Konflikt im Südkaukasus
Russland auf dem Weg in die „Selbstisolation“

Anfang August sieht der georgische Staatschef den Zeitpunkt gekommen, sein Wiedervereinigungsprogramm einen entscheidenden Schritt voran zu bringen und die abtrünnige Republik Südossetien gewaltsam heimzuholen. Dass ihm dabei ein übermächtiger Gegner im Weg steht, er sich mit Russland als Schutzmacht der Osseten anlegen muss, die den größten Teil der Bevölkerung mit russischen Pässen ausgestattet hat und mit einigen Hundert Mann in der gemischten georgisch/ ossetisch/ russischen Friedenstruppe präsent ist, die das Konfliktfeld seit dem letzten Krieg der beiden Kaukasus-Völker in den 90er Jahren überwacht – das weiß keiner besser als Saakaschwili selbst. Seine Berechnung ist kein Geheimnis: er eröffnet den Krieg im Bewusstsein der Rückendeckung durch die USA und ihren Nato-Anhang, nimmt eine Eskalation der lokalen Auseinandersetzung zu einem Konflikt der Großmächte nicht nur in Kauf, sondern setzt geradezu auf sie.

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Konflikt im Südkaukasus
Russland auf dem Weg in die „Selbstisolation“

I. Der 5-Tage-Krieg im Südkaukasus

1. Saakaschwilis Berechnung

Anfang August sieht der georgische Staatschef den Zeitpunkt gekommen, sein Wiedervereinigungsprogramm einen entscheidenden Schritt voranzubringen und die abtrünnige Republik Südossetien gewaltsam heimzuholen. Dass ihm dabei ein übermächtiger Gegner im Weg steht, er sich mit Russland als Schutzmacht der Osseten anlegen muss, die den größten Teil der Bevölkerung mit russischen Pässen ausgestattet hat und mit einigen Hundert Mann in der gemischten georgisch/ossetisch/russischen Friedenstruppe präsent ist, die das Konfliktfeld seit dem letzten Krieg der beiden Kaukasus-Völker in den 90er Jahren überwacht [1] – das weiß keiner besser als Saakaschwili selbst. Seine Berechnung ist kein Geheimnis: Er eröffnet den Krieg im Bewusstsein der Rückendeckung durch die USA und ihren NATO-Anhang, nimmt eine Eskalation der lokalen Auseinandersetzung zu einem Konflikt der Großmächte nicht nur in Kauf, sondern setzt geradezu auf sie. Das russische Kontingent in der Friedenstruppe wird demonstrativ beschossen und dezimiert, die Hauptstadt der Südosseten ebenso demonstrativ in Schutt und Asche gelegt. Für die Rückgewinnung des Kommandos über einen von Tiflis abgefallenen Sprengel führt Saakaschwili seine Nation in einen Großkonflikt: Russland soll mit den USA in Kollision kommen und sich vor die Frage gestellt sehen, ob es klein beigibt und Georgien gewähren lässt, oder ob ihm die Wahrung seiner Interessen im Südkaukasus im Zweifelsfall eine direkte Konfrontation mit der Supermacht wert ist.

2. Die russische Antwort

Russland tritt dem Herausforderer als die militärische Großmacht entgegen, die es ist: Die georgischen Truppen werden binnen kurzem eindrucksvoll zurückgeschlagen, der Kriegsschauplatz wird sofort auf die zweite Separatistenrepublik Abchasien und das georgische Kernland ausgeweitet, die militärische Infrastruktur und das Waffenarsenal des NATO-Mitglieds in spe werden großflächig zerstört. Strategisch wichtige Teile Georgiens bleiben bis auf weiteres besetzt, in dem mit Frankreich ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen sichert sich Russland das Recht auf Einrichtung einer Pufferzone im georgischen Kernland rund um Südossetien und Abchasien und eine dauerhafte Präsenz von ein paar hundert Soldaten in dieser Zone.

Russland beansprucht erkennbar Respekt als Ordnungsmacht in der Region und kopiert für die Untermauerung dieses Anspruchs das Vorgehen der USA auf dem Balkan bis ins Detail (im Vergleich allerdings sozusagen en miniature): von der Demonstration absoluter militärischer Überlegenheit – die USA bombardieren Belgrad, um den Serben das Kosovo abzunehmen, auch Russland steigt mit seiner Luftwaffe in den Krieg ein und bombardiert den Flughafen von Tiflis, um die Georgier mürbe zu machen – bis hin zur Inszenierung des Kriegs als Erfüllung eines höheren menschenrechtlichen Auftrags. Russland erklärt seinem Nachbarn nicht den Krieg, es erfüllt höhere Pflichten. Pflichten zum Schutz seiner Bevölkerung, Pflichten als Garantiemacht für die Einhaltung der Friedensordnung in Südossetien und Abchasien („Georgien zum Frieden zwingen“), Pflichten zur Erzwingung des Respekts vor den Menschenrechten und zur Vermeidung einer „humanitären Katastrophe“, eines „Genozids“ und anderer Kriegsverbrechen.

Auf der Grundlage, dass jetzt einmal er Fakten geschaffen hat, die der Westen zur Kenntnis zu nehmen hat, fordert der neue Präsident Respekt vor russischen Interessen und Rechten im Kaukasus, eben den Respekt, auf den die andere Seite ganz automatisch Anspruch erhebt.

Und auch das ist zu registrieren: Russland regelt den Fall demonstrativ aus eigener Machtvollkommenheit; Medwedew verkündet sein „mission accomplished“ nicht in und nach Verhandlungen mit der EU, und Außenminister Lawrow besteht darauf, dass Bushs Aufforderung zur Beendigung der Kampfhandlungen nicht die geringste Rolle gespielt habe.

II. Die imperialistische Substanz des Konflikts

1. Die USA bekämpfen russischen Neo-Imperialismus I: Der Aggressor Russland hat seine Nachbarn zu respektieren

Es sind die Vereinigten Staaten, die bei der Bewältigung der Krise den Ton vorgeben; und sie steigen auf einer Ebene in die Auseinandersetzung ein, die das Hin und Her um Schuld, Gründe und Rechtfertigungen, den Schacher um Kompromisse usw. usf. entschieden hinter sich lässt:

„(Abchasien und Südossetien) sind Teil Georgiens, und die internationale Gemeinschaft hat wiederholt klargemacht, dass sie das auch bleiben. Georgien ist Mitglied der Vereinten Nationen, und Südossetien und Abchasien liegen innerhalb seiner international anerkannten Grenzen. Die georgischen Grenzen sollten genauso respektiert werden wie die jeder anderen Nation. Darüber gibt es nichts zu diskutieren...
Unglücklicherweise neigte Russland dazu, die Ausdehnung von Freiheit und Demokratie als Bedrohung seiner Interessen zu sehen. Das Gegenteil ist wahr: Freie und aufblühende Gesellschaften an den russischen Grenzen bringen die Interessen Russlands voran, indem sie als Quellen von Stabilität und wirtschaftlichen Möglichkeiten dienen.
Wir hoffen, dass die russischen Führer erkennen, dass eine Zukunft der Kooperation und des Friedens allen Seiten zu Gute kommt. Der Kalte Krieg ist vorbei. Die Tage der Satellitenstaaten und der Einflusszonen liegen hinter uns. Ein Streitverhältnis mit Russland ist nicht im Interesse Amerikas. Und ein Streitverhältnis mit Amerika ist nicht im Interesse Russlands.
Mit seinen Aktionen in den letzten Tagen hat Russland seine Glaubwürdigkeit und seine Beziehungen mit den Nationen der freien Welt beschädigt. Tyrannisieren und Einschüchtern sind unakzeptable Wege für eine Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Russland allein kann entscheiden, ob es auf den Pfad der verantwortlichen Nationen zurückkehrt, oder ob es eine Politik fortsetzt, die nur Konfrontation und Isolation verheißt. Um wieder anzufangen, seine Beziehungen mit den Vereinigten Staaten und Europa und anderen Nationen zu reparieren, und zu beginnen, seinen Platz in der Welt wiederherzustellen, muss Russland die Freiheit seiner Nachbarn respektieren.“ (Bush, 13.8.08)

Die Streitsache, um die Georgien und Russland Krieg geführt haben, mit dem besseren Ende für Russland, erklärt der Chef der Weltmacht autoritativ für entschieden und abschließend geklärt – im georgischen Sinne. Für ihn liegen die Dinge hier genau umgekehrt wie vor kurzem im Kosovo – wenn er sich überhaupt noch an den Fall erinnert: Georgien hat das absolute Recht, eine Abspaltung der beiden Provinzen zu verhindern; wenn es dafür Gewalt anwendet, ist das vielleicht nicht schön, verdient aber Respekt.

Nachdem das geklärt ist, erläutert Bush der Welt den Kern des Problems aus seiner maßgeblichen Sicht: Russland hat sich mit seinem Eingreifen die Sympathien der „freien Welt“ verscherzt – dass es selber zu der nicht wirklich dazugehört, versteht sich am Rande. Denn es hat damit offenbart, dass es weltpolitisch wie auch in der Wahrnehmung seiner wohlverstandenen Eigeninteressen ganz grundsätzlich falsch liegt: Da gibt sich die Weltmacht der Freiheit alle Mühe, in Russlands wichtigste Nachbarländer bunte Revolutionen zu exportieren, weil deren Regierungen bei allem förderungswürdigen Nationalismus noch nicht eindeutig genug als Satelliten des Reichs der Freiheit und Demokratie agieren; da nimmt man Russland seine Einflusszonen weg, damit es von der Marktwirtschaft profitiert, die ringsum unter amerikanischer Obhut aufblüht und auch nur so funktionieren kann; doch Russland mag nicht einsehen, was für eine schöne Chance ihm damit geboten wird. Stattdessen stört es die USA bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die außerrussische Hinterlassenschaft der SU, macht den Platz kaputt, den die Weltmacht ihm zugewiesen hat, und reiht sich damit unter die unverantwortlichen Nationen ein...

Es klingt wie ein absurder Witz, wenn der Chef der Weltmacht Nr. 1, die jetzt seit zwei Jahrzehnten die politische Landkarte auf dem Globus umkrempelt, international anerkannte Grenzen für sakrosankt erklärt. Es klingt lächerlich, wenn der Oberkommandeur des weltweiten war on terror und eines Überfalls auf den Irak unter dem Motto Shock and Awe sich gegen Einschüchterung als Mittel der Politik wendet. Es ist aber bitterernst gemeint: Russland steht dergleichen einfach nicht zu. Es hat sich friedlich und kooperativ einzufügen in die von den USA kontrollierte Staatenwelt, sonst muss es mit allem rechnen: Angekündigt wird eine Politik der Konfrontation und Isolation, von der es nicht weit ist bis zu einer offenen Feindschaftserklärung.

Um das zu vermeiden, ist auf russischer Seite als Allererstes fällig, den Sieg gegen Georgien zu annullieren, sich wieder zurückzuziehen und die territoriale Integrität ihres Nachbarn anzuerkennen. Russland muss den Revanchismus Saakaschwilis an seiner Südgrenze akzeptieren, den Anspruch auf Schutz seiner Bürger im „Nahen Ausland“ vergessen und Abschied nehmen von allen Ambitionen, als Ordnungsmacht in der Region aufzutreten. Kurz und unmissverständlich: Russland muss die Freiheit seiner Nachbarn respektieren.

Das ist der erste Teil der Antwort aus dem Rose Garden auf die russische Forderung nach Respektierung seiner Interessen im Kaukasus: Russland muss einen antirussischen Staat an seiner Südgrenze hinnehmen. Schließlich hat man Georgien nicht umsonst aus dem Einflussbereich Russlands herausgelöst, die russischen Militärbasen im Land liquidiert und den Kaukasusstaat in einen verlässlichen Partner bei der Einkreisung Russlands umgedreht. Mit dem befreiten Georgien verfügen die USA über einen eigenen militärischen Brückenkopf im Kaukasus, brauchbar auch für ein Stück Front in Richtung Iran und Naher Osten; über ein antirussisches Transitland für zentralasiatische Energie; über eine nationale Hilfstruppe für alle Aufgaben in der Region.

Als Vollzugsbeauftragter für diese Aufgaben ist Saakaschwili per Rosen-Revolution installiert worden.[2] Seit seiner Amtsübernahme wird in Form von Hilfe für ein „aufblühendes, demokratisches Georgien“ die Einrichtung eines amerikanischen Militärstützpunkts und strategischen Vasallenstaats abgewickelt, der nebenbei auch noch als leuchtendes Beispiel für die Vorteile aktiver Westfreundschaft den Nachbarn Armenien und Aserbeidschan helfen soll, auf den richtigen Weg zu finden. Das nächste Ziel ist auch bekannt, weil umstritten: die Überführung des US-Postens in EU- und NATO-Zuständigkeit, also definitiv in westlichen Besitz.

Für diesen Dienst an Amerika wird Saakaschwili mit Waffen und einer modernisierten Armee ausgestattet [3] und zu einer Vorreiterrolle in einem Bündnis namens GUAM ermutigt, das die russischen Versuche konterkariert, in der GUS eine irgendwie brauchbare einheitliche Militärstrategie hinzukriegen, vor allem eine einheitliche Überwachung des Luftraums zu organisieren. Dafür wird Georgien ferner mit sehr viel internationaler Anerkennung bedacht (x Staatsbesuche in Amerika, Bush in Tiflis, Würdigung durch Europa) und mit etlichen Weltbankkrediten versorgt – was auch nötig ist, denn mit Geldverdienen ist in Georgien nicht viel, erst recht nicht, seitdem Russland auf die bekannten georgischen „Nadelstiche“ mit ökonomischen Repressalien antwortet. Und weil es prächtig in das amerikanische Programm der Einhegung und Schwächung Russlands hineinpasst, unterschreibt Bush seinem Saakaschwili den internationalen Rechtstitel auf territoriale Integrität, was den georgischen Revanchismus erst richtig scharf und für Russland unhandhabbar macht.

2. Georgien: Abenteurertum als Staatsräson

Mit Saakaschwili haben die USA den passenden nützlichen Idioten auf den Schild gehoben: Die antirussische Instrumentalisierung Georgiens durch Amerika und der selbstbewusste Fanatismus eines Befreiungskriegers, der die Instrumentalisierung genau andersherum sieht und sein Volk im Bewusstsein der Unterstützung durch die Weltmacht in einen schicksalhaften Kampf mit Russland führt, stehen hier in einer selten geglückten Verbindung. Saakaschwili begreift seinen Staat als Speerspitze der Freiheit an der russischen Südflanke und richtet ihn entsprechend zu: Er erhebt den Auftrag zur Heimholung der verlorenen Gebiete zum obersten Staatsziel und legt seine Nation damit auf die Konfrontation mit Russland fest. Er räumt mit der Opposition auf, die Bedenken erhebt, ob sich Georgien die politischen und wirtschaftlichen Schäden leisten kann und soll, die bei diesem antirussischen Kurs anfallen. Er stilisiert seine kleine Nation in einer weltweiten Dauerpropaganda zu einem Opfer russischer Machtpolitik, dessen gerechter Kampf jede Unterstützung verdient. Und er fällt den Russen seit 2003 mit einer Außenpolitik als Agent provocateur auf die Nerven, soweit seine Mittel reichen: Unter irgendeinem Vorwand lässt er die Zufahrtsstraßen in die südossetische Hauptstadt Zchinwali sperren, russische Transporte wegen angeblicher illegaler Waffenlieferungen nach Südossetien beschlagnahmen und russische Offiziere vor den Kameras der Weltöffentlichkeit wegen Spionage oder anderer Vergehen verhaften oder abschieben. Gut bewährt hat sich auch die Technik, unter dem Titel der Rotation bei den gemeinsamen Friedenstruppen georgische Truppen unangekündigt aufmarschieren zu lassen, so dass die russischen Kräfte sich jedes Mal entscheiden dürfen, ob sie es mit einem georgischen Überfall oder einer Wachablösung zu tun haben. Zwischendurch wird dann wieder Empörung geschürt wegen Verletzungen des Luftraums durch Russland, die Einrichtung internationaler Untersuchungskommissionen und die Abhaltung von Sondersitzungen des UN-Sicherheitsrats zwecks Verurteilung des russischen Vorgehens gefordert. Um den Durchhaltewillen der Südosseten zu untergraben, definiert er alle Handelsware, die in den Landstrich hinein- und aus ihm hinausgeht, als Schmuggelware und tut sein Bestes, um jeden Handel zu unterbinden und das Gebiet ökonomisch auszuhungern. Die Gleichung, nach der es sich bei einem Lebensunterhalt, der sich außerhalb seines staatlichen Zugriffs bewegt, nur um Verbrechen handeln kann, hat der Chef aller Georgier jedenfalls so erfolgreich propagiert, dass sie im Bedarfsfall auch von allen hiesigen Zeitungen als gültige Auskunft über die fragwürdige Natur des Südosseten nachgebetet wird. Er versteht es aber auch, mit positiven Anreizen zu arbeiten: Um den widerspenstigen Osseten die goldene Freiheit vor Augen zu führen, die sie unter seiner Herrschaft zu erwarten hätten, stellt er ihnen einen amerikanischen Vergnügungspark vor die Grenze, und bei gelegentlichen PR-Aktionen gibt er den gütigen Landesvater, der Düngemittel und Kinderspielzeug verteilt, damit die arme Landbevölkerung sieht, welch gute Herrschaft und welch glänzende Zukunft ihr im georgischen Wirtschaftsparadies winkt.

 Saakaschwili schafft beständig Krisenlagen in der Berechnung, seinem Feind so die Herrschaft über die Lage im südlichen Kaukasus aus der Hand zu nehmen: Die militanten Provokationen und ständigen Herausforderungen an die russischen Friedenstruppen sind darauf angelegt, dass Russland „zurückschießt“ und sich damit als eigentlicher Krisenverursacher und als Okkupations- statt Friedensmacht entlarvt. Damit lägen dann die nötigen Beweise für eine internationale Verurteilung des Kreml durch OSZE, UNO etc. vor, Russland wäre in seiner Rolle als Garant des Waffenstillstands und Entsender von Friedenstruppen delegitimiert und müsste durch eine wirklich überparteiliche Friedensmission, gestellt z.B. von ein paar NATO-Staaten und den Fidschi-Inseln, abgelöst werden.

In diesem Sinn ist die Invasion der georgischen Armee in Südossetien ein Test in zweifacher Hinsicht: Aus der georgischen Perspektive ist es der Versuch, gegen russischen Widerstand den ossetischen Separatismus zu beenden, die Heimat weiter zu einen und so zugleich den „Alteuropäern“, die keine Neumitglieder mit ungeklärten Grenzfragen im Bündnis haben wollen, ihren Einwand gegen einen NATO-Beitritt Georgiens zu nehmen. Aus Sicht der Vereinigten Staaten geht es um den Test, ob Russland die Zersetzung seiner Macht in einer strategisch wichtigen Zone direkt am russischen Kernland inklusive eines Angriffs auf seine Staatsbürger hinnimmt. Davon, dass Saakaschwili die USA in einen von ihnen womöglich gar nicht gewollten Konflikt hineingezogen oder eine Reaktion erzwungen hätte, kann also keine Rede sein: Die USA sind von Anfang an als entscheidendes Subjekt in der Affäre drin. Ob die georgische Armee im amerikanischen Auftrag oder auf eigene Rechnung, mit oder ohne Wissen und/oder Billigung der USA losgeschlagen hat, sind Fragen, die zielstrebig vom Kern der Sache wegführen: Georgien ist nichts anderes als der lokale Funktionsträger für das strategische Containment Russlands durch die USA. Dafür und für nichts anderes genießt es weltpolitische Anerkennung, dafür erhält es eine runderneuerte Armee. Dass die dann Russland auch einmal auf die Probe stellt, wird zumindest im Pentagon niemand überraschen und bringt allenfalls die Erfolgsfrage aufs Tapet.

3. Die USA bekämpfen russischen Neo-Imperialismus II: Russland müssen die Quellen seiner Macht entzogen werden

Seit der Befreiung Russlands vom Kommunismus zielt die Politik der USA auf die Eindämmung, Verkleinerung und funktionelle Einordnung des noch immer viel zu großen und mächtigen Landes. Erreicht wurde da einiges: Die Ex-COMECON-Partnerstaaten in Ost- und Südosteuropa haben EU und NATO inzwischen in Besitz genommen; Russlands „Nahes Ausland“ ist durch den Export von bunten Revolutionen teils zur Einflusszone der USA geworden (Ukraine, Georgien), teils einfach nur unbrauchbar (Kirgisien). Für den Rest der GUS-Welt mit Ausnahme von Weißrussland gilt zumindest, dass von verlässlichen, russenfreundlichen Staaten keine Rede sein kann. Die internationale Militärpräsenz Russlands ist nach der Auflösung der Basen in Kuba und Vietnam beseitigt, die Versuche Russlands, in die „Konfliktregelung“ weltweit (Jugoslawien, Irak) einzugreifen, sind beiseitegewischt.

Und unter dem lebenslustigen ersten russischen Präsidenten standen die Chancen eine Weile nicht schlecht, dass sein Land durch die „Integration“ in die Konkurrenz mit den arrivierten kapitalistischen Demokratien deindustrialisiert, zumindest in Bezug auf die heute entscheidenden Produktionszweige irrelevant wird, dass sein Volk zusammenschrumpft und dass es sich als Lieferant billiger Rohstoffe zum Anhängsel der paar Nationen entwickelt, die wirklich zählen. Auch in Bezug auf den Umgang mit der ihm gewährten politischen Anerkennung hat Jelzin Hoffnungen bei seinen westlichen Betreuern geweckt: Für ganz viel formellen Respekt und Freundschaft für die Großmacht Nr. 8 hat Russland die praktische Missachtung seiner Interessen eine Zeit lang hingenommen.

Das alles ist revidiert. Die russische Führung unter Putin macht sich über den Inhalt der ihr angetragenen „Partnerschaft“ nichts vor und lässt ihre Gegner das auch wissen: Man brauche keine Partner, die Einkreisungspolitik gegen Russland betreiben. Und auch das ist ihr von Anfang an klar: Erfolgreich entgegentreten lässt sich dem feindlichen Programm nur mit einer konsolidierten Staatsmacht und einer funktionstüchtigen kapitalistischen Gesellschaft. Das entsprechende staatsreformerische Programm wird aufgelegt und einiges, für den Geschmack seiner Gegner viel zuviel, repariert: Russland akkumuliert seit Jahren Petrodollars in einem enormen Ausmaß und macht wichtige Trümmer seiner überkommenen Produktivkräfte wieder flott – mit den verdienten Dollars und Euros und mit Hilfe auswärtiger Geschäftemacher, vor allem aus der EU. Das Land produziert wieder Flieger, Schiffe und AKWs für den eigenen zivilen wie militärischen Bedarf und tut alles, um damit auch auf dem Weltmarkt zu reüssieren. Und nicht nur das: Russische Staatsfonds verfügen über Summen, die in den Zentralen des Weltkapitalismus die Forderung nach einem Einkaufsverbot für Ausländer aufkommen lassen. Dank der neuen Mittel schreitet zu guter Letzt auch der Wiederaufbau der maroden Streitkräfte voran.

Der so gestärkte russische Staat besteht auf Anerkennung seiner legitimen Interessen, schmiedet eigene Bündnisse und bietet sich an als potenter Partner für die Schaffung einer neuen „multipolaren Weltordnung“. Mit dem Krieg gegen Georgien beendet er schließlich den Test, wieviel er sich von einer US-Kreatur in seinem unmittelbaren Einflussbereich gefallen lassen muss, mit Waffengewalt und setzt der Weltmacht eine Schranke.

Dass Russland zu einer derart „unverhältnismäßigen Anwendung von Gewalt“ willens und fähig ist, liefert der US-Regierung den eindeutigen Beweis, dass diese Nation ihre Lektion nicht gelernt, bzw. dass Amerika viel zuviel zugelassen hat. Selbstkritisch, wenn auch nicht ganz wahrheitsgemäß, reden die USA von der Notwendigkeit eines Kurswechsels, weil man Russlands Aufstieg Vorschub geleistet habe, und kündigen an, ihr Verhältnis zu Russland auf allen Ebenen neu zu bestimmen:

„Verteidigungsminister Gates sagte, die USA wollen ihre strategischen Beziehungen zu Moskau überdenken. Die USA hätten hart daran gearbeitet, Russland in die internationale Gemeinschaft zu bringen. ‚Wir dachten, sie wären auf dem Weg. Jetzt müssen wir das alles überdenken.‘“ (SZ, 18.8.)

Aus amerikanischer Sicht ist mit der russischen Eigenmächtigkeit offenbar ein Erziehungsprogramm gescheitert: Man hat sich die größte Mühe gegeben, den Feind von gestern zu resozialisieren, ihm seinen Platz anzuweisen in der internationalen Gemeinschaft mit Rechten und Pflichten – und nun das. Russland ist nicht „auf dem Weg“. Die Führer der Weltmacht gehen mit der größten Selbstverständlichkeit davon aus, dass das Mitmachen in der „internationalen Gemeinschaft“ erstens eine Frage ihrer Erlaubnis ist, deswegen zweitens ganz automatisch die Pflicht enthält, sich als im amerikanischen Sinne funktionaler Teil dieser „Gemeinschaft“ aufzuführen, so dass drittens die Diagnose feststeht, wenn ein Staat wie Russland den „Pfad der verantwortlichen Nationen verlässt“: Er hat die amerikanische Lizenz missbraucht, also verwirkt.

Auf dem Programm steht mit diesem Urteil die noch entschiedenere Fortsetzung der Containment-Politik, gegen die sich Russland in Georgien erstmals militant zur Wehr setzt. Noch bevor die amerikanische Führung ihren Maßnahmenkatalog gegen Russland fertig hat, stellt sich für die 4. Gewalt daher gleich die Frage, ob in dieser „Lage“ nicht eine militärische „Antwort“ der USA angebracht wäre, was den amerikanischen Verteidigungsminister zu einem sehr doppeldeutigen Dementi veranlasst:

„Es gebe schlicht und einfach ‚keinerlei Aussicht für den Gebrauch militärischer Gewalt durch die Vereinigten Staaten in dieser Lage‘.“ (Gates, SZ, 16./17.8.)

Man hat im Pentagon über Krieg nachgedacht, zieht ihn aber in Abwägung aller Umstände („keinerlei Aussicht in dieser Lage“) (derzeit) nicht in Erwägung.

Worauf die Welt sich im Zuge des neu und verschärft aufgelegten Programms, Russland seine Machtmittel zu entziehen, demnächst alles einstellen muss, beschäftigt die US-Strategen noch. So viel macht Bushs Ankündigung von „Konfrontation und Isolation“ aber deutlich: Russland soll politisch noch effektiver als bisher ausgegrenzt, ökonomisch geschädigt und militärisch bedroht werden. Amerika visiert ein von allen Nationen getragenes Containment an, das Russland keine andere Wahl lässt als sich zu fügen. Da gibt es viel zu tun. Zunächst für das Rollback auf dem Kriegsschauplatz selbst: Der US-Verteidigungsminister übernimmt das Kommando über die anberaumte humanitäre Mission im Südkaukasus und verlangt Bewegungsfreiheit für seine Truppe – auf den Flugplätzen, auf den Straßen und auch in den Häfen, über die Russland zum Teil dauerhaft die Kontrolle behalten will. Kriegsschiffe der NATO steuern auf die georgische Küste zu, vor der derzeit noch die russische Schwarzmeerflotte patrouilliert. Kurz: Amerika organisiert eine neue Etappe militärischer Präsenz im Krisengebiet, und jeder der unvermeidbaren Zwischenfälle ist gut für den Ausbau des Feindbilds und für mehr Einsatz westlicher Gewalt. Damit Russland nicht vergisst, mit welchem Gegner es sich anlegt, stattet der NATO-Oberkommandierende in Europa Saakaschwili einen Kurzbesuch ab. Frau Rice verkündet, Georgien werde wiederaufgerüstet, und seiner Aufnahme ins westliche Verteidigungsbündnis stehe jetzt wirklich nichts mehr entgegen. Eine frisch gestiftete NATO-Georgien-Kommission sorgt schon mal für eine Aufwertung der Beziehungen. Eine internationale Friedenstruppe soll Russland das in der (immer noch umstrittenen) Waffenstillstandsvereinbarung fixierte Recht auf Truppenpräsenz so schnell wie möglich wieder aus der Hand nehmen und die Krisenzone unter westliche Aufsicht bringen.

Schöne Erfolge beim Containment gegen Russland ergeben sich innerhalb weniger Tage wie von selbst: Der amerikanische Handel mit Polen um die Bedingungen für die Stationierung der Raketenabwehr, die sich bekanntlich nicht gegen Russland richtet, wird zur beiderseitigen Zufriedenheit beendet. Die USA erhalten die gewünschte Basis, Polen wird massiv aufgerüstet, unter anderem mit modernen Luftabwehrsystemen. Obendrein bekommt es eine ausdrückliche Beistandsgarantie der USA im Konfliktfall. Das alles will und braucht ein Land, das sich als europäischer Vorzugspartner der USA bei der strategischen Bedrohung Russlands aufbaut. Die Ukraine eskaliert ihren Streit mit Russland über die Stationierung der Schwarzmeerflotte auf der Krim und dient sich den USA als zusätzlicher Stationierungsort für ihre Raketenabwehr an. Für den weiteren Umgang mit Russland hat die amerikanische Führung einige Schritte teils bereits beschlossen, teils auf die Tagesordnung gesetzt, die den Schein einer Gemeinsamkeit kündigen und den Gegensatz ungeschminkt auf die Tagesordnung setzen: Jede Zusammenarbeit mit Russland im Rahmen der NATO – zumindest auf den höheren Ebenen – wird eingestellt; die Auflösung des NATO-Russland-Rats wird erwogen; Russland soll aus den G8 ausgeschlossen, die Praxis, Russland zum Treffen der G7-Finanzminister einzuladen, beendet werden; der russische Beitritt zu WTO und OECD steht in Frage; das russisch-amerikanische Abkommen über die Nutzung der Atomkraft wird suspendiert. Und dass unter den gegebenen Umständen ein Boykott der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi ansteht, versteht sich von selbst.

Auf Basis dieser Vorgaben ruft der britische Außenminister dazu auf, eine geschlossene Staatenfront gegen den „Aggressor“ zu bilden, um die Feinde an Russlands Grenzen zu stärken und das Land ökonomisch mit seiner Abhängigkeit von Kapitalimport und Energieexport zu erpressen, d.h. die Quellen seiner Macht anzugreifen; Russland soll durch Isolation ökonomisch und politisch in die Knie gezwungen werden. Wie dies im modernen Staatenverkehr üblich ist, kommt auch diese Erpressung daher als Angebot, das – natürlich – seinen Preis hat: Russland muss sich an unsere Regeln halten, sonst müssen wir es ächten!

„Was den Umgang mit Russland angeht, so bin ich für ein sachliches und nüchternes Vorgehen, das die wirtschaftlichen und politischen Vorzüge des internationalen Systems, die der Kreml braucht, als Hebel nutzt, um Russland zu einem verantwortungsbewussten Verhalten zu bewegen. Wir und Russland haben bedeutende gemeinsame Interessen, sei es in der Energieversorgung oder im Handel oder wenn es darum geht, Iran daran zu hindern, eine Atombombe zu entwickeln. Angesichts seiner sinkenden Bevölkerungszahl und einer Wirtschaftsleistung, die nicht viel größer ist als die Spaniens, braucht Russland positive internationale Partnerschaften. Unsere Antwort sollte sein, Russland in solchen Systemen wie der Welthandelsorganisation willkommen zu heißen – wenn es bereit ist, sich an die Regeln zu halten. In solchen Fragen wie der Energieversorgung müssen wir eine größere europäische Einigkeit herstellen und dann mit Russland ins Gespräch kommen: Wir alle zusammen sind der Energiemarkt Russlands. Und Russland ist zwar ein dominierender Lieferstaat, der mit 27 verschiedenen Ländern Verhandlungen führt, der aber weit weniger stark sein wird, wenn er mit einer abgestimmten europäischen Verhandlungsposition konfrontiert wird. (...)
Ich bin nicht dafür, Russland aus der G 8 auszuschließen. Das würde Russland nur dazu verleiten, eine Opferrolle zu spielen; es würde den russischen Revanchismus anheizen und es Russland ermöglichen, sich in den Augen derer, die zurzeit außerhalb der G 8 stehen, als „Reformchampion“ zu präsentieren. Stattdessen sollten wir die G 8 dazu nutzen, in solchen Fragen aktiv zu werden, bei deren Lösung Russland ein Partner sein kann – sei es bei der Bekämpfung des Klimawandels oder der Stilllegung militärtechnischer Kernanlagen und Kernsprengköpfe. Aber wir sind auch bereit, als G 7 zu handeln, wenn Russland das Völkerrecht auf flagrante Weise verletzt und sich über unsere Wertvorstellungen hinwegsetzt.
Russlands Versuche, über den Atlantik hinweg oder in Europa einen Keil zwischen uns zu treiben, werden scheitern, wenn wir an diesen Grundsätzen festhalten und sie richtig umsetzen.“ (FAZ, 20.8.)

4. Kampf zweier Lager in Europa

Das amerikanische Kampfprogramm gegen den russischen „Neo-Imperialismus“ unterminiert die Sonderbeziehungen des „Alten Europa“ zu seinem großen Nachbarn. Auch wenn die Zeiten einer „strategischen Partnerschaft“ und einer gemeinsamen Front gegen den Irak-Krieg der USA vorüber sind: Für den Aufstieg ihrer Union zur Weltmacht haben die westeuropäischen Führungsnationen Russland nach wie vor fest eingeplant – als unerschöpfliches Rohstoffreservoir, als interessante Anlagesphäre und als wichtige Größe im Ringen mit den USA um die Herrschaft auf dem Globus. Diese nützlichen Beziehungen, die das „Alte Europa“ für sein imperialistisches Projekt will und braucht, stehen auf dem Spiel, wenn die USA die Isolation Russlands auf die Tagesordnung setzen und ihre Verbündeten zur Linientreue drängen. Und nicht nur das: Die amerikanische Forderung nach Gleichschaltung spaltet das europäische Projekt so klar wie nie in zwei Lager mit inkompatiblen strategischen Interessen. Dem berechnenden Umgang der „Alteuropäer“ mit Russland steht der Großteil der osteuropäischen Neumitglieder in der NATO und der EU, die den Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten in deren Weltordnungs-Dauerkrieg zu ihrer obersten politischen Leitlinie gemacht haben, feindlich gegenüber. Zusammen mit den USA und Großbritannien bilden sie eine antirussische Koalition der Willigen und verlangen ein noch kriegerischeres Auftreten als ihre Vormacht, nämlich

„eine robuste Antwort auf eine acht Punkte umfassende Bitte um Hilfeleistung, die der georgische Botschafter am Dienstag dem Nato-Rat übergab. Sie wollen, dass die Nato ihre Schnelle Eingreiftruppe NRF nach Georgien schickt, Awacs-Aufklärer sowie eine hohe Delegation ihres Internationalen Stabes.“ (FAZ, 14.8.)

Der estnische Präsident wirft – ganz Sprachrohr seines Mentors Bush – einer sehr pro-russischen, russophilen Koalition in der EU, die gute Geschäftsbeziehungen über europäische Werte wie Menschenrechte, Demokratie usw. stellt, vor, sie habe mit ihrem Veto gegen die Aufnahme Georgiens in die NATO Russland grünes Licht für seinen Einmarsch gegeben, und hält es für unvermeidbar, dass Frankreich und Deutschland auf seine harte antirussische Linie einschwenken. (RFE/RL, 14.8.)

Die Politik des anderen Euro-Lagers wird offen bezichtigt – und das sind schon neue Umgangsformen im europäischen Einigungswerk –, für vorteilhafte Geschäfte den Nutzen der Gegenseite in Kauf genommen zu haben, statt ihn zu verhindern, also den ökonomischen Imperialismus Russlands gefördert, dem Kreml Quellen seiner neuen imperialen Macht erschlossen zu haben. Das „Alte Europa“ wird nicht nur von den USA, sondern von Staaten, die es seinem Einflussbereich zuschlagen und unterordnen wollte, aufgefordert, sich am Containment gegen den „Neo-Imperialisten“ zu beteiligen und dafür seine „Sonderbeziehungen“ zu opfern.

Mit diesem Dilemma schlägt sich die russophile Fraktion in der EU herum: sie sucht nach einer Öffnungsklausel, nach einem Weg, den Ruin der Beziehungen zu Russland zu verhindern, ohne umgekehrt den offenen Gegensatz zu den USA und ihren neuen Satelliten in EU und NATO heraufzubeschwören. Heraus kommt eine Politik, die sich der Intransigenz der USA und ihrer Freunde formell anschließt (unverhältnismäßiger Gewalteinsatz, sofortiger Abzug, Anerkennung von Abchasien und Südossetien absolut inakzeptabel usw.), sie aber irgendwie noch zu kombinieren sucht mit einer Anerkennung auch der russischen Position und keine Verurteilung Moskaus ausspricht, der nicht die Versicherung nachfolgt, man sei und bleibe gesprächsbereit, eine Isolation Russlands dürfe nicht stattfinden. Merkel und Sarkozy wollen die neu eröffnete Konfrontation sozusagen rückübersetzen in einen Streit um Bedingungen, die Russland erfüllen muss, aber auch erfüllen kann, damit sich die Lage soweit entspannt, dass der europäische Imperialismus mit seinen Beiträgen zur Stabilisierung der Region (Steinmeier) überhaupt wieder eine Chance bekommt. Sie verschieben die amerikanische Betonung in der Verurteilung Russlands – weil Russland unverhältnismäßige Gewalt angewendet hat, müssen ihm die Mittel für seine Gewaltpolitik entzogen werden – in ein konditionales Urteil – wenn Russland sich weiterhin nicht an die Gebote des internationalen Rechts hält, werden womöglich Sanktionen unausweichlich –, um so in einen Verhandlungs- und Vermittlungsprozess einsteigen zu können, in dem über die Verhältnismäßigkeit der Gewaltanwendung gestritten, ein Katalog von Bedingungen für die Beilegung des Konflikts fixiert und irgendwann die Rückkehr zur „Normalität“ angetreten werden kann.

Angesichts dessen, dass die Bremswirkung dieser Politik auf den amerikanischen Konfrontationskurs bislang ausbleibt und vor allem dem deutschen Kalkül mit Russland unabsehbare Schäden drohen, kommt neben den scharfmacherischen Tönen, die nach Härte und Sanktionen gegen Moskau rufen, immer mehr der ums nationale Wohl besorgte Ruf nach mehr Distanz zur Führungsmacht auf. Deutsche Politiker, Ex-Generäle und führende Wirtschaftsvertreter warnen vor den Wirkungen von zuviel US-Gefolgschaftstreue, raten zur Mäßigung im Umgang mit Russland und fordern ihre Führung auf, den guten Geschäftspartner im Osten weiterhin in internationale Strukturen einzubinden. Da wird Frau Merkel künftig viel zu tun haben.

5. Russland „bleibt auf Konfrontationskurs“

Mit diesem Verdikt belegt der Westen, zumindest in der Wortwahl einhellig auf einer Linie, zunächst einmal die Tatsache, dass die Regierung in Moskau nicht klein beigibt – sie zieht im Gegenteil konsequent durch, was sie sich mit der Intervention in und gegen Georgien vorgenommen hat, und nimmt dafür auch noch in Anspruch, völkerrechtlich und moralisch voll im Recht zu sein.

Auf dem grusinischen Schauplatz betätigt sich die russische Seite souverän als Ordnungsmacht: Sie räumt Georgiens militärische Machtmittel ab, weil die nach Moskauer Urteil für rechtswidrige Gewaltaktionen missbraucht worden sind und damit so etwas nicht wieder passieren kann. Sie schafft nach eigenem Ermessen Sicherheitszonen und Kontrollposten, ohne sich in die schwierige Rolle einer Besatzungsmacht zu begeben und ohne sich förmlich an der georgischen Souveränität zu vergreifen, aber auch ohne sich von der irgendwie stören zu lassen. Sie entmachtet und vertreibt den Präsidenten nicht, ächtet ihn aber als Kriegstreiber und schließt Verhandlungen mit ihm aus, nicht aber die Rückkehr zu vernünftigen Beziehungen mit Tiflis. Ihre Zuständigkeit für die Politik ihrer Nachbarstaaten bekräftigt die russische Regierung mit dem Verweis auf ihre Verpflichtung und ihr daraus erwachsendes Recht, die Sicherheit ihrer Staatsbürger auch jenseits der Landesgrenzen zu gewährleisten; ihr Vorgehen in Georgien will sie durchaus als Klarstellung verstanden wissen, wie ernst sie das meint. Auch vor einer Änderung der politischen Landkarte scheut sie nicht zurück, wenn sie das im Sinne ihrer Rolle als Schutzmacht aller Russen und befreundeten Völker für unabweisbar nötig hält: Sie erklärt Südossetien und Abchasien zu autonomen Staaten und kündigt ausdrücklich den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen und der Militärhilfe für die neuen Republiken an.

Das alles dient der russischen Regierung zugleich und vor allem zur Positionierung gegen den Westen und gegenüber dem Rest der Staatenwelt: Russland nimmt sich das Recht, militärisch und politisch Fakten zu schaffen und mit der Berufung auf völkerrechtliche Titel dafür Anerkennung einzufordern. Verhandlungen auch über einen Waffenstillstand und die Lage im Kaukasus verweigert man nicht, stellt dabei aber keine der getroffenen Maßnahmen zur Disposition und blamiert alle Versuche vor allem der europäischen Seite, vereinbarte Waffenstillstandsbedingungen anders als im russischen Sinn zu interpretieren. Moskau verbittet sich die von Amerika schon fest zugesagte Wiederaufrüstung der georgischen Armee und kündigt für den Fall eine Aufstockung seiner Truppen in der Region an. Vorstöße der USA, der G7 und der NATO, die auf Ausgrenzung zielen, beantwortet die russische Seite mit Retourkutschen, sagt ihrerseits diplomatische Treffen und geplante Manöver ab, erklärt ihr Desinteresse an Beziehungen, die man ihr vorenthalten will, und macht mit der großzügigen Zusage, für die Versorgung der NATO-Truppen in Afghanistan weiterhin Hilfestellung leisten zu wollen, darauf aufmerksam, wie empfindlich sie den Westen bei seinen bewaffneten Missionen stören könnte. Den beschleunigten Abschluss des amerikanisch-polnischen Vertrags zur Raketenstationierung quittiert sie mit der Ankündigung eigener Aufrüstungsmaßnahmen, lässt auch demonstrativ eine Langstreckenrakete über Sibirien hinweg ins Ziel fliegen. Den Führungsmächten der EU wird deutlich gemacht, dass sie sich entscheiden müssen zwischen einer strategischen und Energiepartnerschaft mit Russland und der intransigenten Linie, die die USA mit ihrem Vorzugspartner Großbritannien und ihre willigen Helfern in Osteuropa verfolgen. Und nachdem die Regierung in Washington das Scheitern ihrer Bemühungen um eine weltpolitische Resozialisierung Moskaus verkündet, kontert der russische Präsident mit einer Grundsatzerklärung: Sein Land wolle keinen Kalten Krieg, fürchte ihn aber auch nicht – eine denkbar klare Ansage, dass die Nation entschlossen ist, westlichen Forderungen und Erpressungen nicht nachzugeben und in dem Fall, dass die NATO sich zu verschärfter Konfrontation entschließt, jeden Eskalationsschritt mitzugehen: Die Zeiten der Nachgiebigkeit sind vorbei!

Auf diese Klarstellungen bezieht sich der Vorwurf des vereinigten Westens, Moskau bleibe bei seinem „Konfrontationskurs“, in seiner generalisierten und verschärften Fassung. Der russischen Seite wird nämlich, über die „nicht hinnehmbare Aggression“ im Kaukasus hinaus, ein prinzipieller Verstoß namens Neo-Imperialismus zur Last gelegt. Inkriminiert und vorauseilend unter Strafandrohung gestellt wird damit Russlands angebliche Absicht, eine Politik der gewaltsamen Übergriffe und Grenzkorrekturen zu praktizieren und an einer Vielzahl von Schauplätzen voranzutreiben. Deren Aufzählung ergibt eine ziemlich komplette Liste der Zugewinne des Westens an imperialistischer Kontrolle über Russlands „Nahes Ausland“ sowie der noch verbliebenen offenen Posten: Moldawien und Rest-Georgien wären schon im Visier russischer Machtpolitiker; die Krim im Besonderen und die Ukraine im Allgemeinen wären als nächste Opfer vorgesehen; anschließend hätte das Baltikum den russischen Revanchismus zu fürchten; nicht einmal Polen wäre noch sicher... Die Menge der Einzelfälle, in denen der Westen eine russische Gefahr beschwört, steht für eine neue Qualität, die man an der Politik Moskaus ausgemacht haben will: Die vielen denkbaren Schauplätze eines russischen (Anti-)„Rollback“ bebildern die generelle Diagnose, dass Russland dabei ist, sich – selbstverständlich ganz unberechtigterweise, zu seinem eigenen Schaden und zum Nachteil für den Weltfrieden – der Ausbreitung von Demokratie & Marktwirtschaft über den Globus nicht nur zu verweigern, sondern ganz grundsätzlich zu widersetzen.

Diese polemische Einschätzung kommt auf ihre Weise der Wahrheit recht nahe. Denn mit seiner Intervention in Georgien hat Russland nicht bloß dort die Verhältnisse aufgemischt, sondern tatsächlich eine neue Weltlage geschaffen. Es hat praktisch, mit einem erfolgreichen Blitzkrieg, Einspruch eingelegt gegen eine amerikanisch-europäische Weltpolitik, die, mit einem noch viel größeren Aufgebot an militärischer Gewalt, ihre Alleinzuständigkeit für die Regelung des Geschäftsverkehrs und der Gewaltverhältnisse zwischen und in den anderen Staaten durchsetzt, deren Regierungen bevormundet und dafür auch noch allgemeine Anerkennung verlangt. Und damit hat Russland eben nicht bloß einen Protest zu Protokoll gegeben: Es hat die Lage verändert. Die Beschlagnahmung der Kaukasus-Region und Asiens durch die USA und die EU, teils einvernehmlich, teils und zunehmend im Widerstreit der nationalen Interessen, aber auf alle Fälle zu Lasten Russlands abgewickelt, geht nicht mehr so weiter, jedenfalls nicht mehr so raumgreifend und politisch so billig wie bisher; und was für diese imperialistisch derzeit so heftig beharkte Weltgegend gilt, das bleibt nicht ohne Rückwirkung auf den Rest der Welt – auch wenn die russische Regierung nicht gleich den Wunschtraum einiger Moskauer Strategen erfüllt, wieder Raketen auf Kuba zu stationieren. Dass die Staaten, die sich bei all ihren Konflikten untereinander immer noch gemeinsam als die freie Welt definieren, seit nunmehr fast 20 Jahren die politische Weltkarte umzeichnen und den Mitgliedern der „Völkerfamilie“ ihren Platz und Stellenwert im Weltgeschehen anweisen – das mag zwar nie so richtig nach Wunsch funktioniert haben; aber jetzt, nachdem Russland mit seinen Fliegern und Panzern auch einmal zugeschlagen und an einer heiklen Stelle einen Strich durch die westliche Rechnung gemacht hat, funktioniert das Prinzip, die Freiheit des Westens, seine Alleinstellung in Sachen Imperialismus nicht mehr.

Und genau das ist von der russischen Regierung auch genau so gewollt: Russland mischt nicht nur einen größenwahnsinnigen Präsidenten auf; es mischt sich als autonom agierende Weltmacht wieder in das Weltgeschehen ein, das die „freie Welt“ so lange zu ihrer Domäne gemacht hat.

[1] Die eigentümliche Konfliktlage in Georgien inklusive Friedenstruppen, in denen die verfeindeten Parteien selbst präsent sind, ist ein Produkt der postsowjetischen Staatsgründungskriege Anfang der 90er Jahre. Nach der Selbstaufgabe der Zentralmacht in Moskau sahen die neuen Führer im Kaukasus (wie auch in den anderen Teilen des Riesenreichs) ihre erste Aufgabe darin, ihren Völkern ein Stück souveräne Staatsmacht zu erkämpfen – gegen ihresgleichen, wie denn auch sonst, und ohne Rücksicht auf die Opfer, die ein kriegerischer Start in die Eigenstaatlichkeit nun einmal fordert. Der erste georgische Präsident beseitigte unter der Parole „Georgien den Georgiern!“ die Autonomie von Osseten und Abchasen, die ihrerseits auf Unabhängigkeit pochten. Die nachfolgenden Bürgerkriege beendete Russland – damals übrigens im Einvernehmen mit der westlichen Seite. Seitdem sind in Abchasien eine vom UN-Sicherheitsrat gebilligte, fast ausschließlich von Russland gestellte UN-Friedenstruppe stationiert sowie Militärbeobachter der United Nations Observer Mission in Georgia (UNOMIG). In Südossetien steht mangels Interesse der „internationalen Gemeinschaft“ an einer Beteiligung eine paritätisch besetzte Friedenstruppe aus Süd-/Nordosseten, Georgiern und Russen zwischen den Streitparteien. Daneben besteht seit 1992 eine OSZE-Mission in Tiflis mit dem Auftrag, den Waffenstillstand zu überwachen und Verhandlungen über eine endgültige politische Regelung des Konflikts zu unterstützen. Mit dem aktuellen Krieg und der russischen Anerkennung der beiden Provinzen als souveräne Staaten sind diese Konstruktionen und mit ihnen die Fiktion einer irgendwie gemeinsam zu lösenden Krise dahin.

[2] Näheres hierzu in GS 1-04

[3] Der SPIEGEL listet unter dem Titel: WAFFEN, DROHNEN, PANZER: WER UNTERSTÜTZT GEORGIEN? allerhand Interessantes auf: „Seit dem Machtwechsel von 2004 stiegen in Georgien die Verteidigungsausgaben enorm. Betrugen sie 2003 noch 52 Millionen Lari (umgerechnet 24 Millionen US-Dollar), verdreifachten sie sich im Jahr 2006 auf 139 Millionen Lari (umgerechnet 78 Millionen US-Dollar). Die realen Ausgaben sind aber viel höher. So kann sich zum Beispiel jeder potentielle Wehrdienstleistende aus der Armee freikaufen – vier Fünftel der Gelder fließen direkt in das Ministerium.

USA: Seit 2001 bezieht Georgien von den USA beträchtliche Militärhilfe in Form von Rüstungsgütern und militärischem Ausbildungspersonal. Laut der Österreichischen Militärischen Zeitschrift wird etwa ein Fünftel der amerikanischen Militärhilfe für die ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken für Georgien aufgewendet. Allein im Jahr 2006 unterstützten die USA Georgien mit 80 Millionen US-Dollar, davon flossen 13 Millionen in die Bezahlung von Militärlieferungen und Dienstleistungen und die Ausbildung von Soldaten. Außerdem unterstützen die USA Georgien mit regelmäßiger Flottenmodernisierung und der Lieferung von Gratis-Hubschraubern.

 Türkei: Die Türkei ist neben den USA der zweite wichtige Großsponsor Georgiens – seit 1997 hat das Land knapp 50 Millionen US-Dollar an Militärhilfe für Georgien ausgegeben.

Israel: Israel hat in der Vergangenheit Drohnen, Nachtsichttechnik und Raketen an Georgien geliefert. Außerdem arbeiten ehemalige Angehörige der israelischen Armee und der Sicherheitskräfte in Georgien als Berater. Angesichts der sich zuspitzenden Lage im Kaukasus hatte Israel die Lieferungen vor gut einem Jahr gekürzt. Israel hat erklärt, man wollte trotz des Konflikts im Kaukasus seine Waffenlieferungen an Georgien nicht einstellen. Zuvor hatte die israelische Zeitung Haaretz berichtet, das Land wolle die Waffenlieferungen vorerst stoppen, um die israelisch-russischen Beziehungen nicht zu belasten.

 Ukraine, Tschechien, Bulgarien: Die Ukraine, Tschechien und Bulgarien haben allein in den Jahren 2004 und 2005 etwa tausend Artilleriesysteme geliefert, dazu Tausende Schusswaffen plus Munition. Auch Ungarn, Rumänien, Makedonien und Litauen beliefern Georgien mit Schusswaffen und Kalaschnikows. Ägypten lieferte Zehntausende Sturmgewehre.“ (Spiegel-online, 15.08.2008)