Gipfeltreffen zwischen Biden und Putin
Diplomatie mit einem Staat, dem man jeden Respekt verweigert
Joe Biden führt neue Sitten auf dem Gebiet der Völkerverständigung ein: Erst tituliert er den Chef der russischen Föderation als „Killer“, was vor dem Hintergrund der Feindbildorgien der Öffentlichkeit zwar nicht weiter aus dem Rahmen zu fallen scheint, im Umgang unter Staatschefs, die sich gerade nicht im Krieg befinden, allerdings doch etwas ungewöhnlich ist. Der Bruch mit den diplomatischen Benimmregeln für den Umgang unter Staatsoberhäuptern markiert schon mal die Tonlage, an der die Welt seine erfrischend ehrliche Führungsstärke wahrnehmen soll. Dann unterbreitet der amerikanische Präsident seinem russischen Kollegen den Vorschlag eines Gipfeltreffens, aber nicht ohne unmittelbar nach dem Unterbreiten dieses Angebots für das rechte Verständnis zu sorgen, indem er eine Serie von Sanktionen der härteren Art gegen Russland in Kraft setzt und weitere in Aussicht stellt.
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Systematischer Katalog
Gliederung
- Vor dem Gipfel: Biden stiftet das passende Klima
- Der Gipfel
- Der amerikanische Präsident erläutert seinem russischen Kollegen den fundamentalen Klassenunterschied zwischen ihren beiden Nationen: Amerika wieder einmal exzeptionell
- Russland hingegen: einfach erbärmlich
- Angelegenheiten, in denen mit dem strategischen Gegner noch verhandelt werden muss
- „Stable and predictable“ – die neue Formel aus dem Weißen Haus für den Umgang mit Russland
- Nach dem Gipfel
Gipfeltreffen zwischen Biden und Putin
Diplomatie mit einem Staat, dem man jeden Respekt verweigert
Vor dem Gipfel: Biden stiftet das passende Klima
Joe Biden führt neue Sitten auf dem Gebiet der Völkerverständigung ein: Erst tituliert er den Chef der russischen Föderation als Killer
, was vor dem Hintergrund der Feindbildorgien der Öffentlichkeit zwar nicht weiter aus dem Rahmen zu fallen scheint, im Umgang unter Staatschefs, die sich gerade nicht im Krieg befinden, allerdings doch etwas ungewöhnlich ist. Der Bruch mit den diplomatischen Benimmregeln für den Umgang unter Staatsoberhäuptern markiert schon mal die Tonlage, an der die Welt seine erfrischend ehrliche Führungsstärke wahrnehmen soll. Dann unterbreitet der amerikanische Präsident seinem russischen Kollegen den Vorschlag eines Gipfeltreffens, aber nicht ohne unmittelbar nach dem Unterbreiten dieses Angebots für das rechte Verständnis zu sorgen, indem er eine Serie von Sanktionen der härteren Art gegen Russland in Kraft setzt und weitere in Aussicht stellt.
Dieser Auftritt will verstanden sein als Reparatur der Fehler, die Bidens Vorgänger im Umgang mit Russland gemacht haben soll. [1] Die Manier lebt von der Legende, mit der die Demokraten während Trumps Präsidentschaft ihre Konkurrenz wesentlich bestritten haben, derselbe wäre ein Produkt russischer Wahlmanipulationen und daher in russischen Diensten, einer Legende, die bis heute am Leben gehalten wird, auch wenn den politischen Beobachtern durchaus bekannt ist, dass sich auf dem Gebiet dem Vorgänger eine Abweichung von der amerikanischen Staatsräson ernstlich nicht nachsagen lässt. [2] Entgegen der Biden’schen Inszenierung besteht eine ziemlich bruchlose Kontinuität in der Radikalisierung der Russland-Politik, die unter Trump erreicht worden ist. Die neue Administration knüpft nahtlos an die unter dem Vorgänger seriell beschlossenen Repressalien gegen die Russische Föderation an.
Ein Schock neue Sanktionen
Die amerikanischen Beschlüsse werden schon gewohnheitsmäßig mit der Floskel angekündigt: to make Russia pay a price for ...
, die eine Art von Äquivalent fingiert zwischen irgendeinem beliebigen, gerne auch bloß behaupteten russischen Vergehen und der Vergeltung durch die USA, die als Oberaufseher und Richter über gutes Benehmen in der Staatenwelt die Reparatur der Rechtsordnung durch eine Bestrafung des Missetäters vornehmen. Die Einkleidung von Angriffen auf den Gegner in die Preisform ist wohl eine fürs amerikanische Weltbild passende Metapher der strafenden Gerechtigkeit. Und ganz in diesem Geist gibt die Biden-Regierung bei ihrem Einstieg gleich bekannt, dass sie über reichlich, beliebig verwend- und jederzeit mobilisierbare „Gründe“ für Sanktionsbeschlüsse verfügt, sodass die künftig gewissermaßen wie vom Band rollen können:
„Die Regierungsvertreter machten auch klar, dass die Nawalny-Sanktionen nur die ersten von mehreren Strafmassnahmen der Regierung Biden gegen ‚inakzeptables Verhalten‘ der russischen Führung darstellten. Das Weisse Haus habe von den Geheimdiensten Berichte zu vier Themenbereichen bestellt. Neben den Repressionen gegen Nawalny und dessen Anhänger würden dabei auch der grossangelegte Hackerangriff gegen die Softwarefirma Solarwinds, die Kopfgelder für die Tötung amerikanischer Soldaten in Afghanistan und die Einmischung in die amerikanischen Wahlen analysiert. Die Regierungsvertreter liessen keine Zweifel daran, dass zu diesen Themen weitere Strafmassnahmen folgen würden.“ (NZZ, 2.3.21)
Das im April beschlossene und von Finanzministerin Yellen ausdrücklich als durchschlagend
gerühmte Paket nimmt sich die verschiedensten Agenten und Instrumente der russischen Außenpolitik vor:
Sanktioniert werden 16 Organisationen und 16 Personen, die versucht haben sollen, die US-Wahlen zu beeinflussen – wobei kein Wert auf juristisch haltbare Beweise gelegt wird. [3] Worauf es ankommt, das ist das Kaliber der Anklage, das damit erreicht ist: dass sich Russland am höchsten demokratischen Heiligtum, der souveränen Ausübung des Volkswillens, vergangen haben soll.
Die Blockierung von Eigentum und Einreiseverbote werden auf Personen aus dem russischen Technologie- oder Rüstungssektor, aus damit materiell verbundener russischer Industrie oder irgendeinem anderen Wirtschaftssektor ausgedehnt, die an sogenannten bösartigen
Aktivitäten beteiligt oder zu einer im Auftrag der russischen Regierung operierenden, bösartigen
Organisation gehören; als solche gelten sogenannte disinformation outlets
wie z.B. das russische Pendant zum Goethe-Institut. Dazu kommen Sanktionen gegen sechs russische Technologie-Unternehmen, die mit ihren Produkten auch russische Geheimdienste ausstatten, gegen Unternehmen, die Cyber- und Informationsoperationen ermöglichen sowie Militär- und Dual-Use-Technologien liefern, sowie Sanktionen gegen die Söldner der russischen Wagner-Gruppe.
Zur Krönung des Ganzen hat die Biden-Administration Sanktionen erlassen, die jetzt unmittelbar auf die Verschuldungsfähigkeit des russischen Staats, den russischen Zugang zum Weltfinanzmarkt zielen: Amerikanischen Banken wird der Kauf russischer Staatsschuldtitel auf dem Primärmarkt ebenso untersagt wie andere Formen der Kreditierung russischer Staatsorgane. Dem Hinweis, dass die Wirkung sehr begrenzt sei, weil sich die große Masse dieser Papiere ohnehin allein in russischer Hand befindet, ist eher das Gegenteil zu entnehmen, nämlich wie weit der Angriff auf die Verschuldungsfähigkeit des russischen Staates durch die gelaufene Sanktionspolitik schon gediehen ist; dass die internationale Finanzwelt schon längst wirkungsvoll abgeschreckt und die Kreditaufnahme des russischen Staats im Wesentlichen auf die Kapazität des inneren Markts reduziert ist ebenso wie der Aktionsradius der Inhaber solcher Papiere.
Mit dem Angriff auf die Benutzung des Weltfinanzmarkts findet ein Angriff auf das Wachstumsmittel schlechthin statt, von dem Russland abgeschnitten werden soll, während seine anderen Mittel zur Geldbeschaffung auf dem Weltmarkt schon länger von Amerika angegriffen werden: Die Rüstungsexporte sind schon sanktioniert – siehe die aktuellen Streitigkeiten der USA mit russischen Großkunden wie der Türkei und Indien, denen die USA die Anschaffung relevanter Rüstungskomponenten aus russischer Produktion verbieten wollen; die russischen Energieexporte werden bekämpft – siehe Nord Stream 2 – sowie jetzt auch das Weltmarktgeschäft der sechs bedeutendsten IT-Firmen.
Diese Eröffnung einer neuen Etappe im Wirtschaftskrieg gegen Russland soll die Weltöffentlichkeit aber – wie Biden erklärt – als „verhältnismäßig“ begreifen und würdigen:
„I was clear with President Putin that we could have gone further, but I chose not to do so, to be – I chose to be proportionate. The United States is not looking to kick off a cycle of escalation and conflict with Russia. We want a stable, predictable relationship.“ [4]
So sind einige Weichen für den Gipfel schon gestellt, und die politische Fachwelt interpretiert das Angebot eines Treffens als spannenden Test auf die Bereitschaft Russlands, sich diese Politik gefallen zu lassen:
„Now the Kremlin is in a corner. If they accept the invitation, they are effectively swallowing the sanctions.“ [5]
Der Gipfel
Auch Feindschaften wollen gepflegt und die jeweiligen Abstufungen austariert sein, wie viel Absagen dem Gegenüber erteilt werden, wo der umgekehrt für die eigenen Interessen eingespannt, wie also jeweils die (Nicht-)Anerkennung des Kontrahenten dosiert wird. In diesem Sinne geben die USA allen, die es wissen wollen, d.h. vor allem den republikanisch beherrschten politischen Kreisen in Amerika, deutlich zu verstehen, dass sie Putin in Genf auch nur das wirklich unerlässliche Minimum an Anerkennung abliefern, kein gemeinsames Essen, keine gemeinsame Pressekonferenz, gerade einmal Handshakes und ein paar Stunden Face-to-Face müssen sein; vom Standpunkt einer großen Fraktion in den USA inkl. Trump alles schon viel zu viel der Zugeständnisse. [6] Die teilnehmende Öffentlichkeit, in ihrer eingeschliffenen Manier, die Staatskunst der Führer an Erfolgen zu bemessen, ist daher auch wenig überrascht, dass der Gipfel „wenig Ergebnisse“ erbracht haben soll, und übersieht damit den wesentlichen Gehalt des Gipfels.
Der amerikanische Präsident erläutert seinem russischen Kollegen den fundamentalen Klassenunterschied zwischen ihren beiden Nationen: Amerika wieder einmal exzeptionell
Wie Joe Biden auf der anschließenden Pressekonferenz berichtet, [7] hat er das Gipfeltreffen mit seinem russischen Kollegen zur Gelegenheit genommen, seinem Gegenüber den amerikanischen Menschenschlag zu erklären – damit er besser versteht, warum Amerika gar nicht anders kann, als Russland vor sein Menschenrechtstribunal zu zerren:
„I told President Putin my agenda is not against Russia or anyone else; it’s for the American people... I also told him that no President of the United States could keep faith with the American people if they did not speak out to defend our democratic values, to stand up for the universal rights and fundamental freedoms that all men and women have, in our view. That’s just part of the DNA of our country... It’s not about just going after Russia when they violate human rights; it’s about who we are. How could I be the President of the United States of America and not speak out against the violation of human rights? ... I told him that, unlike other countries, including Russia, we’re uniquely a product of an idea. We don’t derive our rights from the government; we possess them because we’re born – period.“ [8]
Im Grunde hat nämlich Amerika gar nichts gegen Russland, so wenig es gegen sonst jemand auf der Welt etwas hat. Seine Agenda ist nicht dadurch bestimmt, dass es in Konkurrenz zu anderen Nationen stehend irgendwelche kleinlichen Interessen verfolgt und anderen die ihren bestreitet; Amerika bezieht sich in dem, was es tut, vielmehr allein auf sich. Wenn es Russland zum Unrechtsstaat erklärt und dieses Urteil exekutiert, dann hat das mit Russland erst einmal gar nichts zu tun; denn das ist es allein sich schuldig – seinem großartigen Volk, dessen Werten und seiner Einzigartigkeit. Laut Biden sind in Amerika überhaupt Staat und Volk in diesem Solipsismus vereint: Dass es dem Rest der Welt eine „Ordnung“ von „universal rights“ und „democratic values“ auferlegt, ist keiner politischen Absicht in dem Sinn geschuldet, wird auch nicht als gutes Recht deklariert, sondern rangiert noch viel höher und unwidersprechlicher – der Auftrag dazu steckt einfach in den amerikanischen Genen! So sind wir nun einmal, lässt Biden seinen Amtskollegen wissen, so ist unser Menschenschlag, auserlesen und einzigartig darin, dass er aus einer Idee geboren ist, der Idee, dass der Amerikaner – anders als die Angehörigen aller anderen Nationen – seine Rechte dem Umstand verdankt, dass er als Amerikaner geboren wird, also schon mit dem Grundrechtskatalog unterm Arm auf die Welt kommt.
Die USA als die fleischgewordenen allgemein menschlichen Werte können demnach gar nicht anders denn als Aufseher, Richter und Exekutor einer in ihrer Volksnatur begründeten Weltordnung zu fungieren – bis hin zur Arbeit am Umsturz der russischen Herrschaft per Nawalny und Konsorten kommt das alles aus den Genen, die die Pilgrim Fathers auf die Natur und die Indianer losgelassen haben. Und das hat der Russe zu schlucken – Punktum.
Russland hingegen: einfach erbärmlich
Die kritischen Fragen der Journaille, warum Biden dem Russen nicht ordentlich ausgeteilt hat, verbittet sich Biden und erklärt, dass er sich auf die Ebene einer unschönen Auseinandersetzung gar nicht hinunterzubegeben brauchte. Er hat einen viel souveräneren Auftritt hingelegt, indem er als Botschafter dieser großartigen amerikanischen Idee seinem russischen Kollegen vor Augen geführt hat, dass sein Land eine Schande für die Menschheit ist und sich durch sein unwürdiges Verhalten selbst desavouiert. Er nämlich würde sich bis auf die Knochen schämen, wenn er einer Nation vorstehen würde, die sich derlei Vorhaltungen machen lassen muss:
„How would it be if the United States were viewed by the rest of the world as interfering with the elections directly of other countries, and everybody knew it?“ [9]
Es darf gelacht werden. Der Präsident ist aufgrund seiner Gleichsetzung des amerikanischen Imperialismus mit einer naturgesetzmäßigen grenzenlosen staatsmoralischen Überlegenheit offensichtlich so weit in Fahrt gekommen, dass ihm die Tatsache, wie gründlich Amerika darauf aufpasst, dass die Herrschaftsbestellung weltweit in seinem Sinne stattfindet, ganz aus dem Gedächtnis geschwunden ist. Jedenfalls erfreut er sich an seiner Diagnose, dass Russland die Wahleinmischungen, derer es von Amerika bezichtigt wird, ganz schlecht bekommen, und mit Genugtuung hat er Putin vor Augen gestellt, dass nach seiner Wahrnehmung Russland auch sonst in der Welt gar nicht gut dasteht:
„It diminishes the standing of a country that is desperately trying to make sure it maintains its standing as a major world power. And so it’s not just what I do; it’s what the actions that other countries take – in this case, Russia – that are contrary to international norms. It’s the price they pay. They are not able to dictate what happens in the world... It’s about trust. It’s about their ability to influence other nations in a positive way. Look, would you like to trade our economy for Russia’s economy? Would you like to trade?“ [10]
Imperialistische Statur, zwischenstaatliche Anerkennung, politische Glaubwürdigkeit und moralische Integrität munter durcheinanderwerfend rechnet der amerikanische Präsident Russland dessen hilfloses Bemühen vor, etwas von seiner Weltbedeutung zu retten. Dass Russland in diesem Bemühen scheitert – wofür sich Amerika verbürgt,weil es ja alles in seiner Macht Stehende dafür unternimmt! –, diskreditiert dieses Bemühen und mit ihm die Staatsmacht, die von ihm nicht lassen will. Ihr Scheitern beweist, dass sie den Respekt nicht verdient, den sie beansprucht. Mit ihrem Festhalten an diesem Anspruch bewegt sie sich außerhalb der Normen der internationalen Gemeinschaft. Dafür muss sie einen Preis zahlen. Kein Wunder, dass auch die russische Ökonomie in einem erbärmlichen Zustand ist. Niemand möchte mit Russland tauschen. Die Botschaft ist klar: Und sowas will mitreden, Ansprüche anmelden, seine Interessen berücksichtigt sehen! Biden will gar nicht mehr aufhören:
„When you run a country that does not abide by international norms, and yet you need those international norms to be somehow managed so that you can participate in the benefits that flow from them, it hurts you.“ [11]
Genüsslich rührt er in den Wunden der russischen Führung herum, die es natürlich schmerzen muss, dass ihre Nation nicht auf die Beine kommt – was sie sich freilich selber zuzuschreiben hat, weil sie sich ja nicht an die „international norms“ halten mag und deswegen gerechterweise nicht an den Segnungen partizipieren kann, an denen man als anständiges Mitglied der Völkergemeinschaft bekanntlich teilhat. Dabei hatte alles so schön angefangen, wie sich Biden erinnert. Er berichtet von einem shining moment
, nämlich den 10 Jahren unter Jelzin, shining
vor allem für Amerika, weil in der Periode der komplette Zusammenbruch der sowjetischen Staatsmacht, ihrer Hinterlassenschaften und aller zivilen Reproduktionsbedingungen vonstattenging. In der Optik Amerikas war das eine Sternstunde der Demokratie, in der Russland fast schon die Anerkennung als anständiges Mitglied der Völkerfamilie in Aussicht gestellt werden konnte. Aber leider kam dann ja Putin, der mit seiner Entscheidung zu einer „starken Regierung“, mit der er einige Großmacht-Attribute retten wollte, Russland auf den falschen Weg gebracht hat:
„I think he decided that the way for Russia to be able to sustain itself as a great power is to in fact unite the Russian people on just the strength of the government – the government controls – not necessarily ideologically, but the government. And I think that’s the – that’s the choice that was made... I do think it does not lend itself to Russia maintaining itself as one of the great powers in the world.“ [12]
Mit der Methode ‚zu viel Regierung und staatliche Kontrolle‘ ist Weltmacht nicht zu haben und der Niedergang unabweisbar, lautet die Lehre, die Biden der Geschichte entnimmt. In dieser Ableitung hat die amerikanische Einkreisungs- und Sanktionspolitik höchstens noch die Bedeutung von ein wenig Beihilfe zum Ausscheiden aus der Konkurrenz der großen Mächte.
Das kommt US-Journalisten offensichtlich alles immer noch wie eine unangebrachte Weichzeichnung vor, sie vermissen die weltmachtüblichen Drohungen – Hat es keine Drohungen gegeben?
–, und Biden erklärt es ihnen noch einmal:
„No, no, no. No. There were no threats... You know how I am: I explain things based on personal basis. ‚What happens if,‘ for example. And so, there are no threats, just simple assertions made. And no ‚Well, if you do that, then we’ll do this‘ – wasn’t anything I said. It was just letting him know where I stood; what I thought we could accomplish together; and what, in fact – if it was – if there were violations of American sovereignty, what would we do.“ [13]
Er hat Putin nicht gedroht
, sondern nur versichert
, was seinem Land blüht, wenn Amerika zu dem Urteil gelangt, dass Russland seine Souveränität verletzt. Es gab keinen Grund unfreundlich zu werden. Er konnte das alles, denkbar souverän, on personal basis
, quasi familiär, von Joe zu Wladimir regeln.
Bidens Darstellung des Gipfels im Gestus der totalen Überlegenheit markiert den Grad des amerikanischen Rechts- und Machtbewusstseins, den Standpunkt der konkurrenzlosen, absoluten Weltmacht: Amerika behandelt Russland als einen zu erledigenden Störfall in seiner Weltordnung, es entzieht ihm gewissermaßen die Lizenz, verpflichtet den Rest der Staatenwelt auf seine Feinddefinition – und seine Regierung leistet sich ein Auftreten, aus dem die von keinem Zweifel angekränkelte Gewissheit spricht, dass dieses Land damit schon so gut wie erledigt ist; dass es sich quasi selbst erledigt, aufgrund seiner systembedingten Schwächen und falschen Polung; dass sein Niedergang unvermeidlich und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis dieser Kontrahent in die ihm vorausgesagte Bedeutungslosigkeit versunken ist.
Ganz der Wahrheit entspricht dieses Bild nicht. Schließlich tut die amerikanische Weltmacht einiges dafür, dass es wahr wird. Und mit all dem, was sie dafür tut, kommt sie an Russland offensichtlich immer noch nicht vorbei; nur deswegen – weil sie mit dieser Macht einiges zu regeln hat – findet so ein Gipfel ja statt. Russland ist eben immer noch die Macht, die zum Ärgernis der amerikanischen Weltmacht in seiner atomaren und sonstigen Bewaffnung über die Mittel seiner Selbstbehauptung verfügt. Das Auftreten Bidens hat insofern den Charakter einer Klarstellung an die Adresse all derer, die an der Entschlossenheit der amerikanischen Regierung zweifeln, Russland in die Schranken zu weisen und es als Macht zu degradieren, nicht zuletzt an die Amerikaner daheim, die dem Nachfolger Trumps Schwäche und Nachgiebigkeit bei der Durchsetzung amerikanischer Interessen und amerikanischen Rechts in der Welt unterstellen und die Bereitschaft zu einem Gipfel als Einknicken gegenüber Russland deuten. Niemand soll sich da täuschen, die Russen schon gleich nicht: Amerika lässt sich nicht abschrecken und zu einer friedlichen Koexistenz mit Russland bewegen; die Bereinigung dieses Störfalls seiner Weltordnung steht nach wie vor auf seiner Agenda – auch wenn Biden China an die erste Stelle gesetzt hat.
Angelegenheiten, in denen mit dem strategischen Gegner noch verhandelt werden muss
Der Gipfel hat genau ein von beiden Seiten unterzeichnetes Dokument erbracht, sinnigerweise die Bekräftigung der gemeinsamen Erklärung von Reagan und Gorbatschow von 1985: Wir bekräftigen heute den Grundsatz, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf.
[14] Schön zu hören, dass beide Seiten, die die diesbezügliche Bewaffnung seit den Zeiten von Reagan und Gorbatschow offensichtlich unbedingt behalten wollten und seitdem mit großem Erfolg an ihrer Verbesserung gearbeitet haben, der Menschheit in die Hand versprechen, dass sie nach wie vor von der Sinnlosigkeit ihrer Anwendung überzeugt sind.
Jedenfalls sind es die Leistungen der Russen auf diesem Gebiet, die Mittel für diesen Krieg zu perfektionieren, die Biden zu seinem Gipfel-Angebot bewogen haben. Er ist
„pleased that he [Putin] agreed today to launch a bilateral strategic stability dialogue ... get our military experts and our – our diplomats together to work on a mechanism that can lead to control of new and dangerous and sophisticated weapons that are coming on the scene now that reduce the times of response, that raise the prospects of accidental war.“ [15]
Nach Jahrzehnten, in denen die USA bestehende Rüstungskontrollabkommen mit dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion für überflüssig erklärt, praktisch unterlaufen oder gekündigt haben, in denen die USA unter Obama gerade einmal die Renovierung des Abkommens über die Interkontinentalraketen für nützlich befunden haben, plädiert die neue Administration für die Aufnahme neuer Verhandlungen. Entgegen Bidens Gestus, dass die USA diesen Gegner im Prinzip im Griff haben, eben wegen der Tatsache, dass Russland über new, dangerous and sophisticated weapons
verfügt, sehen sich die USA genötigt anzuerkennen, dass das strategische Kräftemessen mit Russland in eine neue Etappe eingetreten und damit auch wieder auf Russland als Verhandlungspartner zurückzukommen ist. [16]
Zweitens bringt Biden noch eine andere Materie zur Sprache, über die er mit seinem russischen Gegenüber ins Gespräch kommen will: Cyber and cybersecurity
.
„I gave them a list ... 16 entities defined as critical infrastructure under U.S. policy, from the energy sector to our water systems... I pointed out to him that we have significant cyber capability. And he knows it. He doesn’t know exactly what it is, but it’s significant. And if, in fact, they violate these basic norms, we will respond with cyber. He knows... What happens if that ransomware outfit were sitting in Florida or Maine and took action, as I said, on their – their single lifeline to their economy: oil? That would be devastating. And you could see them kind of go, ‚Oh, we do that,‘ but like, ‚Whoa‘.“ [17]
Überrascht von der Mitteilung, dass Amerika über eine significant cyber capability
verfügt, mit der es Russland vernichtende Schläge zufügen kann, dürfte Putin zwar nicht gewesen sein; schließlich haben die USA schon unter Obama demonstrativ bekannt gegeben, dass sie ihre Schadsoftware im russischen Energienetz platziert haben. Lässt man den präsidial verblödeten Stil jedoch mal beiseite, in dem Biden seine Mitteilung macht, dass auch hier er es wieder einmal war, der seinem Gegenüber souverän Anweisungen erteilt und rote Linien gezogen hat – das Kräfteverhältnis sieht anders aus: Beide Seiten verfügen auf dem Feld der Cyberkriegsführung über Potenzen, mit denen sie sich ganz ohne Einsatz ihrer herkömmlichen Waffen wechselseitig Schäden von nationaler Tragweite zufügen können. Beide versichern sich auf ihre gepflegte Art, dass sie nötigenfalls nicht davor zurückschrecken würden, in der jeweils anderen Nation die Infrastruktur zusammenbrechen zu lassen oder andere Verwüstungen anzurichten. Und eben diese neue Materie wollen sie jetzt der zivilisatorischen Errungenschaft der Rüstungsdiplomatie zuführen, dem Kunstwerk einer vertrauensbildenden Verständigung über die wechselseitigen Vernichtungsmittel.
Drittens hat der US-Präsident auf noch einem anderen Gebiet konstatieren müssen, dass es wegen der Konflikte, in denen man als Mächte mit ausgreifenden strategischen Interessen aufeinander trifft, einen gewissen Bedarf an Verständigung gibt: Russland ist in relevanten Teilen der Welt als militärische Macht und mit weltordnerischen Ansprüchen unterwegs. Über Syrien, den Iran, die Arktis und Afghanistan ... muss verhandelt werden.
Zu den wenigen sogenannten „Erfolgen“ des Gipfels gehört daher bezeichnenderweise auch die Rückkehr zur Elementarform von Diplomatie: Die Botschafter beider Seiten sollen wieder ihren Platz im anderen Land einnehmen. Schließlich haben die schon seit Obama aus verschiedensten Anlässen vorgenommene Schließung russischer diplomatischer Einrichtungen in den USA und die Ausweisung russischer Diplomaten aus den USA die diplomatische Vertretung Russlands vor Ort so weit reduziert, dass die russische Regierung nun nach der Killer
-Affäre ihrerseits mit ähnlichen Maßnahmen reagiert und zuletzt dem US-Botschafter in Moskau dringlichst empfohlen hat, sich nach Hause zu begeben, während sie ihren Botschafter aus den USA abgezogen hat. [18] Aber Russland durch entschlossenes Ignorieren von der Landkarte zu beseitigen, ist schließlich auch für die exzeptionelle Weltmacht nicht zu haben. Solange wie sie ihrerseits irgendetwas von der anderen Seite will – und da hat Biden ja einiges vorgelegt –, ist das nicht ohne Ansprechpartner und einen Draht nach Moskau zu haben. [19]
„Stable and predictable“ – die neue Formel aus dem Weißen Haus für den Umgang mit Russland
So sind bei dem Treffen die fundamentalsten Gegensätze aufs Tapet gekommen – man hat wechselseitig Vernichtungsdrohungen ausgesprochen und die entsprechenden Potenzen vorgezeigt –, aber die Stimmung war insgesamt prima.
„The tone of the entire meetings – I guess it was a total of four hours – was – was good, positive. There wasn’t any – any strident action taken. Where we disagreed – I disagreed, stated where it was. Where he disagreed, he stated. But it was not done in a hyperbolic atmosphere.“ [20]
Die Gelassenheit und Zuversicht, die Biden vermitteln möchte, verdankt sich seiner Einschätzung, dass sich Russland einfach keine weiteren Konflikte mehr leisten kann:
„I think that the last thing he wants now is a Cold War... You’re in a situation where your economy is struggling, you need to move it in a more aggressive way, in terms of growing it. And you – I don’t think he’s looking for a Cold War with the United States.“ [21]
Was den amerikanischen Präsidenten zuversichtlich stimmt, ist der Umstand, dass dieser strategische Gegner ökonomisch im Vergleich zu Amerika eine Null ist, ein Umstand, der nicht zuletzt auf das Wirken Amerikas zurückgeht, das alles dafür tut, dass es Russland verunmöglicht wird, sich Quellen seiner Macht zu erschließen. Dem in den internationalen Kapitalismus eingemeindeten, vom Weltmarkt abhängig gemachten Russland wird dieses Existenzmittel bestritten, mit einigem Erfolg wird sein Ausschluss vom Welt- und Weltfinanzmarkt betrieben, damit ihm die ökonomische Basis für sein missliebiges Weltmachtgehabe abhandenkommt. [22] Das alles in der hoffnungsvollen Erwartung eines Regime-Change, einer zivilen Entwaffnung Russlands dadurch, dass Putin endlich einknickt oder – auch dank entsprechender Einwirkungen auf die Volksmoral, siehe Nawalny – von seinem unzufriedenen Volk weggefegt wird. Das ist eine Art von Kriegführung, nicht umsonst reden ja die politischen Beobachter von economic warfare
, soll aber gleichzeitig als komplett proportionate
, als so vernünftig dimensioniert und gerechtfertigt verstanden werden, dass eigentlich niemand inklusive Russland dagegen etwas vorbringen kann.
Wenn Biden bei anderer Gelegenheit verkündet, dass Russland aber gerade deswegen als Gefahr zu betrachten ist –
„In a speech to U.S. intelligence officials Biden asserted that Putin is increasingly dangerous as his country declines on the world stage. ‚He’s sitting on top of an economy that has nuclear weapons and oil wells and nothing else. Nothing else. Their economy is – what? – the eighth smallest in the world now – largest in the world? He knows – he knows he’s in real trouble, which makes him even more dangerous, in my view.‘“ [23] –
so hat das durchaus seine Logik: Man blickt auf Russland als einen Staat, den man selbst immer weiter in die Enge treibt und damit vor die Alternative stellt, aufzugeben oder im Kampf um seine Selbstbehauptung zu den letzten Mitteln zu greifen – und das eben sind die militärischen, mit denen er reichlich ausgestattet ist. Das ist die Lage, wegen der die amerikanische Regierung die Parole Stabilität und Berechenbarkeit
ausgibt, das imperialistische Ideal einer dosierten kontinuierlichen Schädigung des Gegners, bei der man die andere Seite mit ihren möglichen Reaktionen unter Kontrolle hat. Einerseits deshalb, weil Russland die Mittel fehlen, spiegelbildlich, d.h. mit ebenso einschneidenden ökonomischen Sanktionen zu antworten. Andererseits durch so viel diplomatischen Verkehr, wie unbedingt nötig, um den Gegner einzubinden, sich seiner Berechnungen zu versichern.
Nach dem Gipfel
Kaum zurück in Washington verkündet Bidens Sicherheitsberater Sullivan:
„Wir bereiten ein weiteres Paket von Sanktionen vor... Wir haben auf dem ganzen Weg gezeigt, dass wir uns nicht zurückhalten, wenn es darum geht, auf Russlands schädliche Aktivitäten zu reagieren, egal, ob in Bezug auf Solarwind oder die Wahleinmischung oder Nawalny.“ (de.rt.com, 20.6.21)
Der russische Botschafter in den USA, gerade wieder an seinen Stationierungsort zurückgekehrt, zeigt sich schwer enttäuscht von dieser Ankündigung: Das sei nicht das Signal, das von dem Gipfel in Genf ausgegangen sei.
(DW, 20.6.21) Außerdem muss er registrieren, dass die Schikanen gegen russische Diplomaten in den USA fortgesetzt werden. [24]
Präsident Biden wiederum beruft sich auf den Gipfel als eine höchst einseitige Veranstaltung, bei der er Russland diverse Versprechungen abgenommen haben will: Man werde sich ansehen, ob die Russen sich an das halten, was sie zugesagt und versprochen haben.
(DLF, 17.6.21) – auch wenn von Versprechungen nichts zu hören war. Im Weißen Haus will man eben kein diplomatisches ‚do ut des‘ mehr kennen, sondern nur noch ein Verhältnis, bei dem Russland in der Pflicht ist und die USA kontrollieren bzw. mit neuen Beschuldigungen und Drohungen aufwarten: Russland mischt sich schon wieder in die Midterm-Wahlen im nächsten Jahr ein.
[25] Alles sehr stabil und übersichtlich.
Bei der Gelegenheit hält Biden es dann für angebracht, seine Landsleute schon einmal mit der Tatsache vertraut zu machen, dass in der heutigen Vorkriegszeit die Chancen auf einen echten Schießkrieg
gar nicht schlecht stehen:
„The president also had an ominous prediction about the escalating cyberattacks targeting the United States. Biden said he believes it is growing more likely the United States could ‚end up in a real shooting war with a major power,‘ as the consequence of a cyber breach.“ [26]
Schießen gehört bekanntlich auch zur amerikanischen DNA.
[1] Laut Biden hat Trump Putin gewissermaßen einen Freibrief für dessen Machenschaften ausgestellt: I made it clear to President Putin, in a manner very different from my predecessor, that the days of the United States rolling over in the face of Russia’s aggressive actions interfering with our election, cyber-attacks, poisoning its citizens are over. We will not hesitate to raise the cost on Russia and defend our vital interests and our people.
Ich habe auf eine ganz andere Art als mein Vorgänger Präsident Putin klargemacht, dass die Tage vorbei sind, in denen die Vereinigten Staaten bei Russlands aggressiven Aktionen weggesehen haben, bei seiner Einmischung in unsere Wahlen, bei den Cyberangriffen, bei der Vergiftung seiner Bürger. Wir werden nicht zögern, die Kosten für Russland zu erhöhen und unsere vitalen Interessen und unsere Bürger zu verteidigen.
(The Guardian, 25.5.21)
[2] Eine der durchgängigen Ironien der Trump-Jahre besteht darin, dass trotz aller rätselhaften Affinitäten Trumps zu seinem russischen Gegenüber seine Administration eine harte Linie gegenüber Moskau eingeschlagen und gegen Russlands schändliche Aktivitäten weitere Sanktionsrunden und Ausweisungen von Diplomaten beschlossen hat.
(Amy Mackinnon: How the U.S.-Russia Relationship Got So Bad, Foreign Policy, 18.6.21)
[3] Zum Beispiel erklärt die für den Wahlparteitag der Demokraten zuständige und angeblich von Russland gehackte IT-Firma bis heute, dass sie dafür keine Hinweise hat, dass vielmehr die Datenlieferung an Wikileaks aus Kreisen der demokratischen Konkurrenten erfolgt sein muss. (Aaron Maté: Bombshell: Crowdstrike admits ‚no evidence‘ Russia stole emails from DNC server, thegrayzone.com, 11.5.20)
[4] Ich habe Präsident Putin klar gesagt, dass wir mehr hätten tun können, dass ich mich aber dagegen entschieden habe – ich habe mich dazu entschlossen, angemessen zu reagieren. Die Vereinigten Staaten wollen keine Eskalationsspirale und keinen Konflikt mit Russland lostreten. Wir wollen eine stabile, berechenbare Beziehung.
(Remarks by President Biden on Russia, whitehouse.gov, 15.4.21)
Ein Selbstlob, das von der Öffentlichkeit gerne nachgebetet wird; nach dem Geschmack der Schreibtischtäter ist Bidens Kunst des Sanktionierens echt zu bewundern:
Heutzutage ist es nicht leicht, Sanktionen zu entwerfen. Sie gehören in das große, nebulöse Niemandsland zwischen scharf formulierten, aber im Wesentlichen nichtssagenden Erklärungen der Besorgnis ... und der Entsendung von Kanonenbooten... Zu versuchen, Russland aus dem SWIFT-Zahlungssystem rauszuschmeißen oder US-Investoren den Besitz russischer Papiere ganz zu verbieten, hätte nicht nur ein größeres finanzielles Chaos angerichtet, so etwas wäre von Russland auch als Kriegserklärung, als Auftakt zu einem tatsächlichen Wirtschaftskrieg betrachtet worden.
(Mark Galeotti: Biden’s sanctions send a warning to Putin, spectator.co.uk, 16.4.21)
Gut zu wissen, bis wohin alles noch kein „Wirtschaftskrieg“ ist, auch wenn von gar nichts anderem die Rede ist. Amerikanische Regierungskreise erlauben sich dazu noch den Hinweis, man hätte sich noch Raum gelassen, um Moskaus Möglichkeiten, sich auf dem Weltmarkt Geld zu beschaffen, weiter zusammenzuquetschen, wenn die Spannungen eskalieren
(nytimes.com, 15.4.21). Die Betonung der eigenen Fähigkeiten, was alles an Sanktionen Russland künftig noch erwarten kann, darf die Finanzwelt jetzt schon in ihre Kalkulationen einpreisen. Zu besagtem Raum für Eskalationen
gehört schließlich auch noch der Ausschluss aus SWIFT, die Nuklearoption
, Russland überhaupt aus dem internationalen Zahlungsverkehr auszuschließen, eine Option, die in politischen Kreisen zunehmend ins Gespräch kommt.
In der letzten Woche ... hat das Europäische Parlament beschlossen, dass im Fall einer neuerlichen Aggression Russlands gegen die Ukraine ‚Russland aus dem SWIFT-Zahlungssystem ausgeschlossen und alles in der EU befindliche Vermögen von Oligarchen, die dem Kreml nahestehen, und das ihrer Familien eingefroren und ihre Visa gekündigt werden sollen.
(Daniel Fried, a distinguished fellow at the Atlantic Council and former U.S. State Department coordinator for sanctions policy, and Adrian Karatnycky: A New Sanctions Strategy to Contain Putin’s Russia / It’s time for America and Europe to start putting serious economic pressure on Putin’s regime, Foreign Policy, 4.5.21)
[5] Jetzt ist der Kreml in der Klemme. Wenn sie die Einladung akzeptieren, schlucken sie gewissermaßen die Sanktionen.
(Galeotti, ebd.)
[6] U.S. Senator Ben Sasse: Wir belohnen Putin mit einem Gipfel? Putin hat Alexej Nawalny eingesperrt, seine Marionette Lukaschenko hat ein Flugzeug gekidnappt, um Roman Protassewitsch zu schnappen. Anstatt Putin wie einen Gangster zu behandeln, der sich vor ‚seinem eigenen Volk‘ fürchtet, erlauben wir ihm seine geliebte Nord-Stream-2-Pipeline und legitimieren seine Taten mit einem Gipfel. Das ist schwach.
(sasse.senate.gov, 25.5.21)
[7] Während sich Putin in seiner Pressekonferenz auch den üblichen „kritischen Fragen“ der US-Journalisten gestellt hat, hat Biden das nicht nötig, er lässt nur seine eigenen fragen. Russische Frager hätten ja doch bloß wieder disinformation
gemacht.
[8] Ich habe Präsident Putin gesagt, dass meine Agenda nicht gegen Russland oder irgendjemand anderen gerichtet ist; sie dient den Amerikanerinnen und Amerikanern... Ich habe ihm auch gesagt, dass die Amerikanerinnen und Amerikaner einem Präsidenten der Vereinigten Staaten auf Dauer kein Vertrauen schenken werden, wenn er sich nicht für die Verteidigung ihrer demokratischen Werte einsetzt und für die universellen Rechte und Grundfreiheiten eintritt, die unseres Erachtens alle Männer und Frauen haben. Das ist eine wesentliche Eigenschaft unseres Landes... Es geht nicht nur darum, Russland anzugreifen, wenn dort Menschenrechte verletzt werden, sondern darum, wer wir sind. Wie könnte ich Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein und mich nicht gegen die Verletzung der Menschenrechte aussprechen? Ich habe ihm gesagt, dass wir im Gegensatz zu anderen Ländern, einschließlich Russland, als einzige aus einer Idee heraus entstanden sind... Wir leiten unsere Rechte nicht von der Regierung ab, wir besitzen sie, weil wir geboren wurden. Punkt.
(Remarks by President Biden in Press Conference, 16.6.21)
[9] Was wäre denn, wenn der Rest der Welt die Vereinigten Staaten als ein Land ansehen würde, das direkt in die Wahlen anderer Länder eingreift, und jeder wüsste es?
[10] Es vermindert das Ansehen eines Landes, das verzweifelt versucht, seine Geltung als eine bedeutende Weltmacht aufrechtzuerhalten. Und daher geht es nicht darum, was ich tue. Es geht um das, was andere Nationen unternehmen – in dem Fall Russland –, das gegen internationale Normen verstößt. Es ist der Preis, den sie zahlen müssen. Sie sind nicht in der Lage zu diktieren, was in der Welt passiert... Es geht um Vertrauen. Es geht darum, andere Nationen auf positive Weise zu beeinflussen. Schauen Sie, würden Sie unsere Wirtschaft mit der von Russland tauschen wollen? Würden sie tauschen wollen?
[11] Wenn Sie ein Land regieren, das sich nicht an internationale Normen hält, und dennoch darauf angewiesen sind, dass diese Normen irgendwie eingehalten werden, um von ihnen zu profitieren, dann tut das weh.
[12] Ich denke, er hat sich entschieden, dass der Weg für Russland, die Fähigkeit, sich als Großmacht zu erhalten, der ist, das russische Volk durch die Stärke seiner Regierung zu vereinigen. Die Regierung kontrolliert – nicht notwendigerweise ideologisch, aber die Regierung. Und ich denke, das war die Entscheidung, die getroffen worden ist... Ich denke, dass das nicht dazu taugt, dass sich Russland als eine der Großmächte in der Welt behauptet.
[13] Nein, nein, nein. Es gab keine Drohungen... Sie wissen, wie ich bin: Ich erkläre Sachen auf einer persönlichen Basis. Zum Beispiel ‚was passiert, wenn ...‘ Also, da gab es keine Drohungen, es wurden nur einfache Versicherungen abgegeben. Und nein, ‚wenn ihr das tut, dann tun wir Folgendes‘ – so etwas habe ich nicht gesagt. Ich habe ihn nur wissen lassen, was mein Standpunkt ist, was ich mir vorstelle, was wir gemeinsam erreichen könnten, und was wir tun würden, wenn es – falls es – Verletzungen der amerikanischen Souveränität geben sollte.
[14] Wir, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Joseph R. Biden und der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin, stellen fest, dass die Vereinigten Staaten und Russland gezeigt haben, dass wir selbst in Zeiten der Spannungen in der Lage sind, auf dem Weg zu unseren gemeinsamen Zielen der Gewährleistung der Vorhersehbarkeit in strategischen Fragen fortzuschreiten und die Gefahren bewaffneter Konflikte und der Bedrohung durch einen Atomkrieg zu verringern. Die jüngste Verlängerung des New-START-Vertrags ist ein Zeichen unseres Bekenntnisses zur Kontrolle der Kernwaffen. Wir bekräftigen heute den Grundsatz, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf. Im Einklang mit diesen Zielen werden die USA und Russland in naher Zukunft gemeinsam einen bilateralen, integrierten und fundierten Dialog über strategische Stabilität entschlossen aufnehmen. Mit diesem Dialog wollen wir die Grundlagen für künftige Maßnahmen zur Rüstungskontrolle und zur Risikominderung schaffen.
(U.S.-Russia Presidential Joint Statement on Strategic Stability, whitehouse.gov, 16.6.21)
[15] Und ich freue mich, dass Putin sich heute zu einem bilateralen Dialog über strategische Stabilität bereit erklärt hat ... dass sich unsere Militärexperten und unsere Diplomaten zusammensetzen, um an einem Mechanismus zu arbeiten, der die Kontrolle neuer und gefährlicher moderner Waffen ermöglicht, die jetzt in Erscheinung treten. Sie verkürzen die Reaktionszeiten und vergrößern daher die Gefahr eines unbeabsichtigten Krieges.
[16] Genaueres dazu: „Rüstungsdiplomatie unter Trump und Biden“ in dieser Nummer.
[17] Ich habe ihm eine Liste gegeben ... mit 16 Objekten, die in der US-Politik als kritische Infrastruktur definiert sind, vom Energiesektor bis hin zur Wasserversorgung... Ich habe ihm gegenüber betont, dass wir über bedeutende Cyber-Kapazitäten verfügen. Und er weiß das. Er weiß nicht genau, welche das sind. Aber er weiß, dass es bedeutende sind. Und für den Fall, dass sie diese Grundregeln verletzen, werden wir mit Cyber antworten. Er weiß das... Ich habe ihm vorstellig gemacht, was wäre, wenn so ein Ransomware-Outfit aus Florida oder Maine die einzige Lebensader ihrer Wirtschaft, das Öl, attackieren würde? Das wäre verheerend. Und man konnte sehen, wie ihnen die Kinnlade runtergefallen ist...
[18] Russland hat seinen Botschafter, Anatolij Antonow ... aus Washington zurückgerufen, nachdem Biden in seinem ABC-Interview gesagt hatte, dass Putin ‚einen Preis zahlen wird‘ für seine Versuche, die US-Wahlen von 2020 zu untergraben, und ihn als ‚Killer‘ bezeichnet hat. Dann hat Moskau den amerikanischen Botschafter John Sullivan hinausgeworfen.
(Foreign Policy, 14.6.21)
[19] Mag sein, dass wir das in den letzten Jahren vergessen haben, aber so funktioniert Diplomatie. Wir arbeiten nicht nur dann mit anderen zusammen, wir treffen uns nicht nur dann, wenn wir uns einig sind. Es ist wirklich wichtig, sich gerade dann mit anderen Machthabern zu treffen, wenn wir eine Reihe von Streitigkeiten haben, wie das mit Russland der Fall ist.
(Press Briefing by Press Secretary Jen Psaki, 25.5.21)
[20] Der Umgangston während des gesamten Treffens – beinahe vier Stunden – war freundlich und positiv. Es gab keine lautstarken Auseinandersetzungen. Wo wir uneins waren, ich nicht zugestimmt habe, habe ich das gesagt. Wo er anderer Meinung war, hat er es gesagt. Aber es war nicht aufgebauscht.
[21] Ich denke, dass ein neuer Kalter Krieg das Letzte ist, was er jetzt haben möchte... Man befindet sich in einer Lage, in der sich die Wirtschaft schwertut, in der man es nötig hat, sie in einer energischeren Art und Weise voranzubringen, zum Wachsen zu bringen. Ich glaube nicht, dass er da auf einen Kalten Krieg mit den USA aus ist.
[22] Vorgetragen wird diese Politik eben als gerechter Preis, mit einem Schritt nach dem anderen, als bestens abgewogene Maßnahme, die auf die Unterlassung bzw. Wiedergutmachung gewisser russischer Aktivitäten, z.B. auf die Rückgabe der Krim berechnet sein soll; dabei unterstellen die Sachverständigen selbst, dass das nicht passiert bzw. dass das nicht der eigentliche Sinn der Sanktionen ist; siehe Daniel Fried, der es als ehemaliger Aktivist des US-Außenministeriums auf diesem Gebiet wissen muss:
Die letzte Sanktionsrunde hat eine Debatte darüber aufleben lassen, ob die Maßnahmen schmerzhaft genug sind, ob sie die richtigen Leute treffen oder überhaupt wirksam sind. Schließlich haben die Sanktionen nicht dazu geführt, dass der russische Präsident Wladimir Putin seinen Kurs geändert hätte. Aber diese Kritik an den Sanktionen greift zu kurz. Die Sanktionen haben Russland schon geschwächt, seine Ressourcen vermindert und Putins Handlungsspielraum eingeengt. Auf Dauer und durch zusätzliche Maßnahmen verstärkt können sie Putin daran hindern, weiteren Schaden anzurichten.
(Daniel Fried, Adrian Karatnycky, ebd.)
[23] In einer Rede vor US-Geheimdienstlern bekräftigte Biden, dass Putin in dem Maß, in dem sein Land auf der internationalen Bühne an Bedeutung verliert, gefährlicher wird. ‚Er sitzt an der Spitze einer Wirtschaft, die über Nuklearwaffen, Ölquellen und sonst nichts verfügt. Sonst nichts. Ihre Wirtschaft steht erst an achter Stelle in der Welt. Er weiß, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckt, was ihn, in meinen Augen, noch gefährlicher macht.‘
(Foreign Policy, 29.7.21)
[24] Antonow: Die Ausweisung der Diplomaten wurde und wird mit abseitigen Vorwänden vorgenommen. Im letzten Dezember hat das State Department einseitig eine Dreijahresfrist für die Zulassung russischen Personals in den Vereinigten Staaten erlassen, was, soweit wir wissen, für kein anderes Land gilt. Darüber hinaus haben wir eine Liste von vierundzwanzig Diplomaten erhalten, die das Land vor dem 3. September 2021 verlassen sollen. Beinahe alle werden ohne Ersatz abreisen müssen, weil Washington die Verfahren der Visa-Erteilung plötzlich verschärft hat. Es ist so weit gekommen, dass die US-Behörden die gültigen Visa von Ehefrauen und Kindern unseres Personals ohne Angabe von Gründen kündigen. Die ausgedehnten Verzögerungen bei der Erneuerung erloschener Visa zielen ebenfalls darauf, russische Diplomaten aus dem Land zu drängen. Im Ergebnis können ungefähr 60 meiner Kollegen (zusammen mit ihren Familienmitgliedern sind es 130) nicht in ihre Heimat zurückkehren, nicht einmal aus dringenden humanitären Anlässen... Dasselbe gilt für die Aussichten, die Arbeit in den Konsulaten in San Francisco und Seattle wiederaufzunehmen, die unter Zwang geschlossen werden mussten. Sogar der zeitweilige Zugang von Instandhaltungsmannschaften zu den Liegenschaften im Besitz der russischen Diplomaten, die konfisziert worden sind, wird verweigert, was dort zu einer weiteren Verschlechterung des Bestands führt... Alle meine diesbezüglichen Anfragen an die Vorsitzenden der Parteien, an Fraktionen der beiden Kammern des Kongresses und die Auswärtigen Ausschüsse gehen anscheinend ins Leere. Sie bleiben einfach unbeantwortet.
(National Interest editor Jacob Heilbrunn interviews Ambassador of the Russian Federation to the United States of America H. E. Anatoly Antonov, 1.8.21)
Weil Russland auf der Ebene des diplomatischen Gezerres seinen Kampf um Gleichrangigkeit fortsetzt, die USA aber den Vorschlag einer parallelen Zurücknahme der tit-for-tat-measures
mit Ignoranz behandeln, bleibt reziprok auch das amerikanische Botschaftspersonal in Moskau von 1200 auf 120 Mann beschränkt.
[25] Steve Herman: Biden Accuses Russia of Already Interfering in 2022 Election, VOA, 27.7.21
[26] Der Präsident machte auch eine beunruhigende Vorhersage über die zunehmenden Cyber-Attacken auf die Vereinigten Staaten. Biden sagte, er glaube, dass die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass die Vereinigten Staaten infolge eines Cyber-Angriffs in einem echten Schießkrieg mit einer größeren Macht landen könnten.
(Ebd.)