Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Nach dem ‚Nein‘ zum Vertrag von Lissabon:
„Ein Lob den Iren“ (J. Habermas)
Wenn die Nationen schon nicht wollen – dann zwingen wir sie eben basisnah und mit herrschaftsfreiem Diskurs zum imperialistischen Aufbruch Europas!
Alle Welt gibt sich bedenklich bis entsetzt über die halbe Million Iren, die mit ihrem ablehnenden Votum „Europa zum Stillstand“ gebracht hat, doch Deutschlands größter Philosoph winkt ab. Er hat das so oder ähnlich längst kommen sehen. Für ihn als Fachmann für wahre Demokratie und Verfassungspatriotismus kommt in dem Fall nur ein weiteres und, wie er hofft, endgültig letztes Mal das verhängnisvolle Prinzip zum Vorschein, von dem Europas Einigung getragen ist, und die ‚Süddeutsche‘ eröffnet ihm großzügig Platz zur Darlegung seiner tiefen Gedanken. Die heben damit an, dass der Philosoph die Stichworte in Erinnerung bringt, unter denen andere namhafte Stimmen der öffentlichen Meinung schon seit geraumer Zeit Stand und Fortschritte des europäischen Einigungswerks sorgenvoll in Augenschein zu nehmen pflegen, und da ist ihm jeder zirkulierende Einwand gleich recht.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Nach dem ‚Nein‘ zum Vertrag von
Lissabon: Ein Lob den Iren
(J. Habermas). Wenn die Nationen schon
nicht wollen – dann zwingen wir sie eben basisnah und mit
herrschaftsfreiem Diskurs zum imperialistischen Aufbruch
Europas!
Alle Welt gibt sich bedenklich bis entsetzt über die
halbe Million Iren, die mit ihrem ablehnenden Votum
Europa zum Stillstand
gebracht hat, doch
Deutschlands größter Philosoph winkt ab. Er hat das so
oder ähnlich längst kommen sehen. Für ihn als Fachmann
für wahre Demokratie und Verfassungspatriotismus kommt in
dem Fall nur ein weiteres und, wie er hofft, endgültig
letztes Mal das verhängnisvolle Prinzip zum
Vorschein, von dem Europas Einigung getragen ist, und die
‚Süddeutsche‘ eröffnet ihm großzügig Platz zur Darlegung
seiner tiefen Gedanken. Die heben damit an, dass der
Philosoph die Stichworte in Erinnerung bringt, unter
denen andere namhafte Stimmen der öffentlichen Meinung
schon seit geraumer Zeit Stand und Fortschritte des
europäischen Einigungswerks sorgenvoll in Augenschein zu
nehmen pflegen, und da ist ihm jeder zirkulierende
Einwand gleich recht. Er nimmt Anleihen bei Kritikern des
bürokratischen ‚Wasserkopfs‘ – immer neue Vorschriften
aus Brüssel
; bei Fans eines ‚sozialen Europa‘ –
die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich
,
quer durch alle Gesellschaften hindurch immer mehr
Verlierer
; bei Leuten wie Gauweiler –
verlorengegangene Gestaltungskompetenzen
– und
Stoiber – nach Brüssel und Straßburg verlagerte(n)
politische(n) Entscheidungsbefugnisse(n)
– nur um
alles zusammen in dem eher amorphen Generalverdruss über
Politiker aufgehen zu lassen, die vieles versprechen,
aber ohne Perspektive sind und nichts mehr bewegen
(können)
(alle Zitate SZ,
17.6.). Da hat einer also erkannt, woran Europa
in Wahrheit krankt: Die Führer sind ohne
Perspektive! Und wenn das so ist, dann kann
dieses Europa seine Völker ja unmöglich für sich
einnehmen, zumal seine perspektivlosen Wegbereiter und
Beförderer sich auch gar keine Mühe machen, ihre Bürger
bei der Vollendung ihres großen Werks ‚mitzunehmen‘, wie
es so schön heißt. Seit jeher haben sie sich darauf
verlegt, die europäische Einigung
überhaupt nicht
bürgernah-demokratisch, sondern komplett am Willen ihrer
Völker vorbei voranzutreiben. Immer wieder sollten die
nur etwas ratifizieren, woran sie nicht beteiligt
waren
. Kaltschnäuzig
hat man sie wie
Stimmvieh
behandelt, ihnen als Höhepunkt aller
Entfremdung von den wahren Drangsalen eines normalen
Menschen auch noch einen Vertrag zur Zustimmung
vorgelegt, der zu kompliziert ist, um ihn verstehen zu
können
, nur um so ihrem einmal eingeschlagenen Weg
treu zu bleiben und Europa stur weiter als ein
Eliteprojekt über die Köpfe der Bevölkerung hinweg
zu
betreiben. Dazu haben nach Auffassung des
Philosophen die Iren ‚Nein‘ gesagt: Stellvertretend für
den in allen Völkern Europas grassierenden Unmut über den
Paternalismus
– auf deutsch: Bevormundung – der
Herrschenden hätten sie dem letzten Kraftakt
eine
Absage erteilt, mit dem Europas Regierende nur ein
weiteres Mal hätten unter Beweis stellen wollen, dass
sie allein über das Schicksal Europas entscheiden.
Und jetzt stehen sie da, die 27 Regierungen der Union,
die noch gar nicht fertig ist, jetzt ist die
Verlegenheit noch größer
, als sie bei den zuvor
gescheiterten Referenden in Frankreich und den
Niederlanden jemals war: Die Regierungen sind mit
ihrem Latein am Ende.
*
Aber sie haben ja einen großen gesamteuropäischen
Philosophen zur Seite stehen. Der hat nicht nur
herausgefunden, dass das ‚Nein‘ der Bürger zum Fortgang
der europäischen Einigung
seinen tieferen Grund im
fehlenden ‚Ja‘ zu Europa hat, zu dem sie von ihren
Politikern nicht agitiert worden sind. Ihm ist auch
aufgefallen, dass aus demselben zwingenden Grund diese
Einigung, wenn sie weitergehen soll, auf einen
anderen, einen bürgernahen Politikmodus umgestellt werden
muss
, und er weiß auch schon, wie man so etwas
erfolgreich macht. Basisdemokratisch und bürgernah
gelingt Europas Vollendung, wenn die politische Elite
sich zuallererst die Perspektive
verschafft, die
ihr abgeht, und sich des Grunds und Zwecks erinnert,
weswegen es eine gesamteuropäische Macht
unbedingt braucht:
„Das pikierte Schweigen der Regierungen über die Zukunft Europas deckt den Zielkonflikt zu, der der europäischen Einigung seit Jahren die Perspektive und die Ansteckungskraft raubt. Soll Europa zu einem gestaltungsfähigen Akteur werden, der nach innen und nach außen politische Handlungsfähigkeit gewinnt – oder bleibt es bei der zivilisierenden Anziehungskraft eines Erweiterungsprojekts für die Anrainerstaaten, die sich für den Beitritt zu einer immer größeren Union fitmachen? Der Preis für das diffuse Erweiterungsprojekt ist die fehlende politische Gestaltungskraft in einer ökonomisch zusammenwachsenden Weltgesellschaft, die seit 2001 politisch auseinanderdriftet ... Doch die Probleme des Klimawandels, des extremen Wohlstandsgefälles und der Weltwirtschaftsordnung, der Verletzung elementarer Menschenrechte, des Kampfes um knappe Energieressourcen betreffen alle gleichermaßen. Während alle von allen immer abhängiger werden, beobachten wir auf der weltpolitischen Bühne die Verbreitung von ABC-Waffen und eine sozialdarwinistische Enthemmung der Gewaltpotenziale. Müsste nicht ein handlungsfähiges Europa im eigenen Interesse sein Gewicht für eine völkerrechtliche und politische Zähmung der internationalen Gemeinschaft in die Waagschale werfen?“
Einen Zielkonflikt
Europas will Habermas entdeckt
haben, und das ist, höflich gesprochen, etwas vermessen.
Er mag es ja bedauerlich finden, dass er in dem Europa,
das es als politisches Subjekt gibt, nicht das
Europa entdeckt, das er sich wünscht, nämlich nicht den
gestaltungsfähigen Akteur
, der weltweit
zeigt, was alles an politischer Gestaltungskraft
in ihm steckt: Ein Zielkonflikt Europas wird daraus noch
lange nicht, dass sich eine Schwärmerei von europäischer
Großmacht vom Stand der Dinge frustriert gibt. Immerhin
erfährt man, was diese ‚Gestaltungskraft‘ der Staaten
Europas ausmacht, die der Philosoph für den Inbegriff
europäischer Politik und so unbedingt befürwortenswert
hält: Eine zivilisierende Anziehungskraft
wohnt
den Staaten Europas inne, und die sieht er bei der
friedlichen Eroberung südosteuropäischer Kleinstaaten und
Inseln für nachgerade verschenkt. Denn was sagt ein
Humanist und tiefer Denker zur imperialistischen
Weltordnung mit ihrem Hunger und Elend, ihren Kriegen und
Terroristen, Schurkenstaaten und anderen
Völkerrechtsbrechern, ihrem kaputten Klima und den
knappen Ressourcen? Richtig, so schön, wie sie sein
sollte, ist sie nicht, weil sie das aber schon sein
könnte, ist sie ein einziger Auftrag zur
Weltverbesserung für ihn! Ihm scheint komplett
entgangen zu sein, dass, wie, und wo überall Europas
Mächte – jede für sich, als NATO, als EU ... – schon
längst weltpolitisch eingemischt sind, als
Weltwirtschaftsmacht ihren Beitrag zum ‚Wohlstandgefälle‘
leisten mit Krieg störende ‚Gewaltpotentiale‘ erledigen.
Es ist auch überhaupt nicht ersichtlich, wie und wodurch
in dieser imperialistischen Welt eigentlich etwas anders
oder gar besser werden würde, wenn einer ihrer
gestaltungsfähigen Akteure
sein Gewicht
noch gewichtiger in die Waagschale
werfen würde.
Doch was heißt das schon für einen Habermas. Mit seiner
moralischen Brille hat er ein verhängnisvolles Wesen
ausgemacht, das in der Weltgesellschaft
, die er in
seinem Zettelkasten hütet, politisch
auseinanderdriftet
, und weil ja ersichtlich niemand
da ist, der diese Drift korrigieren und die
Weltgemeinschaft retten könnte, muss eine
europäische Großmacht das besorgen und allseits
für Zivilisierung
sorgen! So ist man als Philosoph
auf der Höhe der Zeit. Imperialismus, wie er geht und
steht – das ist eine weltpolitische Bühne
, auf der
das Gute gegen das Böse ringt, gegen Krieg, Elend und
alles andere Unschöne kämpft, das sich auf der abspielt.
Und eine Weltmacht Europa ist der Imperialismus des
Guten, nach dem die Welt zur Zähmung
all der
unzivilisierten Umtriebe in ihr verlangt: Wenn
Europas Nationen endlich vereint
Außenpolitik treiben und Bescheid erteilen, was andere zu
tun und zu lassen haben, dann treten sie immer nur
kurativ wie präventiv der Enthemmung der
Gewaltpotentiale
entgegen, die andere sich zuschulden
kommen lassen, und nehmen die historische Verpflichtung
wahr, die ihnen vom Weltgeist auferlegt worden ist!
So passt zwar sachlich absolut nichts aufeinander, aber beides, die philosophische Idee von der Herrschaft des Guten in der Welt und die Waffen der Herrschenden, die in der Welt regieren, doch zumindest ästhetisch prima zusammen: Auf dass endlich am europäischen Wesen die Welt genese – nein, das ist kein Weckruf zum imperialistischen Aufbruch, wie er schon einmal ergangen ist. Das ist die dringliche Anmahnung des Philosophen zur Einlösung des Auftrags, den ganz ohne jede Vorsehung die Menschheit zum Zwecke ihrer eigenen Zivilisierung Europa erteilt hat – und um dessentwillen es umgekehrt nach seinem Dafürhalten des Auftretens der Weltmacht eines vereinten Europas ja auch überhaupt nur bedarf!
*
Doch so schön auch der Philosoph Imperialismus in die
ultimative Pflicht zur Weltveredelung zu verwandeln und
deren Wahrnehmung Europas Regierenden als „Ziel“
ihres Einigungswerks ins Stammbuch zu schreiben
versteht: Sie hören nicht auf ihn. Aus Europa wird nach
seiner Auskunft kein politisches Gewicht
vom Rang
einer humanistischen Weltmacht, weil sich die
Regierungen über das Ziel der europäischen Einigung
uneins sind.
Aber was heißt das schon für einen
Philosophen. Für den steht der Auftrag zur europäischen
Einigung aus weit höheren als den
nationalstaatlich-eigensüchtigen Gründen fest, von denen
sich Politiker gemeinhin leiten lassen. Und wenn die sich
in ihrer berufsbedingten Befangenheit als derart unfähig
erweisen, das Ideal der imperialistischen
Weltverbesserung wahr werden zu lassen, das ihm
vorschwebt, weist er, der auch gelernter Fachmann für
Demokratie als Verfahren zur ‚Legitimation durch
Verfahren‘ ist, ihnen den Weg: Dann sollen eben Europas
Völker sich stellvertretend für ihre Regierungen
über die Zukunft ihrer Gemeinsamkeit einig werden! Dann
hätten, und das wäre dann endlich eine europäische
Demokratie in Vollendung, die Regierungen von ihren
Bürgern das sie alle gemeinsam verpflichtende
Mandat zum geschlossenen Aufbruch einer
europäischen Weltmacht und damit das zwingende
Verbot erteilt bekommen, sich weiter in
kleinlicher nationalstaatlicher Eigensucht über Ziel und
Zweck ihrer Union zu streiten. Das wäre doch ein schöner
Erfolg der Demokratie, und was das Allerschönste daran
ist: Dazu braucht es gar nicht mal viel. Nur der Wille
dazu ist vonnöten, und ein kleiner demokratischer
‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ obendrein, der aber
auch überhaupt keine Probleme aufwirft.
Denn genau genommen ist es, so hört man vom Experten, mit
dem Leiden der europäischen Völker unter dem
Paternalismus
ihrer Obrigkeiten gar nicht so weit
her. Auch mit der berühmten Kluft zwischen Arm und
Reich
könnten die vielen Verlierer
quer
durch alle Gesellschaften
in Europa schon leben, wenn
nur – ja, wenn sie nur endlich einmal offen gesagt
bekämen, wofür sie sich von ihren Herrschaften
andauernd einspannen und bevormunden lassen. Und wenn sie
darüber endlich auch zu dem Vertrauen gelangen würden,
dass sie mitsamt ihrem materiellen Elend bei
denen ihr eigenes wie auch das Schicksal
Europas
mit gutem Grund in besten Händen wissen
können! Aber was geben die Führer dieser Völker, die da
für die Vollendung ihrer Union unterwegs sind, für ein
jämmerliches Bild ab, schaut man einmal genau hin: Man
muss nur die tristen Bilder der Duodezfürsten Brown,
Sarkozy und Merkel sehen, die bei Präsident George W.
Bush einer nach dem anderen und jeder für sich
antichambrieren, dann weiß man, dass sich Europa von der
Weltbühne verabschiedet.
Europäische Potentaten im
Westentaschenformat, die vor einem Machthaber mit absolut
uneuropäisch unzivilisierten Allmachtsphantasien den
Kotau machen: Da weiß man
doch sofort, was für
eine Tristesse dieser europäische Aufbruch ist – und
wundert sich kein bisschen mehr darüber, dass Europas
Bürger sich von ihrer Demokratie entfremden, ihre
eigenen Politiker verachten
, anstatt ihnen
abgrundtief ihr Vertrauen zu schenken. Der große
Basisdemokrat vermisst Führer, die in Wort und Tat auch
zu überzeugen verstehen, und in genau dem Sinn plädiert
er für eine ekelhafte Wahrheit der Demokratie: Wer sich
als demokratischer Führer zur Gründung einer Weltmacht
anschickt, hat sich seinem Volk, will er bei ihm für sein
Projekt Stimmung machen, schon auch überzeugend als
zur weltweiten Machtausübung Berufener zu
präsentieren – schon gleich im Umgang mit dem Präsidenten
der Weltmacht, gegen die er sich als Konkurrenz
aufstellt. Ein eindrucksvoll demonstrierter Wille zur
Herrschaft über andere und die nicht minder
demonstrative Entschlusskraft zur Durchsetzung
gegen die: Das und nur das macht
demokratische Machthaber für ihr Volk respektabel – und
genau das verschafft ihnen im Koordinatensystem
dieses edeldemokratischen Kritikers einer abgehobenen
politischen Elite Europas
auch wieder die
Bürgernähe
, die ihnen nicht nur bei der Vollendung
Europas, sondern auch bei allen ihren übrigen Vorhaben
willige Gefolgschaft sichert. Bürger, die von
wirklich überzeugenden nationalen Führern gesagt
bekommen, was mit Europa zur Abstimmung ansteht, sagen
auch ‚Ja‘ zu Europa. Von politischen Herren, denen sie
vertrauen können, von denen sie also gerne
bevormundet werden, lassen sich auch bekennende
Nationalisten zum Votum für eine Weltmacht
Europa bewegen, und damit steht der Auftrag an die
Adresse der Regierungen in Europa fest: Sie haben die
Bevölkerung über Europa entscheiden zu lassen
, und
was das im einzelnen bedeutet, verrät der Fachmann für
echt herrschaftsfreie Diskurskultur gerne. Das
bedeutet, dass die politischen Parteien die Ärmel
hochkrempeln, damit Europa auf den Marktplätzen zu dem
lebenswichtigen Thema wird: Soll aus einem Europa, das in
nationalstaatliche Rangeleien zurückgefallen ist, ein
innen- und außenpolitisch handlungsfähiges Subjekt
werden?
Aus dem Nationalismus der Bürger auch noch
die Parteinahme für Europa als vaterländische Pflicht
neben allen anderen herzuleiten: Das in etwa wäre der
Königsweg zur Heilung der unseligen Entfremdung, die
zwischen Europas Bürgern und der ‚Brüsseler Bürokratie‘
eingerissen ist! Das ungefähr wäre für einen Habermas die
partizipatorische Basisdemokratie, mit der ein
gesamteuropäisches Stimmvieh die zügige Vollendung seiner
Vaterländer zur respektablen Weltmacht endlich im selben
Zuge als ureigenes Herzensanliegen kennen lernen wie
befürworten könnte!
Auch dort also, wo die Demokratie mit ihren lästigen
Volksbefragungen sich nicht so recht als perfektes
Verfahren erweist, die freiwillige Selbstabtretung
nationaler Souveränitätsbelange den Völkern überzeugend
als Erfolgsweg ihrer eigenen Nation vor Augen zu stellen,
muss ein wahrer Liebhaber und Kenner dieser so
umständlichen Form von Herrschaft an ihr noch lange nicht
irre werden. Mögen andere munter darüber diskutieren,
ob nicht die halbautoritären Formen der andernorts
praktizierten Fassadendemokratien besser
funktionieren
– ein Habermas ist sich sicher, dass
eine ordentlich praktizierte autoritäre Indoktrination
des Volkes schon für eine demokratische Willensbildung
sorgen wird, die im Endeffekt jede halbautoritäre
demokratische Mimikry in den Schatten stellt.
*
Machbar jedenfalls wäre so Europa schon, meint der
Philosoph. Die deutsche Kanzlerin muss dazu ihren
Deutschen, der französische Präsident seinen Landleuten
und alle anderen europäischen Führer müssen ihren
Untertanen nur oft und eindringlich genug vor Augen
stellen, wie lebenswichtig
gerade für sie
– ausgerechnet! – eine endlich gesamteuropäisch vereinte
imperialistische Macht ist: Haben Europas Führer zusammen
mit ihren Parteien dann dank ihrer Autorität auf den
Marktplätzen und in den übrigen Kanälen der
pluralistischen Meinungsbildung den fälligen Konsens
gestiftet, können sie diesen auch mit Erfolg abrufen und
ihre Völker in Referenden
dazu antreten lassen,
der in ihnen erfolgreich gezüchteten pro-europäischen
Gesinnung entsprechend Ausdruck zu verleihen: Schon ist,
mit Engagement und Glück
, Europa als
handlungsfähiges Subjekt geboren, wobei es gar nichts
ausmacht, dass dieses Subjekt gar nicht mehr Europa,
sondern eben nur ein Konglomerat von Ländern ist, in
denen das Referendum angenommen wird.
Denn eine
Union der zwei Geschwindigkeiten
, da kennt der
Experte für europäische Anziehungskraft und
Beschleunigung sich aus, wirkt über kurz oder lang auf
Erden so unwiderstehlich wie schwarze Löcher im
Universum: Vor eine Alternative gestellt, würden sich
auch die mittel- und südosteuropäischen Beitrittsländer
überlegen, wo ihre Interessen liegen. Für die zunächst
skeptischen Mitgliedsstaaten könnte ein politisch
erfolgreiches Kerneuropa an Anziehungskraft gewinnen.
Wenn nur einmal die Deutschen und Franzosen, die Bürger
der entscheidenden Führungsmächte Europas entschieden ihr
‚Ja‘ gesagt haben, ist die Weltmacht nicht mehr
aufzuhalten: Seitdem er sie vor 50 Jahren erfunden hat,
bestehen für ihn an der ‚normativen Kraft des Faktischen‘
einfach keine Zweifel mehr.
*
Durch dieses ‚Lob den Iren‘ sieht sich G. Verheugen,
Vizepräsident der EU-Kommission, zur Replik
herausgefordert. Wo der philosophierende ideelle
Gesamteuropäer von den Politikern endlich den
entschlossenen Willen zur Einigkeit verlangt und davon
ausgeht, dass sich der Gegensatz zwischen ihnen in Luft
auflöst, wenn nur Europas Völker per Referendum ansagen,
wie es mit der Union weiter zu gehen hat, da pocht der
Realist des Brüsseler Procedere weiter auf seine Maxime:
Schritt für Schritt, und alle gemeinsam
(alle Zitate SZ, 21./22.6.).
Wieder mal habe sich da bei den Iren das nationale
Vetorecht
, das ein Habermas gutheiße, bei der
Einigung als Hindernis
entpuppt, und das stelle ja
wohl hinlänglich klar, warum EU-weite
Volksabstimmungen und die Idee eines Kerneuropas nichts
taugen.
Denn so schön der Traum von einer
europäischen Weltmacht ist: Um die zu werden, haben
Europas Souveräne es erstmal mit sich, nämlich
mit sich zu tun, nämlich damit, zuallererst sich
selbst dem Subjekt – europäische
Superstruktur
sagt der Profi dazu – zu- und
unterzuordnen, mit dem sie dann dem Rest der Welt
gegenübertreten könnten. Womit es bekanntermaßen schlecht
aussieht. Dafür sind auch europaweite Referenden ...
keine praktikable Antwort, weil niemand bereit ist, seine
eigene Souveränität der mehrheitlichen Entscheidung
anderer zu überantworten. Man muss sich das praktisch
vorstellen: Was geschähe, wenn die Mehrheit der Europäer
ja sagte, aber die Mehrheit, sagen wir einmal der
Deutschen, nein? Müsste dieses Nein dann nicht ebenso
respektiert werden wie jetzt das Nein der Iren?
Und
wo der Philosoph meint, ein knackiges Kerneuropa, das aus
einem gesamteuropäischen Referendum im Glücksfall ja
herauskommen könnte, entfalte dann schon von selbst den
Sachzwang für alle anderen, sich ihm anzuschließen, kann
der Kenner der politischen Szene nur müde lächeln:
Auch die auf den ersten Blick verlockende Idee eines
Kerneuropas, also einer echten politischen Union
innerhalb der weiteren EU, oder die Idee eines Europas
der verschiedenen Geschwindigkeiten taugt für die heutige
Welt nicht. Denn wer definiert in diesem Fall, wer Kern
sein darf? Und wer soll draußen bleiben?
Der
unermüdlich am Prozess der freiwilligen Selbstentmachtung
arbeitende Praktiker des europäischen Einigungswerks hat
also am Idealisten derselben Einigung die
Verwandtschaft im selben Leiden entdeckt, im
Leiden daran nämlich, dass die Vollendung des Werks
einfach nicht zustande kommen will. Wo der eine
dafürhält, dass sich mit denselben demokratischen
Techniken der völkischen Willensbildung, an denen in
Irland sogar ein so windelweiches Etwas wie der ‚Vertrag
von Lissabon‘ scheitert, bei kundiger Handhabung auch
noch eine von den Völkern Europas einhellig getragene
Vervollkommnung der Union zum imperialistischen
Handlungssubjekt herbeihebeln ließe, wird er vom anderen
darauf hingewiesen, dass, bei allem Respekt vor dem
Volkswillen, in Gestalt des Willens von 27 souveränen
Staaten eine ganz andere Nuss zu knacken sei. Und als
Realist, der er im Zuge des Knackens dieser Nuss nun
einmal geworden ist, lässt er sich da lieber von der
Botschaft eines anderen Philosophen zur Zuversicht
ermuntern: Ich stelle mir zwar Sisyphos nicht als
einen glücklichen Menschen vor, aber in Europa ist der
Stein soeben wieder mal heruntergerollt – rollen wir ihn
zu siebenundzwanzigst also wieder hinauf.
Nicht
einmal bei zweien ihrer heftigsten Befürworter aus ein
und demselben Land klappt der Konsens in Sachen
europäische Einigung
- wo soll das nur hinführen?!
*
Keine 3 Tage später ist in der SZ dann wieder Habermas
mit seiner Replik auf die Replik dran. Neben einer
ausführlichen Wiederholung des Gesagten dürfen wir der
entnehmen, dass wir uns den Philosophen als einen
glücklichen Menschen vorstellen können. Es war ja gerade
wieder ein kleines Fußball-Sommermärchen im Land, und was
durfte er da den Ritualen der Spieler und Fans
ablesen
? Den eindeutigen Beweis, dass er vollkommen
recht hat, mit allem, was er sagt, die Bürger schon viel
weiter in Europa angekommen sind als ihre Politiker und
sich die Nationen nicht mehr wie aus Stein gehauen
gegenüberstehen.
Einem wie ihm zeigen die bunten
Wimpel der Autofahrer
nämlich nur eines: Dass
ihnen vielfach die eine Fahne oft nicht genügt, um die
Identifikation mit ‚ihren‘ Mannschaften zum Ausdruck zu
bringen.
Daraus lernen wir: Die Frage ist nicht,
ob irgendeine Nation bereit wäre, ihre Identität
aufzugeben
, weil das die Inhaber der weinroten
EU-Pässe schon längst stellvertretend für die Nationen
erledigt haben, wenn sie als Doppel-Nationalisten
unterwegs sind. Man muss nur unter Autofahrern und
Fußballfans, und das ist in jedem Fall die
gesamteuropäische Mehrheit, Iren eingeschlossen, das
Bewusstsein verbreiten, den weltpolitischen
Schicksalen, denen man gemeinsam ausgesetzt ist,
gemeinsam begegnen zu wollen
– und schon steht sie
wie die Eins, die Groß- und Weltmacht Europa!