Kriegsbedarf in Osteuropa und im Nahen Osten, „Chaos“ in Washington
Eine neue Episode im Kampf zwischen „global leadership“ und „America first!“
Schon wieder was, was es in Washington noch nie gegeben hat. Diesmal wird der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, auf Betreiben von einigen Hardlinern aus der eigenen Partei seines Postens enthoben. Der hatte sich dann doch nicht getraut, die angekündigte Totalopposition gegen den Haushalt der Biden-Regierung bis zur letzten Konsequenz durchzuziehen. Mit seinem Vorschlag einer kurzfristigen Anhebung der staatlichen Schuldengrenze ist er vor einem „government shutdown“ zurückgescheut, der die Schließung von etlichen Bundesbehörden, die Aussetzung von diversen Zahlungspflichten des Zentralstaats gegenüber seinen Beamten und eventuell eine Herabstufung der Bonität amerikanischer Staatsschulden nach sich gezogen hätte. Damit hat er sich in den Augen besagter Hardliner als bloß ein weiteres Geschöpf des parteiübergreifenden Sumpfes entlarvt, den gute Republikaner doch konsequent trockenzulegen hätten. Aus dem Misstrauensantrag des sog. „hardcore Trumpisten“ Matt Gaetz gegen McCarthy resultiert dessen Abwahl; danach folgen vier Wochen, in denen das Repräsentantenhaus „zur Untätigkeit verdammt“ ist, bis die Republikaner sich auf einen Ersatz einigen können – nach allgemeiner Auffassung ein weiterer trauriger Höhepunkt der dysfunktionalen Zwietracht, an der die amerikanische Politik schon seit mehr als einem Jahrzehnt leidet.
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Kriegsbedarf in Osteuropa und im Nahen Osten, „Chaos“ in Washington
Eine neue Episode im Kampf zwischen „global leadership“ und „America first!“
Schon wieder was, was es in Washington noch nie gegeben hat. Diesmal wird der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, auf Betreiben von einigen Hardlinern aus der eigenen Partei seines Postens enthoben. Der hatte sich dann doch nicht getraut, die angekündigte Totalopposition gegen den Haushalt der Biden-Regierung bis zur letzten Konsequenz durchzuziehen. Mit seinem Vorschlag einer kurzfristigen Anhebung der staatlichen Schuldengrenze ist er vor einem „government shutdown“ zurückgescheut, der die Schließung von etlichen Bundesbehörden, die Aussetzung von diversen Zahlungspflichten des Zentralstaats gegenüber seinen Beamten und eventuell eine Herabstufung der Bonität amerikanischer Staatsschulden nach sich gezogen hätte. Damit hat er sich in den Augen besagter Hardliner als bloß ein weiteres Geschöpf des parteiübergreifenden Sumpfes entlarvt, den gute Republikaner doch konsequent trockenzulegen hätten. Aus dem Misstrauensantrag des sog. „hardcore Trumpisten“ Matt Gaetz gegen McCarthy resultiert dessen Abwahl; danach folgen vier Wochen, in denen das Repräsentantenhaus „zur Untätigkeit verdammt“ ist, bis die Republikaner sich auf einen Ersatz einigen können – nach allgemeiner Auffassung ein weiterer trauriger Höhepunkt der dysfunktionalen Zwietracht, an der die amerikanische Politik schon seit mehr als einem Jahrzehnt leidet.
Doch so viel parteiübergreifende Einigkeit wie in den sogenannten „Chaostagen auf dem Kapitolshügel“ hat es in Washington lange nicht mehr gegeben. Der Vorwurf, den die Biden-Regierung und die Kongress-Demokraten einschließlich des linksdemokratischen „Squad“ gegen die Mannschaft um Gaetz richten, wird sekundiert durch die allergrößte Mehrheit der Republikaner einschließlich des republikanischen Schwergewichts Newt Gingrich, der vor knapp 30 Jahren den ersten Shutdown der US-Geschichte herbeigeführt hat. Und der wird darin wiederum durch die überwiegende Mehrheit der etablierten Medien bestärkt: Was Gaetz und Co da verbrochen haben, ist eine nicht einmal parteipolitisch nachvollziehbare Todsünde, ein mutwilliger Verstoß gegen das erste und letzte Gebot guter demokratischer Regierungsführung. Demokratische Politiker sind nämlich zuallererst zur Bewahrung der Handlungsfähigkeit und -freiheit der amerikanischen Staatsgewalt verpflichtet. Darauf können sich doch Amerikaner aus allen politischen Lagern, auf allen Stufen der sozialen Hierarchie und über alle Konfessionsgrenzen hinweg einigen: Von ihren Regenten wollen sie vor allem herrschaftliche Tatkraft sehen. Dass US-Politiker ihren Bürgern eine solche Anspruchshaltung in den Mund legen, ist verständlich; die Forderung ist schließlich nichts als ein Aufruf zu genau der gesetzgeberischen Freiheit, auf der sie selbst bestehen. Und das ist auch das Haupt- und Generalkompliment, das sie sich immer dann ausstellen, wenn sie etwas beschließen, woran die Bürger sich zu halten haben: Sie haben mal wieder geschafft, was sie volkstümlich „getting things done for the American people“ nennen. Das Verbrechen der Gaetz-Unterfraktion ist umso gravierender, weil „die Dinge“, die der amerikanische Staat derzeit vordringlich „zu erledigen“ hat, zwei heiße Kriegsfronten – und eine immer wärmer werdende – betreffen. Gerade solche Baustellen – in Osteuropa, im Nahen Osten und im fernen Asien – gehören unter die abstrakt-allgemeine Rubrik „Tut doch was!“ Und gerade an so etwas zeigt sich offenbar die Quintessenz einer funktionierenden amerikanischen Demokratie: die unbestreitbare militärische Aktionsfähigkeit der Supermacht an weltweiten Kriegsschauplätzen. Das allgemeine Urteil lautet: Den aufmerksamkeitssüchtigen Selbstdarstellern vom rechten Rand ist die Sache der Politik offensichtlich egal.
Die kommt dennoch voran. Der ganze Zirkus zwingt nämlich alle Seiten zu einer unmittelbaren Konfrontation in genau der politischen Sache, die amerikanische Außenpolitiker nicht erst seit Trump spaltet und die auch und gerade an den aktuellen Kriegsfronten auf dem Spiel steht: Was bedeutet es, amerikanische Supermacht zu sein? Der ausufernde Streit um den amerikanischen Haushalt macht den Streit um den amerikanischen Imperialismus so konkret wie dringlich.
I. Der kriegerische Handlungsbedarf der Biden-Regierung: Notwendigkeit und Nutzen amerikanischer Führung bei der Verteidigung der Weltordnung
1.
„Kriegsmüdigkeit“ spürt die Biden-Regierung definitiv nicht. Trotz aller auch hauseigenen Bedenken über mickrige Fortschritte bei verheerenden Verlusten registriert sie den Verschleiß der ukrainischen Armee beim Verschleißen der russischen Armee als das Stocken einer Offensive, die weder zum Erliegen kommen noch die letzte sein darf. Biden beteuert zwar, dass Russland insofern schon längst „gescheitert ist und weiterhin scheitert“, als es sein Kriegsziel eines blitzartigen Regimewechsels und einer politischen Umdrehung der gesamten Ukraine verfehlt hat. Doch das amerikanische Kriegsziel ist damit noch lange nicht erreicht: die Wiederherstellung der „regelbasierten Weltordnung“, deren oberste Durchsetzungsinstanz Amerika zu sein beansprucht, und die dafür fällige Ruinierung von Russland als Militärmacht, die zu solchen Verstößen überhaupt fähig ist. Für das alles hat Russland noch lange nicht genug verloren, zumal Putin weder sein Scheitern einsieht noch seinen Kriegswillen aufgibt, sich vielmehr zutraut, den Abnutzungskrieg in der Ukraine länger durchzustehen als die westlichen Sponsoren und deren Schützling. Zur praktischen Widerlegung solcher Siegesgewissheit wird die Ukraine entsprechend nachgerüstet, das nächste einschlägige Hilfspaket dem US-Kongress vorgelegt. Daneben wird weiter an der Schließung hartnäckiger Lücken bei der weltwirtschaftlichen Strangulierung Russlands und an dessen weltpolitischer Isolierung gearbeitet, also an der praktischen Verpflichtung der gesamten Staatenwelt auf Beiträge zu dessen Niederlage. Für Biden bleibt der Krieg also von entscheidender epochaler Bedeutung für die Ordnung der Welt – ein Weltkrieg, der zwar nur in der Ukraine zu führen ist und das Land entsprechend aussehen lässt, der aber die ganze Welt zum Mittun verpflichtet und Amerika selbst den entsprechenden militärischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Aufwand abverlangt.
Umso größer sind die Sorgen bei denen, die den Krieg in der Ukraine genau so sehen, Amerika könne sich nun womöglich durch den Krieg seines engsten Verbündeten im Nahen Osten ablenken, die Schätze aus seinem beachtlichen Waffenarsenal und die leider nun einmal begrenzte „Bandbreite“ seiner militärischen und diplomatischen Aufmerksamkeit anderweitig okkupieren lassen. Tatsächlich ist der israelische Kriegsbedarf für Biden genauso unabweisbar wie der der Ukraine; Israels Kriegsprogramm entnimmt er umgehend den dringenden Ruf nach der abschirmenden Abschreckungsmacht, die nur die USA liefern können. Entsprechend sieht seine Antwort aus: ein paar Milliarden an zusätzlichen Waffen für die israelische Armee, gleich zwei US-Flugzeugträger samt Entourage in Reichweite des Kriegsschauplatzes. Die Demonstration amerikanischer Kriegsbereitschaft wird um eine beachtliche diplomatische Offensive ergänzt, die alle anderen Mächte in der Region aufs Stillhalten verpflichten soll, damit Israel seinen Sicherheitsbedarf befriedigen kann; was in diesem Fall heißt, dass alle Alternativen dazu wirksam ausgeschlossen werden müssen. Für das, was die Biden-Regierung in diesem Fall unternimmt, hat sich in der Fachwelt die Redewendung eingebürgert, Amerika würde damit in den Nahen Osten „zurückkehren“, nachdem es die Region und insbesondere die israelisch-palästinensische Problemzone einige Jahre lang „vernachlässigt“ habe – ganz so, als hätte Amerika mit seinem Abzug aus Irak und Afghanistan die Region gar nicht mehr wirklich auf dem Schirm. Dass Amerika seine Ansprüche an die Ordnung in der Region kein bisschen aufgegeben hat, stellt es jedenfalls nun unter Beweis; und das, was es an militärischen Mitteln auffährt und an diplomatischem Aufwand betreibt, zeugt tatsächlich überdeutlich von dem Willen, als die unvermeidliche, unüberwindliche Ordnungsmacht in der Region präsent zu sein, als die es schon immer anerkannt werden will. Was Biden dafür alles tut und ansagt, ist offenbar mehr als genug, um besorgte Geister daheim und im Ausland sehr früh zur Frage zu bewegen, ob „die Kriege in Israel und der Ukraine mehr sind, als die Vereinigten Staaten gleichzeitig übernehmen können?“ Dem begegnet Biden mit der beruhigenden Auskunft:
„Um Gottes Willen! Wir sind doch die Vereinigten Staaten von Amerika! Die mächtigste Nation nicht nur der Welt, sondern auch der Weltgeschichte! Wir können uns um beides kümmern und unsere internationale Verteidigungsfähigkeit immer noch aufrechterhalten.“ (Biden im Interview, 15.10.23)
Der Wille und die Bereitschaft des Weißen Hauses zum militärischen „Sich-Kümmern“ reichen also locker für zwei Kriege und noch weit mehr. Laut Biden müssen sie aber auch dafür reichen. Damit sich da niemand vertut, legt Biden das Szenario in aller nötigen Drastik dar:
„Wir stehen vor einem Wendepunkt in der Geschichte. Es ist einer jener Momente, in denen die Entscheidungen, die wir heute treffen, die Zukunft für die nächsten Jahrzehnte bestimmen werden. Darüber möchte ich heute Abend mit Ihnen sprechen... Die Terrorgruppe Hamas hat das pure, unverfälschte Böse in der Welt entfesselt... Der Angriff auf Israel erinnert an fast 20 Monate Krieg, Tragödie und Brutalität, die dem ukrainischen Volk zugefügt wurden, Menschen, denen sehr schweres Leid zugefügt wurde, seit Putin seine totale Invasion startete. Wir haben die Massengräber nicht vergessen, die Leichen, die mit Folterspuren gefunden wurden, Vergewaltigung, die von den Russen als Waffe eingesetzt wurde, und Tausende und Abertausende von ukrainischen Kindern, die gewaltsam nach Russland verschleppt und ihren Eltern gestohlen wurden. Das ist krank. Die Hamas und Putin stellen unterschiedliche Bedrohungen dar, aber sie haben eines gemeinsam. Sie wollen beide eine benachbarte Demokratie vollständig auslöschen – vollständig auslöschen. Der erklärte Zweck der Hamas ist die Zerstörung des Staates Israel und die Ermordung jüdischer Menschen... Ich weiß, dass diese Konflikte weit weg zu sein scheinen, und man fragt sich natürlich: Warum ist das für Amerika wichtig? Lassen Sie mich Ihnen daher erklären, warum es für die nationale Sicherheit Amerikas von entscheidender Bedeutung ist, dass Israel und die Ukraine Erfolg haben. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass Terroristen, die keinen Preis für ihren Terror zahlen, und Diktatoren, die keinen Preis für ihre Aggression zahlen, mehr Chaos, Tod und Zerstörung verursachen. Sie gehen immer weiter. Und die Kosten und die Bedrohungen für Amerika und die Welt steigen weiter. Wenn wir also Putins Appetit auf Macht und Kontrolle in der Ukraine nicht stoppen, wird er sich nicht nur auf die Ukraine beschränken. Putin hat bereits Polen gedroht; er hat es daran erinnert, dass sein westlicher Landesteil ein Geschenk Russlands war. Einer seiner Top-Berater, ein ehemaliger russischer Präsident, hat Estland, Lettland und Litauen als die baltischen Provinzen Russlands bezeichnet. Das sind alles NATO-Verbündete. Seit 75 Jahren sichert die NATO den Frieden in Europa. Und sie ist der Eckpfeiler der amerikanischen Sicherheit. Und wenn Putin einen NATO-Verbündeten angreift, werden wir jeden Zentimeter der NATO verteidigen, wie es ein Vertrag verlangt und fordert. Wir werden etwas haben, das wir nicht anstreben. Um es klar zu sagen: Wir wollen nicht, dass amerikanische Truppen in Russland kämpfen oder gegen Russland kämpfen. Über Europa hinaus wissen wir, dass unsere Verbündeten und vielleicht vor allem unsere Gegner und Konkurrenten uns beobachten. Sie beobachten auch unsere Reaktion in der Ukraine. Und wenn wir uns zurückziehen und Putin die Unabhängigkeit der Ukraine zerstören lassen, werden potenzielle Aggressoren in der ganzen Welt ermutigt, dasselbe zu versuchen. Die Gefahr von Konflikten und Chaos könnte sich in anderen Teilen der Welt ausbreiten: im indopazifischen Raum, im Nahen Osten, insbesondere im Nahen Osten. Der Iran unterstützt Russland in der Ukraine, und er unterstützt die Hamas und andere terroristische Gruppen in der Region. Und wir werden sie weiterhin zur Rechenschaft ziehen... Amerikanische Führung hält doch die Welt zusammen. Amerikanische Allianzen sorgen dafür, dass wir, Amerika, sicher sind. Amerikanische Werte machen uns zu einem Partner, mit dem andere Nationen zusammenarbeiten wollen. All das aufs Spiel zu setzen, indem wir uns von der Ukraine abwenden und indem wir Israel den Rücken kehren – das ist es einfach nicht wert...“ (Bidens Rede an die Nation, 19.10.23)
Letztlich gibt es gar nicht zwei Kriege, die Amerikas militärische Aufmerksamkeit beanspruchen, sondern nur den einen großen, sehr weit verzweigten Kampf gegen den einen großen, vielköpfigen Gegner: einen unersättlichen Vernichtungswillen, der sich gegen die Menschen und das einzige politische System richtet, das sie wie Menschen behandelt. In diesem Kampf hängt alles mit allem zusammen, kein Schauplatz ist bloß lokal. Hier wie dort ist ein Einsatz überlegener amerikanischer Gewaltmittel nötig – der beste Beweis amerikanischer Entschlossenheit ist es, sie einzusetzen. Es braucht also eine amerikanische Intervention, die jeder Gegner auf sich beziehen kann und muss. Die zwei derzeitigen Hauptfronten in der großen Schlacht gegen das antidemokratische Böse mögen also fernab der amerikanischen Heimat liegen, aber nichts davon ist weit weg. Das liegt offenbar weniger daran, dass die Bösen „immer weiter gehen“, als vielmehr daran, dass sie gar nicht weit gehen müssen, um an die USA zu geraten. Mit ihren Allianzen sind die USA schon längst überall. Sie können sich nur zurückziehen, sich „isolieren“. Und genau das kommt nicht infrage. Damit würde Amerika nicht nur seine Partner und „die Menschen“, sondern auch sich selbst aufgeben:
„Was würde passieren, wenn wir weggehen würden? Amerika ist doch die unverzichtbare Nation... Als ich mit Präsident Selenskyj durch Kiew ging, während in der Ferne Luftschutzsirenen ertönten, spürte ich etwas, woran ich schon immer geglaubt habe, stärker als je zuvor: Amerika ist ein Leuchtfeuer für die Welt, immer noch, immer noch. Wir sind, wie meine Freundin Madeleine Albright sagte, die unverzichtbare Nation. Heute Abend gibt es überall auf der Welt unschuldige Menschen, die wegen uns auf ein besseres Leben hoffen. Die dank uns an ein besseres Leben glauben. Die sich verzweifelt wünschen, von uns nicht vergessen zu werden. Und die auf uns warten.“ (Ebd.)
Hier spricht ein Präsident, für den nationale Macht und globale Verantwortung, nationales Eigeninteresse und Dienst an der Welt, nationale Sicherheit und globaler Opferschutz nahtlos zusammenfallen. Zwar besteht die Außenpolitik auch der USA in einem Verhältnis zu anderen Staaten, denen sie mit eigenen Interessen und Mitteln gegenübertreten, woraus Bündnisse und Rivalitäten unterschiedlicher Breite und Intensität erwachsen, aus denen sich wiederum eine mehr oder weniger weitreichende Einmischung in die inneren Verhältnisse, in den Umgang fremder Staatsgewalten mit ihren Bürgern ergibt. Doch solche lehrbuchmäßigen Bestimmungen von Außenpolitik sind für diesen – und bekanntlich nicht erst für diesen – US-Präsidenten viel zu kleinlich, profan, unanständig. Er sieht es ja genau umgekehrt: Der amerikanische Staat steht in einem unmittelbaren persönlichen Verhältnis zu allen Menschen auf der ganzen Welt. Nicht als irgendein fremder Staat, von dem die sich dies oder das versprechen können, sondern als das gelobte Land – als ein universelles Heilsversprechen, das sich von dem des alttestamentarischen Gottes nur dadurch unterscheidet, dass es allen Menschen gegeben wird. Aus diesem Verhältnis zu den Menschen aller Länder leitet es seine Stellung zu ihren Staaten ab – als erster und eigentlicher Adressat von dem, was die für ihre Völker zu sein und zu erfüllen beanspruchen. Das ist extrem hochfliegende Rhetorik.
Darin ist sie aber recht sachgemäß. Darin reflektiert sich nämlich das singuläre Verhältnis, in das Amerika sich zu allen anderen Staatsgewalten auf der Welt tatsächlich materiell setzt. Die erkennt Amerika zwar einerseits als seinesgleichen an: als souveräne Gewalten, die ihre Völker für sich in Anspruch nehmen; als gleichberechtigte und gleichermaßen verpflichtete Subjekte einer globalen Rechtsordnung, die keine Ausnahmen macht, nicht einmal für Amerika. Jedenfalls im Prinzip. Diese Ordnung kennt Amerika andererseits als eine, die nur durch seine eigene, fraglos überlegene Gewaltpotenz die Verbindlichkeit einer wahrhaften Welt-Ordnung haben kann. Daher ist es für Amerika nur rechtmäßig und ordnungsgemäß, wenn nicht nur die Menschen der Welt sich zu ihm als einer singulären Ausnahme verhalten, sondern auch und gerade ihre Regierungen. Die sollen Amerikas überlegene Macht als Bedingung ihrer eigenen Interessen und Ambitionen, seine Suprematie als Essential ihrer eigenen Souveränität behandeln, Amerika also als einen Lizenzgeber, der ihnen Eigennutz gewährt und ihren Gewaltgebrauch unter seinen Vorbehalt stellt. Das missversteht kein Souverän dieser Erde als die Forderung, sich nach den Wünschen und Bedürfnissen der eigenen Bürger zu richten und die supranationalen Regeln der regelbasierten Weltordnung für heilig zu halten. Sie verstehen die Ordnungsmacht der USA vielmehr genau so, wie sie sie praktisch erfahren: als den Imperativ, mit ihrer von Amerika gewollten Herrschaft über Land und Leute den Interessen Amerikas an seiner Weltordnung gerecht zu werden. Was das für sie und was das für Amerika jeweils heißt, kommt darauf an. Als einziger Garant einer intakten Weltordnung behält sich Amerika stets die Freiheit vor, selbst zu definieren, welche Fälle von souveränem Gewaltgebrauch – nach außen wie nach innen – seine Weltordnungskompetenz überhaupt herausfordern. So frei Amerika da mit seinen Feinddefinitionen und seinen Machtmitteln hantieren mag, so wenig verzichtet es darauf, seine immer wieder fälligen Interventionen als die Durchsetzung einer supranationalen, allgemein gültigen Rechtslage anerkannt zu bekommen. Auch situationsbedingte Anpassungen der Rechtslage und selbst die Ausnahmen, die Amerika sich dabei gönnt – z.B. kann ein weltweiter Antiterrorkrieg ein bisschen Flexibilität in solchen Fragen erfordern –, haben insofern „regelbasierten“ und supranationalen Charakter, als Amerika dafür stets universelle Anerkennung seines Rechts fordert. Wenn Amerika als Weltordnungsmacht tätig wird, dann stets mit der entsprechenden Forderung, dass alle anderen Länder die Intervention auf sich zu beziehen haben, als Teilnehmer an der Weltordnung, die Amerika per se schützt, wenn es in Aktion tritt. [1]
2.
Keine Frage: Die Einlösung dieses Weltordnungsanspruchs versteht sich nicht von selbst – auch und gerade in den aktuellen Fällen, an denen er geltend gemacht werden soll. Und auch wenn Amerika hier nichts anbrennen lässt – es ist der vielleicht deutlichste Ausdruck des besonderen amerikanischen Weltordnungsanspruchs, den Biden mit seiner Rede so pathetisch artikuliert, dass er sie allenfalls in zweiter Linie an die Staaten der Welt adressiert. Hier spricht ein amerikanischer Präsident zunächst zu seinen eigenen Bürgern; vor allem ihnen gegenüber spürt er Klarstellungsbedarf. Der „Kriegsmüdigkeit“ im Lande, die dabei teils beantwortet, teils vorweggenommen wird, tritt Biden mit einer Erläuterung entgegen, warum die Unterstützung der Partner in deren Kriegen Amerika zwar zweifellos viel kostet, die Kosten sich aber für Amerika definitiv lohnen. Er wählt dafür eine Sprache, die jeder gute Businessman – und so sieht sich letztlich irgendwie jeder hart arbeitende Amerikaner – versteht:
„Deshalb werde ich morgen einen dringenden Haushaltsantrag an den Kongress richten, um Amerikas nationale Sicherheitsbedürfnisse zu finanzieren und unsere wichtigen Partner, einschließlich Israel und der Ukraine, zu unterstützen. Es ist eine kluge Investition, die sich über Generationen hinweg für die amerikanische Sicherheit auszahlen wird und die uns hilft, amerikanische Truppen aus der Gefahrenzone zu halten, die uns hilft, eine Welt aufzubauen, die sicherer, friedlicher und wohlhabender für unsere Kinder und Enkelkinder ist.“ (Ebd.)
So viel weiß jeder per „family values“ groß gewordene Amerikaner: Wenn von Kindern und Enkelkindern die Rede ist, dann geht es ums Grundsätzliche. Dann geht es um Ansprüche, an die Amerikaner und andere im Wortsinne und im übertragenen Sinne glauben müssen. Aber das ist gerade das Schöne an den vielen Allianzen, denen Amerika sich verpflichtet weiß, gerade das macht sie so „klug“: Dann töten und sterben andere für amerikanische Sicherheit. Sie ersparen Amerika die Notwendigkeit, ihre eigenen lebendigen und sachlichen Gewaltpotenzen genauso umfassend anzuwenden, wie ihre Ansprüche an die Welt tatsächlich reichen.
So leidenschaftlich und dramatisch Biden da auf seine Bürger einredet, so wenig wartet er eine Antwort oder gar eine Einsicht von deren Seite ab. Ein Präsident ist ja zum Führen da. Auf eine Antwort ist er dennoch angewiesen – vonseiten der Kongressabgeordneten, von deren mehrheitlicher Zustimmung die praktische Kriegsfähigkeit der Regierung tatsächlich abhängt – und sei es auch „nur“ zur Unterstützung von Kriegen, in denen Amerika offiziell Nicht-Kriegspartei bleibt. Und angesichts einer extrem knappen demokratischen Mehrheit im Senat und einer fast genauso knappen republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus schließt das die Abhängigkeit von den Abgeordneten ein, die sich auf der anderen Seite der berüchtigten nationalen Spaltung befinden. Doch ausgerechnet hier verläuft die nationale Spaltlinie quer zu den Parteigrenzen. Die überwiegende Mehrheit der republikanischen Kongressabgeordneten billigt nämlich Notwendigkeit und Nutzen beider Kriegsschauplätze zwecks Durchsetzung der Gültigkeit der von Amerika beherrschten Weltordnung. Den einschlägigen Hilfspaketen für Kiew erteilt sie regelmäßig, wenn auch nicht in jedem Fall, ihre Zustimmung, ergänzt um die – denkbar überflüssige, umso penetrantere – Mahnung, dabei alle Zügel in der Hand zu behalten. Die Regierung habe darauf zu achten, dass die freundschaftlichen Waffenlieferungen und Gelder nicht in dunkle Kanäle, sondern direkt in die Schützengräben fließen, damit ein führender republikanischer Senator weiterhin die erfreuliche Bilanz ziehen kann:
„Es ist das Beste, wofür wir jemals Geld ausgegeben haben.“ (Senator Lindsey Graham)
II. Die „America first!“-Fraktion beharrt auf amerikanischer Suprematie und sonst nichts
1.
„Kriegsmüdigkeit“ in der Ukraine spürt eine kleine Fraktion von eingefleischten Trumpisten im Kongress schon ziemlich lang – und einfach so lässt sie sich nicht übergehen. Erstens deswegen, weil diese kleine Fraktion keinen Geringeren als Donald Trump hinter sich weiß, hinter dem wiederum die überwiegende Mehrheit der republikanischen Wähler steht; zweitens und sehr akut deswegen, weil diese Fraktion dank der gegebenen Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus über ein sehr überproportionales Stimmgewicht verfügt. Die Notwendigkeit ihrer Zustimmung zur Anhebung der Schuldengrenze bietet ihr die Gelegenheit, ihren Einspruch gegen weitere Militärhilfen für die Ukraine nicht nur oppositionell-ohnmächtig anzumelden, sondern auch praktisch unübergehbar zu machen.
Worin genau ihr Einspruch besteht, macht die Mannschaft um Matt Gaetz schon im Frühjahr 2023 mit einer „Ukraine fatigue resolution“ deutlich, die die militärische Unterstützung der Ukraine zu einer Schwächung Amerikas erklärt. Sie verweist dabei auf das enorme Ausmaß der bisherigen – penibel aufgelisteten – Militärgeschenke an die Ukraine, was zu bedenklichen Tiefständen im eigenen Waffenarsenal geführt habe. Erst recht unerträglich sei der Umstand, dass Amerika zur Aufrechterhaltung der eigenen militärischen Schlagkraft auf fremde Verbündete – vor allem Südkorea – zurückgreifen muss. Das geht zwar, aber dass Amerika das nötig hat, zeuge von einer unerträglichen Abhängigkeit; davon, dass Amerika nicht Herr seiner eigenen Sicherheit ist.
In welche Gefahr das Abenteuer in der Ukraine die USA bringt, erläutert Gaetz wie folgt:
„‚Präsident Joe Biden hat wohl seine Vorhersage vom März 2022 vergessen, wonach die Bewaffnung der Ukraine den Konflikt zu einem ‚Dritten Weltkrieg‘ eskalieren wird... Wir müssen alle ausländischen Hilfen für den Krieg in der Ukraine aussetzen und von allen Beteiligten in diesem Konflikt verlangen, dass sie sofort ein Friedensabkommen schließen‘, sagte der Kongressabgeordnete Gaetz.“ (Gaetz’ Webseite, 9.2.23) „Ich halte es für absurd, die Zukunft der Vereinigten Staaten von Amerika an die Zukunft der Ukraine zu knüpfen. Die Lebensqualität meiner Wähler ändert sich nicht grundlegend, je nachdem, welcher Typ im Trainingsanzug auf der Krim regiert.“ (Gaetz in New York Times, 19.5.23) „Glauben wir wirklich, dass wir mehr Angst vor den kaputten Panzern aus Russland haben sollen als vor der Tatsache, dass China eine geheime Militärbasis auf der Insel Kuba baut, 90 Meilen von den Vereinigten Staaten entfernt?“ (Gaetz in New York Times, 13.7.23) „Warum sollte man sich für die Ukraine entscheiden? Warum dehnt man die NATO nicht auf Russland aus und macht aus ihr ein Anti-China-Bündnis?... Wenn wir uns für Russland oder die Ukraine entscheiden müssten, könnte man vernünftigerweise argumentieren, dass Russland auf lange Sicht wahrscheinlich mehr Nutzen bringt.“ (Gaetz in Newsweek, 12.7.23) „Gaetz beharrte darauf, dass er und die anderen Gegner der Ukraine-Hilfe keine Isolationisten seien, und führte ihre harte Rhetorik gegen China als Beweis an. ‚Ich möchte nicht, dass meine Enkelkinder Mandarin sprechen‘, sagte er.“ (New York Times, 19.5.23)
Russland ist also einerseits aufgrund seiner Stärke zu gefährlich, um eine militärische Konfrontation mit ihm zu riskieren; andererseits ist es letztlich zu schwach, um Amerika überhaupt ernsthaft zu gefährden. Wenn Russland Teile der Ukraine erobert, ist das noch lange kein Schaden für Amerika. Einen wertvollen Partner verliert es dadurch jedenfalls nicht; die Ukraine ist schlicht zu schwach, um Amerika gegen seine Feinde zu nützen. Seinen Vorschlag, in Russland vor allem ein wertvolles Instrument im Kampf gegen China zu sehen, muss man zwar nicht unbedingt ernst nehmen; sehr ernst gemeint ist freilich die Zurückweisung der ganzen Prämisse des amerikanischen Stellvertreterkriegs in der Ukraine und aller Gleichungen, die die US-Regierung dort geltend macht. Dieser Krieg ist für diese US-Politiker wirklich nur ein lokaler Konflikt. Bei ihnen hat sich dafür die Formulierung „Territorialkonflikt“ eingebürgert, womit gerade nicht ein Verstoß gegen ein Kernprinzip der regelbasierten Weltordnung ausgemacht werden soll, vielmehr eine kriegerische Begleichung von Rechnungen, deren Bedeutung keineswegs über den dortigen Schauplatz hinausreicht, schon gar nicht bis nach Amerika. Dafür sind beide Kontrahenten schlicht zu unwichtig – beides lächerliche Gangster.
Für die Einstufung des Gemetzels unter die Rubrik „nicht relevant für Amerika“ ist es offenbar egal, dass die Ukraine in ihren militärischen Potenzen und ihrer politischen Ausrichtung das Werk des amerikanisch geführten Westens ist. Das verpflichtet Amerika zu nichts bzw. umso mehr dazu, dafür zu sorgen, dass Amerikas Partner seine Militärmacht potenzieren statt strapazieren. Schon gar nicht verpflichtet das Amerika zum Standpunkt, es hätte eine Weltordnung zu verteidigen, als deren gewaltmonopolistische Schutzmacht es in Aktion treten muss, wenn ein so potentes Land wie Russland sich daran Revisionen vornimmt. Zwar hat der Ordnungsstandpunkt, der damit zurückgewiesen werden sollte, schon immer die Freiheit eingeschlossen, Kriegsfälle gar nicht erst als Herausforderungen für die amerikanische Weltordnung zu nehmen, wenn man meint, dass sie es nicht wert sind. Und auch Staatsgrenzen sind den USA keineswegs immer heilig, sofern Amerika einen Nutzen darin findet, eine als störend definierte Macht ein Stück kleiner zu machen. Aber es ist schon ein ziemlicher Tabubruch, eine so explizite antiamerikanische Revision eines so umfassend amerikanisch gestützten Staates durch Russland – eine Macht, die traditionell parteiübergreifend als zu bekämpfende, im Idealfall zu beseitigende Herausforderung für die amerikanische Weltmacht definiert und behandelt wird – gar nicht erst auf Amerika zu beziehen. Mit Russlandfreundschaft oder auch nur mit einer Opposition gegen die Einkreisung und Beschneidung der russischen Macht hat das freilich nichts zu tun; auch da soll man Gaetz’ „Russland in die NATO“-Gedankenspiel nicht zu ernst nehmen. Es ist eher so, dass für diese Fraktion mit der Ukraine einfach zu wenig kaputt geht, wenn Russland sie kaputt macht; umgekehrt gewinnt Russland darüber zu wenig, um das zu gefährden, was an der globalen „Rolle“ Amerikas das einzig Entscheidende zu sein hat: seine Suprematie, seine konkurrenzlose Überlegenheit.
Die wird aus Sicht der „America first!“-Fraktion allein durch den Gegner bedroht, der die nötige Macht und Größe mitbringt, um Amerika als die stärkste, bestimmende Macht des Globus zu gefährden. Von dieser epochalen Auseinandersetzung mit dem Rivalen China darf Amerika sich eben nicht durch die ukrainischen Scharmützel mit Russland ablenken lassen, erst recht nicht, wenn dieser Nebenkriegsschauplatz so viele amerikanische Gewaltressourcen in Anspruch nimmt, und zwar ohne die baldige Perspektive einer eindeutigen Klarstellung amerikanischer Siegesfähigkeit.
2.
Dass China eine einzigartige Gefahr für Amerika darstellt, die über die russische Herausforderung weit hinausragt; dass am Ausgang dieses Kräftemessens die Zukunft amerikanischer Übermacht entschieden wird – darin ist sich diese Fraktion mit der Biden-Regierung einig. Doch was genau Amerika zu verteidigen hat, wenn es seine Überlegenheit gegen China zu verteidigen hat, definiert sie offenbar etwas anders.
Absolut unstrittig ist der Nutzen, der aus der Weltordnung zu ziehen ist: Der reimt sich wie immer auf einen einzigartig potenten nationalen Kapitalismus, dessen Protagonisten sich der Mittel und Märkte der Welt bedienen, um sich zu bereichern und dem US-Staat eine einzigartig potente Nationalwährung zu verschaffen; damit auch eine unvergleichlich produktive Quelle staatlicher Macht, mit der Amerika die ganze Welt auf genau diesen Nutzen verpflichten kann. Die dazugehörige Dominanz nennen US-Politiker seit jeher global leadership. Für die alternativen Imperialisten ist das immer ein sehr zweideutiger Begriff gewesen: Sofern damit der Status und der Anspruch Amerikas als militärisch und ökonomisch konkurrenzlos überlegene Macht, als Lizenz- und Kapitalgeber der Staatenwelt ausgedrückt werden soll, geht er voll in Ordnung. Problematisch wird er, sobald damit mehr, nämlich eine amerikanische Verantwortung – gar eine „Bürde“ – gegenüber den Geführten ausgedrückt werden soll. Dass der Begriff auch in diesem Fall keineswegs als Rücknahme, vielmehr als Rechtfertigung amerikanischer Ansprüche in der Welt gemeint ist, wird auch diesen Kritikern nicht wirklich entgangen sein. Doch schon die Suggestion, amerikanische Weltdominanz hätte eine höhere Rechtfertigung überhaupt nötig, ist ihnen suspekt. Amerikas einzigartiger Erfolg, seine unvergleichliche Stärke geben ihm doch schon umfassend Recht; sie bezeugen mehr als jedes Stück globales Verantwortungsbewusstsein – und zwar nicht nur für die calvinistischen Fanatiker –, was für ein gesegnetes Volk die Amerikaner sind. Erst recht problematisch ist die Vorstellung, sein Erfolg würde dem Land nicht bloß einen uneinholbaren Vorsprung vor den Konkurrenten bescheren, der die Freiheit einschließt, sie nach Gusto zu benutzen, sondern auch ausgerechnet eine Verpflichtung auf deren Anliegen. Und wenn Amerika diese Verantwortung in festen Bündnissen besiegelt, die den Konkurrenten Schutz, Beistand und mehr anbieten, dann sind das sehr suspekte Kosten, selbstverschuldete Fesseln bei der Benutzung der Welt. „America first!“ oder – im Mund seiner Kritiker – „Isolationism“ hat eben noch nie etwas mit einer Abkopplung von der Welt zu tun gehabt. Diese Doktrin drückt vielmehr ein dem traditionellen amerikanischen, von Biden abermals bekräftigten Weltordnungsstandpunkt sehr immanentes Verdachtsmoment aus: Wird die Führung, die Amerika der Welt aufdrückt, von den Geführten ausgenutzt? Wird die Ordnung, die schon daheim als das größte Geschenk gilt, das ein Staat seinen Bürgern machen kann, auch noch der ganzen Welt auf Kosten Amerikas geschenkt? „America first!“ ist also eine äußerst konstruktive Kritik an den Kosten – in puncto Geld, Waffen, Soldatenleben – der globalen Freiheit amerikanischer Macht, nicht an deren globaler Ausübung. Es ist das Beharren auf dem Nutzen aus der Weltordnung, den kein Präsident je aus den Augen verloren, je zugunsten seiner Verbündeten aufgegeben hat. An der konstruktiven Natur dieses Standpunkts ändert sich nichts durch die Feindseligkeit, mit der er vertreten wird.
Mit der wird er aber bekanntlich schon seit längerem vertreten. Dass auch der aktuelle demokratische Präsident den amerikanischen Konkurrenzerfolg vernachlässigt und damit das amerikanische Volk verrät, hat zwar seinen Neuigkeitswert, aber nichts von seiner Schärfe verloren. Was diese Denunziation für ein Regierungsprogramm einschließt, ist seit Trump keine spekulative Größe mehr. Als der genuin oppositionelle Standpunkt, der „America first!“ ist, wird er nun seit einigen Jahren und jetzt in einem unmittelbaren Showdown geltend gemacht.
III. Ein Haushaltsstreit, der zur Entscheidung drängt
1.
Die Gelegenheit und zugleich die Notwendigkeit für diese Konfrontation bietet die nahende Deadline für die fällige Anhebung der Schuldengrenze, der der Kongress zustimmen muss, damit die Zentralregierung ihr Regierungsprogramm per zusätzliche Verschuldung finanzieren kann. Das bietet der kleinen Hardlinertruppe einen Hebel, ihre Einwände gegen das Regierungsprogramm entsprechend ultimativ geltend zu machen: kein neues Geld ohne weitgehende Streichungen. Die betreffen beinahe jedes Element von Bidens Regierungsprogramm und letztlich alles, was die Kritiker damit assoziieren wollen – von der Migrationspolitik über die Energiepolitik bis hin zu den Studienkrediten und der Sache mit der „critical race theory“. An jedem Punkt wird dasselbe entdeckt: ein verrutschter moralischer Kompass, im Wesentlichen der fehlende Wille zu der einzigartigen Großartigkeit der USA. Der lückenhaften Abschottung der Südgrenze wird entnommen, dass die Regierung das Volk, das sie hat, nicht mehr mag – Umvolkung ist im Gange. In den großen und kleinen Sozialprogrammen wird eine Relativierung des Prinzips entdeckt, dass Erfolg recht gibt. Alle Elemente einer grünen Energiepolitik zeugen von einem Hass auf die Erfolgsmittel der Nation, sodass sogar für dieselben Vertreter des „Rechts des Stärkeren“ jede verrostete Industriestadt dafür steht, dass der Regierung Paris offenbar lieber ist als Pittsburgh – da wollte man offenbar den Niedergang. Ein extrem plastisches Beispiel für dasselbe wird nun auch in Amerikas Stellvertreterkrieg in der Ukraine entdeckt; die einschlägigen Kosten fordern dabei zu verwegenen Gegenüberstellungen heraus: „Wir schicken Geld und Waffen an die Ukrainer, während daheim unsere Kinder an Drogen aus Mexiko sterben?“ „Wir schützen das ukrainische Territorium vor einem russischen Überfall, können aber nicht einmal unsere eigenen Grenzen vor dem Einmarsch der Migranten schützen?“ Sogar die schlechte soziale Lage vieler Amerikaner, deren soziale Unterstützung die Kongress-Republikaner gerade kürzen wollen, darf als Belegmaterial des Vorwurfs an die Biden-Regierung dienen, sie würde offenbar die eine Lösung für die Probleme aller Amerikaner gar nicht mehr wollen: amerikanische Souveränität und amerikanische Suprematie, die Freiheit im Innern und die Freiheit bei der Beherrschung der Welt.
Der deutlichste Ausdruck der Verkommenheit der Washingtoner Führung wird im extrem hohen Schuldenstand des Staates entdeckt. Der steht erstens für das erbärmliche Versagen, die Gesellschaft zu dem Erfolg zu führen bzw. sie den Erfolg einfach einfahren zu lassen, der die Ausgaben gerechtfertigt hätte; das Geld, das sich die Regierung per zusätzliche Schulden gönnt, hat sie offensichtlich nicht ansatzweise verdient. Das weitere Bestehen auf der Freiheit zu noch mehr Schulden beweist zweitens den mangelnden Willen, sich diesem Erfolg zu verschreiben; offenbar will die Regierung ihr dokumentiertes Versagen fortsetzen. Sie richtet sich damit drittens in der finanziellen Abhängigkeit ein, die ausgerechnet in der erwiesenen Freiheit der Nation zu einer solchen Verschuldung erblickt wird; da gewährt sich die Regierung also eine Freiheit, die sie den berühmten Kindern und Enkelkindern der Steuerzahler wegnimmt. Der Schuldenstand steht insoweit für eine Rücksichtslosigkeit, die sich gerade nicht – wie es sich gehört – gegen die auswärtigen Konkurrenten, sondern gegen die eigenen Bürger richtet. Darin drückt sich viertens der genauso unerträgliche Zustand aus, dass die Regierung damit auch dann durchkommt, wenn sie auf die Zustimmung der republikanischen Opposition angewiesen ist. Die versagt offensichtlich ihren oppositionellen Dienst, betreibt die Fundamentalopposition nicht, deren Notwendigkeit sie stets beschwört, erlaubt also den Demokraten die Freiheit, die sie sich für ihre landesverräterische Politik nehmen... Nichts von dem, was dem Schuldenstand entnommen wird, ist ihm zu entnehmen, aber offenbar ist er ein zu schlagendes Bild, um darauf zu verzichten. Summa summarum: In Washington gibt es gar nicht die spalterische Konfrontation, die es wirklich bräuchte, vielmehr die eine große unverantwortliche „Uniparty“, die ihre Rechnungen nicht zahlen will – ein Sumpf, in dem die Stärke der Nation versinkt. Gegen diese Handlungsfreiheit der Regierung tritt die Gaetz-Mannschaft an. Gerade in dieser Freiheit sieht sie einen Verstoß gegen das erste und letzte Gebot guter Regierungsführung. Also steht kompromisslose Blockade an, bis die Washingtoner Politik wieder im Sinne des Volkes funktioniert und die Schulden, die der Staat dann macht, definitiv dem Recht des Volkes auf Überlegenheit und sonst nichts dient. Auch eine Art, das Funktionieren der Demokratie mit der imperialistischen Stärke der Nation zusammenzuschließen.
2.
Mitten in diese Demonstration kompromissloser Opposition im Namen des Volkes platzt der Angriff der Hamas auf Israel. Das Kriegsprogramm, mit dem Israel darauf antwortet, sowie die unmittelbar bevorstehende Deadline zur Anhebung der Schuldengrenze führen alle Seiten zur Hauptsache zurück – zur Frage, wie die Außenpolitik der Weltmacht an diesem „Wendepunkt der Geschichte“ auszusehen hat.
Für die „America first!“-Fraktion ist Israel im Gegensatz zur Ukraine kein bloßer Verbündeter, der auf Kosten Amerikas lebt; dafür ist das Land zu sehr das Werk der USA. Sein Kampf gegen die Hamas und überhaupt sein fortgesetzter Staatsgründungskrieg sind auch kein „forever war“, in dem Amerika sich heillos verstrickt, auch keine Ablenkung von der Hauptfront, an der Amerikas Suprematie verteidigt werden muss – dafür ist dieser Verbündete viel zu stark und viel zu erfolgstüchtig in einer für die USA viel zu wichtigen Region. [2]
Die Sonderstellung Israels für die amerikanische Weltmacht, die Unwidersprechlichkeit seines Sicherheitsbedarfs für die USA ist für Biden – bei allen Schwierigkeiten im Einzelnen – ein Musterfall für die schon erwähnte Klarstellung, dass auch und gerade dieser Krieg sich überhaupt nicht ab- und eingrenzen lässt. Worum es Amerika in Israel geht, darum geht es auf der ganzen Welt. Biden legt dem Kongress ein entsprechend umfassendes „Sicherheitspaket“ vor, das alle vier Schauplätze, auf denen die Essentials der nationalen Sicherheit Amerikas auf dem Spiel stehen, miteinander gebündelt, also nicht gegeneinander ausgespielt werden können: die Ukraine, Israel, Taiwan, auch die Südgrenze. Das Gesamtpaket wird mit demselben imperialistischen Selbstverständnis begründet, das die Gaetz-Fraktion auf die Barrikaden treibt: der heiligen Pflicht Amerikas zur globalen Leadership. Demgegenüber besteht die „America first!“-Fraktion darauf, dass nicht zusammengeschmissen wird, was nicht zusammengehört: Israel zuerst, die Ukraine muss warten.
Die Konfrontation, die Washington Mitte November erneut an den Rand eines Shutdowns bringt, dreht sich also um das erbauliche Thema, wo, wofür und in welcher Rangfolge Amerikas einzigartiges Waffenarsenal durch seine auswärtigen Partner angewendet gehört. Kurz vor der erneuten Shutdown-Deadline einigen sich genug Republikaner und Demokraten darauf, eine Entscheidung über den Haushalt und seine Finanzierung um einige Monate, eine Entscheidung über weitere Waffenhilfen für Israel und die Ukraine um einige Wochen doch noch zu vertagen. Etwas mehr Zeit fürs Austragen eines Streits, in dem keine Seite die Perspektive einer Einigung sieht – dafür hat der Geist der parteiübergreifenden Zusammenarbeit dann doch vorerst gereicht.
[1] Im Gegensatz zu ihren Staaten missverstehen allzu viele Menschen diesen amerikanischen Anspruch als das Versprechen, überall dort als Retter zur Stelle zu sein, wo Staaten fremde und eigene Völker gewaltsam traktieren; vor dem Vorwurf der Selektivität und der Doppelmoral bleibt Amerika nirgends verschont, z.B.: „Aber wo bleibt Amerika im Sudan, Kongo?“ oder „Amerika sagt zwar, es will in der Ukraine eine Okkupation beenden, aber im Gazastreifen unterstützt es eine!“ Solche Verurteilungen bekräftigen genau den Maßstab, den Amerika an sich angelegt haben will: sein beanspruchtes Recht zum Ordnen der Welt, die dann ihre „pax americana“ ist, als Pflicht eines wohlwollenden Hegemons.
[2] Vgl. „Israel 2019: Imperialistische Musterdemokratie in zionistischer Mission“, vor allem Kapitel III: „Die ‚einzigartige Allianz‘ mit Amerika und ihre Fortschritte unter Trump“ in GegenStandpunkt 4-19, S. 89 ff.