Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die Massenproteste in der Türkei und Brasilien bekommen überwiegend gute Noten vom deutschen Demonstrations-TÜV

In der Türkei gehen anlässlich der Umwandlung des Gezi-Parks in eine Einkaufszone Hunderttausende gegen Erdogan auf die Straße, in Brasilien werden die Erhöhung von Busfahrpreisen in Rio und die Milliardenausgaben für die Fußball-Weltmeisterschaft zum Auslöser von Massenprotesten. Die deutsche Presse hat viel Verständnis für die Demonstranten und wenig für den Auftritt der Polizei. Dass Journalisten im Ausland Aufruhr entdecken, wie sie ihn mögen, mag im Fall der Türkei mit deutschen Vorbehalten gegen die dortige Regierung zu tun haben, für den brasilianischen Fall gilt das sicher nicht. Die Presseleute selbst begründen ihre Parteinahme auf journalistische Weise, nämlich indem sie einfach berichten, was sie dort Sympathisches sehen – und damit definieren sie dann schon eindeutig, wie Protest auszusehen hat, um in ihren Augen legitim zu sein und sich eine gute Presse zu verdienen.

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Die Massenproteste in der Türkei und Brasilien bekommen überwiegend gute Noten vom deutschen Demonstrations-TÜV

In der Türkei gehen anlässlich der Umwandlung des Gezi-Parks in eine Einkaufszone Hunderttausende gegen Erdogan auf die Straße, in Brasilien werden die Erhöhung von Busfahrpreisen in Rio und die Milliardenausgaben für die Fußball-Weltmeisterschaft zum Auslöser von Massenprotesten. Die deutsche Presse hat viel Verständnis für die Demonstranten und wenig für den Auftritt der Polizei. Dass Journalisten im Ausland Aufruhr entdecken, wie sie ihn mögen, mag im Fall der Türkei mit deutschen Vorbehalten gegen die dortige Regierung zu tun haben, für den brasilianischen Fall gilt das sicher nicht. Die Presseleute selbst begründen ihre Parteinahme auf journalistische Weise, nämlich indem sie einfach berichten, was sie dort Sympathisches sehen – und damit definieren sie dann schon eindeutig, wie Protest auszusehen hat, um in ihren Augen legitim zu sein und sich eine gute Presse zu verdienen.

1. Die Teilnehmer sind „in der Mehrheit friedlich“.

Noch bevor sie sich mit irgendeiner Forderung befassen, prüfen Journalisten, wie es die Demonstranten mit dem Respekt vor dem staatlichen Gewaltmonopol halten. Mit dem Verständnis der Presse dürfen nur Demonstranten rechnen, die das Ordnungsmonopol einer „demokratisch gewählten“ Regierung respektieren, also anerkennen, dass politische Veränderungen nicht in ihre eigene Kompetenz fallen. Sie versteht, ja schätzt es als demokratisches Engagement, wenn Leute sich massenhaft und ärgerlich versammeln – was diese nur tun, weil sie sich mit dem verordneten Gang der Dinge nicht mehr abfinden und etwas dagegen tun wollen. Das Verständnis endet aber sofort, sobald die bewegten Massen darauf abzielen, wirklich etwas durchzusetzen, und sich nicht darauf beschränken, Forderungen und Appelle an die Macht zu richten, die ihnen die Chose eingebrockt hat. Dem Engagement für die Demokratie, auf die sie den Krawall reduzieren, gilt ihre Solidarität, nicht irgendwelchen Zielen, die die Protestierenden erreichen wollen.

Das methodische Gütesiegel „Gewaltfreiheit“ ist sehr demokratisch: Es zensiert die Ziele des Protests nicht und beurteilt sie auch sonst in keiner Weise. Dieses Siegel zu erteilen ist freilich Ermessenssache: SZ, FAZ und Co berichten ja durchaus, dass in beiden Ländern Molotow-Cocktails und Steine geflogen sind. In diesen Fällen sind die Zeitungen aber so frei, das als Tat einer gewalttätigen Minderheit zu verbuchen, die den friedlichen Protest der Mehrheit nicht diskreditieren kann. Die umgekehrte Tour, die friedliche Mehrheit unter eine Minderheit von „Chaoten“ zu subsumieren und so eine ganze Demonstration als „gewalttätig“ zu verurteilen, beherrscht die Presse bei Gelegenheit schon auch. Also fällt die Entscheidung, was charakteristisch ist für den Aufruhr und was Randerscheinung, dann eben doch entlang der Sympathie fürs Demo-Anliegen – und da haben die deutschen Berichterstatter Positives recherchiert.

2. In der Türkei demonstrieren junge Menschen aus der urbanen Mittelschicht, in Brasilien stammt die „Mehrheit dieser Rebellen keineswegs aus den Favelas, sondern aus der Mittelschicht.“

Es geht darum, dass Brasiliens Mittelschicht morgens und abends in Megastaus ihre Gesundheit ruiniert, weil das Land seit Jahrzehnten aufs Autofahren fixiert ist und der öffentliche Nahverkehr nicht funktioniert. Es geht darum, dass der wirtschaftliche Erfolg die Lebensqualität nicht verbessert. Es geht darum, dass der Gigant Brasilien an sich selbst erstickt. (SZ, 20.6.13)

In beiden Ländern protestiert nicht die Unterschicht, für deren Interessen und Krawall sich von vornherein jedes Verständnis verbietet. Dass der Pöbel immer etwas zu pöbeln findet, diskreditiert dessen Unzufriedenheit komplett. So viel Absage an Protest von unten enthält die Hochachtung vor diesen Demonstranten allemal: Hier protestieren Leute, die Ansprüche stellen können. Brasilianer weisen ihre Regierung darauf hin, dass sie in blinder Sorge ums Wachstum Lebensqualität und Gesundheit der Fleißigen beschädigt, die jeden Tag zur Arbeit fahren. Mit verfehlter Verkehrspolitik und einem mangelhaften öffentlichen Transportsystemen missachtet sie die Bedürfnisse der Stützen der Gesellschaft und Träger des nationalen Wachstums. Deren Unmut hätten die Regierungen als Sorge um die Zukunft der Nation zu verstehen und mit Reformen statt mit Wasserwerfern zu beantworten.

Denn Feinde der Ordnung sind diese Protestler, dem kundigen Urteil deutscher Journalisten zufolge, keinesfalls. Das erkennen sie auch an Folgendem:

3. Die Protestbewegung hat kein politisches Programm.

Über Nacht fand sich ein Potpourri von Themen, das den Söhnen und Töchtern Brasiliens missfällt … Es ist ein diffuser Mix der Unzufriedenheit, mit Fahnen Palästinas und T-Shirts, die Che Guevara zeigen, ein paar linke Aktivisten und Gewerkschaften sind auch dabei. (SZ, 19.6.)

Der Berichterstatter sieht Leute am Werk, die mit Vielem unzufrieden sind, ihre Unzufriedenheit aber nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen und keine gemeinsamen und weiterreichenden politischen Ziele verfolgen. „Linke Aktivisten und Gewerkschafter“, denen am ehesten zuzutrauen wäre, den diffusen Unmut auf die Höhe eines politischen Programms zu heben, sind zwar „auch dabei“, haben aber beruhigend wenig Einfluss auf das Gros der Demonstranten und gehen in der Masse unter. Unbestimmte Unzufriedenheit ohne klare Ziele – die sichere Garantie, dass aus solchem Aufbegehren nichts folgt – macht dem SZ-Autor Aufruhr sympathisch.

Ein FAZ-Autor attestiert den Protestlern durchaus ein politisches Ziel – und zwar ein sehr respektables:

4. Ein Protest für echte Volksherrschaft ...

Ebenso wie dort (in der Türkei und Spanien) richtet sich der Volkszorn in Brasilien … ganz allgemein gegen eine Politikerriege, die das Land von jeher praktisch ohne Kontakt zur Bevölkerung regiert hat und den Erfolg ihrer Arbeit vor allem daran misst, inwieweit sie ihre persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen vermag. (FAZ, 19.6.)

Die FAZ sieht in den Demonstranten das gute Volk, das von den Trägern der Macht nur zwei Sachen verlangt: Sie sollen volksnah und sauber regieren. Für gute Herrschaft zu demonstrieren, kann keine Sünde sein.

Die Frankfurter Rundschau erkennt in den Demonstranten die von ihr seit langem vermissten Vorkämpfer eines zeitgemäßen türkischen Nationalismus. Wo die islamische Regierungspartei mit religiösen Werten und Sitten die Gesellschaft spaltet, verkörpert die Protestbewegung, bei der Leute jeden Standes und jeder Herkunft mitmachen, die vollendete staatsbürgerliche Abstraktion, die man in Frankfurt für vernünftig hält:

Für die Türkei darf man hoffen, dass hier der Kern einer entstehenden Zivilgesellschaft sichtbar geworden ist, die sich nicht an religiösen, kulturellen oder ideologischen Unterscheidungen orientiert, sondern am Bedürfnis nach Freiheit und Recht. (fr-online, 18.6.)

Wahre Staatsbürger sortieren und diskriminieren sich nicht mehr nach Glauben, Volkstum und Weltanschauung, sondern nur mehr nach der Staatsangehörigkeit. Und sie verbindet auch nichts als die Zugehörigkeit zum gleichen Staat, die Unterordnung unter sein Recht und die Wahrnehmung der Erlaubnisse, die er erteilt. Protestierende, die sich jenseits von allem, was ihr individuelles Denken und Wollen ausmacht, in dieser Unterordnung verbunden fühlen, erfüllen das oberste Kriterium der journalistischen Sympathie. Sie fordern nichts als gute Regenten

... und überhaupt politische Verhältnisse wie bei „uns“.