Mehr deutsche Macht – das nationale Grundbedürfnis, dem Politik und Volk gefälligst gerecht werden sollen

Das offizielle Deutschland hat nicht lange nachdenken müssen, um gleich nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine zu wissen, dass damit eine ‚Zeitenwende‘ fällig ist und nicht nur alles anders werden muss, sondern auch, dass das Land bis dahin in seiner Außen-, Militär- und Energiepolitik alles falsch gemacht hat. Über Nacht verstehen die Repräsentanten des Staates gar nicht mehr, wie sie selbst, vor allem aber ihre Vorgänger eine so verkehrte, das Land schädigende Politik gegenüber Russland haben betreiben können.

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Mehr deutsche Macht – das nationale Grundbedürfnis, dem Politik und Volk gefälligst gerecht werden sollen

Ja zum Krieg aus dem Geist patriotischer Selbstkritik

Das offizielle Deutschland hat nicht lange nachdenken müssen, um gleich nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine zu wissen, dass damit eine ‚Zeitenwende‘ fällig ist und nicht nur alles anders werden muss, sondern auch, dass das Land bis dahin in seiner Außen-, Militär- und Energiepolitik alles falsch gemacht hat. Über Nacht verstehen die Repräsentanten des Staates gar nicht mehr, wie sie selbst, vor allem aber ihre Vorgänger eine so verkehrte, das Land schädigende Politik gegenüber Russland haben betreiben können. Vor allem für die strategische Energiepartnerschaft mit ihren Unterseeröhren und ihren gewaltigen Dimensionen, die der europäischen Wirtschaftsvormacht und ihrer Industrie eine vom US-beherrschten Weltenergiemarkt unabhängige und besonders billige Energieversorgung auf Jahrzehnte sicherte und den Verkäufer Russland auf Deutschland verpflichtete, können die Meinungsmacher inzwischen überhaupt keine Gründe mehr erkennen – außer ganz schlechte:

„Putins Angriff ist auch eine Niederlage der deutschen Außenpolitik. Handelte die Regierung zu naiv, war sie zu sehr von Interessen geleitet? Eine Spurensuche! Einfache Antworten gibt es nicht. Dennoch lassen sich im Rückblick Fehleinschätzungen erkennen. Nord Stream 2! Das Risiko der enormen Abhängigkeit von fossilen Energieträgern aus Russland hat man nicht gesehen, wollte sie vielleicht nicht sehen. Das Gegensteuern hätte viel früher beginnen können. Das rächt sich jetzt. Das Konzept von Wandel durch wirtschaftliche Annäherung hat zumindest in der aktuellen Situation nicht zum Erfolg geführt. Lange war es Ziel deutscher Außenpolitik, zu einer Sicherheitsordnung mit Russland zu kommen. Jetzt wird klar, dass es kurz- und mittelfristig um Sicherheit gegen Russland geht.“ („Merkels Fehler, Schröders Interessen“, Tagesthemen, 24.3.22)

Naivität ist noch der mildeste Vorwurf; bei Öl und Gas müssen wirtschaftliche Interessen über die Wahrnehmung der Risiken und den Sicherheitsaspekt triumphiert und zu gewollter Blindheit geführt haben: Deutschland hat sich im Frieden von russischen Energielieferungen abhängig gemacht, sodass die Exekution der jetzt angesagten Feindschaft schwerfällt und teuer wird – einfach dämlich (Habeck). Dasselbe gilt für die Osteuropa-Diplomatie im Minsker Prozess, in dem sich Deutschland und Frankreich glatt mit Zustimmung Russlands ein Mitsprache- und Mitgestaltungsrecht über dessen ukrainisches Vorfeld erobert hatten; ja überhaupt für allen respektvollen und kooperativen Verkehr mit Putins Reich (in Fragen der Klimapolitik, der Iran-Sanktionen, der Libyen-Konferenz etc.). Die deutschen Erfolge von gestern erscheinen, gemessen am maßlosen Anspruch, dass Deutschland durch wirtschaftliche Beziehungen den großen Nachbarn hätte verändern und sich gemäß machen müssen – natürlich nicht umgekehrt! –, als ein einziger Fehlgriff. Die heutige Politikerriege macht der Politik der Vorgänger – und der eigenen bis zum ominösen 24. Februar 2022 – ihren Charakter als Realpolitik in Friedenszeiten zum Vorwurf: Dass sie – immerhin auf Basis des Abschreckungsregimes der NATO, die schon fast ganz Osteuropa dem russischen Einflussbereich entzogen und dem eigenen Vorfeld zugeschlagen hatte – Russlands Macht und Möglichkeiten in Rechnung gestellt und respektiert hatte, um sie für deutsche Interessen zu nutzen und, soweit möglich, zu beeinflussen, genau das grenzt inzwischen nicht nur bei Putin-Freund Schröder an Landesverrat. Auch am Fall der ewigen Kanzlerin, die im ersten Interview nach ihrer Amtszeit nichts bereuen will und auf den Realismus ihres Umgangs mit dem mächtigen Widersacher verweist, wird deutlich, vor welchen Maßstäben sie heute ins Unrecht gesetzt wird.

„Ich werde mich nicht entschuldigen! ... Ich war Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, als solche habe ich ein bestimmtes Werteverständnis und dieses Werteverständnis ist grundsätzlich unterschieden von dem von Präsident Putin. Er hält die Demokratie für falsch, ich halte sie für richtig, für die menschlichste Ordnung bei all ihren Fehlbarkeiten. Zweitens: Für mich ist Politik nicht nur Werte, sondern immer auch die Interessen meines Landes. Und das Interesse des Landes, das ich regiert habe, ist im Grundsatz: mit Russland einen Modus Vivendi zu finden, in dem wir nicht im Kriegszustand sind, sondern wir versuchen können, bei allen Differenzen irgendwie zu koexistieren... Nach der Annektion der Krim war schon ein tiefer Einschnitt. Wir haben sozusagen Beziehungen gepflegt, wie es die Pflichten von Staats- und Regierungschefs sind, aber für mich war dann vollkommen klar, dass wir es nicht mit jemandem zu tun haben, der uns Wohlergehen wünscht nach unserer Art zu leben. Trotzdem kann ich ihn nicht aus der Welt schaffen! Und Russland ist ’ne Größe...“ (Merkel, 7.6.22)

Rechtfertigen tut sie sich schon: Dass es ihr an Werteorientierung und kritischer Distanz zu Putin gefehlt hätte, lässt sie sich nicht nachsagen. Dass sie längst mächtiger und feindseliger gegen ihn hätte auftreten müssen, weist sie mit einem Verweis aufs Kräfteverhältnis zwischen den beiden Mächten zurück: Irgendwie musste sie mit Putin, den sie nicht aus der Welt schaffen kann, auskommen; sie habe um die Schranken deutscher Macht gewusst und sie aus Verantwortung für ihr Land respektiert. Wer das nicht gelten lässt, überschätzt Deutschlands Kräfte und will, dass es auf gefährliche Weise Politik über seine Verhältnisse macht.

Genau das, dass Deutschland sich in seinem Auftreten gegen Russland von den Schranken seiner Macht nicht mehr hemmen lassen, keine solchen Schranken als gegeben hinnehmen darf, ist der jetzt verbindliche Standpunkt, vor dem die Alt-Kanzlerin sich rechtfertigen soll und nicht kann. Er kommt beispielhaft zum Ausdruck in der radikalen Selbstkritik, in der sich Merkels Ziehtochter und vormalige Verteidigungsministerin der Mit-Verursachung des russischen Einmarsches in die Ukraine bezichtigt:

„Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben. Wir haben nach Georgien, Krim und Donbass nichts vorbereitet, was Putin wirklich abgeschreckt hätte.“ (Annegret Kramp-Karrenbauer, 24.2.22)

Die Frage, ob es denn in der Reichweite deutscher Möglichkeiten gelegen hätte, etwas vorzubereiten, was Putin wirklich abschreckt, stellt sich der Ex-Ministerin gar nicht: „Wir“ haben der atomar gerüsteten Weltmacht im Osten, die sich nur an den USA misst, ihren Krieg nicht verunmöglicht, also haben wir ihn ermöglicht.

Andere tönen nicht ganz so groß, bestehen aber auch auf der eigenen Schuld an der Verlegenheit, dass Deutschland nun einen Krieg mit führen muss, in dem es keine bestimmende Rolle spielt.

„Die Ereignisse lösen auch bei der obersten Heeresleitung der Bundeswehr einen Schock aus. Generalleutnant Alfons Mais: ... ‚Du wachst morgens auf und stellst fest: Es herrscht Krieg in Europa... Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da. Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert... Das fühlt sich nicht gut an. Ich bin angefressen.‘ ... Aus hohen deutschen Militärkreisen hieß es zu Bild: ‚Wir – als Deutsche – blamieren uns gerade bis auf die Knochen.‘“ (Bild, 24.2.22)
„Militärhistoriker analysieren bei Bild: Deutschland hat verlernt, seine Soldaten zu achten! Es herrscht wieder Krieg mitten in Europa. Zwei Flugstunden von Berlin entfernt zieht die russische Armee ihre Truppen vor Kiew zusammen. Es sind gefährliche Zeiten. Und die Bundeswehr? Sie steht ‚mehr oder weniger blank da‘. So beschreibt es Heeresinspekteur Alfons Mais. Er hat recht. Acht Jahre nach der Krim-Annexion kann die Bundeswehr weder einen glaubhaften Beitrag zur Abschreckung leisten noch ist sie bereit für den Ernstfall. Wer verstehen will, wie es so weit kommen konnte, muss bis zum Mauerfall 1989 zurückblicken. Das Gefühl damals: Der Kalte Krieg ist vorbei, alte Feindschaften sind überwunden, eine Epoche des Friedens beginnt... Es wurde abgerüstet: von 490 000 Soldaten im Jahr 1989 auf 184 000 Soldaten heute, von 5000 Kampfpanzern auf 300, von 620 Kampfflugzeugen auf 230. Die Bundeswehr war schon bald nur noch ein Schatten ihrer selbst... Nie wieder allein war die eine Maxime deutscher Sicherheitspolitik. Die andere: nie wieder Krieg. Soldaten wurden als bewaffnete Wiederaufbauhelfer in Auslandseinsätze geschickt. Das Kämpfen sollten bitte andere erledigen.“ (Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna, Militärhistoriker der Uni Potsdam, in Bild vom 6.3.22)

Das Land, so die Expertise des Militärs und seiner wissenschaftlichen Gutachter, hat in unverantwortlicher Weise auf Frieden gesetzt, es an materieller Vorbereitung und politischem Willen zum Krieg fehlen lassen. Es hat dadurch seine Souveränität, die eben aus den Gewehrläufen kommt, verspielt und sich als Macht umfassend blamiert.

Bezeichnend an diesen Einlassungen ist der Maßstab, an dem Repräsentanten des deutschen Staates ihr Land messen und für zu leicht befinden, und der Grund, den sie für die jetzt umso dringender fällige Wende zur eigenen Aufrüstung und zur Ausrüstung der ukrainischen Kriegspartei anführen: Sie plädieren hier nicht auf die heilige Pflicht zur Solidarität mit den angegriffenen ukrainischen Menschen, auch nicht auf unsere demokratischen Werte, die die Ukrainer angeblich repräsentieren und „für uns“ durchkämpfen, sodass unsere indirekte Beteiligung daran im Interesse der westlichen „Wertegemeinschaft“ wäre. Die von Bild zitierten Militärexperten kommen mit nichts als der Pflicht zu deutscher Macht in der Welt, vor der sie das Land versagen sehen: Ihr Deutschland entspricht nicht der Statur, die es sich schuldig ist.

Die Konsequenzen sind klar: Die Nation muss sich schleunigst dazu befähigen, im NATO-Bündnis mit ganz anderem deutschen Gewicht und eigenen Optionen Russland in die Schranken zu weisen, muss jederzeit den Ernstfall ins Auge fassen und darf das Kämpfen nie mehr anderen Nationen überlassen.

Während Deutschland in Kriegsfragen auf das Bündnis angewiesen bleibt, macht es den Wirtschaftskrieg, der aktuell so viele Schäden und Notlagen daheim bewirkt, ganz zur nationalen und europäischen Sache: Unsere Sanktionen werden Russland ruinieren! (Außenministerin Baerbock) Auf dem Feld der Wirtschaft rechnen deutsche Politiker ihrem Land die Übermacht über Putins Reich zu, die auf dem militärischen Feld für Deutschland allein außer Reichweite ist: Mitten in den Widrigkeiten der vom Wirtschaftskrieg verursachten Versorgungsprobleme trauen sie sich zu, die Abhängigkeit von russischen Lieferungen, die leider nicht sofort und nicht ganz ignoriert werden kann, in wenigen Jahren loszuwerden und umzukehren.

Das Volk, das für diesen Krieg mit vervielfachten Kosten für Wärme, Strom, Mobilität und allgemeiner Verarmung geradestehen muss, wird darüber aufgeklärt, dass seine Opfer nicht nur für die Nation nötig, sondern auch ganz gerecht sind. Es hat bisher nämlich von einem dummen und für Deutschland ehrlosen Tausch profitiert und sich an unechte Energiepreise gewöhnt: Bezahlt worden seien russisches Öl und Gas nicht nur mit Geld, sondern mit Abhängigkeit [1] und Nachgiebigkeit gegenüber dem Diktator im Kreml. Der Ausverkauf deutscher Souveränität zugunsten billiger Energie wird nun umso entschlossener beendet. Das nicht aushaltbare Preisniveau des Jahres 2022 ist sozusagen eine Rückkehr zur Normalität und der Preis für die Rückgewinnung nationaler Würde. An der dürfen sich stolze Patrioten erwärmen, sollte tatsächlich eintreten, was Alt-Bundespräsident Gauck in seiner bekannten Radikalität für eine Selbstverständlichkeit hält: Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Für die Freiheit, wohlgemerkt, des deutschen Staates, sich mit Machtkonkurrenten auf dem Globus anzulegen.

Die Selbstkritik deutscher Politiker im Namen vernachlässigter deutscher Macht schließt Kritik an den Bürgern ein; auch sie haben eine patriotische Selbstkritik nötig. Die Unzufriedenheit, die sich breitmacht, und der heiße Protestherbst, den verschiedene Gruppen ankündigen, zeugen davon, dass es daran fehlt: Die Halleschen Handwerker, die vom Kanzler fordern, die Sanktionspolitik gegen Russland aufzugeben, weil ihre Betriebe die Preissprünge bei allem und jedem nicht mehr aushalten und ihre Kundschaft wegen derselben Preissprünge sich ihre Dienste nicht mehr leisten kann, sodass sie vor dem Ruin stehen, denken an sich und nicht an Deutschlands Rolle in der Welt.

„Gespeist werden diese Ängste, wie etwa in dem Brief aus Halle, in dem Bundeskanzler Scholz vorgeworfen wird, Deutschland für die Ukraine zu opfern, von Egoismus, Selbstgenügsamkeit und einer frappierenden Blindheit für Entwicklungen jenseits der eigenen Lebenswelt.“ (Stefan Locke, FAZ, 26.8.22)

Das Verdikt zielt ebenso auf FDP-Vize Kubicki, der sich den Unzufriedenen mit der Forderung andient, die Regierung solle die Nord-Stream-2-Pipeline öffnen, damit Gas wieder billiger wird; und auf Die Linke, die die Tradition der Montagsdemonstrationen wieder aufleben lassen möchte und dabei ausdrücklich nicht den Wirtschaftskrieg, sondern nur seine unsozialen Folgen kritisch aufs Korn nimmt; und schließlich auf die Querdenker, die nach den Flüchtlingen und den Beschränkungen der Corona-Politik nun den Ukraine-Krieg als Gelegenheit zur Delegitimierung des Staates hernehmen, dessen Wirken sie nicht als Fürsorge für sich und den sie insgesamt nicht als den ihren anerkennen. Sie alle legen den geforderten Patriotismus nicht an den Tag. Ihnen macht die AfD ein – gar nicht willkommenes – Angebot.

Die AfD – Nein zum Krieg aus frustriertem Souveränitätswillen

Die Partei der besonders patriotischen Patrioten hofiert den Protest und präsentiert sich als Schutzmacht der in Nöte gebrachten Bürger.

„Die Ampel-Koalition verspielt mit ihrem Wirtschaftskrieg den Wohlstand der Deutschen... [Es folgt eine Aufzählung der gestiegenen Preise.] Diese exorbitanten Kosten werden unzählige Bürger in die Verarmung stürzen. Unser Land droht in eine Negativspirale zu geraten, Rezession und Massenarbeitslosigkeit stehen uns bevor... Die Folgen tragen die einfachen Bürger, die mit dem Ukraine-Krieg und den Russland-Sanktionen nichts zu schaffen haben... Die Alternative für Deutschland vertritt die Interessen der Bürger und fordert daher ein Ende des Wirtschaftskriegs gegen Russland. Unsere Kinder dürfen nicht für Habecks Wirtschaftskrieg frieren!“ (AfD-Vorsitzender Tino Chrupalla, 30.7.22)

Chrupalla und seine Leute lassen die Sprachregelung, dass alle Belastungen, die die Bürger jetzt zu tragen haben, direkte Folgen von Putins Krieg seien, nicht gelten. Sie weisen die Unvermeidlichkeit der deutschen Antwort auf den Einmarsch in die Ukraine, also die Alleinschuld der Russen an allen weiteren Konsequenzen zurück und bestehen darauf, dass die Bundesregierung und niemand sonst für die beklagten sozialen Schäden verantwortlich ist. Die radikalen Nationalisten erlauben es sich, die geforderte unbedingte Parteilichkeit für die deutsche Sache in diesem Krieg zu verweigern – aus dem einen, sehr patriotischen Grund: Weil sie ihn nicht für eine deutsche Sache halten. Deshalb würdigt Björn Höcke glatt die Ostermarschierer einer Grußbotschaft.

„Frieden schaffen ohne Waffen! Die Kriegsrhetorik von allen regierungsnahen Medien ist unerträglich geworden. Der Krieg in der Ukraine ist schrecklich. Aber er ist nicht unser Krieg.“ (Björn Höcke, Tweet zu den Ostermärschen vom 27.4.22)

Für Frieden eintreten ist eine gute Sache in einem Krieg, in dem es um deutsche Interessen nicht geht und deutscher Zugewinn nicht absehbar ist. Mit Friedensidealismus, da grenzt die AfD sich ab, hat das nichts zu tun: Sie kritisiert das deutsche Kriegsengagement, vor allem die forsche Kriegspropaganda der grünen Außenministerin:

„‚Wir akzeptieren nicht, wenn internationales Recht gebrochen wird und ein größerer Nachbar völkerrechtswidrig seinen kleineren Nachbarn überfällt – und das gilt natürlich auch für China‘, so Baerbock in einem Anfall unfassbaren Größenwahns. Doch anstatt mit solchen einseitigen Parteinahmen und provokativen Drohungen das Klima zu verschärfen, sollten Baerbock und die Bundesregierung verbal abrüsten und auf eine Vermittlerrolle unseres Landes setzen. Nicht aufgrund von linken Pazifismus-Träumereien, sondern aus der realpolitischen Einsicht in Deutschlands desaströse politische und militärische Lage. Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, uns als Nabel der Welt zu sehen und uns mit einer Supermacht nach der anderen anzulegen. Frau Baerbock und die Ampel-Koalition haben im eigenen Land genügend Baustellen, um die sie sich kümmern sollten, anstatt sich als Oberlehrer der ganzen Welt aufzuspielen.“ (AfD-Kompakt, Mitgliedermagazin, 5.8.22)

Die Partei rechts außen plädiert für Realismus in der globalen Macht- und Gewaltkonkurrenz, die ihr als solche selbstverständlich ist: Deutschland muss mit seinen unterentwickelten politischen und militärischen Potenzen haushalten und sich auf erreichbare deutsche Interessen konzentrieren. Die oppositionelle Auffassung der AfD, dass der Krieg in der Ukraine nicht unser Krieg ist und nicht – auch – für deutsche Interessen geführt wird, bezieht ihren ersten, stärksten Beleg aus dem Ton und Auftritt Baerbocks in der internationalen Arena: Wenn sie den Kriegseinsatz als moralische Pflicht der ganzen Welt propagiert, die russische Gegenseite als Reich des Bösen aus ihr ausschließt und damit auch Großmächten wie China Lektionen erteilt, dann dementiert sie im Verständnis der AfD selbst, dass es um deutsche Interessen geht, und zweitens zeigt der moralische Größenwahn, den die Partei in der Oberlehrerrolle erkennt, dass ein realistisch kalkulierter Einsatz deutscher Mittel nicht vorliegt.

„Die wertegeleitete Außenpolitik der Grünen verletzt deutsche Interessen. Deutschland wird nicht in der Ukraine verteidigt. Der Ukraine-Krieg ist nicht unser Krieg, deshalb müssen wir diesen Krieg auch nicht ‚gewinnen‘, sondern könnten als neutraler Vermittler auf dessen schnelle und friedliche Beendigung hinwirken. Die Bundesregierung darf aber nicht mit wirtschaftskriegerischen Handlungen die Verarmung der eigenen Bürger vorantreiben. Wir fordern eine interessengeleitete Politik zum Wohl der Bürger. Schluss mit dem Wirtschaftskrieg!“ (AfD-Vorsitzender Tino Chrupalla, 28.7.22)

Wenn Baerbock mit übernationalen Werten, dem Menschen- und Völkerrecht etc. den deutschen Kriegseinsatz rechtfertigt und mehr davon fordert, hören die Rechten nur, dass es um Höheres, Verpflichtendes gehen soll; „wertegeleitet“ gilt ihnen als das Gegenteil von „interessengeleitet“ und damit als Verrat am heiligen Egoismus der Nation. Sie argwöhnen, dass Baerbock, wenn sie so redet, wirklich etwas Höheres kennt als die Nation. Ihrer penetranten Anrufung der Werte und internationalen Prinzipien, ihrem Auftritt als Repräsentantin einer weltweiten Ordnungsmacht, die die Gefolgschaft anderer Staaten einklagt, entnimmt die AfD eine schädliche Selbstverpflichtung der Nation, damit die Preisgabe ihrer Freiheit, sich allein nach selbstdefinierten Interessen zu richten. Und zwar ausgerechnet in einem Fall ganz normaler Großmachtpolitik, in dem alle anderen Großmächte schlicht ihr Interesse verfolgen:

„‚Die USA tun es, China tut es und jetzt tut es auch Russland, nämlich seine Pufferzone sichern. Deutschland muss aufhören, die Interessenpolitik der USA zu betreiben und muss beginnen, Russland an Europa heranzuführen. Nur dann ist dauerhafter Frieden möglich.“ (Höcke auf Twitter, 22.2.22)

Die Selbstverpflichtung auf höhere Werte hat da nur die eine Bedeutung: die Selbstunterwerfung unter andere Mächte. Deutschland kann nicht souverän sein, solange es seine weltpolitische Rolle im NATO-Bündnis spielt, anstatt sich frei zur Konkurrenz der Supermächte um Einflusszonen und Sicherheitsinteressen zu stellen. Höcke und vorher schon Chrupalla stellen sich vor, dass sich auch aus den völlig unzureichenden deutschen Machtmitteln eine souveränere Rolle des Landes in der gegenwärtigen Kriegslage herauswirtschaften ließe: die des Vermittlers zwischen den verfeindeten Supermächten und der Ukraine, um die zu einem sowohl schnellen wie dauerhaften Frieden hinzubugsieren. Das ist dann kein „Anfall unfassbaren Größenwahns“, wie sie ihn Baerbock attestieren.

In der Hauptsache läuft der Aufruf zu interessenpolitischem Realismus auf den Vorwurf an die regierenden „Altparteien“ hinaus, dem Vaterland die Mittel dafür vorenthalten zu haben. Sie haben die Augen vor der Notwendigkeit nationaler Kriegsbereitschaft verschlossen und die Entwicklung entsprechender Fähigkeiten vernachlässigt.

„In Europa herrscht Krieg und die russische Staatsführung trägt dafür die Verantwortung. Für uns Deutsche ist das ein harter Aufprall auf den Boden der Realität. Deutschland muss jetzt, wie immer wieder von uns gefordert, seine Verteidigungspolitik auf Bedrohungen dieser Art gänzlich neu ausrichten.“ (Rüdiger Lucassen, verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion am 24.2.22) Oder Alice Weidel: „Eine heruntergewirtschaftete Armee und eine marginalisierte Rüstungsindustrie – das ist das Erbe von 16 Jahren Angela Merkel!“

Deutschland ist nicht nur nicht souverän, es tut nicht das Nötige, um es zu werden; nicht so sehr gegenüber dem großen Russland – das traut man sich sogar zu, an Europa heranzuführen. Anders als der Mainstream leiden die Rechten eher an einem Mangel an deutscher Souveränität gegenüber den USA, deren Führung das Land nicht entkommt.

*

„Wer ohne zu müssen jetzt Wucherpreise fürs Gas zahlt, weil unsere Regierung meint, die Interessen der USA statt die Interessen des deutschen Volks verteidigen zu müssen, dem ist nicht mehr zu helfen.“ (Hans-Thomas Tillschneider, stellvertretender Vorsitzender der AfD-Landtagsfraktion Bayern)

Das ist also das Angebot, das die AfD den Unzufriedenen im Land macht, die an den Folgen des Wirtschaftskriegs leiden: Sie dürfen ihre Verarmung auf eine viel zu wenig national-egoistische Politik ihrer Regierung zurückführen. Ohne Antiamerikanismus gelingt der AfD die Beschwörung geschädigter Interessen des deutschen Volkes nicht. Dass Anti-Amerikanismus kein Anti-Imperialismus ist, versteht sich für die Parteiführung von selbst. Beim Bezahlen von Wucherpreisen für Lebensnotwendigkeiten kommt es ganz darauf an, für wen es sich politisch lohnt.

[1] Billig konnte das Gas aber nur wirken, weil Politik und Wirtschaft ... die aus der Abhängigkeit Deutschlands resultierende Risikoprämie einfach weiter mit null veranschlagten, obwohl Deutschland ... schon einmal schmerzlich die Kosten von Abhängigkeiten in der Energie erfahren hatte. („So teuer ist die Abhängigkeit von Russland“, Gerald Braunberger, FAZ, 24.6.22)