschränkt sich die Bush-Administration nun zwar fürs Erste auf die islamischen Gebiete, aus denen die Menschheitsverbrecher stammen, die mit ihren Attentaten den logischen Zusammenhang zwischen falschen politischen Sitten und Terrorismus gegen die über alle Zweifel erhabene „Nation unter Gott“ empirisch bewiesen haben. Dass für die Sicherheit der US-Bürger eigentlich aber auch in China eine durchgreifende Demokratisierung unerlässlich und als erster Schritt dahin ein gründlicher ‚regime change‘ überfällig ist, das behalten amerikanische Politiker immer fest im Auge: Regelmäßig feinden sie das Pekinger Regime mit dem Vorwurf der kontinuierlichen Menschenrechtsverletzung an, verzeihen der alleinherrschenden Partei vor allem das – nach CIA-Maßstäben kaum mittelprächtige – Blutbad einst auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ ein für allemal nicht und bestehen schon aus ganz grundsätzlichen Erwägungen heraus darauf, dass dieser Staatsgewalt im Grunde keine irgendwie bedrohlichen Gewaltmittel zustehen, eben weil sie selbst eine einzige Bedrohung ist. Deswegen muss den Machthabern in Peking auf alle Fälle jede Machtentfaltung nach außen verwehrt bleiben; und wenn sich das wegen der schieren Größe des Landes, seinem eigenmächtigen Atomwaffenbesitz und neuerdings wegen der Wucht des darin akkumulierenden kapitalistischen Reichtums, außerdem auch auf Grund gewisser regional-strategischer Berechnungen der Weltmacht nicht mit letzter Konsequenz durchhalten lässt, so ist es nur umso wichtiger zu verhindern, dass Chinas militärische Macht je entscheidend über seine Landesgrenzern hinaus wirksam werden kann. Insofern trifft es sich ganz gut, dass die von Peking als abtrünnige Provinz betrachtete Insel Taiwan wie ein Riegel wirkt, den die USA dem unterstellten Expansionsdrang der Volksrepublik vorschieben können, indem sie an dieser Stelle gegen Chinas „Wiedervereinigungs“-Drohung ihre geballte Abschreckungsmacht in Stellung bringen. Und weil deswegen das Leben amerikanischer Soldaten tatsächlich durch chinesisches Militär gefährdet ist, gehört es zu den obersten Geboten einer vorausblickenden Sicherheitspolitik, diese Armee so schwach zu halten, dass sie sich nicht traut, einem amerikanischen Freiheitsverteidiger ein Haar zu krümmen. Mit Chinas kapitalistischem Welterfolg, den Amerika durchaus will und vor allem ausnutzen will, hat dieser strategische Imperativ so viel zu tun, dass mit jedem Zuwachs an wirtschaftlicher Macht das Bremsen des grenzüberschreitenden politischen Einflusses der Volksrepublik, die Behinderung und Minderung ihrer militärischen Schlagkraft und das Anfechten der Legitimität ihrer Parteiherrschaft im Innern umso dringlicher wird.
Chinas regierende Nationalisten ihrerseits haben die große Wende zum Kapitalismus wirklich nicht deswegen unternommen, um dem Menschenrecht auf amerikanische Verhältnisse auch in Ostasien zum Durchbruch zu verhelfen, sondern um sich eine leistungsfähigere Machtbasis zu verschaffen und ihr Staatswesen zu einer unangefochtenen, allseits respektierten, die eigene Umgebung politisch beherrschenden, die „Weltlage“ insgesamt maßgeblich mitbestimmenden Größe in der internationalen Konkurrenz zu machen. Dementsprechend heftig stören sie sich an den Einsprüchen gegen ihre Herrschaft, die moralisierend daherkommen und tatsächlich den Willen zum Untergraben ihres inneren Gewaltmonopols ansagen, sowie an den Beschränkungen ihrer Aktionsfreiheit nach außen und ihrer Machtentfaltung schon in dem engeren Bereich, den sie sich als ihr nationales Hoheitsgebiet zurechnen. Durch Amerikas Sicherheitspolitik finden sie sich in ihrem Bemühen um Aufstieg in der Hierarchie der Nationen ungebührlich behindert; und das ist für sie ein umso größeres Ärgernis und eine umso stärkere Herausforderung, je erfolgreicher sie im Weltgeschäft mitmischen und dort, ganz nach den Regeln der einschlägigen weltpolitischen Geschäftsordnung, mit der Masse des nationalen Reichtums und dem Umfang ihrer Handelsbeziehungen auch Rechte akkumulieren: das Recht auf Anerkennung durch die Partner und auf deren Kooperationsbereitschaft. Insbesondere meinen die Pekinger Machthaber sich mit den nötigen Mitteln auch das Recht erworben zu haben, ihr Militär mit einer Rüstung auszustatten, die ihnen eine zeitgemäße Kriegsfähigkeit und damit jenen strategischen Rang und Stellenwert sichert, der ihrer Nation auf Grund ihrer Größe und politökonomischen Bedeutung zukommt, nämlich – mittelfristig – „auf Augenhöhe“ mit den Allermächtigsten; eine Position, die nach den von Amerika vorgegebenen aktuell gültigen Maßstäben – Fähigkeit zu Interventionen weltweit mit fraglos überlegener Gewalt – freilich mit noch so vielen Volksarmisten und grobschlächtigen Atomwaffen nicht zu haben ist. Entsprechend groß ist deswegen ihr Bedürfnis nach imperialistisch potenten, auch militärtechnisch führenden Partnern, die bereit und in der Lage sind, ihnen gegen Amerikas „Containment“-Politik auf ihrem langen Marsch zu kapitalistisch fundierter nationaler Regional- und Weltmacht entscheidend voran zu helfen; mit politischer Rückendeckung ebenso wie mit Geschäftsbeziehungen der „dual use“-Kategorie. Im Sinne dieser klaren Zielsetzung bekennt sich die Führung der Volksrepublik als Freund einer „multipolaren Welt“ – ganz wie die europäischen Führungsmächte am anderen Ende des eurasischen Kontinents.
2.
Bei denen stößt sie auf ein äußerst positives Echo. Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs erklären das Waffenembargo gegen China, einst die gemeinsame westliche Antwort auf die blutige Zerschlagung der chinesischen ‚Demokratiebewegung‘, für überholt
, haben auch schon einen EU-Beschluss zur förmlichen Aufhebung des damaligen Verdikts in die Wege geleitet: Eine Ermahnung dieser Art – und mehr als das sei mit jenem politisch-symbolischen Instrument
(Schröder am 14.4. im Bundestag) ohnehin nicht ins Werk gesetzt worden – sei mittlerweile entbehrlich
, nämlich dadurch gegenstandslos geworden, dass sich China wirtschaftlich und gesellschaftlich gewandelt und sich eine neue Führung gegeben hat
(ebd.); inzwischen stehe das Embargo nur noch störend einer Normalisierung
der europäisch-, insbesondere der deutsch-chinesischen Beziehungen, nämlich der Vertiefung der angestrebten strategischen Partnerschaft
im Wege. Und mit der Taiwan-Frage, zu der der Pekinger Volkskongress soeben als deutliches diplomatisches Signal eine gesetzliche Ermächtigung zum Gebrauch militärischer Gewalt gegen Separatisten beigesteuert hat, hätte ein Ende des Waffenembargos schon deswegen nichts zu tun, weil dieser Boykott seinerzeit ja gar nicht wegen Taiwan beschlossen worden sei.
Natürlich ist das Verdikt des Westens über die innerchinesische Menschenrechtslage in Wahrheit nicht einfach durch die Länge der Zeit und auch nicht durch einen Personalwechsel an der dortigen Partei- und Staatsspitze hinfällig geworden – es steht ja ohnehin nicht für eine menschliche Empörung über eine regierungsamtliche und dann auch noch regierungsamtlich beschönigte Gewaltaktion gegen aufsässige Untertanen, sondern für einen grundsätzlichen Vorbehalt souveräner Machthaber gegen die Legitimität der Herrschaft in dem Land, und der Vorbehalt steht für den politischen Willen der imperialistischen Aufsichtsmächte zur Entmachtung der herrschenden Partei und zur Umgestaltung der Staatsgewalt nach Maßgabe und unter der Regie westlicher Demokratie-Instrukteure. Und dass diese moralisch verklausulierte Feindschaftserklärung an das Pekinger Regime mit der von außen machtvoll offen gehaltenen „nationalen Frage“ Chinas, der Hoheit über Taiwan, nichts zu schaffen hätte, ist ein Witz: Natürlich schließt das offizielle westliche Waffenembargo die Ansage ein, jede substanzielle Stärkung der chinesischen Militärmacht, jede Ausweitung des Macht- und Einflussbereichs der Nation und erst recht den enormen materiellen Zuwachs und den strategischen Durchbruch gegen Amerikas „Containment“, die mit der Angliederung Taiwans an die Volksrepublik verbunden wären, auf jeden Fall zu verhindern. Es ist aber auch nicht so, dass dem Kanzler das keiner gesagt oder dass er das bei seiner Rede zur China-Debatte im Bundestag vergessen hätte. Schröder weiß schon, was er tut, wenn er so entschieden und offensiv für ein Ende der hässlichen Töne gegen China plädiert; mit dem Stichwort strategische Partnerschaft
spricht er es auch offen aus – und wird dennoch von seinem einheimischen Publikum gerne in einem bemerkenswert verharmlosenden Sinn missverstanden: Um nichts als schnöde Handelsinteressen wäre es ihm zu tun, um Verkaufserfolge der deutschen Industrie, rücksichtslos gegen alle Moral und ohne weltpolitisches Fingerspitzengefühl … Es mag ja sogar so sein, dass man in den Vorstandsetagen deutscher Konzerne jede Menge prima Ideen hat, wie man die vielen guten Geschäfte, die schon jetzt mit China laufen, in Zukunft vertiefen
und den ‚Riesenmarkt‘ noch vermehrt für sich erschließen könnte, mit Gütern des zivilen wie militärischen Bedarfs; und dass er die Pflege deutscher Außenwirtschaftsbeziehungen für seine Amtspflicht und für praktizierten Patriotismus hält, sagt der Kanzler selber oft genug, gerade auch im Hinblick auf seine Peking-Connections und gegen alle Heuchler und sonstigen Moralisten, die die politische Bevormundung fremder Länder und die Verbesserung der Welt ausgerechnet durch demokratische Herrschaftstechniken mit frommem Augenaufschlag zum Samariterdienst an der unterdrückten Menschheit (v)erklären. Es wird auch so sein, dass Chinas gelehrige Kapitalstandortverwalter den Europäern als Gegenleistung für das erwünschte politische Entgegenkommen ansehnliche Geschäftschancen in Aussicht stellen. Dennoch geht der deutsch-französische Vorstoß in Sachen Waffenembargo im Materialismus politischer Krämerseelen nicht auf.
Beim Begehren der chinesischen Seite, den Embargo-Beschluss auf EU-Ebene aus der Welt zu schaffen, ebenso wie bei der offensiv verkündeten Bereitschaft von Schröder und Chirac, diesem Begehren zu entsprechen, geht es in erster Instanz um genau die politische Sache, für die das Waffenembargo steht: Deutschland und Frankreich ziehen die prinzipielle Ächtung des chinesischen Parteiherrschaftssystems durch die kapitalistischen Demokratien des Westens aus dem Verkehr, nehmen die darin ausgesprochene Kampfansage gegen die staatliche Verfassung der Nation zurück, erklären sich bereit, mit Chinas wie auch immer ermächtigter Führung so grundsätzlich anerkennend wie miteinander – oder wie z.B. mit den USA – zu verkehren; sie billigen ebenso grundsätzlich der neuen Großmacht das Recht zu, sich um eine eigene Einflusssphäre zu bemühen, militärische Gleichrangigkeit mit ihren Nachbarn anzustreben, zu denen als „selbst ernannte“ westpazifische Ordnungsmacht vor allen andern die USA gehören, und in der Weltpolitik mehr mitreden und mehr Gehör finden zu wollen. Eine europäische Lizenz zum Überfall auf Taiwan schließt das selbstverständlich nicht ein; und dass die kontinentaleuropäischen Waffenschmieden ab sofort daran gehen würden, den Rückstand der chinesischen Volksarmee hinter Amerikas High-Tech-Soldaten auszugleichen, ist auch nicht im Programm – umgekehrt hat das bislang gültige Embargo auch schon nicht jeden Export von Militärgütern nach China verhindert. Nun soll die chinesische Führung aber im Prinzip so rüsten dürfen, wie sie selbst es für nötig hält. Der General-Vorbehalt gegen die chinesische Staatsmacht, gegen ihr Wirken nach innen und ihre Ambitionen nach außen, soll nicht mehr gelten – was Deutschland und Frankreich betrifft, so hat er sich schon erledigt, auch wenn der offizielle Widerruf durch den EU-Ministerrat fürs Erste vertagt ist.[10]
Das alles hat neben seiner China-politischen Bedeutung in zweiter Instanz einen nicht so direkt ausgesprochenen, dafür umso gewichtigeren Amerika-politischen Inhalt: Das alte Europa kündigt eine nicht ganz unwesentliche weltpolitische Übereinstimmung und Gemeinschaftsaktion mit den USA auf. Es erklärt sich stattdessen einverstanden mit einem Staat, dessen Herrschaftssystem die USA als gegen sich gerichtet definieren, dem sie daher mit erheblichem militärischem Aufwand räumliche Grenzen ziehen, die China seinerseits als nationale Entrechtung begreift, und dessen weltpolitischen Ambitionen sie enge Schranken setzen und von ihren Verbündeten gesetzt wissen wollen. Das deutsch-französische Duo nimmt insoweit Partei gegen Amerikas Aufsichtsrecht in der Region und gegen seinen Monopolanspruch auf die Fähigkeit, dort militärisch Sicherheit zu stiften – also: mit Aussicht auf Erfolg Krieg zu führen. An einer „Front“, die fürs transatlantische Verhältnis formell eigentlich keine und praktisch eine nachgeordnete Rolle spielt, die aber nicht nur für die USA außerordentlich wichtig ist und den Westen beim gemeinsamen Waffenembargo noch strategisch geeint hat, wollen die Deutschen und Franzosen nicht mehr für Amerika Partei ergreifen; an diesem strategischen Schauplatz wollen sie definitiv nicht mehr zur Partei Amerikas gehören.
3.
Für die Welt- und Nato-Führungsmacht ist das selbstverständlich eine Provokation. Sie nimmt die deutsch-französische Aktion so, wie sie zwar nicht ausgesprochen, aber eindeutig gemeint ist, nämlich als Abfall von Amerikas weltpolitischer Allianz, und macht deutlich, dass sie nicht gewillt ist, den hinzunehmen. Europa wird gewarnt: Es sei im Begriff, China zu einer aggressiven Politik zu ermuntern; die Waffen, deren Lieferung in Zukunft nicht mehr durch das Embargo ausgeschlossen wäre, würden womöglich dazu benutzt, Taiwan anzugreifen, und dann auch unweigerlich auf Amerikaner gerichtet[11] – die Außenministerin:
„Vom amerikanischen Standpunkt aus, und Gleiches meine ich aus anderen Staaten in dieser Region, aus Japan und Süd-Korea, vernommen zu haben, wäre die Aufhebung des Waffenembargos zu diesem Zeitpunkt, da Gründe zur Besorgnis in Menschenrechtsfragen, aber auch hinsichtlich der militärischen Balance fortbestehen, nicht das richtige Signal; und vielleicht noch wichtiger: das könnte derzeit zu einer Änderung der militärischen Balance in einer Gegend führen, wo die USA ganz speziell sehr starke Sicherheitsinteressen haben; denn schließlich sind es amerikanische Streitkräfte hier im Pazifik, die bislang die Sicherheit garantieren.“ (Rice, 21.3.05, Washfile)
Damit sie das auch weiterhin so erfolgreich tun können, muss ein „militärisches Gleichgewicht“ aufrechterhalten werden, das den ‚ökonomischen Riesen‘ China in einem Zustand militärischer Unterlegenheit festhält, den USA das Monopol auf die Definition des asiatisch-pazifischen Friedens und seiner Bedingungen sichert. Dagegen würden die Europäer verstoßen, wenn sie Hindernisse für den Waffenexport nach China ausräumen. Außerdem sei die Weitergabe von hoch entwickeltem Gerät an eindeutige ‚Schurkenstaaten‘ wie Syrien und den Iran und auf dem Umweg sogar an Terroristen nicht auszuschließen. Unter solchen Umständen könne die Rüstungskooperation der USA mit Europa – immerhin eines der wenigen Felder, auf denen die transatlantische Allianz noch funktioniert! – nicht fortgesetzt werden: Am Ende gelangen High-Tech-Waffen mit in Europa verwendeter US-Technologie in die Hände von Feinden Amerikas. In der Republikaner-Fraktion des Kongresses kursieren bereits Pläne,
„die Zusammenarbeit mit kollektiven Institutionen wie der EU zurückzuschrauben“, „die Exporte von Waffen und zivil wie militärisch nutzbaren Hightech-Gütern in EU-Länder neu zu bewerten“, „die Europäer vom ‚Joint Strike Fighter‘, dem größten und teuersten amerikanischen Kampfflugzeug-Projekt, auszuschließen“, überhaupt auch „Rüstungsimporte aus EU-Ländern um bis zu 20 Prozent zu reduzieren“; und „im Bereich der ‚Dual-use‘-Technik müssten sich die Europäer auf einen Import-Stopp für US-Hochgeschwindigkeits-Computer und Navigationssysteme einstellen“ – „für das politische Klima hätte das ernsthafte Konsequenzen“ (Handelsblatt, 24.3.)
Wie fest die Weltmacht entschlossen ist, eine Relativierung ihres Macht- und Führungsanspruchs in gewichtigen Weltordnungsfragen im Allgemeinen und in der pazifischen Region im Besonderen nicht hinzunehmen und die europäischen Verbündeten keinesfalls aus ihren Verpflichtungen zu entlassen, machen derartige Warnungen immerhin drastisch klar; und der Staatssekretär im US-Außenministerium Burns buchstabiert es den Europäern noch einmal unmissverständlich vor:
„Die Vereinigten Staaten versuchen …, ihre historische Rolle als Hauptgarant des Friedens und der Stabilität in der asiatisch-pazifischen Region zu bewahren. Wir streben friedliche und konstruktive Beziehungen zu China an. Wir sind Partner Chinas bei den Sechsparteiengesprächen. Wir haben unsere Beziehungen zu China verbessert. Allerdings waren wir bestürzt über die Aufstockung der chinesischen Streitmacht, insbesondere über die Stationierung von ballistischen Flugkörpern gegenüber von Taiwan. Wir begrüßen Bestrebungen zur Veränderung des militärischen Gleichgewichts in der Meerenge in keiner Weise. Der Präsident äußerte sich in Europa eindeutig: Aufgrund von Menschenrechts- und regionalen Sicherheitsbedenken ist die Aufhebung des EU-Waffenembargos eine schlechte Idee. Wir werden die Bestrebungen der EU in dieser Hinsicht nicht unterstützen. Dies hätte, wie der Stellvertretende Außenminister Zoellick vor kurzem sagte, Auswirkungen auf unsere transatlantische Partnerschaft, insbesondere falls der US-Kongress ein Gesetz zur Einschränkung des Verkaufs bedeutender amerikanischer Technologie an EU-Länder verabschieden sollte. Ganz eindeutig ist es jetzt an der Zeit, dass die Vereinigten Staaten und die Europäische Union einen ernsthaften strategischen Dialog über ihre gemeinsamen Interessen in Asien und im Pazifik führen.“ (Transatlantische Agenda, 8.4.)
Angesichts der gegensätzlichen Interessen, die Europa und die USA offensichtlich in ihrem jeweiligen Umgang mit China verfolgen, droht die amerikanische Regierung offen mit der Revision der Bündnisbeziehungen samt handfesten Sanktionen – und mahnt einen „ernsthaften“ Dialog beider Seiten an, der wieder „ganz eindeutig“ zu dem Ergebnis zu führen hat, dass Amerikas „Interessen in Asien und im Pazifik“ nach wie vor die „gemeinsamen“ sind und weiterhin zu bleiben haben!
4.
Danach sieht es allerdings nicht aus. Die Aufhebung des Waffenembargos ist für das alte Europa eben keine ‚Idee‘, die es auch genauso gut wegwerfen und durch eine andere ersetzen könnte, und die chinesischen ‚Bestrebungen zur Veränderung des militärischen Gleichgewichts‘, die Amerika missbilligt, werden von Deutschland und Frankreich nicht als Bedrohung betrachtet, jedenfalls nicht als eine, die gegen sie gerichtet wäre: China ist im Gegenteil ja gerade mit und wegen seiner wachsenden Macht als Partner gegen eine „unipolare Weltordnung“ so besonders wertvoll. Sicher: Sich mit ihrer China-Politik offen gegen das amerikanische Weltordnungsregime aufzustellen, haben Schröder und Chirac nicht vor. Doch wie sehr der deutsche Kanzler gewillt ist, sich über die ihm gut bekannten amerikanischen Sicherheitsbedenken
hinwegzusetzen, macht er in der ‚China-Aussprache‘ im April im Bundestag auf seine Weise schon deutlich: Er weist sie mit der ein wenig gewagt anmutenden Behauptung zurück, er wolle das Waffenembargo überhaupt nur deswegen unbedingt aufheben, weil es ihm überhaupt nicht um den Export von Waffen ginge, schon gleich nicht um die Lieferung der High-Tech-Geräte, über die man sich in Amerika sorgt: Es geht nicht um Waffenlieferungen nach China. Das muss man sehr deutlich machen.
Zum Nachweis der keinesfalls anti-amerikanischen Ausrichtung seiner China-Politik verlegt der Kanzler sich im Übrigen auf die ausdrückliche Versicherung, nie und nimmer den politisch-menschenrechtlichen Sittenkodex außer Acht lassen zu wollen, den die US-Regierung im Umgang mit China nach wie vor als allgemeinverbindliche Richtlinie aufrechterhalten will. Die Menschenrechte als Titel für den Generalvorbehalt, mit dem man die politische Anerkennung der von der „kommunistischen“ Führung repräsentierten souveränen Staatlichkeit Chinas relativiert, zieht der deutsche Kanzler beileibe nicht aus dem Verkehr, im Gegenteil, für dieses hohe Gut gibt es seiner Auffassung nach in China durchaus noch viel Gutes zu tun. Aber erstens nicht nur in China, sondern überhaupt auf der Welt, z. B. in Texas – natürlich kritisieren wir die Tatsache, dass es die Todesstrafe gibt … Wir sollten aber nicht vergessen, dass es gegen unseren Willen die Todesstrafe auch in anderen Gesellschaften gibt.
Zweitens hat die oberste Weltaufsichtsbehörde in Menschenrechtsfragen selbst ihre relative Zufriedenheit über die Entwicklung der Menschenrechtslage in China zu verstehen gegeben, so dass man sich als Europäer überhaupt nichts nachsagen lassen muss, wenn man sich mit seinem dicken Partner in spe in der Hinsicht zufrieden erklärt:
„China modernisiert sich – politisch und wirtschaftlich. Das streiten im Übrigen auch die Vereinigten Staaten von Amerika nicht ab. Sie haben erst vor drei Wochen in Genf bei der Menschenrechtskommission – ich zitiere – ‚bedeutsame Schritte bei der Verbesserung der Menschenrechtslage in China‘ festgestellt. Das war die Position der Vereinigten Staaten von Amerika in Genf.“
Die Position des deutschen Kanzlers in Berlin ist drittens die, dass Amerika doch bitteschön die Aufhebung des Waffenembargos gegen China, die ja überhaupt nichts mit Waffenhandel zu tun hat, doch als Mittel zu dem nach wie vor gemeinsamen Zweck würdigen möge, Einfluss auf die Entwicklung auch in diesem Land
zu nehmen und so dessen Karriere zum menschenrechtlich-rechtsstaatlich-modernen Musterstaat zu befördern:
„Es gibt unverkennbar Fortschritte bei der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte. Die Europäische Union und Deutschland sind willens, China auf dem Weg der Modernisierung seiner Gesellschaft konstruktiv zu unterstützen. Gerade darauf ist der von mir – nicht von früheren Regierungen – 1999 vereinbarte Rechtsstaatsdialog ausgerichtet. Er ist ein wichtiger, weil kontinuierlicher Beitrag zur strukturellen Verankerung rechtsstaatlicher Prinzipien in allen Lebensbereichen Chinas, zu etwas also, das wir wollen und für das wir uns mit allen Möglichkeiten, die wir haben, einsetzen.“
In der Kunst der diplomatischen Heuchelei und der berechnend verlogenen provokativen Beschwichtigung sind die Deutschen nach wie vor nicht schlecht. Wie weit sich aber der deutsche Kanzler in der politischen Sache, die auszusprechen er sich beharrlich weigert, vorwagt, entgeht nicht nur den USA nicht, dem mittelbaren Adressaten seiner China-Politik. Die europäischen Partner, die er mit seiner Initiative zur Strategischen Partnerschaft
mit China gegen Amerikas „Unilateralismus“ in Stellung bringen will, merken das auch und schrecken teils vor diesem Affront gegen den geschätzten großen Bruder, teils vor dessen harten Warnungen zurück, bremsen jedenfalls bis auf Weiteres Schröder-Chiracs antiamerikanische Initiative. Und auch in den Reihen des eigenen Regierungslagers und der vaterländischen Opposition kommen ernste Bedenken auf, das Risiko betreffend, das eine europäische Weltpolitik gegen die amtierende Weltmacht beinhaltet. Eine Angelegenheit von so hoher Sensibilität
für Europa im Alleingang
betreiben zu wollen, das wäre für die Konservativen in Deutschland ein einziger transatlantischer Alptraum
(Schäuble, SZ, 14.4.) – die wollen von der ach so unverbrüchlichen Partnerschaft mit Amerika als fester Grundlage der imperialistischen Emanzipation Europas von seiner Führungsmacht vorerst auf gar keinen Fall Abstand nehmen.
So hat der Kanzler schon beim allerersten ‚symbolischen‘ Vorstoß, China als seinen strategischen Partner gegen Amerika zu gewinnen, nicht nur die Weltmacht gegen sich, sondern auch noch gewichtige Mitglieder des Subjekts Europa, in dessen Namen er sich aufmacht, und konkurrierende Patrioten im eigenen Land, die auf dem Sprung sind, ihm seinen Mut zum Risiko als vaterlandsschädliches Vabanquespiel vorzuwerfen. Aber mit allem muss eben ein Anfang gemacht werden.
[1] Auf Amerikanisch: Führung erfordert auch Bündnisse, und Führer sind wertlos, wenn ihnen niemand folgt.
(R. Holbrooke, Ex-Chefdiplomat im Balkankrieg, SZ, 22.2.05)
[2] Auf Amerikanisch: Wir Amerikaner sind uns darüber klar, dass unsere Erfolgschancen weit größer sind, wenn wir in Partnerschaft mit Europa voranschreiten. Wir werden also in unserem vorrangigen Bemühen fortfahren, die Nato zu präparieren
(Burns, 6.4.05)
[3] Die ‚multipolare Welt‘ ist also nichts Anderes als eine Kampfansage derjenigen Staaten, die mehr Macht beanspruchen, gegen die einzige Supermacht, die diesem Anspruch im Wege steht. Wenn Politologen sich von dieser Floskel an die Modelle erinnern lassen, mit denen sie seit jeher das Ideal eines weltweit erfolgreich ausbalancierten ‚Gleichgewichts der Kräfte‘ betreuen, das den ‚Frieden‘ sichert; und wenn Journalisten vom Reiz dieser Formel Gebrauch machen, um ganz und gar überparteilich für einen stets auf ‚Ausgleich‘ und ‚Frieden‘ geeichten Erfolgsweg des europäischen Imperialismus Partei zu ergreifen zu können – dann verwechseln sie den diplomatischen Schein mit der politischen Sache, um die es geht. So kommt die Machtfrage, die Politiker an ihresgleichen stellen, allemal als Friedensangebot daher.
[4] Die deutsche Öffentlichkeit nimmt die antiamerikanische Stoßrichtung der angestrebten „strategischen Partnerschaften“ mit anderen Großmächten durchaus wahr; als gültiges Motiv und Inhalt deutscher Außenpolitik will sie die Abwehr des amerikanischer Weltordnungs-Monopolanspruchs aber nicht wahrhaben. So selbstverständlich scheint ihr das Festhalten an der Priorität der Allianz mit der Supermacht, unter deren „Schutzschirm“ die alte BRD ihren unaufhaltsamen Aufstieg vollzog, dass sie ununterbrochen „wahltaktischen Opportunismus“ als den eigentlichen Hintergrund der „Stimmungsmache des Bundeskanzlers“ ‚enthüllt‘. Die amerikanische Öffentlichkeit hingegen hat – im wachsamen Blick auf mögliche Gefahren für eine unanfechtbare Führungsrolle von „God’s own country“ – überhaupt kein Problem, den Versuchen Schröders und Chiracs, eine Achse des Widerstands gegen eine Neue Weltordnung zu Diensten der USA aufzubauen, die Absicht zu entnehmen, die Anstrengungen für eine Umverteilung der Macht … auf Kosten der Vorteile Amerikas zu verstärken
(IHT, 16.4.05). Sie wälzt daher mit Vorliebe die Fragen, wie realistisch dieses Unterfangen ist und ob ihr Präsident Bush dem grassierenden Antiamerikanismus nicht durch seine arrogante Art ohne Not Vorschub geleistet hat.
[5] Dass es unter den Staaten der EU zwei Linien gibt, wovon die eine die Notwendigkeit eigenständiger Machtentfaltung betont und die andere auf der Prämisse „Ja, aber nicht gegen die USA, sondern nur im Rahmen der Allianz“ insistiert, ist unvermeidlich. Der Streit ist Ausdruck der Drangsale, die eine Emanzipation aus der sicherheitspolitischen Unterordnung unter die einzig verbliebene Weltmacht bedeutet; und die Befürchtung, die in allen EU-Fraktionen umgeht, ist keineswegs unbegründet: dass die Europäische Union sich an der und durch die Amerika-Frage, auf die sich die Verfolgung weltpolitischer Interessen an jedem Punkt zuspitzt, spaltet – und damit ihr eigenes Projekt zunichte macht.
[6] Ein bemerkenswertes Beispiel dafür liefern „gut unterrichtete Berliner Kreise“. Ihnen zufolge ist der Bundeskanzler „gar nicht traurig darüber“, dass die US-Regierung das deutsche Drängen um einen dauerhaften Sitz im UNO-Sicherheitsrat nicht unterstützt: „Amerikanische Hilfe betrachtet man sogar eher als schädlich, weil sie Stimmen USA-kritischer Regierungen in der Dritten Welt gefährden könnte.“ (SZ, 12.4.05)
[7] Diese Politik des deutschen Bundeskanzlers sieht dann oft genug so aus wie das alte weltpolitische Schmarotzertum aus den Tagen des Ost-West-Gegensatzes und des Erdgas-Röhren-Geschäfts, als es darum ging, auf Basis einer unverbrüchlich gemeinsam getragenen Konfrontation mit dem Hauptfeind durch relativierende Entspannungs-Angebote Einfluss im und auf den gegnerischen Block zu gewinnen. Tatsächlich verhält es sich aber inzwischen genau umgekehrt: Auf Basis unvereinbarer globalstrategischer Standpunkte und bei entgegengesetzter Zielsetzung bemüht Europa sich um Einigkeit mit den USA in Unterpunkten und um die gemeinsame Deutung dieser Unter- als Hauptpunkte auf der weltpolitischen Tagesordnung.
[8] Diese Klarstellung war die eindeutige Hauptsache der angeblich so missverständlichen Schröder-Rede auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz. Sie (die Nato) ist jedoch nicht mehr der primäre Ort, an dem die transatlantischen Partner ihre strategischen Vorstellungen konsultieren und koordinieren. Dasselbe gilt für den Dialog zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, der in seiner heutigen Form weder dem wachsenden Gewicht der Union noch den neuen Anforderungen transatlantischer Zusammenarbeit entspricht.
(12.2.05) Kann man in diplomatischer Form deutlicher mitteilen, dass eine Kooperation mit Amerika dann und nur dann in Frage kommt, wenn sie die Machtambitionen Europas fördert?
[9] Zu Europas Russland-Politik ist ein Artikel in der nächsten Nummer dieser Zeitschrift vorgesehen.
[10] Während der deutsche Bundeskanzler im Bundestag seine Überzeugungsarbeit leistet, besucht sein französischer Kollege Raffarin Peking und erklärt dort das Waffenembargo für anachronistisch, in verkehrter Weise diskriminierend
; es stehe in vollkommenem Gegensatz zum gegenwärtigen Stand der strategischen Partnerschaft zwischen Europa und China. … Frankreich bleibt bei der Forderung nach Aufhebung des Embargos und sieht nichts, was Europa zu einer Änderung seiner Position in dieser Sache veranlassen könnte.
Zu Chinas neuem Anti-Sezessionsgesetz, das in den USA als jüngster Beweis für die ‚Aggressivität der chinesischen Außenpolitik‘ gewertet wird, merkt der Premier an, dass es mit der Position Frankreichs vollkommen kompatibel
sei. (Raffarin lt. IHT, 22.4.)
[11] In Washington befürchtet man offenbar ernsthaft, ausgerechnet die Nato-Verbündeten könnten zur Verkürzung des militärischen Abstands zwischen den USA und ihrem potentiellen Gegner beitragen und wollten das womöglich sogar. Die EU-Mächte verfügen schließlich über modernstes Kriegs-‚Know-how‘, und ihre Versicherung, dieses auch weiterhin nicht an China zu liefern, nimmt man in Amerika als unglaubwürdigen Beschwichtigungsversuch. Einen Präzedenzfall sehen die Amerikaner in der schon im Herbst 2003 beschlossenen Teilhabe Chinas am europäischen Satelliten-Navigationsprogramm ‚Galileo‘. Dabei handelt es sich um ein auf militär-strategische Autonomie zielendes Konkurrenzprojekt zum amerikanischen GPS-System, das nicht nur die exakte Lokalisierung und Positionierung von Truppen und Gerätschaften ermöglicht, sondern auch die punktgenaue Lenkung von fliegendem Kriegsgerät in das zuvor geortete feindliche Objekt. Genau so werde es China erlaubt, die Informationslücke zu schließen, welche den USA jetzt den Vorteil der präzisen Zielführung von Raketen und ‚smart weapons‘ gibt
– und dies sogar ungeachtet des noch laufenden Embargos
. Schlussfolgerung der US-Strategen: Mit dem sicheren Zugang (Chinas) zu Galileo spielt die EU eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung der Volksarmee und der Kriege, die sie in Zukunft führt.
(IHT, 19.4.)