Die Konkurrenz der Kapitalisten: Kapitel IV

§ 24 Die ideologische Bewältigung der Krise des Kapitals

Der Markt, nach dem die kapitalistische Produktionsweise von ihren Akteuren wie von ihren Statisten benannt zu werden pflegt, hat bisweilen einen ganz schlechten Ruf. Normalerweise gilt er als das Feld, auf dem Produktion und Bedürfnis in Gestalt von Angebot und Nachfrage wunderbar zwanglos übereinkommen, Gleichgewichtspreise für Versorgung und Fortschritt sorgen, Gewinne und Verluste ganz von selbst gerecht verteilt werden. Wer da Erfolg hat, hat richtig gehandelt; wer scheitert, hat „am Markt vorbei produziert“, „Marktchancen verpasst“, die „Gebote des Marktes“ ignoriert, hat so oder so versagt. In der Krise ist das anders; nicht nur die Lage, sondern ihre allgemeine Wahrnehmung. Wenn Misserfolge „wie ein Flächenbrand“ um sich greifen, kann das ja nicht bedeuten, dass alle Marktteilnehmer sich mit ihrer Nachfrage und ihren Angeboten marktwidrig verhalten haben und das allseitige Konkurrieren um Bereicherung überhaupt falsch wäre. Zumal in der Krise klar auf der Hand liegt, wie unbedingt es insgesamt und überhaupt auf den Gesamterfolg der kapitalistisch produktiven Klasse in ihrer Konkurrenz um Mehrung ihres privaten Vermögens ankommt: Ohne das Wachstum, das dabei herauskommt – normalerweise –, liegt das materielle Leben der Gesellschaft lahm, kommt die Staatsgewalt selbst in größte Verlegenheit. Dem Markt, diesem großen selbsttätigen Regulativ, dieser maßgeblichen Ordnungsinstanz des einzig wahren Wirtschaftslebens, muss man dann schon nachsagen, dass er irgendwie spinnt, durcheinander ist und alles durcheinanderbringt: Mit der Herbeiführung der Krise kann er ja unmöglich im Recht sein.

 
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Die Konkurrenz der Kapitalisten

Kapitel IV

§ 24 Die ideologische Bewältigung der Krise des Kapitals

1. Lehren von den Bedingungen des Wachstums, von den Ursachen der Krise, von den entsprechenden Leistungen, die die Politik erbringen muss, von den Tücken der Spekulation, von Schuldigen und Opfern werden von den Akteuren wie der Wissenschaft fast umsonst in Serie gefertigt

Der Markt, nach dem die kapitalistische Produktionsweise von ihren Akteuren wie von ihren Statisten benannt zu werden pflegt, hat bisweilen einen ganz schlechten Ruf. Normalerweise gilt er als das Feld, auf dem Produktion und Bedürfnis in Gestalt von Angebot und Nachfrage wunderbar zwanglos übereinkommen, Gleichgewichtspreise für Versorgung und Fortschritt sorgen, Gewinne und Verluste ganz von selbst gerecht verteilt werden. Wer da Erfolg hat, hat richtig gehandelt; wer scheitert, hat „am Markt vorbei produziert“, „Marktchancen verpasst“, die „Gebote des Marktes“ ignoriert, hat so oder so versagt. In der Krise ist das anders; nicht nur die Lage, sondern ihre allgemeine Wahrnehmung. Wenn Misserfolge „wie ein Flächenbrand“ um sich greifen, kann das ja nicht bedeuten, dass alle Marktteilnehmer sich mit ihrer Nachfrage und ihren Angeboten marktwidrig verhalten haben und das allseitige Konkurrieren um Bereicherung überhaupt falsch wäre. Zumal in der Krise klar auf der Hand liegt, wie unbedingt es insgesamt und überhaupt auf den Gesamterfolg der kapitalistisch produktiven Klasse in ihrer Konkurrenz um Mehrung ihres privaten Vermögens ankommt: Ohne das Wachstum, das dabei herauskommt – normalerweise –, liegt das materielle Leben der Gesellschaft lahm, kommt die Staatsgewalt selbst in größte Verlegenheit. Dem Markt, diesem großen selbsttätigen Regulativ, dieser maßgeblichen Ordnungsinstanz des einzig wahren Wirtschaftslebens, muss man dann schon nachsagen, dass er irgendwie spinnt, durcheinander ist und alles durcheinanderbringt: Mit der Herbeiführung der Krise kann er ja unmöglich im Recht sein.

Inwiefern „die Märkte verrückt spielen“, wenn der kapitalistische Reichtum eine Zeitlang mehr schwindet als wächst, liegt dabei gleichfalls klar auf der Hand; und eine etwas banalere Auskunft über dieses Wunderwerk ist darin ganz nebenbei auch enthalten: Der Markt versagt denen, die ihn machen, seine elementaren Dienste. Er versorgt sie nicht zu passenden Preisen mit den nötigen Produktions- und Geschäftsmitteln und verschafft ihnen nicht die Einnahmen, stellt insgesamt die Zahlungsfähigkeit nicht bereit, auf die alle Geschäfte berechnet und angewiesen sind. Er macht Kredite für lohnende Investitionen zu teuer; umgekehrt werfen Investments nicht die fest verplante Rendite ab: „Verwerfungen“ auf den Finanzmärkten. Zur Fortführung des Geschäftslebens überhaupt fehlt es an Liquidität: Der Geldmarkt ist „ausgetrocknet“ – so bleibt man wenigstens im Bild. So sammeln sich Fehlanzeigen in Bezug auf das, was die Kapitalisten von der Welt brauchen und mit größter Selbstverständlichkeit in Anspruch nehmen: Alle Ressourcen und alle Lebensbedürfnisse, alle Fähigkeiten und Leistungen der gesellschaftlichen Arbeit gehören unter dem Regime von Geld und Geschäft ihnen, in ihre Hand. Sie haben nicht nur eine Lizenz, das alles für ihre Bereicherung zu gebrauchen, ihr Erfolg ist die Bedingung, von der Sinn und Zweck und letztlich die Existenz der eingerichteten Welt abhängen; also ist er deren Zweck. Diese Gleichung geht in der Krise nicht mehr auf. Für Macher wie Fußvolk der Marktwirtschaft ist das eine irritierende Erfahrung. Sie haben Anlass, über alles kritisch nachzudenken, was sonst und im Normalfall den Charakter einer zwar ständig benörgelten, aber doch als selbstverständlich hingenommenen Gegebenheit hat. Unter dem Gesichtspunkt, dass der marktwirtschaftliche Betrieb nicht klappt, erscheint er in allen seinen Momenten als Vielzahl von Bedingungen, von deren Leistung kapitalistische Bereicherung und Wachstum der Wirtschaft abhängen.

Der Standpunkt, dass die gesellschaftliche Welt eben dafür da zu sein hat und auch nur dafür da ist, ist damit nicht revidiert oder auch nur relativiert; weder praktisch – das herrschende Interesse ist nach wie vor in Kraft und anerkannt, auch wenn ihm die Mittel zu erfolgreicher Betätigung abgehen –, noch theoretisch – Krise lässt sich marktwirtschaftlich nur denken als Ausnahme von einer Regel des gerechten Erfolgs, die eigentlich weiter gilt, auch wenn sie tatsächlich nicht gilt. Was auch immer, krisenbedingt, als Wachstumsbedingung ins Auge gefasst wird – Zahlungsbereitschaft und ‑fähigkeit der Gesellschaft als Kundschaft, Verfügbarkeit fremden Geldes für lohnende Investitionen, Lieferketten und Absatzmärkte, Staatsgeld als flüssiges und zugleich wertstabiles Geschäftsmittel, pflegeleichte Arbeitnehmer und Naturbedingungen ... –, alles ist nach wie vor durch den Dienst definiert, den es schuldig bleibt. In den pluralistischen Überlegungen zu diesem entgleisten Bedingungsverhältnis kommen Wahrheiten über die Natur der Wirtschaftsweise, die in der Krise sich selbst ad absurdum führt, nicht vor – danach ist ja auch gar nicht gefragt; dafür kommen etliche Wahrheiten über die Subsumtion der Welt unter die Interessen der herrschenden Klasse vor: Geld ist für seine kapitalistische Verwendung, also Vermehrung da; Bedürfnisse und Existenznöte zählen als Massenkaufkraft, also als Mittel für Markterfolge; der ökonomische Begriff der Natur besteht in dem Preis, mit dem ihr Verbrauch zu Buche schlägt; und so weiter. Die Lehren von den Bedingungen des Wachstums, die in der Krise Konjunktur haben, münden durchwegs in ihren Ausgangspunkt: das Dogma, dass die Kapitalisten nicht bloß juristisch das Recht, sondern vor allem in der Sache recht haben, wenn sie das Weltgeschehen auf ihren Nutzen beziehen, es daran messen und danach beurteilen, auch wenn sie gerade alles in den Sand setzen. Die ökonomischen Realitäten geraten mit sich selbst in Widerspruch, wenn sie sich nicht mehr als ihr Erfolgsmittel bewähren. Dass so etwas wie ein Widerspruch auf ihrer Seite vorliegen, in ihrem zweckmäßigen Zugriff enthalten sein könnte: undenkbar.

Über den Grund der Krisen, die die Marktwirtschaft immer wieder heimsuchen, steht das Entscheidende damit fest. Grundlage aller einschlägigen Überlegungen ist die Fehlanzeige bezüglich der Dienste, die die Kapitalisten von der Welt fordern, weil ihr Erfolg deren ökonomischer Lebenszweck ist. Aus ihrer maßgeblichen Sicht unterbleibt da nicht einfach Gewohntes. Es fehlt, was seiner Natur nach sein muss. Es liegen also Störungen des normalen, i.e. normgerechten Gangs der Dinge vor. Und zwar – an den Geschäftsbedingungen als solchen ist ja nichts auszusetzen, am Gebrauch, den die Kapitalisten davon machen, erst recht nichts – eine Störung durch falsche, zweckwidrige Benutzung, durch Missbrauch. Damit ist ein weites Feld für Auffassungen darüber eröffnet, wer oder was sich da unbefugt ins Wirtschaftsgeschehen eingemischt hat oder einmischt. Zu jeder Geschäftsbedingung lässt sich ein falscher Gebrauch oder Missbrauch denken, der – allein oder mit anderen – in den Abgrund der Krise führt. Die eigene nationale Obrigkeit ist nach orthodoxer Auffassung schon allein mit ihrer unkapitalistischen Verwendung von Geld, von Schulden ganz zu schweigen, eine Störung des Marktes, die sich in der Krise zu einer Blockade des Vernünftigen und Notwendigen auswächst. Auswärtige Mächte beeinträchtigen per se, schon mit der Tatsache ihrer autonomen Hoheit, erst recht mit jeder von ihnen gesetzten Konkurrenzbedingung den sachlogischen Ablauf auf den Weltmärkten; wenn Krise, dann sind sie allemal ursächlich mit dabei. Hinter mangelnder Zahlungsfähigkeit steckt eine Abweichung der Massen von ihrer ökonomischen Berufung zur Kundschaft, die den Markt räumt, vielleicht sogar die Sünde der Konsumverweigerung. Die Gewerkschaften mögen zwar in diesem Sinn mit der Massenkaufkraft für mehr Lohn argumentieren; ihre Kampfkraft setzen sie aber auf jeden Fall am verkehrten Ende ein, wenn bzw. weil dadurch die elementare Geschäftsbedingung rentabler Arbeit kaputtgeht. Auch die Macht von Monopolen, auswärtigen schon gleich, zieht in der Krise den Verdacht auf sich, die Konkurrenz so zu manipulieren, dass kein marktgerechtes Ergebnis und am Ende gar kein Wachstum mehr herauskommt. Und so weiter.

Was zusätzlich zu denken gibt, das ist die dauernde Wiederkehr von Krisen, für die doch in jedem Einzelfall besondere Ursachen anzugeben sind; sogar eine Regelmäßigkeit im Auf und Ab, eine Periodizität der Abstürze lässt sich beobachten. Das ist ein interessantes Forschungsgebiet für Profis und Laien. Die Antworten sind entsprechend komplex: Je länger es den Menschen gut geht, umso mehr Leichtsinn und Übermut reißen ein, bis alles weg ist. Die Menschennatur lässt sich doch nicht in das Schema des zweckrational handelnden Homo oeconomicus einsperren. Bei zu viel Wachstum schlägt die Natur zurück. Und überhaupt ist das irdische Leben voller geheimnisvoller Regelmäßigkeiten, die vor dem Kapitalismus nicht Halt machen: Man kennt die Schwarzen Freitage und die prekären Monate an der Börse. Wer genügend nachschaut, entdeckt Übereinstimmungen zwischen Konjunktur- und astronomischen Zyklen... Nur eines scheidet mit Sicherheit als Ursache wiederkehrender Krisen aus: die Konsequenz, mit der Kapitalisten, weil sie in ihrer Konkurrenz am und um den Markt alle dasselbe sachlich Gebotene tun, eine Überakkumulation produzieren, und die Notwendigkeit des Widerspruchs, dass diese in eine umfassende Rücksetzung der permanent gesteigerten Kapitalproduktivität einmündet.

Anmerkung zur Krisentheorie der radikalen Linken

Der Schaden, den die kapitalistische Wirtschaft mit ihrer Krise national und international anrichtet und erleidet, trifft hauptsächlich die lohnabhängigen Dienstleute des Systems, nämlich in ihrem Lebensunterhalt, dessen Zahlung sich für ihre Arbeitgeber nicht mehr lohnt. Das ist nur konsequent: Die Überakkumulation kapitalistischen Reichtums, die in der Krise platzt, ist ja das notwendige Ergebnis der systematischen Ausbeutung des „Faktors Arbeit“, die schon im Normalfall auf Kosten derer geht, die diese Arbeit verrichten. Wenn der erzielte Erfolg dessen Kommandeuren und Nutznießern auf die Füße fällt, wird der Schaden fürs abhängige Personal logischerweise größer und gemeiner; die Gründe für die Umwälzung der Produktionsweise durch die Betroffenen werden nicht stärker, aber auffälliger. Das ist eine Sache.

Eine andere Sache ist die Lesart, die empörte Linke und kämpferische Arbeiterparteien zur Krise entwickelt haben und die als deren geistige Hinterlassenschaft weiter- und im akuten Krisenfall immer wieder auflebt. Dass der überlebensnotwendige Erfolg der Wirtschaft phasenweise ausbleibt, ihr Wachstum sich ins Negative verkehrt, wird auch da als Versagen des Systems wahrgenommen. Verstanden wird das aber nicht in dem marktwirtschaftskonformen tautologischen Sinn, dass die Wirtschaft an ihrer Aufgabe scheitert, wie gewohnt immerzu zu gelingen, sondern als praktischer Offenbarungseid darüber, dass sie im Prinzip und deswegen auf Dauer überhaupt nicht funktioniert. Das Argument für diese radikale Lesart ist die aus moralischer Empörung geborene Vorstellung von der eigentlichen Aufgabe, vor der das System versagt, deren Erfüllung es seinem Fußvolk schuldet und immer wieder, also letztlich überhaupt schuldig bleibt: das dienstbare Volk mit einem sicheren Lebensunterhalt bei regelmäßigem gut erträglichem Arbeitsaufwand zu versorgen. Dass davon in der Krise ganz offensichtlich nicht die Rede sein kann, nimmt die linksradikale Krisentheorie nicht – wie der selbstkritische marktwirtschaftliche Sachverstand, der das durchaus auch sieht – als Ausnahme von der guten Regel, sondern als die Wahrheit über den Kapitalismus, die im normalen kapitalistischen Alltag nur verdeckt und nicht so bemerklich ist, in der Krise aber herauskommt: Das kapitalistische System enthält seinen eigentlichen vielen kleinen Leistungsträgern zu Unrecht vor, wofür es als die herrschende Produktionsweise doch eigentlich zu sorgen hat und worauf die anständig werktätigen Massen unbedingt ein Recht haben. Gemessen wird die Wirtschaft an dem guten Zweck, ihr Menschenmaterial, auf dessen Ausbeutung ihr existenznotwendiges Wachstum beruht, gut zu behandeln. Dass dieser Zweck nicht wirklich gilt, macht ihn umso mehr zu dem großen Imperativ, an dessen Nichterfüllung das System sich blamiert. Und das nicht nur in einem moralischen Sinn: Weil der Kapitalismus seine unentbehrliche Massenbasis zweckwidrig schlecht behandelt, verstößt er nicht bloß gegen seine eigentliche Pflicht, sondern gegen seine erste Funktionsbedingung und gräbt sich so, mit jeder Krise ein Stück tiefer, sein eigenes Grab.

Den Ablauf des letztlich unausweichlichen Zusammenbruchs haben sich die links-revolutionären Krisentheoretiker mit der Weisheit zurechtgelegt, Revolutionen fänden dann statt, wenn die Herrschaft nicht mehr herrschen kann und die Beherrschten nicht mehr beherrscht werden wollen. Was den ersten Punkt betrifft, haben sie die politökonomische Notwendigkeit kapitalistischer Krisen, die Marx aus dem Widerspruch der Kapitalproduktivität abgeleitet hat, als Sachzwang der Geschichte missverstanden, der die Erholung des Systems von seinen zeitweiligen Zusammenbrüchen immer unmöglicher macht und schlussendlich den finalen „Kladderadatsch“ herbeiführt, den ein Anführer der einstigen Arbeiterbewegung lautmalerisch beschworen hat. Den notwendigen subjektiven Faktor steuert die Kette wiederholter Krisen gleichfalls quasi automatisch selber bei, indem sie die Massen sukzessive dem System entfremdet. Mit der Fortentwicklung ihrer Krisentheorie zur Katastrophenprognose haben sich die revolutionär ambitionierten linken Parteien hoffnungsvolle Ausblicke eröffnet: Der Gang der kapitalistischen Dinge erspart ihnen und ersetzt glatt die Überzeugungsarbeit im Streit gegen das notwendig falsche Bewusstsein ihrer in den Selbstverständlichkeiten der bürgerlichen Welt eingehausten Adressaten; sie konnten sich damit begnügen, der vorgefundenen Moral wiederholter Enttäuschungen die erbauliche Idee einer historischen Mission der Arbeiterklasse, ihrer Berufung zur Avantgarde der zu erwartenden Metamorphose der krisengeschüttelten Klassengesellschaft zu einer solidarischen Gesellschaft, an die Seite zu stellen. Eine Theorie über die reaktionären Kräfte, die diesem Automatismus gewaltsam entgegenwirken und damit den Geschichtsverlauf so offenkundig wirksam bremsen, hatten sie auch zu bieten: Monopolisten, die mit ihrer auch von enttäuschten Marktwirtschaftlern skandalisierten Übermacht alle kapitalistischen Ungerechtigkeiten zementieren, im Zusammenwirken mit pflichtvergessenen, womöglich zutiefst korrumpierten Politikern, die von Demokratie im Sinne gerechter Volksherrschaft nichts wissen wollen, etablieren ein System des STAatsMOnopolistischen KAPitalismus, das den Freiheitsdrang der durchs Krisenelend belehrten Massen unterdrückt und das gescheiterte System über sein Verfallsdatum hinaus aufrechterhält. Dabei nützt auch das den Feinden des geschichtlichen Fortschritts nichts, im Gegenteil: In die von Marx als politökonomisch notwendig abgeleitete paradoxe Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums unter den Bedingungen des Privateigentums durch Zentralisation des Kapitals, vor allem vermittels des Kredits, haben sozialistische Gelehrte, die sich mit der Kritik der politischen Ökonomie ausführlicher und leider nur umso verkehrter befasst haben, einen sanften Übergang zur sozialistischen Vergesellschaftung des kapitalistischen Reichtums hineingelesen. Das Umgekehrte – Sozialismus als planmäßige Bewirtschaftung des staatlich zentralisierten Kapitals – haben die realsozialistischen Parteien dort wahr gemacht, wo ihnen die Macht dazu zugefallen ist.

Außerhalb der Parteien der Arbeiterbewegung und ihrer Ausläufer hat sich die Vorstellung von einem notwendigen Scheitern des „Kapitalismus“ an seinen selbstverschuldeten Krisen im Ethos radikaler „grüner“ Protestbewegungen erhalten. An Marx erinnern Gelehrte aus der VWL im Krisenfall, um – ausgerechnet – mit einem Plädoyer für mehr Staatseinmischung in die Wirtschaft aufzufallen.

***

Das praktische Interesse der Kapitalisten und dementsprechend das theoretische der Allgemeinheit folgt der Richtung, die in den Lehren von den Krisenursachen vorgezeichnet ist: Wenn Geschäfte und Wachstum einbrechen, weil fremde, marktwidrige Kräfte sich in kontraproduktiver Weise der eigentlich gegebenen Bedingungen bemächtigen, dann verweist alles auf die Höhere Gewalt, die die Kapitalisten – bei allem Argwohn gegen ihre unkapitalistische Haushaltsführung – als einzige Macht neben sich akzeptieren, deswegen aber auch dafür in Anspruch nehmen, alles, was sie im Interesse des Wachstums eingerichtet hat, sachgerecht am Laufen zu halten. Nach allgemeiner Auffassung und im Urteil der Staatsgewalt selbst ist die in der Krise dazu da, alle Störungen des Wachstums, wenn sie die schon nicht unterbunden hat, weg- und auszuräumen. Im Prinzip soll sie sich zwar aus der Wirtschaft heraushalten, im Ernstfall aber den durcheinandergeratenen bzw. ‑gebrachten Markt regulieren. Wo und wie das zu geschehen hat, ist ganz folgerichtig eine bei jedem Anlass neu aufgelegte, nie fertig beantwortete Streitfrage. Misstrauen gegen zu viel Staatsinterventionismus konkurriert mit Skepsis gegenüber den Selbstheilungskräften des Marktes; auf die ist allenfalls dann erst wieder Verlass, nachdem der Staat die Macher dieser Selbstheilung erst einmal mit ganz viel unkapitalistischem Kredit gerettet hat, dessen Schöpfung gleich anschließend wieder das Misstrauen aller Auskenner verdient. Der demokratisierte Verstand der Marktwirtschaft wird da gerne fundamentalistisch und, dem Ausmaß der Krise gemäß, streitsüchtig. Auf jeden Fall, in welcher Variante auch immer, legt er einmal mehr Zeugnis davon ab, dass die freiheitliche Produktionsweise die Rechtsgewalt einer unanfechtbaren politischen Herrschaft benötigt, nicht nur, um überhaupt, sondern um nach ihren selbstgeschaffenen Katastrophen auf dem jeweils erreichten Niveau wieder von Neuem anzufangen.

Nach außen gilt das sowieso; auf die Einsicht in die damit gesetzten Notwendigkeiten ist am Ende dieses Kapitels unter dem Stichwort „Globalisierung“ noch einzugehen.

Besondere Aufmerksamkeit gilt in der Krise, speziell im Hinblick auf die kontroversen Ansichten über die Aufgaben der Politik, der besonders wichtigen allgemeinen Geschäftsbedingung, die – apropos Macht des kapitalistischen Reichtums – eine mehr als funktionelle Scheidung der voneinander abhängigen kapitalistischen Bereicherungsinteressen zum Inhalt hat. Gemeint ist das auch im Zeitalter der perfektionierten Finanzmärkte immer noch prekäre Verhältnis zwischen den Unternehmen, die für ihre Konkurrenz notorisch mehr Geld als ihr eigenes brauchen, und dem System der Banken, die das Geld der Gesellschaft an sich ziehen und nach eigener Berechnung Investitionsmittel schöpfen und verleihen. Die funktionale Symbiose beider Seiten funktioniert in der Krise nicht mehr. Eine jede sieht sich allgemein und unmittelbar durch das Versagen der jeweils anderen geschädigt: die Kreditgeber durch das Versagen profitbringender Umsätze ihrer Schuldner, die Unternehmer durch die Versagung benötigter Geldmittel durch ihre Finanziers. Letzteres interpretiert nicht bloß die betroffene Abteilung der Geschäftswelt als unfreundlichen Akt, der letztlich die Allgemeinheit trifft; die Allgemeinheit selbst mit ihrem kritischen Sensorium für Leistungsgerechtigkeit und ausgenutzte Abhängigkeiten erkennt da eine Übergriffigkeit von Mächtigen, die die marktwirtschaftliche Idylle zerstört. Dass auf deren Seite in schwer nachvollziehbarer Weise phantastische Umsätze und Gewinne entstehen, die, wenn sie auf genauso rätselhafte Weise wieder vergehen, das redliche Geschäftsleben der „Realwirtschaft“ in den Abgrund reißen, belehrt niemanden – die aufgeregte Öffentlichkeit jedenfalls nicht – über das Interesse an entschränktem Wachstum, in dem „real“ wirtschaftende Unternehmen und eigennützig hilfreiche Geldversorger völlig einig sind und gemeinsam die Überakkumulation von Kapital bis zur Unmöglichkeit seiner weiteren Verwertung schaffen. Stattdessen offenbart die Krise dem Publikum die Tücken einer Spekulation, die in erlaubten Schwindelgeschäften mathematisch hochkomplizierte Berechnungen mit Willkür, Risikobereitschaft mit krimineller Energie kombiniert. Am Ende erweisen sich die Meister dieses finanzkapitalistischen Paralleluniversums dann doch als systemrelevant, was auch kein schlechtes Licht auf das System wirft, sondern über die Notwendigkeit seiner Rettung mit jeder Menge Staatskredit belehrt und Gefängnis für Versager ebenso rechtfertigt wie Boni für Könner, die das Metier – und mit ihm womöglich die Welt? – beherrschen...

In der moralischen Ausdeutung des Krisengeschehens finden die Lehren von den Ursachen der Krise und den entsprechenden Aufgaben der Politik ihre passende Fortsetzung. Der kurze Schluss von den vielfältigen Auswirkungen eines Einbruchs beim Wirtschaftswachstum auf einen bösen Willen, der da am Werk (gewesen) sein muss, führt zur Identifizierung von Tätern. Und das ohne langwierige Recherchen: Es gibt und man kennt die Verantwortlichen. Die haben den GAU zumindest nicht verhindert, seine Wirkungen zugelassen, das Desaster selbst offenbar in Kauf genommen, womöglich mit herbeigeführt, fahrlässig oder sogar in eigennütziger spekulativer Berechnung. Immergleiche Erfahrungsberichte von Fällen politischer Verantwortungslosigkeit werden immer wieder neu aufgelegt. Der demokratische Parteienstreit wirkt hier sehr produktiv für die allgemeine Meinungsbildung; weniger inhaltlich als hinsichtlich der schuldig gesprochenen Personen und qualitativ, was Schärfe und Nachhaltigkeit der moralischen Aufklärung betrifft. Am radikalen Ende steht bisweilen die Entlarvung einer Verschwörung der Mächtigen gegen das Volk. Schuldsprüche treffen daneben aber auch die Figur, die irgendwie immer und überall mit dabei ist: Der Mensch als solcher und im Allgemeinen ist mit seiner Gier, seinem Herdenverhalten und anderen Triebkräften, die in der Krise negativ zu Buche schlagen, besonders beliebter Gegenstand in der theoretischen Aufarbeitung der Krise.

Derselben abstrakten Figur ergeht es in ihrer Rolle als unschuldig Betroffener anders. Den Opfern legt jedenfalls niemand ihre Fügsamkeit zur Last. Schon gar nicht den Kapitalisten, die in der Hierarchie der Opfer nach ihrem eigenen Ermessen ganz oben stehen; die waren allenfalls zu leichtsinnig, haben womöglich ihresgleichen, anderen Verantwortlichen und den Verhältnissen zu sehr und zu lange vertraut. Was den großen Rest betrifft, wäre jede Erinnerung an ihr geduldiges Mitmachen als Grund ihres Schadens eine Majestätsbeleidigung, die sich gleich gar nicht gehört, wenn der Souverän mit seinen materiellen Bedürfnissen unter die Räder gerät; deswegen kommt so etwas in der Öffentlichkeit auch nicht vor. Eher wird über die Eventualität eines Aufbegehrens der Unzufriedenen theoretisiert; als falsche, deswegen bedenkliche Reaktion auf eine Lage, die in Gestalt schwerer Zeiten immer wieder einmal, ganz unabhängig von Schuldfragen, über die Menschheit kommt. Konjunktur haben deswegen vor allem Ratgeber, die den Willen zum Durchhalten bekräftigen. Den Theorien über Schuldige, die den Opfern die Lizenz erteilen, nicht etwa den Kapitalisten ihre Geschäftstätigkeit, sondern den Reichen den Fortbestand ihres persönlichen Wohlstands übel zu nehmen, stehen sehr viel mehr Abhandlungen über den Sozialneid gegenüber: ein Laster der armen Leute, das sich nicht bloß für Christen nicht gehört, sondern vor allem psychologisch nichts bringt, vielmehr nur extra unglücklich macht; außerdem ist es abträglich für den gesellschaftlichen Konsens, der logischerweise dann am wichtigsten ist, wenn ihm jeder falsche gute Grund abhandenkommt. Anstelle trauriger Gedanken wird den Krisenopfern empfohlen, sich kundig zu machen, wie jeder Einzelne angesichts sich auftürmender Überlebensprobleme mit sich ins Reine kommt – das einzig Vernünftige, wo ihm praktisch sowieso nichts anderes übrig bleibt. Die Krise des Systems gebietet die Reflexion der Ohnmächtigen auf sich als die einzige zuverlässige Ressource der nötigen unverwüstlichen Hoffnung auf bessere Zeiten; vor Belehrungen darüber, wie das gelingt, kann man sich im Ernstfall kaum retten.

Eine organisierte gesellschaftliche Praxis gibt es dazu auch. Die Gewerkschaften kümmern sich um den proletarischen Durchhaltewillen mit einem vor allem in der Öffentlichkeit aufgeführten Kampf um Arbeitsplätze anstelle derer, die der Krise zum Opfer fallen; zu Bedingungen, die den Arbeitgebern das schwere Los einer Rezession ihrer Bereicherung erleichtern. Das selbstverständlich nur im Namen der Lehrbuchweisheit, dass der Aufschwung Massenkaufkraft braucht. Der Allgemeinheit ersparen sie so auf jeden Fall die Sorgen um eine Spaltung der Gesellschaft, die in immergleichen Theorien über eine armutsbedingt schwindende Bereitschaft zu demokratischem Mitmachen beschworen wird.

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Die Krise gibt den Machern wie den Statisten der Marktwirtschaft zu denken. Weil notwendige Existenzbedingungen kaputtgehen, entdecken die Kapitalisten die Mittel ihrer Konkurrenz um die Beherrschung des Marktes, die vielen anderen ihre gewohnten gewöhnlichen Lebensumstände und Gepflogenheiten als ein ganzes System von Abhängigkeiten. Zu einer Absage an dieses System führt das nicht. Bei den Machern ohnehin nicht; denen kommt ihr verunsicherter Glaube an die Identität ihrer privaten Bereicherung mit der Logik des Gesamtsystems und der Wohlfahrt von Staat und Gesellschaft überhaupt nicht abhanden; was die Krise widerlegt, sehen sie durch deren verheerende Wirkungen bestätigt: dass es auf sie ankommt und auf sonst nichts. Die passiv Betroffenen, die reflektierende Allgemeinheit versteifen sich in ihrer Kritik auf die Diagnose, dass es an genau einer Sache fehlt, nämlich am Gelingen des Wachstums; entsprechend fest klammern sie sich an den Imperativ: Genau das muss wieder her! Die Erfahrung, dass die Marktwirtschaft nicht bloß ihre Schattenseiten hat, sondern immer wieder gegen ihre eigenen Erfolgsbedingungen funktioniert, dass sie gefährdet und zerstört, was sie selbst an Bedingungen fürs Lebensnotwendige in Kraft setzt, gibt immer nur den Fehlschluss her, dass an der Gleichung von kapitalistischem Partikularinteresse und Wirtschaftswachstum als allgemeiner Lebensbedingung nicht zu rütteln ist. Dass es dazu tatsächlich keine Alternative gibt – sie muss ja wirklich erst gemacht werden –, bekräftigt über jeden Zweifel hinaus das Dogma, dass es im Krisenfall zwar eine Alternative geben muss, aber keine andere geben kann – und nicht einmal ernstlich gedacht werden darf – als die, die es, ganz systemkonform, dann doch gibt: mit staatlicher Gewalt das System ohne Alternative wieder herzustellen.

Dass genau das geschehen muss, ist die feste Überzeugungsbasis der durch die Krise herausgeforderten marktwirtschaftlichen Vernunft. Wie das zu geschehen hat, ist Gegenstand heftigen pluralistischen Nachdenkens, das der Staat als die fürs Gelingen zuständige Gewaltinstanz nicht dem Laienverstand überlässt, auch wenn der der Politiker und der eigennützig interessierten Geschäftswelt in der Praxis allemal genügt und das letzte Wort behält. Schließlich ist von der Krise die Staatsmacht selbst betroffen; sie wird von allen Seiten zur Abhilfe aufgefordert, ist sich das auch selber schuldig. Und weil sie den kapitalistischen Interessen den Status objektiver Sachzwänge verliehen hat, lässt sie über deren Zusammenhänge wissenschaftlich nachdenken – ohne ihnen damit zu nahe zu treten.

2. Die Krise in der Sicht der VWL: Ein Mandat für die Staatsgewalt zur prophylaktischen wie therapeutischen Schadensbekämpfung

I.

a) Der Staat, der von seinen Kapitalisten zur Restaurierung ihrer wegen der Krise weggebrochenen Geschäftsbedingungen angehalten wird, hat in den Vertretern der VWL dienstbare Geister zur Seite stehen, die wissen, was Sache und dementsprechend zu tun ist. Wie das Wachstum selbst, so lässt sich auch die Phänomenologie seiner Krise gut unterbringen in ihrer „Modell“-Welt von Funktionsgleichungen, in welche sie die wirkliche Marktwirtschaft „abgebildet“ haben, um sich mathematisch Bedingungen und Möglichkeiten eines „gleichgewichtigen Wachstums“ ausrechnen und selbiges – wenigstens der Idee nach – auch noch zum „langfristig stabilen Trend“ verstetigen zu können. [1] Das idyllische Bild vom Kapitalismus als System gleichgewichtig funktionierender Aggregate – Angebot und Nachfrage von Gütern, Geld, Faktoren usw. –, deren Kombination die Güter für den Wohlstand mehrt und mit dem Schmiermittel Geld die gerechte Teilhabe aller an dieser perennierenden Prosperität gewährleistet, nimmt auf diese Weise kein bisschen Schaden, wenn in der fürsorglichen Deutung dieser Theoretiker der manifeste Rückgang des Geschäftslebens in die „Kreislauf‑“ und „Gleichgewichts-Axiome“ der VWL einsortiert wird und diese in das ewige Recht setzt, das sie für sich in Anspruch nehmen: Als vorübergehendes Un-Gleichgewicht im allgemeinen Prozess der Gleichgewichtsfindung zwischen allem und jedem, als Verlaufsform der in die Marktwirtschaft eingebauten Teleologie stetigen Wachstums und als Auf & Ab des famosen Trends fortwährender Wohlstandsmehrung werden sie interpretiert und lösen sich so mit jedem Aufschwung, der jeder Depression zu folgen pflegt, immer wieder von Neuem in Wohlgefallen auf.

b) Wenn freilich der Einbruch beim Wachstum einmal etwas heftiger ausfällt und auch länger anhält, als man es so gewohnt ist; wenn sich die Krise angesichts einer Vielzahl vor dem Bankrott stehender Staaten, eines nicht verschwinden wollenden Millionenheeres von Arbeitslosen in jedem einzelnen von ihnen und infolgedessen auch des kompletten Zusammenbruchs der Weltwirtschaft einfach nicht mehr als „depressive Phase“ kleinreden lässt, in der nur eben mal tief Luft geholt wird für den nächsten Aufschwung: Dann geben sich auch diese robusten Phantasten und zynischen Schönfärber der Marktwirtschaft etwas irritiert und sehen sich angesichts der aufgeworfenen Bestandsfrage des Systems zu einem gewissen „Umdenken“ veranlasst. Vor bald hundert Jahren war es zum ersten Mal so weit, als sich ein Engländer aus verspürter Verantwortung für den Fortbestand seines vom Ruin bedrohten kapitalistischen Vaterlandes entschlossen daranmachte, in seinem Fach fest etablierte Dogmen aus dem Verkehr zu ziehen, weil deren Gegensatz zum wirklichen Gang der Dinge selbst für einen hartgesottenen Ökonomen wie ihn nicht mehr zum Aushalten war. Seitdem ist die nach ihm benannte „Keynes’sche Revolution“, welche die politische Gewalt des Staates als Retter aus der Krise des Kapitals inthronisiert hat, fest integrierter Bestandteil im Lehrgebäude der VWL, wobei Claqueure wie Chronisten der Disziplin nicht verhehlen, dass Keynes sich seine Meriten eher nicht wegen überragender theoretischer Leistungen verdient hat. Auch wenn der moderne Staat in seiner Praxis seit dem Weltkrieg im letzten Jahrhundert mit jeder Befürchtung glanzvoll fertiggeworden ist, die Krise könnte von den von ihr betroffenen Massen zum Anlass genommen werden, das ganze System des Kapitals zum Teufel zu jagen: Danksagungen an die Adresse des Theoretikers, „allein (!) die Möglichkeit (!) von Krisen ..., nicht (!) aber deren Notwendigkeit (!)“ aufgezeigt zu haben, und dazu noch, dass sie „durch Eingriffe des Staates heilbar“ [2] sind, finden sich als eherne Textbausteine auch noch in den modernsten VWL-Lehrbüchern. Sie bezeugen auf ihre Weise, dass sich lange nach dem Aussterben der „marxistischen Zusammenbruchstheorien“ [3] der bürgerliche Verstand der Wissenschaft durch die Krise nach wie vor mit ähnlich großen Herausforderungen konfrontiert sieht wie das Gemeinwesen, für das er verantwortlich denkt, und wie er dies tut, geht aus dem zitierten Lob von Keynes auch hervor: Sinn und Zweck seiner Überlegungen ist nicht das Begreifen dessen, was er in Gestalt der Krise vorfindet, sondern die Suche nach praktischen Hebeln zur erfolgreichen Bewirtschaftung der negativen Folgen selbiger. So gehört mit zu den Schönheiten dieses Verstandes, dass die praktische Relevanz, derer er sich mit Berufung auf die Instanz ‚KEYNES!‘ zu rühmen pflegt, in umgekehrtem Verhältnis steht zur Stichhaltigkeit der Theorie, deren Konsequenzen man seit ihrer Erfindung umzusetzen beansprucht.

II.

a) Der große Umsturz im Lehrgebäude der VWL, für den Keynes berühmt geworden ist, hält sich sachlich besehen in überschaubaren Grenzen. Die Verfremdung des Kapitalismus zu einem Kreislauf von „Geld- und Güterströmen“, die im Austausch zwischen „Haushalten“ und „Unternehmen“ als „wertgleiche Wirtschaftsleistungen“ zirkulieren, bleibt in seinem theoretischen Gebäude ebenso intakt wie die dieser Verfremdung gemäße Auflösung einzelner Funktionsbeziehungen auf den diversen „Märkten“ in diesem Kreislauf unter dem Gesichtspunkt des „Gleichgewichts“, das gemäß den Prämissen dieser phantastischen Welt auf ihnen wie zwischen ihnen zu herrschen habe. Aber unverkäufliche „Güter“, die mangels Nachfrage auf Halde liegen, tote wie lebendige „Produktionsfaktoren“, die zwar im Angebot sind, jedoch gleichfalls nicht nachgefragt werden, weil ihre Kombination einfach für nicht lohnend befunden wird, und dies alles nicht nur hier und da und auch nur vorübergehend, sondern als jahrelanger Dauerzustand einer ganzen Volkswirtschaft: In Worten eines Großdenkers der Disziplin für Keynes Anlass genug, am „Grundvertrauen in die Wirksamkeit der Marktprozesse und die Räumung der Märkte“ [4] zu zweifeln. Dabei ist freilich festzustellen, dass einen bürgerlichen Ökonomen in Bezug auf das ‚Grundvertrauen‘ in seine eigene weltfremde Axiomatik so schnell nichts aus der Fassung bringt: Vom ruinösen Gang der wirtschaftlichen Dinge gibt der Mann sich allenfalls darüber praktisch belehrt, dass es in so einer Volkswirtschaft mit ihren Kreisläufen zwischen Einnahmen und Ausgaben und allen anderen Aggregaten offenbar auch einen ‚ungleichgewichtigen‘ Zustand gibt, der ‚stabil‘ und insofern selbst von gleichgewichtiger Qualität ist: „Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung“ – das ist alles an Respekt, den Keynes und seit ihm das Fach der Realität zollt. Freilich verträgt nicht einmal der sich mit dem modelltheoretisch verankerten Vollbeschäftigungsautomatismus des „Angebots, das sich seine eigene Nachfrage schafft“, und so kommt es, dass ein bislang bewährter Ankerstein volkswirtschaftlicher Modellbaukunst Einzug in die Ahnengalerie zwar wertvoller, aber doch nicht ganz geglückter volkswirtschaftlicher Erklärungsbemühungen hält. Das ist sie dann schon, die ‚Revolution‘ im wissenschaftlichen Überbau: Das Bedürfnis, die Anarchie einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft mitsamt ihren Gegensätzen in einem Modell auf Gleichgewichtigkeit geeichter Kreisläufe „abzubilden“, wird auf ein den Erfordernissen der Zeit angepasstes Niveau befördert. Dies erledigt Keynes denkbar bequem, indem er die alte Doktrin einfach umdreht: Wenn das Angebot in der Funktion ausfällt, sich selbst auch die Nachfrage zu schaffen, die für Vollbeschäftigung sorgt, dann muss es offensichtlich die Nachfrage sein, die für das Angebot verantwortlich zeichnet und damit auch den Umfang der Beschäftigung bestimmt. Das ist seine Lehre aus der Weltwirtschaftskrise: das „Prinzip der effektiven Nachfrage“,[5] wie es in einer Kapitelüberschrift in seinem Hauptwerk heißt.

b) Das an sich nicht unvernünftige Ansinnen von Keynes, den professionellen Ökonomen aus der „mangelnden Übereinstimmung zwischen den Folgerungen ihrer Theorie und den Erfahrungstatsachen“[6] herauszuhelfen, findet also auch bei diesem dem ‚Umdenken‘ gegenüber aufgeschlossenen Mann seine Fortsetzung darin, an die Dogmatik des Fachs einfach neue Maschen zu stricken.[7] Mit denen, so die Intention des Erfinders der neuen ‚Theorie‘, lässt sich nicht nur bestimmen, weshalb ‚Beschäftigung‘ bisweilen unterbleibt, sondern auch erkunden, was dagegen hilft. Die letztlich maßgebliche Stellschraube dafür ist Keynes kein großes Geheimnis: „Unterbeschäftigung ist vorhanden, weil die Unternehmen ihre Profite eingebüßt haben“, weshalb ihm als offensichtlichem Freund des freien Unternehmertums die einzig senkrechte Lösung vor Augen steht: „Wollen wir nicht zum Kommunismus übergehen, so gibt es kein anwendbares Mittel, um der Unterbeschäftigung Herr zu werden, als den Unternehmern wieder eine angemessene Profitspanne zu verschaffen.“  [8] Dem Eingeständnis, dass es eben die Herren der Produktion mit ihren höchst privaten Interessen sind, die je nach dem Ausgang der Rentabilitätsrechnung ihres Kapitals über den Fortgang des Wirtschaftens und mit dem über die Reproduktion der Gesellschaft entscheiden, folgt aus ebendieser Überzeugung keine Analyse der Methoden, mit denen Kapitalisten gegeneinander um ihren Profit kämpfen, solange es sich für sie lohnt; und ob und was an denen liegt, weshalb es dies mit einmal nicht mehr tut und statt der Herrschaft ewiger Prosperität progressiver Verfall, zunehmende Arbeitslosigkeit und vermehrte Armut Einzug hält, liegt ebenfalls jenseits des Forschungsinteresses und bleibt folglich unergründet. Stattdessen bringt Keynes mit seiner Diagnose eine Deutung der kapitalistischen Krise in Verkehr, die ihr und ihren Schäden bescheinigt, reparier‑, kompensier‑, und im Idealfall womöglich ganz vermeidbar zu sein. [9]

In der in seiner Disziplin bewährten Manier, die ‚Einflussgrößen‘ seines Konstrukts namens ‚effektive Nachfrage‘ zu ermitteln – im Wesentlichen die im Zitat der Fußnote 9 zum Schluss erwähnten Ketten von Abhängigkeiten –, erforscht Keynes dezidiert nicht (nur) die ökonomische Realität mit ihren diversen Objekten und Sachverhalten bzw. das, was er dafür hält, sondern insbesondere das weite Feld der menschlichen Psyche – und wird dort fündig. Er bereichert die Modell-Welt der VWL und diese bevölkernde „Variablen“ und „Faktoren“ um „Neigungen“, die den wahren und letzten Grund dessen hergeben, was dann als ökonomische Objektivität sichtbar ist. In diesem Sinne formuliert er seine „revolutionäre Neuerung“:

„Das Sparen und die Investition sind die Bestimmten des Systems. Sie sind das zweifache Ergebnis der Determinanten des Systems, nämlich des Hanges zum Verbrauch, der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und des Zinsfußes“ [10] resp. der „drei grundlegenden psychologischen Faktoren, nämlich der psychologischen Konsumneigung, der psychologischen Liquiditätspräferenz und der psychologischen Erwartung der zukünftigen Erträge aus Kapitalgütern.“  [11]
  • In den Teil der Nachfrage, der im makroökonomischen Modell der VWL für den Konsum C verantwortlich zeichnet, interpretiert Keynes ein „psychologisches Gesetz“ der menschlichen Natur hinein, dem zufolge ‚die Menschen‘ mit Zunahme ihrer Einkommen ihren Konsum zunehmend in geringerer Proportion zu steigern pflegen. So findet der Umstand, dass neben der Produktion des Reichtums im Kapitalismus eben auch dessen Konsumtion eine Frage des Eigentums ist, über das einer verfügt, seine wissenschaftliche Deutung in der Abstraktion von allen Momenten, die in dieser Hinsicht ausschlaggebend sind: Aus einer Klassengesellschaft und ihren unterschiedlich bemittelten Mitgliedern mit entsprechend hierarchisch verteiltem Einkommen und divergierenden Konsumgewohnheiten werden Endverbraucher, die mit ihrem „Hang zum Verbrauch“ letztlich eine Verhaltensweise eint, die sie mit ihrer Psyche von Natur aus mitbringen. So bringt das Interesse des Theoretikers Keynes, den Konsum gleichzusetzen mit der begrüßenswerten Funktion, für die er zu funktionieren hat – er hat den Unternehmen den Profit zu realisieren –, ihn dazu, die für diesen Zweck sich unangenehm bemerkbar machenden Schranken der zahlungsfähigen Nachfrage zurückzuführen auf eine Urkonstante menschlichen Verhaltens: Deren angebliche Gesetzmäßigkeiten wären es, die nicht immer gut zu denen einer dem Regime des Gleichgewichts gehorchenden Marktwirtschaft passen, sich in letzter Instanz entsprechend störend auf „das Niveau der Beschäftigung“ auswirken, mit denen sich aber, wie man bald sehen wird, schon auch trickreich umgehen lässt.
  • Weil ihn als Fachmann der gesellschaftlichen Reproduktion im Kapitalismus letztlich alle Geldgrößen interessieren, die als Profit realisierende Kaufkraft fungieren, nimmt in seinem Modell auch das Investieren I eine diesbezüglich bedeutende Rolle ein. Auch das, man erinnere sich an die Gleichung S = I, lässt sich schließlich als eine Verwendung von Einkommen denken, das nicht für gewöhnlichen Endverbrauch verausgabt, also gespart wurde – und kann daher als zweiter Beitrag zur ‚effektiven Nachfrage‘ auch einen durch zu geringen Endverbrauch verursachten diesbezüglichen Mangel kompensieren, zumindest im Prinzip. [12] Warum sich auch das, siehe Konjunktur und Krise, immer wieder mal enttäuschend darstellt – auch in dieser Hinsicht liefert der gelehrte Blick auf den Menschen, seine Natur und seine Verhaltensdispositionen sachdienliche Hinweise.

Zum einen gilt es die „Liquiditätsvorliebe“ zu bedenken, die Antwort auf die Frage geben soll, in welcher Form das beim Konsum zurückgelegte Geld aufzubewahren wäre. Die subjektiven Beweggründe, die so ein Verbraucher hat – „soll er ihn [den Anspruch auf künftigen Verbrauch] in der Form eines sofort flüssigen Verfügungsrechts ... halten? Oder soll er auf das sofortige Verfügungsrecht für einen bestimmen oder unbestimmten Zeitabschnitt verzichten?“ –, entscheiden so über verfügbare Mittel zur „Kapitalbildung“. In diesem Kontext kommt – neben dem „Umsatzmotiv“ und „Vorsichtsmotiv“ – auch das „Spekulationsmotiv“ zur Sprache, und der Ökonom, der angetreten ist, als Weisheit seines Fachs nur noch zu verkünden, was dem Vergleich mit ‚Erfahrungstatsachen‘ standhält, versteigt sich zu Auskünften über den Zins – der immerhin eine ökonomische ‚Erfahrungstatsache‘ ist –, die ihn mit der Höhe identifizieren, auf die Spekulanten spekulieren: Es ist „klar, dass der Zinssatz eine in hohem Grad psychologische Erscheinung ist... Jedes Zinsniveau, das mit genügender Überzeugung als voraussichtlich beständig angenommen wird, wird beständig sein.“[13] Wie auch immer im Einzelnen und ganz genau steht am Ende all dieser Motive, Abwägungen und daraus folgenden Entscheidungen bisweilen eine „steigende Liquiditätspräferenz“, die mit zunehmendem Horten von Bargeld das Potenzial hat, in eine Depression zu führen...

Zum anderen sind es „Erwartungen“ über „voraussichtliche Erträge“, die über die Ausdehnung wie den Rückgang von Investitionen entscheiden. In deren Zentrum steht die „Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“, und die besteht wiederum in der kompletten Abstraktion von allem, was das Kapital, die Methoden und Techniken der Subsumtion der Arbeit unter die Rentabilitätsrechnung des Unternehmers und die Kalkulation des Punktes betrifft, ab dem sich weitere Investitionen in die Steigerung ihrer Produktivität für ihn nicht mehr rechnen. Vom alten Turgot holt sich Keynes ein weiteres Naturgesetz ab, das vom sinkenden Ertragszuwachs, dem zufolge wie schon beim Zuwachs des Einkommens der Konsum, so auch beim Zuwachs der Investitionen der Gewinn zurückgeht. Auf diese Weise erklärt er den tendenziellen Fall der Profitrate, das Werk, zu dem es die Kapitalisten in ihrer Konkurrenz bringen, zur technisch-stofflichen Grundgegebenheit jedweder Produktion – die, dies nur nebenbei bemerkt, bei ihm darin besteht, dass sich Kapital aus sich heraus von selbst vermehrt:

„Wenn die Investition in irgendeiner gegebenen Art von Kapital während irgendeines Zeitabschnittes erhöht wird, wird sich die Grenzleistungsfähigkeit jener Art Kapital mit der Zunahme der Investition verringern.“ [14]

Wie oben vermerkt, ist Keynes der kapitalistische Sinn und Zweck von Investitionen durchaus bekannt: Um den Erhalt und die Vergrößerung seines Vermögens, um Profitmaximierung geht es so einem ‚Investor‘, der einen Vorschuss in Erwartung eines erzielten Überschusses tätigt. In diesem spekulativen Moment, das der kapitalistischen Profitrechnung innewohnt, entdeckt Keynes die Möglichkeit, dass der Investor sich beim Spekulieren auf seinen Profit vertut. Er investiert weiter, um seinen Profit zu mehren, obwohl die Rentabilität seines Kapitals – wegen gestiegener Kosten, gesunkener Erlöse, wegen beidem zusammen oder auch nur wegen gestiegener Zinsen – nicht mehr so hoch ist, wie sie einmal war. Ihre hoffnungsfroh-interessierten Erwartungen in Bezug auf einen weiteren guten Geschäftserfolg verleiten die Kapitalisten durch die Bank dazu, es mit der Sorgfalt beim Kalkulieren der Rendite und Spekulieren auf maximalen Profit nicht so genau zu nehmen – für Keynes’ Geschmack jedenfalls, und diese Erwartungen sind es, die bei ihm zum maßgeblichen Grund der Krise avancieren. Denn wenn die gierigen Investoren am Rückgang der Geschäfte praktisch erfahren, dass sie ihre letzten Investments besser nicht getätigt hätten, ist es natürlich zu spät – und die Krise perfekt, weil jetzt alle auf einmal von ihnen mit einem Schlag das tun, was vernünftigerweise und peu-à-peu einer nach dem anderen vorher hätte tun sollen und mit ein bisschen mehr Überlegung auch hätte tun können. Mit der Zurückführung der Krise auf eine Fehlstellung im Erwartungshorizont der Produzenten geht Keynes so weit, dass er am Ende den sachlichen Gehalt dessen, was ‚Kapitalrendite‘ bezeichnet – in seinen Worten das Verhältnis von „Erträgen“ und „Erzeugungskosten“ eines „Kapitalbestandes“ –, gar nicht mehr von der spekulativen Gewinnerwartung derjenigen unterscheiden mag, die mit ihren Investments ihren Profit maximieren:

„Es ist wichtig, die Abhängigkeit der Grenzleistungsfähigkeit eines gegebenen Kapitalbestandes von Änderungen in der Erwartung zu erfassen, weil es hauptsächlich diese Erwartung ist, welche die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals den einigermaßen heftigen Schwankungen unterwirft, welche die Erklärung für den Konjunkturzyklus sind.“  [15]

c) Nach der Entdeckung einer „Neigung“ der Menschen, sich mit ihrem Einkommen zum Kauf von etwas zu entschließen oder dies zu unterlassen; nach der Ermittlung ihrer „Motive“, jetzt oder später oder nie als Käufer auf den Märkten zu erscheinen und dafür den Zins zu kassieren, um den sich bei Keynes zusammen mit dem Kapital auch das Geld aus sich heraus selbst vermehrt, sind es in letzter Instanz also „Erwartungen“ von Investoren, die für die Schwankungen des Konjunkturzyklus sorgen – und diesen darüber auch schon erklären, weil der ja durch nichts anderes als durch ebendiese Schwankungen bestimmt ist: Krise ist, wenn Kapitalisten dank einer „irregeführten Erwartung“ „überoptimistisch“ sind, die Grenzleistungsfähigkeit ihres Kapitals hoffnungsfroh ignorieren, daher zu lange und zu viel investieren und dies auch noch zu teuer und das erst bemerken, wenn es zu spät ist – dann werden sie schlagartig realistisch, reagieren mit „Bestürzung und Ungewissheit über die Zukunft“ und verfügen den Abbruch ihrer Geschäfte. Auf drei „fundamentale“ Faktoren führt Keynes so die Krise des Kapitals zurück, und alle laufen darauf hinaus, deren systembedingte Notwendigkeit zu negieren. Sie wird zum Derivat von „Einflussgrößen“ erklärt, die einerseits auf die Beliebigkeit der subjektiven Launen und Gestimmtheiten beim Umgang mit Lohn, Preis und Profit zurückgehen, auf „überpessimistische Befürchtungen“, „optimistische“ oder auch „überoptimistische Bewertungen“, „Hoffnungen“, „Illusionen“ und dergleichen intellektuelle (Fehl-)Leistungen mehr. Andererseits soll diese Beliebigkeit so beliebig auch wieder nicht sein, versteht sich vielmehr als Grundkonstante der wirtschaftenden Menschennatur, sodass die Charaktere der Marktwirtschaft als Verursacher der Krise in einem Zug be- und entschuldigt werden: Als Konsumenten, Manager von Liquidität und Investoren sind sie als Funktionäre des marktwirtschaftlichen Kreislaufwesens und seines gleichgewichtigen Funktionierens fürs Wachstum bestimmt – und versagen in dieser ihrer Funktion. Dies tun sie allerdings aus Gründen, für die weder sie, noch ihr marktwirtschaftliches Tun und Lassen, noch sonst irgendeine Besonderheit der eingerichteten Profitproduktion verantwortlich zu machen wäre – die menschennatürlichen Tücken ihres Hangs zum Konsumieren sind für den Zusammenbruch des Geschäftslebens verantwortlich und damit auch für alles, womit der einhergeht:

„Diese Analyse gibt uns eine Erklärung für das Paradox der Armut mitten im Überfluss. Denn das bloße Vorhandensein einer unzureichenden effektiven Nachfrage kann und wird oft die Zunahme der Beschäftigung zum Stillstand bringen... Die Unzulänglichkeit der effektiven Nachfrage wird den Produktionsprozess hemmen...“ [16]

Aber diese feine Analyse des Ökonomen kann selbstverständlich mehr, als nur den ökonomisch bedingten und politisch-rechtlich verfügten Ausschluss der Produzenten von dem Reichtum, den sie schaffen, zum ‚Paradox‘ zu verniedlichen und sich selbst dazu zu beglückwünschen, mittels der Verwendung von Vokabeln, die einen gewussten Grund suggerieren, den Schleier um selbiges gelüftet zu haben. [17] So, wie der Ökonom herausgefunden haben will, dass der Weg in die Krise hinein über ein willkürlich-unwillkürliches Fehl-Verhalten der Menschen führt, das genauso gut auch hätte anders ausfallen können, steht für ihn auch fest, welcher Weg aus ihr wieder heraus führt. Wenn die auserkorenen Funktionäre des Wachstums die Dienste nicht verrichten, für die sie da sind, dann muss man eben dafür sorgen, dass sie auch tun, was sie sollen. Und das geht, weil sie nämlich bei allem, was sie irgendwie verkehrt machen müssen, schon auch über die Potenz verfügen, zur rechten Zeit auch alles richtig machen zu können:

„Die Ausdehnung der Aufgaben der Regierung, welche die Angleichung der Konsumneigung an die Anreize zur Investition mit sich bringt, ... verteidige ich ... sowohl als das einzige durchführbare Mittel, die Zerstörung der bestehenden wirtschaftlichen Formen in ihrer Gesamtheit zu vermeiden, als auch als die Bedingung für die erfolgreiche Ausübung der Initiative des Einzelnen.“ [18]

Der Staat, die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft, hat also den existenzbedrohenden Schaden abzuwenden, den deren Widersprüche periodisch zeitigen – dadurch, dass er die Herren der Produktion und Schöpfer des gesellschaftlichen Reichtums wie das Fußvolk, das sie zur produktiven Mehrung ihres Reichtums zugleich als billige Arbeitskraft wie als unerschöpfliche Zahlungskraft benutzen wollen, zu den Diensten hinmanipuliert, die sie ausweislich der Krise schuldig bleiben. Just die „Größe“, die die VWL bei der Konstruktion ihrer „Kreislauf“-Modelle stets als „externe Instanz“ zu denken beliebt, die sich allenfalls in Gestalt bestimmter „Auswirkungen“ auf ein im Übrigen von ihr absolut unabhängiges „Wirtschaftsgeschehen“ bemerkbar macht, avanciert zum Retter des Systems, mit dem sie ansonsten gar nichts zu schaffen hat. Um dessen Überlebens willen sind für Keynes – das ist der erste große Widerspruch, den er sich leistet – regulative Eingriffe der Staatsgewalt vonnöten, die allen „Axiomen“ und sonstigen Ideen absolut Hohn sprechen, die in der Gedankenwelt der VWL ein gleichgewichtiges Funktionieren der „Gesamtwirtschaft“ zu besorgen haben. Diese Eingriffe sollen – das ist der zweite Widerspruch – zugleich ihren ganzen Sinn und Zweck darin haben, das System der kapitalistischen „Eigeninitiative“ wieder exakt dem Selbstlauf zu überlassen, dem es seinen GAU in Gestalt der Krise zu verdanken hat. Und mit dieser Erklärung der Krise als heilbaren Störfall – dies das Interesse, das die Denkfehler generiert – im Betrieb eines im Übrigen hochgradig vernünftig, weil allein nach den Maximen der Freiheit privater Eigentümer und ihrer Initiativen zur Mehrung ihres Vermögens eingerichteten Wirtschaftslebens hat Keynes sich die Aufnahme in den Olymp der volkswirtschaftlichen Denker verdient.

III.

a) Es sind eher nicht die theoretischen Überlegungen zur Krise und ihren Ursachen, mit denen Keynes in der VWL Furore macht und dafür sorgt, dass sich die Vertreter der Disziplin auch heute noch in „Keynesianer“, in solche mit den Präfixen „Post‑“ oder „Neu‑“ oder „Neo‑“ oder eben „Nicht‑“ oder „Anti‑“ fragmentieren. Was diese Überlegungen betrifft, so koexistiert sein ‚Prinzip der effektiven Nachfrage‘ friedlich mit anderen Angeboten, sich die Krise als lokal wie temporär unterschiedlich dimensionierte „Disproportion“ im wirtschaftlichen „Kreislauf“ zurechtzulegen. [19] Als „Überinvestition“, wenn man die Tautologie zum Ausdruck bringen will, dass bei Investitions- und Konsumgütern die Proportion verletzt ist, die für ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage sorgen könnte; als „Unterkonsumtion“, wenn nach demselben Muster festgehalten werden soll, dass zur erfolgreichen Markträumung zu wenig Kaufkraft unterwegs ist; oder als „monetäre Konjunkturerklärung“, die dasselbe Phänomen auf Schwankungen der Geldmenge zurückführt, welche auf den einschlägigen Märkten die Gleichgewichte verschieben – allesamt bemerkenswert dumme Einfälle, ein Un-Gleichgewicht zwischen diversen Aggregaten mit Mechanismen zu erklären, die ihr Gleichgewicht verhindert haben.

b) Maßgeblichen Eindruck gemacht hat Keynes mit den praktischen Schlussfolgerungen, die seiner Meinung nach aus dem Umstand zu ziehen wären, dass die Menschheit beim Tun des an sich volkswirtschaftswissenschaftlich Gebotenen periodisch auf menschlich-allzu-menschliche Abwege gerät und für bedauerliche Einbrüche beim Wachstum sorgt. Was er in Anbetracht der Krise zu deren Behebung als Gebot der Stunde empfiehlt – eine Steuerpolitik zur Umverteilung der Einkommen, welche die Defizite der „Konsumneigung“ ausbügelt, eine Geld- und Zinspolitik, die selbiges in Bezug auf das Management von „Liquidität“ und die „Neigung zur Investition“ bewerkstelligt – findet sich heute im elaborierten Katalog der Staatsfunktionen wieder, mit dem der politische Hüter des Allgemeinwohls regelmäßig und bei gebotenem Anlass besonders eindringlich von der VWL an die Pflicht erinnert wird, die Entfaltung der geschätzten freien Initiative des Eigentums auf möglichst stetigem Wachstumskurs zu halten. Seit Keynes ist im Fach Konsens, dass der Staat mit seiner Hoheit über das Geld- und Kreditwesen und mit seiner Verfügungsmacht über das Einkommen seiner Bürger „die Wirtschaft“ politisch zu steuern hat, „Stabilitätspolitik“ heißt zusammenfassend das Ideal vom Aufschwung ohne Abschwung. Wie diese Politik auszusehen hat, ist selbstverständlich umstritten:

  • Im Zentrum der Konkurrenz der Lehrmeinungen steht die Frage, wie es um die Tauglichkeit staatlicher Verschuldung als Instrument zur Wieder-Beförderung des Wachstums bestellt ist, wenn Krise ist, sodass sich an Keynes die volkswirtschaftlichen Geister scheiden. Ein Teil der Denker tendiert unter Berufung auf ihn zu der Auffassung, dass Schulden des Staates allemal ökonomisch gerechtfertigt sind, wenn sie „beschäftigungspolitische Effekte“ nach sich ziehen und darüber sowie über zauberhafte „Multiplikator-Wirkungen“ im Endeffekt als überkompensierender Ersatz der weggebrochenen Nachfrage nach Konsum- und vor allem Investitionsgütern fungieren und das „Volkseinkommen“ steigern. Andere, die unter der Rubrik „Monetaristen“ zusammengefasst werden, halten dagegen, dass exakt solche Eingriffe in das freie Spiel der Marktkräfte die Instabilitäten überhaupt erst hervorrufen, die sie unterbinden wollen. Ihrer Ansicht nach ist der „private Sektor“ (M. Friedman) mit seiner Nachfrage nach Geld – zum Bezahlen der Preise für Konsum, Investitionen, Aktien ... – ein einziger Hort von Stabilität, weil er mit dem Geld ja regelmäßig exakt das tut, wofür er es nachfragt. Und wenn der Staat dann mit Geldpolitik die Menge des Geldes, das er in Umlauf bringt, steigert, stolpern die Privaten in ihrer Stabilität nicht wie bei Keynes in eine Liquiditätsfalle und horten ihre Barschaft, sondern tun, was sie immer tun, fragen vermehrt das vermehrte Geld nach, gehen Einkaufen, dass es kracht, und steigern das Bruttosozialprodukt...
  • Irgendwie sachlich zu entscheiden ist dieser Prinzipienstreit, der über in die VWL-Modell-Welten hinein konstruierte Wirkungsketten, nicht minder dogmatisch postulierte Neben- und Gegenwirkungen sowie deren alternative Verkettungen geführt wird, definitiv nicht, ebenso wenig wie die sich ihm unmittelbar anschließende Frage, welches Schicksal den von der staatlichen Notenbank in den Wirtschaftskreislauf eingespeisten Geldsummen in beiden alternativen Fällen beschieden ist: Ob sie als Kredit für kapitalistisches Geschäft fungieren, tatsächlich eine Akkumulation „anstoßen“ und sich als Wachstumsschub bemerkbar machen – oder ob sie bloß nominell die Geldmenge aufschwellen, sich deswegen als Wertverlust der Geldeinheit bemerkbar machen und so die Volkswirtschaft ärmer machen, anstatt sie wachsen zu lassen. Auch das sind Fragen, die nicht von den Gelehrten theoretisch, sondern vom Gang der Dinge praktisch entschieden werden, was in dieser fröhlichen Wissenschaft allen enormen Auftrieb verschafft, die sich von der Exegese mit enormem Aufwand beschafften statistischen Datenmaterials Einblicke in die Geheimnisse der Geldentwertung versprechen.
  • Fest steht jedenfalls und immerhin, dass beim staatlichen Wirtschaften mit Schulden auf „inflationäre Wirkungen“ zu achten ist. Dies ist auch bei allen anderen pro- oder antizyklischen „investiven Anreizen“, „monetären Signalen“ oder „Zinshebeln“ der Fall, mit denen von Staats wegen in den Geldverkehr oder sonst wie ins bürgerliche Geschäftsleben eingegriffen wird. Sei es zur „Bremsung“ der Konjunktur im Boom oder ihrer „Ankurbelung“ in der Rezession, stets ist eines für den ökonomischen Sachverstand ausgemacht: Nicht nur ist bei all diesen geld-, finanz- und wirtschaftspolitischen „Eingriffen“ bis hin zu größeren „strukturellen Maßnahmen“, mit denen es der Krise, sei es prophylaktisch, sei es therapeutisch, entgegenzusteuern gilt, immer ungewiss, ob sich die erwünschten Wirkungen einstellen – welche unerwünschten Nebenfolgen man mit seinen guten Absichten herbeiführt, lässt sich gleichfalls nicht absehen und nur hinterher praktisch konstatieren.

c) Entmutigen lassen sich die Denker dadurch freilich nicht in ihrem Bemühen, dem Staat mit ihrer Sachkunde und entsprechend fundierten Ratschlägen zur Seite zu stehen beim Versuch, seinen Kapitalisten in der Krise wieder zu dem Wachstum zu verhelfen, in dem ja auch er seine materielle Lebensgrundlage hat. Dass so, wie der kapitalistische Laden nun einmal eingerichtet ist und die Konkurrenz verläuft, am ewigen Auf und Ab der Konjunktur des Geschäftslebens nichts zu ändern ist, wissen beide Seiten und stellen sich darauf ein. Die wissenschaftlichen Experten unternehmen immer neue Anläufe, bei Geldmengen und Zinshöhen die je nach Lage und deren weiterer Entwicklung genau richtige Größe zu ermitteln, ohne dass sie imstande wären anzugeben, was da ‚richtig‘ heißt und wie die ‚Lage‘ überhaupt aussieht, von ihrer zukünftigen ‚Entwicklung‘ ganz zu schweigen. Der Staat ist dafür dankbar, dass diese Fachleute immerhin hervorragend rechnen können, das Wachstum, auf das es ankommt, in all seinen Verästelungen und Details nicht nur zu bilanzieren, sondern in Hinblick auf seine Zukunft auch noch zu „prognostizieren“ verstehen und auch noch vor möglichen „Störungen“ und „Fehlentwicklungen“ der eigenen Prognosen zu „warnen“ imstande sind: Auf diese Weise wird er von seinen dienstbaren Geistern immer darüber ins Bild gesetzt, wie sein Standort kapitalistisch funktioniert im Großen und Ganzen, worauf er aufpassen soll, wo er gegebenenfalls praktisch reagieren muss, damit er weiter so gut oder besser als jetzt oder zumindest wieder so wie oder noch besser als neulich funktioniert. Mehr will er vom Kapitalismus unter seiner hoheitlichen Kontrolle gar nicht wissen, mehr Wissen können ihm seine Fachleute für funktionierende Kreisläufe ohnehin nicht liefern – und mehr braucht es auch gar nicht für einen politischen Willen, der mit Geld und Gewalt seinen Kapitalismus durch alle Krisen hindurch auf Wachstumskurs hält.

3. „Globalisierung“ insofern ein schöner Höhepunkt, weil die Nationalkapitalisten den Gebrauch ihrer Macht für den Erfolg ihres Lokal- und Geldpatriotismus zum überlebensnotwendigen Dauerprogramm erklären  [20]

Eine Idee macht Karriere ...

Wenn ein Wort zum Schlagwort wird, dann nennen es die Leute zwar gerne einen Begriff; aber der ausgiebige Gebrauch verbürgt überhaupt nicht, dass die Benutzer des Wortes, die es für so vielsagend halten, etwas begriffen haben. Wenn sie das gute Stück wieder einmal zum Einsatz bringen, fangen sie nicht an mit einer Erklärung der Sachen, um die sich die Diskussion dreht. Im Gegenteil: Ein rechtes Schlagwort signalisiert Bescheidwissen, erklärt jede „weitere“ Erklärung für überflüssig, ist durch seine Erwähnung der eingelöste Anspruch auf Zustimmung und deshalb sehr begehrt bei Zeitgenossen, die ihren ansonsten sehr eigenen und persönlichen Meinungen ein bisschen Unwidersprechlichkeit verschaffen wollen. Eingedenk der Unsitte, mit Hilfe einiger Kürzel dem Begründen und Erklären aus dem Weg zu gehen und entsprechende Versuche zu erschlagen, haben sich Schlagwörter bei wachen Geistern einen schlechten Ruf erworben. Für Leute, die gelegentlich etwas genauer wissen wollen, ist das Hantieren mit Schlagwörtern eine unredliche Art zu diskutieren; eine Manier, Notwendigkeiten ohne gescheiten Grund in die Welt zu setzen und ihre allgemeine Anerkennung zu fordern, die keineswegs so notwendig sind, wie es das eifrig in die Runde geworfene Schlagwort fingiert. Die vielmehr Absichten und Interessen verbergen sollen, die gar keine Anerkennung verdienen und überprüft gehören.

Dem Schlagwort „Globalisierung“ ist solcher Verdacht erspart geblieben. Die intellektuelle Gemeinde in Redaktionen und Universitäten argumentiert munter mit diesem „Begriff“; und verschont die maßgeblichen Instanzen von „Demokratie & Marktwirtschaft“, die Politik und die Wirtschaft, mit Vorwürfen des Typs, sie würden mit ihrer Litanei von der „Globalisierung“ lediglich rechtfertigen, was sie ohnehin und aus anderen Gründen tun und vorhaben. Seitdem sich Regierungen und Wirtschaftslenker wechselseitig mit Ermahnungen traktieren und voneinander verlangen, sich der Herausforderung namens „Globalisierung“ zu stellen, gibt es auch eine ansehnliche Literatur zum Thema:

  • Die einen, daran gewöhnt, die Erfolge von Staat und Wirtschaft als das Sorgeobjekt ihrer theoretischen Bemühungen zu behandeln, haben umgehend die Botschaft von der neuen „Lage“ übernommen, mit der Politiker und Unternehmer fertigwerden müssen; sofort war ihnen das historische Phänomen vertraut, dessen Folgen sich die Geschäftswelt erwehren muss und dem sich keine politische Führung entziehen kann. Fleißig malen sie aus, worin die „Globalisierung“ so besteht – manche entdecken da heute „die Entstehung weltweiter Märkte für Produkte, Kapital und Dienstleistungen“, alle staunen über die „Bruchteile von Sekunden“, in denen weltweit Geld herumgeschoben wird; die Warnung vor der weltweiten Umweltverschmutzung, die auch ziemlich fix geht, darf auf keinen Fall fehlen, weil die Nationen, die zum globalen Dreck erhebliche Beiträge leisten, bei dessen Kontrolle nichts Rechtes hinkriegen; das Spielzeug der Kleinen ist aus chinesischen Plasten und Elasten, weil es nicht aus dem Erzgebirge kommt, und auch Millionen von Menschen bleiben nicht dort, wo es sie per Geburt hinverschlagen hat, sondern machen sich auf die Socken in andere Länder... Zur Abrundung des Bildes, das zahlreiche Autoren mit Hilfe vielen Anschauungsmaterials von der „Globalisierung“ zeichnen, versäumen sie freilich nie, auf die Botschaft zurückzukommen, um die es ihnen zu tun ist. Die aufgezählten Phänomene stellen ebenso viele Probleme dar, denen die Staaten nicht so recht gewachsen sind; sie sehen sich der geballten Macht der „global players“ gegenüber, von der sie abhängig sind und die sie doch nicht unter Kontrolle haben; Staaten laufen mindestens Gefahr, „ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Kompetenzen durch die Globalisierung der Privatwirtschaft zu verlieren“, von „global governance“ – einer denkbaren Antwort auf die Umtriebe der „global players“, die „ohnehin nicht mehr rückgängig zu machen“ sind – ist weit und breit nichts zu sehen. Das hindert aber Globalisierungs-Fachleute nicht daran, den Politikern den Rat zu erteilen, entschlossen auf die Globalisierung zu reagieren und sich an ihr zu bewähren. Denn dann ist sie auch eine Chance.
  • Andere fangen gleich dort an, wo die Erzähler von Geschichten, wie sie sich auf dem Weltmarkt unserer Tage zutragen, so zielsicher landen. Sie teilen die Diagnose von der ökonomischen Internationalisierung, die den „Nationalstaaten“ zu schaffen macht. Sie sind aber genauso überzeugt davon, dass Globalisierung nicht etwas ist, „das wieder aufgehalten oder sogar nach Belieben zurückgedreht werden kann“ – schließlich ist nicht zu übersehen, dass die Erfolge von großen Konzernen wie die des verehrten Mittelstands darauf beruhen, dass diese Arbeitgeber Gewinn bringend exportieren und importieren sowie auf der ganzen Welt investieren. Sie gehen auch davon aus, dass den Nationalstaaten an diesen Erfolgen sehr viel liegt, weswegen mit der Befolgung des Rates zu rechnen ist, die Politik solle ihre Macht darauf verwenden, den Erfordernissen der „Globalisierung“ zu genügen. Also steht eine zweite Gattung von Globalisierungsliteratur ins Haus, die alle fälligen Reaktionen auf das sinnfällige Phänomen in Betracht zieht und die unausweichlichen Folgen für die „Gesellschaft“ vorhersagt, problematisiert und für Umstellung, Anpassung, Umdenken und so Zeug plädiert.

Soziologen und Sozialphilosophen erwarten von der Wirtschaft, dass sie ihre Betriebe fit macht für die „globalisierten Märkte“; von der Politik erwarten sie, dass sie ihrem Auftrag und Interesse nachgeht, den Standort so zu regieren, dass er dem Druck der Globalisierung gewachsen ist. Was da alles angestellt wird, steht in der Zeitung, berührt aber den Erklärungsbedarf von echten sozialen Denkern wenig. Die interessiert eher die Veränderung, welche da an der „Gesellschaft“ vollzogen wird; wobei für sie „Gesellschaft“ definitionsgemäß ein mehr oder minder stabiles Zusammenleben von Leuten ist, die sich gemäß den Normen und Werten verhalten und aufeinander beziehen, die sie intus haben. Und auf diesem Feld hält die „Globalisierung“ manche Wirkung bereit, die für die „Zukunft“ und die „Stabilität“ der „Gesellschaft“ entscheidend ist. Da heißt es sich umstellen für die Menschen, mancher Wert geht verloren, neues Verhalten ist gefragt, die Beziehungen stehen ganz im Zeichen der modernen Kommunikationsmittel. In diesem Sinne sind tiefe Reflexionen vonnöten: Was machen wir mit den fremden und globalen Werten, die über uns hereinbrechen? Die womöglich in Gegensatz zu unseren lokalen und regionalen Traditionen stehen, in denen wir eingehaust sind und die uns ein Gefühl der Vertrautheit vermitteln? Bietet in der digitalen Arbeitswelt der erlernte Beruf noch eine Heimat oder müssen wir mit unserem Computer den Jobs hinterhereilen, die sich täglich samt ihren Anforderungen ändern? Und was machen wir mit unserer Mobilität und unserem CD-Rom-Wissen, wenn die Globalisierung – was abzusehen ist – uns gar nicht beschäftigen kann? Beschäftigen wir uns dann selbst oder nur noch mit uns selbst? Z. B. indem wir bei der Entscheidung zwischen chinesischen Turnschuhen und deutschen Hauslatschen der Ungeheuerlichkeit innewerden, „dass die globalen Kommunikations- und Informationssysteme die unterschiedlichen nationalen wie regionalen Kulturen nicht unbeeinflusst lassen und mitunter bis in alltägliche Gewohnheiten hinein verändern“?

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Wenn sich Veröffentlichungen von Wissenschaftlern nicht mehr von Besinnungsaufsätzen und präsidialen Sonntagsreden unterscheiden, dann hat das Werben um den gehörigen Respekt vor der „Globalisierung“ eingeschlagen. Diese Idee hat sich durchgesetzt; was wie immer, wenn Einfälle gut ankommen, daran liegt, dass sie der Menschheit die Zumutung ersparen, es gäbe etwas Wesentliches zu ändern. Die Veränderungen, von denen die Theoretiker der Globalisierung berichten, sind längst erfolgt bzw. sowieso schon im Gange. Ihnen ist die Diagnose gewidmet, in der auch gelegentlich zur Sprache kommt, wer für die enormen Umwälzungen verantwortlich zeichnet: Der Prozess der Globalisierung ist zu „einem großen Teil das Resultat von Entscheidungen, die Staaten in der Vergangenheit getroffen haben und nach wie vor treffen. Regierungen waren und sind es, die die Schutzwälle um ihre Volkswirtschaften schrittweise abgetragen haben und weiterhin abtragen (außenwirtschaftliche Liberalisierung).“ Dass deswegen viele Unternehmen ihre Geschäfte – Kauf und Verkauf, Investitionen, Fusionen... – inter-national abwickeln, dürfte wohl der Zweck der Veranstaltung (gewesen) sein. Das ist Globalisierungstheoretikern zwar bekannt, aber für die Reflexionen, die sie in Umlauf bringen wollen, ziemlich unwichtig. Sie machen sich auch nicht daran, die Berechnungen zu erklären, die auf dem modernen Weltmarkt zum Zuge kommen, sodass man weiß, wie Staaten und Kapitale zusammenwirken und sich in die Quere kommen. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht den Gesetzen, die auf auswärtigen Handel mit Waren, Geld und Kapital bedachte Staaten und die Kalkulationen tüchtiger Geschäftsleute für die Produktion und Verteilung von Reichtum auf dem ganzen Globus verbindlich machen; sie verlegen sich nämlich ganz auf die umgekehrte Perspektive, versetzen sich in die Lage der maßgeblichen Instanzen der Weltwirtschaft, um ihnen zu bescheinigen, dass sie von der weltweiten „Verflechtung“ betroffen sind. Deshalb mündet die per Schlagwort erstellte Diagnose regelmäßig in die besorgte Empfehlung, Staat und Kapital möchten doch eingedenk ihrer Abhängigkeit vom weltweiten Geschäftsverlauf gut auf sich aufpassen. Mit dem Gestus von neutralen Beobachtern entdecken die Globalisierungstheoretiker am Weltmarkt, dass er ein Markt ist und damit eine Konkurrenzveranstaltung, in der sich die in Betrieben und Nationen erbrachten Leistungen nicht ergänzen – welche „Abhängigkeit“ ja eine schöne Sache wäre –, sondern sich in Gestalt von in Geld beziffertem Wachstum ausschließen. Und diese herausragende Entdeckung wird zum neuesten und letzten Sachzwang des zu Ende gehenden Jahrtausends ernannt, sodass die schiere Erwähnung des Stichworts „Globalisierung“ bereits als Forderung nach einer und nur einer praktischen Konsequenz gemeint ist und verstanden wird: Unternehmer und Staaten, die die ganze Welt ihren Interessen dienstbar machen, sind enorm unter Druck – sie können schließlich zu Verlierern der Konkurrenz werden – und gezwungen, auf ihre Konkurrenzfähigkeit zu achten: „In einer weitgehend liberalisierten Welt konkurrieren neben den Waren- und Arbeitsmärkten aber auch ganze Staaten aufgrund (?) ihrer unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse als Produktionsstandorte gegeneinander. Deshalb wird auch in Deutschland darüber diskutiert, ob es als Wirtschaftsstandort noch konkurrenzfähig ist...“

Es ist schon merkwürdig. Da passiert in der Welt des kapitalistischen Schachers mit ihren anmutigen, uns allen vertrauten und lieb gewordenen Kontrasten zwischen Armut und Reichtum, Arbeit und Herrschaft endlich einmal etwas echt Neues; eine veritable Umwälzung hat sich vor unseren Augen abgespielt – die Lücke, die der schon längere Zeit abgetretene „Imperialismus“ hinterlassen hat, ist durch die Globalisierung geschlossen –; und was folgt daraus? Die maßgeblichen Instanzen von „Demokratie & Marktwirtschaft“ erfahren die von ihnen mühsam entwickelte Globalisierung als Regime der Unfreiheit; die schöne neue Welt zwingt sie gebieterisch dazu, sich im internationalen Vergleich zu behaupten. Und um sich durchzusetzen in ihrer Abhängigkeit, müssen sie ungefähr genau dasselbe tun, was sie schon vor der weltwirtschaftlichen und Jahrtausendwende um ihres Erfolges willen getan haben. Das schmerzt, ist aber unvermeidlich – ganz zu schweigen von den vielen Statisten der Weltwirtschaft, die ihrerseits von den Erfolgen ihrer Nationen und der Wirtschaft abhängig sind. Für sie – als Mittel und Opfer, eben als Anhängsel ihrer Konkurrenzbemühungen – tragen die Hüter von Standorten und die Arbeitgeber auch noch die Verantwortung...

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Die Brauchbarkeit der neuen Ideologie war für Politiker und Wirtschaftslenker ziemlich schnell klar. Ihre Beschäftigung beschränkt sich ja nicht darauf, Entscheidungen zu fällen. Stets geht es auch darum, dem Rest der Welt – der von ihren Beschlüssen immer betroffen ist – gute Gründe für den Gebrauch ihrer politischen bzw. Geld-Macht mitzuteilen. Und ein Grund, der von ihrer Zuständigkeit für die Lebensbedingungen der ganzen Gemeinde überhaupt kein Aufheben mehr macht, also höchstens noch die Forderung zulässt, dass sie „ihre Sache“ gut machen; ein Grund, der die Grundrechnungsarten des kapitalistischen Umgangs mit Arbeit und der staatlichen Rechnungen mit Geld und Macht jeglicher Diskussion entzieht, indem er die Träger politischer und ökonomischer Verfügungsgewalt zu ausführenden Organen eines Sachzwangs verklärt, dem sie ausgeliefert sind; ein Grund, der sie zu ehrlichen Erben Luthers (der stand da und konnte nicht anders) befördert, indem er den andere ausschließenden Erwerb von Geld und den Zuwachs von Macht nicht als Zweck behauptet, sondern in der Methode der Konkurrenz ersäuft; ein solcher Grund ist selbst für den dümmsten Kanzler und Industriellen, der sonst nur zwischen roten und schwarzen Zahlen unterscheidet, ein gefundenes Fressen – gewissermaßen der Universalschlüssel zur Rechtfertigung aller Maßnahmen, die den Managern von Staat und Kapital so einfallen. Und seitdem das Schlagwort zur Verfügung steht, geht auch gnadenlos alles – von den Lohnnebenkosten, dem Sozialwesen über die Privatisierung der Telekom bis zum Euro – als Reaktion auf die Globalisierung über die Bühne.

... und beschafft sich ihr Material

Vom Standpunkt der Logik ist die Subsumtion jeder kapitalistischen Affäre unter den Zwang zur Konkurrenz ein klarer Fall von abstraktem Denken. Das interessiert aber wirklich niemanden, jedenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt, dass besagtes Denken gewisse Defekte aufweist, was seine Beurteilung des Weltmarkts und seiner umtriebigen Akteure angeht. Abstraktes Denken ist unbeliebt, weil es nicht „konkret“ ist, worunter studierte Leute heutzutage die Ergänzung ihrer Schlagwörter um eine Beispielsammlung verstehen, damit sich jeder was darunter vorstellen kann.

In unserem Fall z.B. wäre es womöglich zu Missverständnissen gekommen, wenn die Fachleute der Globalisierung einfach die Idee verkündet hätten: „Auf dem Weltmarkt, wo wir tätig sind, herrscht Konkurrenz!“ Vielleicht wäre dann nicht gleich das Echo gekommen, das erwünscht ist. Statt der unisono geforderten Reaktion des Typs: „Na, wenn die Sache so ist, dann gibt’s ja keine Alternative!“ hätte sich gar die Frage seitens der wissenslustigen Jugend eingestellt: „Und worum geht’s denn bei eurer Konkurrenz?“ und eine Antwort dazu. Die nämlich, dass das Konkurrieren ein bisschen das Gegenteil von internationaler „Zusammenarbeit“ und „Arbeitsteilung“ ist und nur die Verlaufsform der ungemütlichen Bemühung, auf Kosten anderer Leute und Nationen Geld zu machen. In unserem Fall ist es aber nicht dazu gekommen, weil Jung und Alt erfolgreich getäuscht wurden – eben mit der Parole „Globalisierung“ und der dazu gehörigen Beispielsflut. Letztere führt dem Publikum „konkret“ vor Augen, welch aufregenden Umwälzungen es beiwohnt, damit es merkt, worauf wegen Globalisierung kein Verlass mehr ist, mit welchen Schwierigkeiten in den oberen Etagen gekämpft wird, in wie viel Untersachzwängen sich die Globalisierung inzwischen niederschlägt – sodass sich schließlich vom Bankmanager über den Spiegelleser bis zum arbeitslosen Wähler jeder aufrichtig wünscht, die Weltwirtschaft möchte doch in den Griff bekommen werden. Von wem, ist keine Frage. Die Kompetenzen sind verteilt, ihre kompetente Ausübung allerdings gefordert.

a) Jede Studie über die „Globalisierung“ wähnt sich verpflichtet, erst einmal den Schlager aufzulegen, der das Gemüt des Staatsbürgers einigermaßen erschüttert. Der Text handelt vom global tätigen Kapital, das sich der Kontrolle durch die auf den nationalen Hoheitsbereich beschränkte politische Macht entzieht. „Sinkender staatlicher Einfluss“ gehört da zu den eher matten Befunden; die Behauptung, der Staat könne seine Aufgaben nicht mehr lösen, schon gar nicht mehr demokratisch, ohne Volksbeteiligung ginge es zu, wenn die Wirtschaft von Multis gemacht wird, stimmt da schon nachdenklicher – obwohl sie gar nicht wie in früheren Zeiten systemkritisch gemeint ist, sondern die Sorge um den Gesundheitszustand der Nation anstachelt. Manche beleuchten das mit der Globalisierung entstandene Problem gleich ganz eindringlich und malen die Gefahr an die Wand, dass der Staat seine Souveränität aufs Spiel setzt. Das sitzt und ist der gerechte Lohn für die zielstrebige Nicht-Befassung mit der marktwirtschaftlichen Symbiose von Geschäft und Staatsgewalt. Wenn Globalisierungstheoretiker zu ihrer Sache kommen, werden sie sehr gleichgültig gegenüber allem, was ihnen sehr wohl bekannt ist. Dass die Staaten ihre hoheitlichen Befugnisse wahrgenommen haben, um dem globalen Treiben von einheimischen wie ehemals ausländischen Unternehmen „den Weg zu bahnen“, braucht man ihnen sicher nicht zu erzählen. Sie dürften es auch nicht für eine die Augen öffnende Mitteilung halten, wenn man ihnen den Zweck des marktwirtschaftlichen Internationalismus aufsagt – da soll eben Wachstum stattfinden, indem im und am Ausland verdient wird. Und schon gar nicht übersehen haben sie, dass die Regierungen der marktwirtschaftlichen Demokratien, deren Status als „führende Industrienationen“ feststeht, auch im letzten Jahrzehnt sehr souverän ihre Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, der es an „Einfluss“ auf das Geschehen jenseits der Grenzen keineswegs mangelt. Mit der Erinnerung an die Leistungen des „Nationalstaats“ für die Schaffung und bei der Benutzung des Weltmarkts ist deswegen auch Leuten nicht beizukommen, die die Legende von der staatlichen Ohnmacht verbreiten.

Denn trotz mancher Übertreibung, die die Schilderung vom Weltmarkt aufweist, auf dem die Wirtschaft eigenmächtig ihren freihändlerischen Unternehmungen nachgeht und den Staat zum Respekt vor ihren Belangen verurteilt – so weit gehen die Ideologen der „Globalisierung“ doch nicht: dass sie eine kritische Theorie der Weltwirtschaft aufstellen, die behauptet, dass die Staaten in der Bewegung der inter-national engagierten Kapitale keine Rolle mehr spielen, sich gar herauskürzen! Umgekehrt reden sie gerade in der Darstellung der Nöte, die dem Staat von der globalen Wirtschaft beschert werden, von nichts anderem als den Notwendigkeiten staatlichen Handelns, wie es die weltweite „Verflechtung“ erfordert. Und sie landen stets bei Vorschlägen an die Staatsgewalten ihrer Wahl, die denen empfehlen, welchen Gebrauch sie von ihrer Macht zu machen hätten. Die Zurichtung des Standorts in Sachen „Konkurrenzfähigkeit“ ist da ebenso selbstverständlich wie die kräftige Einmischung in die Regierungsgeschäfte anderer Nationen – für welches Interesse die „Globalisierung“ einen unwidersprechlichen Rechtstitel abgibt.

Der Vorteil einer beschränkten Wahrnehmung für die Theoriebildung ist nicht zu unterschätzen. Wer sich damit bescheidet, bei der Besichtigung der Weltwirtschaft unserer Tage festzustellen, dass da Konkurrenz „herrscht“, der hat sich offenbar entschieden. Erstens dafür, dass sich Kapitalisten aller Herren Länder daheim und auswärts um Geschäftserfolge bemühen; das geht in Ordnung, weil sich aus diesen Erfolgen das Wachstum ergibt, von dem Arbeitsplätze und Wohlstand auf der ganzen Welt abhängen. Insofern ist es auch nicht mehr schlimm, von Kapitalismus zu reden – wozu etwas leugnen, zu dem es keine Alternative gibt. Zweitens dafür, dass auch und gerade die Staaten dieser Welt vom Gelingen dieser Geschäfte „leben“ und im Interesse ihrer Macht gut daran tun, Geschäftshindernisse auszuräumen – wozu sich mit der Phrase bekannt gehört, dass von der Internationalisierung der Wirtschaft kein Weg mehr zurückführt. Drittens dafür, dass die Staaten darauf achten, dass aus der grenzüberschreitenden Vermehrung von Kapital genug für ihre Bilanzen und Haushalte herausspringt – womit sie als Kapitalstandorte in Gegensatz zu ihresgleichen stehen. Viertens dafür, dass die Nation, der man besonders zugetan ist, dem Risiko, zu kurz zu kommen, entschlossen begegnet. Das Risiko, in der Konkurrenz der Nationen zu verlieren, wenn die Erträge der globalisierten Wirtschaft bei anderen Adressaten landen, malen Globalisierungsfreunde kräftig aus – um ganz ohne Imperialismustheorie einen noch kräftigeren Aufruf zum politökonomischen Nationalismus loszuwerden. Ohne falsche Scham – die Konkurrenz, von der sie angetan sind, haben sie schließlich als Sachzwang vorgefunden – raten sie zu imperialistischer Praxis.

b) Leute, die sich auf die Dialektik von Risiko & Chancen der „Globalisierung“ verstehen, sind von einem Ideal beseelt, dessen Verwirklichung durch die Nation sie einklagen: Die Politik hat dafür zu sorgen, dass das inter-nationale Herumfuhrwerken von Kapital reibungslos stattfindet und der dabei erzielte Geschäftserfolg mit dem Machtzuwachs der von ihnen favorisierten Nation(en) zusammenfällt. Wer sich so verständnisinnig dem Gelingen der Benutzung des Weltmarkts widmet, dem fallen nicht nur die Konkurrenten mit ihren gleichgerichteten Anstrengungen unangenehm auf. Der nationalen Sache droht noch von einer anderen Seite Gefahr, nämlich von einem sehr mächtigen Geschöpf der Internationale des Kapitals. Die Rede ist nicht von ein paar Milliarden Menschen, die zur abhängigen Variablen des globalen Wachstums hergerichtet worden sind und jede Menge gute Gründe haben, sich das Regime der Marktwirtschaft vom Halse zu schaffen. Vielmehr vom Finanzkapital, das zwischen sämtlichen Nationen Gewinn bringend hin‑ und hergeschoben wird. Diese Abteilung von Märkten ist den Anhängern des Globalisierungsgedankens gleich mehrfach suspekt vorgekommen – nämlich immer in den Fällen, wo ihr Geschäft eingebrochen ist. Insofern freilich ist die Befassung mit den Märkten, auf denen außer mit Geld und Schulden mit gar nichts gehandelt wird, genauso dürftig ausgefallen wie die mit dem übrigen Kapitalismus.

Den Leitfaden für die Warnungen vor dieser Sphäre liefert ebenfalls die Erfahrung der Ohnmacht, welche die Regisseure der Marktwirtschaft über sich ergehen lassen müssen. Allerdings stellt sich dieses Leiden nicht wie bei der Auseinandersetzung mit Konkurrenten aufgrund deren Leistungen ein; National-Ökonomen und ihre Interessen sind hier verletzt, wenn die „Anleger“ von Geldkapital bei ihrem Handel mit Devisen, Aktien und Derivaten einmal scheitern. Im Falle des Finanzkapitals sind sich Globalisierungstheoretiker mit Wirtschaftspolitikern und Konzernen der Industrie von vornherein einig, dass sie es mit einer für sie unverzichtbaren Dienstleistung zu tun haben, die nur dadurch zustande kommt, dass die Rechnungen mit Gewinn bringenden Zetteln und computerbeschleunigten Orders & Demands aufgehen. Wenn dann ein paar Bankpleiten stattfinden, eine Börse abstürzt und eine Währung ihren kaufkräftigen Geist aufgibt, wissen sie umgekehrt Bescheid – davon sind sie enorm betroffen und schreiten wegen der Wirkungen auf ihr eigenes Geschäft zur Kritik. Die hat ihre komischen Seiten, weil sich da Instanzen, die das internationale Kreditgewerbe mit Geschäftsartikeln versorgen und lebhaft an ihm teilnehmen, darüber beschweren, was ihnen diese „Märkte“ antun:

  • Schon etwas heftigere Bewegungen bei Währungskursen, die den Außenhandel einer Nation durcheinanderbringen, veranlassen bisweilen Finanzpolitiker zur Schelte, da würden „bloß spekulative“ Bewegungen dazu führen, dass die Geldmacht falsch bewertet und / oder die Konkurrenzfähigkeit ihrer Nation untergraben wird. Dass es sich dabei um die Kritik von Leuten handelt, die als Amtsträger ihrer Nation immerzu „Geld schöpfen“ und den Kredit der Nation dem Test der ominösen „Märkte“ anheimstellen, damit auf die Spekulation spekulieren, und im Falle der Bestätigung damit angeben, wie vertrauenswürdig stark die Nation und ihre Wirtschaft sind, darf da niemand einwenden. Auch auf diesem Feld gibt der Erfolg Recht, und der Misserfolg ist das Werk fremder Agenturen und eigentlich unzulässiger Interessen.
  • Gerät die Erschütterung etwas wüster, wie im Falle der Geldkrisen der 90er Jahre, wird der Ton dem Ausmaß des Schadens angepasst. Staatsmänner und Bankiers, Journalisten und Industrielle, die nie ein schlechtes Wort gegen den Kapitalismus durchgehen lassen, wettern gegen den „Casino-Kapitalismus“. Dass sich der Staat, Banken und Konzerne an dieser Entartung gleich mehrfach beteiligen – als Lieferanten des Stoffs, auf den das Casino spekulieren kann und soll; dazu als potente, „institutionelle“ Anleger, die mit ihren „puts and calls“ dem Casino möglichst viele Millionen zu entlocken bemüht sind – ist da ziemlich nebensächlich. Hauptsache, es kommt nicht zur Sprache, wer diesen unberechenbaren Märkten die Macht verleiht, die sie dazu befähigt, durch einige Entscheidungen ganze volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen durcheinanderzubringen. Es reicht völlig aus, auf die verheerenden Wirkungen zu verweisen, die eine entfesselte Spekulation auf künftige Geschäfte verursachen kann, sobald sie Projekten staatlicher, industrieller oder geldanlegerischer Natur die Gunst entzieht, die sie ihnen bis dato gewährt hat.
  • Globalisierungsdenker nehmen sich die Probleme, die Kapital und Staat mit der gefährlichen Unberechenbarkeit der internationalen Finanzmärkte kriegen, genauso zu Herzen wie die Konkurrenz. Und wie bei der Befassung mit dem „Sachzwang“ kein Antrag auf Abschaffung des weltweiten Nationalkapitalismus ergeht, folgt aus der Besichtigung des Kreditgewerbes auch nicht der Verbotsantrag gegen diese Branche. Die Natur ihrer Geschäfte, gegründet auf einer jenseits allen Produzierens erteilten Lizenz zum Geldverdienen, wird nämlich keines Blickes gewürdigt – dafür ihre Funktion als unentbehrlich anerkannt. Die Leistungen einer Sphäre, in der Kredit angehäuft wird, für das Funktionieren der Konkurrenz kann man offenbar auch bestätigen, ohne auch nur eine Aufzählung hinzukriegen. Und die „Fehlleistungen“, die sich in Krisen niederschlagen, in allgemeinen Störungen des weltweiten Geschäftsgangs, beschreiben die Globalisierungsfreunde recht kindisch: erstens ist zu viel an auf Verzinsung abonniertem Kredit unterwegs, weil es dank der modernen Kommunikationsmittel zweitens zu schnell geht.
Die Wirkungen der Globalisierungsdebatte

Überlegungen, die sich der praktischen Schwierigkeiten annehmen, an denen die Wirtschaft und die Nation laborieren, wenn sie auf dem Weltmarkt groß und stark werden wollen, haben einen Vorzug: Unabhängig von der Qualität der Urteile sind sie kenntlich als Bemühen, zum Gelingen der Projekte beizutragen, die unterwegs sind. Solche Überlegungen werden auf jeden Fall verstanden.

Einen Nachteil haben sie aber auch. Als Bestätigung der Berechnungen, die von den umsorgten Instanzen selbst schon angestellt werden, als Entwurf von Strategien, die längst verfolgt werden, sind sie überflüssig.

Gut gemeinte Angebote weisen Wirtschaft und Politik aber nicht zurück, nur weil gar keine Nachfrage bestand. Sicher – um den Kapitalstandort auf Vordermann zu bringen, um so gebieterisch, wie man es sich leisten kann, gegen Konkurrenznationen vorzugehen, um im IWF und sonst wo auf die Irrläufer der Märkte mit der Konkurrenz gemeinsam aufzupassen, um ein bisschen Weltordnung zu stiften – für diese Initiativen hätten die maßgeblichen Herrschaften nicht Hunderte von Veröffentlichungen über die „Globalisierung“ gebraucht. Wenn nun aber schon die politisierende Intelligenz so viel Papier auf den Erfolg von Kapital & Staat verschwendet, den sie mit den passenden Antworten auf die „Globalisierung“ stehen und fallen sieht, dann lässt sich die Sache auch umdrehen. Dann ist eben ab sofort jede Rationalisierung und Fusion, jeder internationale Auftritt vom Euro bis zum Krieg eine Antwort auf die „Globalisierung“.

 

[1] Zur verkehrten Logik des volkswirtschaftlichen Denkens vgl. die einschlägigen Erläuterungen in § 12 in GegenStandpunkt 4-19, S. 48 ff. Da wir uns die Wiederholung der dort ausgeführten Kritik ersparen, empfehlen wir zum besseren Nachvollzug der hier entwickelten Argumente deren nochmalige Lektüre.

[2] Felderer, B., Homburg S.: Makroökonomik und neue Makroökonomik, Köln 2005, 9. Aufl., S. 153

[3] Ebd.

[4] Mankiw, N.G.: Grundzüge der VWL, Stuttgart 2018, 7. Aufl., S. 934

[5] Keynes, J.M.: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 2006, 10. Aufl., S. 22

[6] A.a.O., S. 28

[7] Auch damit ist er in dieser Disziplin zum Vorbild geworden: 2008 bringt eine ‚Finanzkrise‘ den Weltkapitalismus an den Rand des Zusammenbruchs – und ruft in der VWL den nächsten Impuls zum ‚Umdenken‘ hervor. Gegen den „Mainstream“ im Fach werden Einsprüche laut: Gegen die „absolute Realitätsferne“ der ökonomischen Marktmodelle, gegen ein „weltfremdes Menschenbild“, mit dem man das Treiben auch noch auf den Finanzmärkten als rationale Nutzenmaximierung des Homo oeconomicus erklärt, und gegen noch andere seltsame Usancen beim Nachdenken, die in diesem Fach Norm sind. Und wie schon bei Keynes, so findet auch dieser propagierte Auftakt zu einer Wissenschaft der Ökonomie, die den Namen verdient, seine Fortsetzung nur in der zeitgemäßen Perfektionierung ihrer alten Fehler: Nicht das Finanzgeschäft gilt es zu begreifen, sondern ein neues Modell“ muss her, um sich ein realistisches Bild von den Gesetzen des Geschäfts mit Zinsen zu machen, gleichfalls ein neues Menschenbild“, das zwar aus der Tierwelt stammt, aber das Herdenverhalten beim Spekulieren doch besser abbildet als das alte, und überhaupt muss es doch möglich sein, dass viele neue Ansätze“ neben allen alten und bewährten gedacht werden können... (Vgl. dazu: Ehnts, D., Zeddies, L.: Die Krise der VWL und die Vision einer pluralen Ökonomik, 2016, Wissenschaftsdienst)

[8] Keynes, J.M.: Proposals for a Revenue Tariff, 1931, S. 53; zit. n. Hofmann, W.: Theorie der Wirtschaftsentwicklung, Berlin 1966, S. 210

[9] Der „Umriß“ des theoretischen Konzepts stellt sich – in den Worten von Keynes – folgendermaßen dar: „Wenn die Beschäftigung zunimmt, so wächst das gesamte Realeinkommen... Die Psyche der Bevölkerung ist nun derart, daß bei einer Zunahme des gesamten Realeinkommens auch der gesamte Verbrauch zunimmt, obschon nicht in gleichem Maße wie das Einkommen. Die Unternehmer würden daher einen Verlust erleiden, wenn die gesamte Zunahme der Beschäftigung der Befriedigung der vermehrten Nachfrage für den sofortigen Verbrauch gewidmet würde. Um eine gegebene Beschäftigungsmenge zu rechtfertigen, ist somit ein Betrag laufender Investition erforderlich, der ausreicht, um den Überschuß der gesamten Produktion über die Menge aufzunehmen, welche die Bevölkerung gerade verbraucht, wenn die Beschäftigung auf der gegebenen Höhe ist. Denn wenn dieser Investitionsbetrag nicht vorhanden ist, werden die Erlöse der Unternehmer kleiner sein, als notwendig ist, um sie zu veranlassen, die gegebene Menge Beschäftigung anzubieten. Daraus folgt: Wenn das, was wir den Hang der Bevölkerung zum Verbrauch nennen werden, gegeben ist, hängt das Gleichgewichtsniveau der Beschäftigung ... vom Umfang der laufenden Investition ab: Der Umfang der laufenden Investition wird wiederum von dem abhängen, was wir die Veranlassung zur Investition nennen werden. Und wir werden finden, daß die Veranlassung zur Investition abhängig ist vom Verhältnis zwischen der Tabelle der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und dem Komplex der Zinssätze für Anleihen...“ (Ders.: Allgemeine ..., S. 23)

[10] A.a.O., S. 154

[11] A.a.O., S. 207

[12] „Soweit mir bekannt ist, stimmen alle darüber überein, daß Ersparnis den Überschuß des Einkommens über die Ausgaben für den Verbrauch bedeutet...“ Unter „laufender Investition“ müssen wir die „laufende Hinzufügung zum Werte der Kapitalausrüstung verstehen, die aus der Produktion der Periode herrührt. Dies ist augenscheinlich das gleiche, was wir soeben als Ersparnis definiert haben; denn es ist jener Teil der Einkommen der Periode, der nicht in den Verbrauch eingegangen ist.“ (Ders.: Allgemeine ..., S. 54 f., zit. n. Hofmann, W.: Theorie der Wirtschaftsentwicklung, Berlin 1966, S. 191)

[13] Ders.: Allgemeine ..., S. 171 f.

[14] A.a.O., S. 116

[15] A.a.O., S. 122

[16] A.a.O., S. 26

[17] Es ist schon eine Meisterleistung wissenschaftlichen Nachdenkens, das allseits bekannte und immer wieder auch kritisch angemerkte Nebeneinander von Armut und Reichtum im Kapitalismus auf mangelhaftes Verhalten der Endverbraucher zurückzuführen. Der liegen nicht bloß die elementaren Fehlleistungen des makroökonomischen Kreislaufmodells zugrunde, Unterscheidbares nicht mehr unterscheiden zu wollen und die Ökonomie der Marktwirtschaft in Aggregaten wie U wie Unternehmen, HH wie Haushalten, I und S begrifflich zu erfassen und begreifbar zu machen (Vgl. § 12, GegenStandpunkt 4-19). Im Speziellen steuert Keynes eine bemerkenswerte Umkehrung des Verhältnisses von Produktion und Konsumtion bei, mit der er für besagten Sachverhalt eine feine Erklärung anzubieten hat. Die mit der Produktion des Reichtums, der sich als große Warensammlung darstellt, nicht bloß einhergehende, sondern – Lohn ist Kost! – dadurch bedingte Armut der lohnarbeitenden Bevölkerung – diesen dem Produktionsverhältnis eigenen Widerspruch verortet die Keynes’sche Ausdeutung in einem durch mangelhaften Konsum verursachten Nicht-Produzieren („Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung“): Seine Theorie verschiebt (den Grund für) die Armut in Nicht-Beschäftigung – und den Reichtum in den „Überfluss“ von vorhandenen Produkten, deren Nicht-Konsum die Armut erst hervorbringt... So liefert das Paradox von „Armut mitten im Überfluss“ eine beruhigende Sicht auf das Phänomen, dem es sich widmet: ‚Armut‘ ist ein zwar bemerkenswerter und unschöner, aber zu managender Nebeneffekt unzureichender effektiver Nachfrage...

[18] A.a.O., S. 321

[19] Vgl. hierzu Woll, A.: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, München 2011, 16. Aufl., S. 496 ff.

[20] Aus: GegenStandpunkt 4-99, S. 77, ,Globalisierung‘ – Der Weltmarkt als Sachzwang