L’italianità
Von der südländischen Überlebenskunst zur Bildung eines sauberen Volkswillens

Die politischen Veränderungen Italiens erheischen auch ein neues Sich-Einstellen seiner Bevölkerung darauf. Sie kommt dem nach: Mit der Forderung nach garantiert sauberer Politik und nach ihrer gehörigen Berücksichtigung als nationale Ressource, die selbstredend ihren Beitrag zur Sanierung der Betriebe und des Landes als solchem zu leisten bereit ist.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

L’italianità
Von der südländischen Überlebenskunst zur Bildung eines sauberen Volkswillens

Die „politische Klasse“ Italiens konnte sich jahrzehntelang auf ein Volk verlassen, das wegen seiner Fähigkeit, sich jeder noch so mißlichen Lebenslage anzupassen und mit ziemlich widrigen Umständen zurechtzukommen, einen guten Ruf genoß. Das Lob, das diesem Volk zuteil wurde, galt dem „Geschick“, mit den Lebensverhältnissen fertig zu werden, welche ihm sein Staat und die italienische „Wirtschaft“ aufherrschten. Der „qualunquismo“ – die verächtliche Distanz und Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Affären – und eine gewisse „Lebenskunst“ galten als Markenzeichen dieses Menschenschlags, der es versteht, sich als Staatsbürger wie im privaten Leben seine Freiheit – des Meinens und praktischen Improvisierens – zu bewahren. Daß mit dem Kompliment an diese Überlebenskunst schlicht eine Haltung gefeiert wurde, die die Gewohnheit der Unterwerfung unter Staat und Kapital zur souveränen, „unabhängigen“ Lebensgestaltung verklärt, machte niemandem etwas aus. Immerhin ersparte die illusionslose Verachtung der wenig erbaulichen Leistungen der Politiker „dem“ Italiener einiges. Davon überzeugt, daß er von denen „da oben“ sowieso nichts zu erwarten habe, brauchte er auch nicht den Bürgersinn an den Tag zu legen, der sich mit dem Glauben an den Nutzen von Recht und Ordnung einstellt; die einschlägigen Tugenden, die von der Einhaltung gültiger Vorschriften bis zur Denunziation minder korrekter Mitbürger reichen, standen in Italien nicht gerade in voller Blüte. Ebensowenig üblich war es allerdings, sich mit den Gründen für die Gleichgültigkeit der Regierenden gegenüber den eigenen Lebensbedingungen auseinanderzusetzen. Den meisten qualunquisti genügte es zu wissen, daß sie in den Rechnungen der hohen Herren sowieso nicht vorkommen – worauf diese Rechnungen gemünzt waren und welchen Interessen sie gewidmet waren, war da nicht mehr so wichtig.

Ganz ohne Illusion ist der „assenteismo“ bezüglich der Politik, die Weigerung, unter den konkurrierenden Parteien und den machtbeflissenen Persönlichkeiten Unterschiede wahrzunehmen, also doch nicht abgegangen. Das Abwinken gegenüber dem Ansinnen, als „mündiger Bürger“ die Sorgen der politischen Elite um die Ausübung und Aufteilung der Macht zur eigenen Sache zu machen, sich mit ihnen zu identifizieren, ging mit dem stolzen Glauben Hand in Hand, man hätte sich damit auch der Benützung entzogen – „der Italiener“ bildete sich schon ein, daß er mit seiner Weigerung, die Rolle des aktiven Staatsbürgers zu übernehmen, seiner Funktionalisierung für die Politik entgangen sei. Er wollte nämlich kapiert haben, daß es sich nicht lohnt, sich für das politische Geschäft herzugeben, das mit seinen Interessen nichts zu tun hat. Dieser „Durchblick“ ließ es ihm geraten erscheinen, sein Talent und Geschick, seine ganze Energie auf die Organisation seines eigenen Überlebens zu verwenden. So ist ihm der Zwang zum Zurechtkommen mit den ihm auferlegten Verhältnissen schließlich doch wie das Gegenteil vorgekommen – als die Möglichkeit, diese Verhältnisse für sein individuelles Fortkommen auszunutzen.

Auf diese Weise, ganz ohne konstruktives Mitfiebern bei den Affären der Elite, haben die Bürger Italiens jenen für einen Untertanen unerläßlichen Beitrag zur Ausübung der politischen Macht abgeliefert – sie haben sich in das Geschäft der Führung der Nation nicht eingemischt. Und für die Bewältigung ihrer eigenen Geschäfte hatten sie aufgrund der Lebensbedingungen, die ihnen das Kapital und der Staat, den sie nicht als den „ihren“ schätzten, verabreichten, wahrlich jede Menge Geschick und Überlebenskunst nötig.

Und das nicht nur im Süden, wo außer jeglichen noch so elementaren „Leistungen“ eines Sozialstaates auch das Kapital fehlte, das ihre Arbeitskraft hätte anwenden können. Dort unten brachte die politische Ökonomie Italiens eben die geballten Schönheiten des Landes hervor. „Zurechtkommen“ mit den „gegebenen Verhältnissen“ hieß nicht selten: für das hohe Gut „Arbeitsplatz“ einen Jahreslohn abtreten, für irgendeine Gelegenheitsarbeit seine Wahlstimme verkaufen, und die vom Elend gebotene Suche nach Notlösungen schloß ein ansehnliches Maß an Kriminalität, auch organisierter, ein. Mit der angeblichen Fähigkeit, sich den Regeln zu entziehen und die beschränkende Ordnung geschickt zu überlisten, war es nie weit her. Eher schon waren die guten Leute massenhaft darauf angewiesen, sich den speziellen Regeln der Machtausübung zur Verfügung zu stellen, die dort gelten, wo die öffentliche Gewalt und ihre Institutionen Objekt und Instrument privater Cliquen sind, wo „clientelismo“ und „favoritismo“ üblich sind und alles ein bißchen von der Mafia abhängt. Daß kleine Betrügereien und die Beteiligung an Verbrechen größeren Stils zur Reproduktion unabdingbar sind, hieß im übrigen nie, daß der Lebensunterhalt auch dauerhaft zu sichern ging. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, daß die Familie, die in den Armenhäusern des Landes aufgrund des in ihr gepflegten Zusammenhalts und der Kunst des gemeinsamen Sich-Einteilens das Aushalten der Not ermöglichte, auch nicht mehr das ist, was sie einmal war. Das spärliche Einkommen einzelner Mitglieder ist manchem zu schade für das Teilen, und ernste Streitigkeiten unter Kindern um die minimale Alters- oder Invalidenrente der Alten sind Bestandteil des Überlebenskampfes geworden…

Leider hat auch das Wirken einer starken Kommunistischen Partei an den sattsam bekannten italienischen Verhältnissen nichts verändert. Der in ihr organisierte „Bürgerwille“, der einmal die Sache der Arbeiterklasse durchkämpfen wollte und dieses Vorhaben über die Jahre zunehmend hinter eine Überwindung des „malgoverno“ zurückgestellt hat, war alles andere als ein Bestandteil des landesüblichen qualunquismo. Aber weder aus dem alten Programm des Kampfes um einen italienischen Sozialismus noch aus der Übernahme der „Verantwortung“ für ein soziales Italien ist etwas geworden – die bürgerlichen, der NATO ergebenen wie auf die Pfründe des Staates erpichten Parteien haben den PCI von der Macht ferngehalten. Deswegen ist dessen Leistung immer mehr auf einen konstruktiven Beitrag zum Überleben auf italienisch heruntergekommen. Mit den regional- und kommunalpolitischen Errungenschaften, den Genossenschaftsbetrieben und der regen Festkultur, aber auch im gewöhnlichen Leben der „sezioni“ bot diese Partei nicht nur den staatskritischen Gemütern eine Heimat; sie organisierte auch ein Stück sozialer Betreuung, welche das staatsoffizielle Italien für überflüssig befand. Ihre Angebote ergänzten die anderen „sagre“ und „circoli“, in denen arme Leute den ihnen gemäßen bescheidenen Vergnügungen nachgingen, ansonsten aber wie ihre unpolitischen Landsleute ihr selbstbewußtes Dasein als abhängige Variable von Staat und Kapital fristeten, die auf ihre „Lebensqualität“ herzlich wenig Wert legten.

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Mit der Zersetzung der politischen Ordnung, wie sie sich in den oberen Etagen des Staatsdienstes abspielt, ist den Italienern anscheinend die Fähigkeit abhanden gekommen, die Zumutungen der Politik zu ertragen und mit ihrem berühmten Improvisationstalent das Beste daraus zu machen. Sie haben Grenzen des Erträglichen entdeckt und kehren mit einem Male die andere Seite des – ordentlichen – Untertanen heraus. Einerseits wissen sie plötzlich zu unterscheiden zwischen Italienern, denen gewisse Rechte als Bürger zustehen, und solchen, die ihre Rechte verwirkt haben; dafür können sie sogar geographische Trennungslinien angeben. Andererseits treten sie jetzt allgemein für das Recht auf eine gescheite Nation und deren ordentliches Funktionieren ein.

Im Norden ist eine Partei auf den Plan getreten, die den bislang leidlich gezähmten Rassismus gegen die Bewohner des Südens mobilisiert – und schon war das Volk bereit, eine rebellische Kritik vom Standpunkt des „produktiven und tüchtigen Italien“ zu veranstalten. Im Norden laufen heute hochanständige Bürger herum, die immer brav gearbeitet und Steuern bezahlt haben, die stets ihren Pflichten nachgekommen sind. Diese Leute haben sich das Recht erworben, nicht nur gegen Politiker zu protestieren, die Milliarden in ihre Taschen gewirtschaftet haben, ohne etwas für den Staat und die Gesellschaft zu leisten; sie erheben sich auch gegen alle Gruppen in der Nation, die sich ungestraft und auf Kosten des „lavurà“ wie Parasiten schadlos halten, die ungerechtfertigte Privilegien genießen. Sie berufen sich sehr stolz auf die herrschende Gerechtigkeit, die das Geben und Nehmen im Leben arbeitender Leute bestimmt, haben nichts daran auszusetzen, daß man dem Kapital seine Arbeit abliefert und dafür eine Lohntüte erhält; auf diesem Gebiet ist für sie keine Rechnung offen – daß sie sich im Rahmen der kapitalistischen Geschäftsordnung bewegt haben und ihre Dienste zur Verfügung stellen, wie immer sie benötigt werden, belastet sie offenbar nicht. Sie leiten daraus sogar das Verdienst ab, Erhebliches für die Allgemeinheit zu leisten, so daß es ihnen zusteht, mit ihresgleichen ins Gericht zu gehen. Sie bestreiten denen weiter unten im Lande allen Ernstes die Qualifikation, in einem erneuerten Staat Italien gleichberechtigt dabei zu sein. Der Süden und seine Einwohner sind für solche Nordlichter nicht etwa durch die objektiven Verhältnisse, die italienisches Regieren und Wirtschaften ihnen auferlegen, zu Ineffizienz und Verbrechen verdammt und auf „Hilfen“ aller Art angewiesen – dergleichen kommt vielmehr von Natur und ist die Folge einer verachtenswerten Mentalität. Gegenüber den Ärmsten wird daher der Vorwurf des „assistenzialismo“ erhoben und Bestrafung gefordert – daß ihnen keine Teilhabe an der Macht des neuen Gemeinwesens zusteht, versteht sich von selbst. Die dafür nötige Kompetenz gibt es nur im Norden. Mit „Begriffen“ wie „efficienza“ und „produttività“, die Unternehmern und Arbeitern das große Verdienst zusprechen, einen Beitrag zum Funktionieren des „Unternehmens Italien“ zu leisten – in dieser Kooperative haben Klassenunterschiede und -gegensätze keinen Platz mehr –, wird das Land sortiert. Die Verteilung des Reichtums und seiner Produktion auf dem Staatsgebiet liefert den Maßstab für eine gründliche Einteilung der Italiener in Menschen erster und zweiter Klasse.

Die Führer der neuen Bewegung und ihre Anhänger beurteilen sich selbst und die anderen konsequent nach der Funktion, die sie sich für das Ganze beilegen und bei ihren Gegnern vermissen. Sie halten sich nicht groß mit überflüssigen Differenzierungen auf; Politiker, Kapitalisten, Arbeiter etc. werden einfach daran gemessen, ob sie ihre Pflicht erfüllen. Und da es bei denen im Süden daran hapert, kommen Millionen Hungerleider nicht nur in den Genuß eines Urteils, das ihnen ihre Unbrauchbarkeit für Staat und Kapital zur Last legt, als wäre sie ihre Eigenschaft; daß sie in ihrer Not überhaupt noch leben, verdanken sie einem völlig unverdienten „assistenzialismo“ – und weil die korrupten Politiker, die da unten das Staatsgeld verschwenden, genauso sind, landen die minderbemittelten Massen schließlich in derselben Kategorie wie die Herren in Nadelstreifen, die sich um die Pflege der politischen Macht so wenig Verdienste erworben haben.

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Der Süden hat auf diesen Fanatismus Antworten parat, die politisierten Bürgern einfallen, die sich selbst auf ihre Verantwortung für die Nation festlegen lassen. Fast schon verlegen übernimmt die Volksmeinung die Sichtweise der Kritiker aus dem Norden. Ein guter Teil der Schuld für den ökonomischen Niedergang des Landes wird eingestanden, als hätten die Fürsprecher dieser Region auch noch nichts davon gehört, daß manche die ökonomische und politische Macht im Lande ausgeübt haben, während die Mehrheit sie nur zu spüren bekam. Zur Verteidigung werden dann alle möglichen Rechnungen aufgetischt, die gewissermaßen wie mildernde Umstände geltend gemacht werden und darauf zielen, die „Bestrafung“ in Grenzen zu halten. Sie bezeugen alle, wie sehr das „neue Denken“ auch bei denen Einzug gehalten hat, die zur Zielscheibe eines recht radikalen Rassismus ausersehen sind: Auch „der Norden“ muß sich manches vorwerfen lassen, z.B. die bekannt gewordene Unsitte der Steuerhinterziehung, die auch nicht gering ausgefallen ist; „im Norden“ hat man sich die kräftigen Zinsen an Land gezogen, die der Staat den Inhabern seiner Papiere gezahlt hat; außerdem hat „der Norden“ nicht schlecht am Absatzmarkt des Südens verdient, nicht zuletzt durch die Kaufkraft, die über den „assistenzialismo“ geschaffen wurde; und die Arbeitskräfte sind ebenfalls für den industriellen Aufschwung da oben zur Verfügung gestellt worden. Dieser Dienst „des Südens“ ist ihm schlecht entgolten worden – die Industriepolitik war nämlich einseitig auf die Förderung „des Nordens“ ausgerichtet. Schließlich gibt man aus der Warte der inkriminierten Regionen auch noch zu bedenken, daß eine Auseinandersetzung um Versäumnisse und berechtigte Interessen im Land immer im Interesse der ganzen Nation geführt werden muß. Nicht einmal der unverblümte Rassismus, mit dem sie täglich konfrontiert und von „connazionali“ aus der nationalen Heimat verstoßen werden, führt sie zur Absage an das Gemeinwesen.

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Damit von der Welle der staatstragenden Vernunft auch garantiert niemand verschont bleibt, hat sich die alte Linke gründlich erneuert. Die präsentiert sich als die „Terza Italia“ und glänzt mit dem Angebot an ehemalige Anhänger des Kampfes um ein sozialistisches Italien, jetzt solidarisch zusammenzustehen und buchstäblich alles der Sache der Nation, um deren Rettung es geht, unterzuordnen. Leider mit Erfolg – Leute, die bislang von einer Anpassung an die Interessen von Staat und Kapital nichts wissen wollten, wählen den reformierten PDS, als wollten sie in Anknüpfung an ihre alte Beschimpfung des „malgoverno“ alle Einwände gegen das System vergessen machen. Sie legen Wert auf die politische Reife, die sie gewonnen haben, halten zwar nach wie vor alle möglichen Arten des Protests für gerechtfertigt, vor allem die legitime Beschwerde über die mißratene „classe politica“, von der man sich und Italien regieren lassen muß – aber nur, um den Dienst aller an der Nation auszurufen, den ihre Partei zu organisieren bereit ist. Die Gefahr, die diese Demokraten kennen und kennen wollen, ist immer dieselbe: Weil Italien von lauter partikularen Interessen zerrissen und heruntergebracht worden ist – so ihre „Analyse“ des Staatsnotstandes –, gilt es diesem Übel ein Ende zu bereiten. Deswegen sind die verschiedensten Arten und Gründe der Unzufriedenheit im Lande, nachdem sie von der geläuterten „sinistra“ mit Verständnis bedacht worden sind, nicht Gegenstand der Betreuung. Der PDS und sein politisierter Anhang weisen noch die bescheidensten Lohnforderungen ebenso zurück wie eine Steuerentlastung, die große Unternehmer oder kleine Handwerker verlangen; und auch der Rassismus des Nordens wird von ihnen strikt abgelehnt, und zwar aus demselben Grund wie die disparaten Anträge, die von Organisationen und Gruppen aller Art mehr oder minder kämpferisch vorgebracht werden. Wer immer dem um seine Runderneuerung ringenden italienischen Staat mit seinen Gruppeninteressen kommt, setzt sich ins Unrecht. Er macht sich des „corporativismo“ schuldig, setzt den zerstörerischen Egoismus von gestern fort und sägt mit seinem Egoismus an der gemeinsamen Sache aller Italiener. Der Anspruch, der gegenüber den Politikern besteht und den der PDS zu erfüllen gewillt ist, erschöpft sich in dieser Verwaltung des Allgemeinwohls, zu dem auch für die Ex-Kommunisten ausdrücklich die „Marktwirtschaft“ zählt – davon, daß in der das Sonderinteresse des Kapitals zur nationalen Hauptsache der Republik erklärt wird, will dieser Haufen nichts mehr wissen.

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Die nun schon zwei Jahre währenden Enthüllungen über die innige Zusammenarbeit zwischen Politikern, Parteien, Geschäftswelt, Mafia etc. etc., die fast ausnahmslos die gesamte Elite der italienischen Nation treffen, sind offenbar für das Volk nicht nur ein unterhaltsames Schauspiel, das sich bei Kaffee und Zeitung, Fernsehen und Wein genüßlich verfolgen läßt, das womöglich gar zu Einsichten über das System und zur Bestätigung alter Einwände gegen es führt. Die moralische Wirkung, der „Lerneffekt“ ist ungeheuer: Die Italiener wollen dem Theater eine einzige Lehre entnehmen, nämlich die von den Gründen des Mißerfolgs ihrer Nation, deren Gesundheit ihnen ab sofort eine Herzensangelegenheit ist. Auf die zum privaten Vorteil benutzte politische Macht, die von ehrenwerten Staatsmännern und großen Geschäftsleuten nach allen Regeln der Kunst „mißbraucht“ worden ist, lassen sie plötzlich nichts mehr kommen. Sie fordern unter Anleitung alter wie neuer Hauptdarsteller den ordentlichen Gebrauch der öffentlichen Gewalt, von dem sie sich die Sanierung Italiens erwarten, das wegen seines Verfalls seinen Bürgern das Leben so schwer macht. Auf den gar nicht jedermann offenstehenden Kunstgriff von demokratischen onorevoli, gutorganisierten Mafiosi und finanzkräftigen Bossen, sich der politischen Herrschaft über den großen Rest des italienischen Personals zu bedienen, haben die qualunquisti und Moralwachteln von gestern sich einen ziemlich allgemeinen Reim gemacht: Alle „connazionali“ haben von einem Mißbrauch der Institutionen für ihre besonderen Interessen Abstand zu nehmen; stattdessen besteht ihre heutige Pflicht darin, auf eine ordentliche, unabhängige, nur der Sache Italiens verpflichtete politische Macht zu dringen. Diese Lehre kommt wie der überholte qualunquismo ohne nähere Befassung mit dem Zusammenhang zwischen Politik, Geschäft und den Lebensverhältnissen der gewöhnlichen Lohnabhängigen aus. Sie erfordert lediglich die Bereitschaft, als Wähler zur Ermächtigung der besten Politiker im Lande beizutragen. Dazu braucht man nur jenen politischen Sachverstand, durch den sich die Regierten den Kopf der Regierung aufsetzen, und den neuen Herren das Vertrauen zu schenken, die der eigenen Vorstellung von einem Buon Governo am eindrucksvollsten auf die Sprünge helfen. Eine wirklich souveräne Staatsmacht, die sich von keinerlei Zugeständnissen an irgendwelche partikularen Interessen mehr einschränken läßt – das ist der neue italienische Traum, den die gewandelten alten und die neu erstandenen Aspiranten auf die Macht bedienen. Ihr Programm ist das Allgemeinwohl, unter dem sich jeder Italiener eine seinen Lebensbedürfnissen entsprechende Führung der Nation vorstellen darf, die sich garantiert für Interessen anderer nicht hergibt. Der bedingungslose Anspruch auf saubere Politik ist die Grundausstattung des neuen italienischen Bürgersinns, der sich aus dem verletzten Gerechtigkeitsempfinden gebildet hat.

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An der Pflege dieses Volkswillens machen sich alle zu schaffen, die sich um „Verantwortung“ im erneuerten Italien und für es bemühen. Der Erfolg in der Mobilisierung des Volkswillens ist unübersehbar – die Argumente, in denen vom Italiener nichts anderes mehr übrigbleibt als: in seinem Staat leben, also auch für ihn und sein Funktionieren geradestehen, haben ihren Siegeszug angetreten. Sie haben sich in Kommunalwahlen prächtig bewährt – als Magnet für Stimmen, durch welche die „alten Kräfte“ ziemlich abserviert wurden. Denn ihnen ist nun einmal das Vertrauen entzogen, weil jeder Fall, in dem die magistratura einen Repräsentanten der letzten Jahre überführt, dafür spricht, diese Typen aus dem Verkehr zu ziehen. Der Versuch, auf den Bedarf Italiens nach einem „centro“ hinzuweisen, das die Kontinuität der Staatsmacht gegen extreme und zerstörerische Kräfte sichert, erweist sich als vergeblich. Die Reste der Altparteien mögen sich noch so staatstragend präsentieren, vom Verdacht, daß sie nur ihre Macht retten wollen, kommen sie nicht los. Und um den Titel, die „neue Mitte“ zu verkörpern, streiten sich längst die anderen. Daß sie damit landen, liegt sicherlich nicht an der Attraktivität des „Wahlversprechens“, als „Mitte“ für alle guten Italiener dem Lande vorzustehen.

Sicher ist der „Verlust der Ideologien“ und Werte, mit denen sich bislang die Parteien auch in Italien zu unterscheiden suchten, kein Schaden, vor dem man die minderbemittelten Bürger des Landes bewahren müßte. Nur ist der Ersatz für die alten „Ideen“ und Titel, die mit der Beschlagnahme des Staates für partikulare politische Projekte verbunden werden, also schon wieder das Gegenteil vom Dienst am Gemeinwesen pur befürchten lassen, so lustig nicht. Wenn das Verhältnis zwischen Staat und Bürger ernsthaft als eines zwischen Leistungen und ihrem Preis vorstellig gemacht wird, wenn der Untertan als „contribuente“ und „utente“ seine Pflichten und Rechte maßgerecht vorbuchstabiert bekommt, dann steht dem Wähler sicher keine Zuwendung von seiten des öffentlichen Dienstes ins Haus. Vielmehr darf er sich entschieden für die Gesetze des freien Marktes entscheiden und gegen den verruchten „assistenzialismo“, der überall entdeckt wird, obwohl die Armut von Millionen Italienern eher die Abwesenheit „sozialer“ Betreuung bezeugt. Oder er nimmt die Anklage gegen Mißwirtschaft gleich im Sinne der Lega, die damit das Mißverhältnis zwischen Geld, das die Bürger im Norden dem Staat überlassen, und den Leistungen, die sie dafür genießen, anspricht. Dann kriegen die Armen in der Basilicata nämlich zu viel Straßenbahn für ihr niedriges Steueraufkommen, und für die Gerechtigkeit ist noch viel zu tun. Daß Streiks im öffentlichen Dienst nichts mit der nötigen Aufbesserung der Lohneinkommen zu tun haben, weil sie nur die unzulässige Schädigung aller „utenti“ darstellen, ist ebenfalls klar.

Das haben auch die einmal für ihre Kampfbereitschaft berüchtigten Gewerkschaften erkannt und zwar gleich im wirtschaftlichen „Gesamtzusammenhang“. In neu geschriebenen Programmen und in großen Kongressen distanzieren sich diese Vereine von jedem Anspruch auf die Vertretung der Interessen, die sich aus der Lohnabhängigkeit ihrer Mitglieder ergeben. Letztere haben die ausdrückliche Verurteilung des – alten Italien schädigenden – Lohnkampfes hingenommen, als ob sie die Tatsache, daß dieser Kampf sich nicht gelohnt hat, darauf zurückführen könnten, daß er der nationalen Wirtschaft das Wasser abgegraben hat. Gewerkschaften sind ab sofort Vereine, in denen der zweckdienliche Beitrag italienischer Arbeiter zur Sanierung des Landes beraten und beschlossen wird. Vertreten werden sie durch ein Programm, in dem sie in allen sozialen Funktionen vorkommen, die durch die „diritti di cittadinanza“ ihre staatliche Anerkennung erfahren. Als Betroffene, aber auch als Frauen und Umweltbewahrer, Inländer und Ausländer, als Gestalter eines Sozialpakts marschieren sie auf, um als „risorse umane“ einer „massima utilizzazione“ zugeführt zu werden. Das muß ein erhebendes Gefühl für italienische Arbeiter sein, als „Ressource“ gescheit ausgenützt zu werden! Zumal die Anerkennung als ein nationales Gut, dem auch ein Wert zuerkannt wird, auf dem Fuße folgt: Dafür wird ihnen nämlich eine „massima valorizzazione“ versprochen – und als bleibende Mitglieder des sanierten Italiens haben sie eine Heimat, die ihre Dienste schätzt. Der Arbeitslohn und seine Steigerung fallen ausdrücklich aus diesem Programm heraus – einschlägige Vorstellungen, die die gewerkschaftliche Aufgabe immer noch mit materiellen Forderungen beim Einkommen dieser organisierten Arbeiter in Verbindung bringen, werden offiziell für unvereinbar mit dem neuen Kurs erklärt. Wo der Lohn sonst noch vorkommt, figuriert er als Mittel für die Sanierung der daniederliegenden Wirtschaft, als Kaufkraft und als Quelle für Staatseinkünfte…

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Die Bildung eines sauberen Volkswillens hat freilich noch manche Bewährungsprobe vor sich. Nicht deswegen, weil sich die berüchtigte Mentalität der Italiener dagegen sträubt, darin aufzugehen, Volk des neuen Staates zu sein. Mit der südländischen Widerspenstigkeit gegen die sogenannte „politische Vernunft“ war es nicht weit her. Noch nicht ausgestanden ist vielmehr die Entscheidung, für die sich das umerzogene Volk hergibt. Die Bürger Italiens sind nämlich nicht nur das Stimmvieh für die Parteien, welche per Wahlkampf die Mehrheit erringen wollen. Ihre Rolle geht auch über die als Wähler, auf die man sich beruft, hinaus. Das liegt am Inhalt der Wahlen und der Programme, die miteinander konkurrieren. Wo nicht nur der Austausch des Personals, das die öffentliche Macht verwaltet, vollzogen werden soll, um deren Kontinuität zu wahren; wo der Umbau dieser Macht für sich ausschließende Ziele bei ihrem Gebrauch vorgenommen werden soll – da sind die Anhänger der Parteien für mehr vorgesehen als für das Wahlkreuz. Sie sind mit ihrem Engagement schon jetzt Instrumente von „Bewegungen“, deren Mobilisierung gegen den inneren Feind ansteht. Denn dieser Differenzierung ist der nationale Fanatismus allemal fähig, wenn er alle anderen Unterschiede zwischen Italienern überwunden hat.