Der Ukraine-Krieg: Das fünfte Halbjahr

Die Ukraine wird von den russischen Streitkräften zunehmend zerstört; ihre Armee hält dem russischen Druck an der weitgespannten Front immer weniger stand. Das liegt nach dem Urteil nicht nur der ukrainischen Staats- und Militärführung, sondern auch der westlichen Fachwelt einerseits daran, dass das ukrainische Menschenmaterial im Kräftemessen mit der russischen Seite tendenziell zur Neige geht. Andererseits und in erster Linie werden die fortgeschrittene Zerstörung des Landes und die Dezimierung der ukrainischen Armee auf den mangelnden Nachschub an ­Waffen aus den NATO-Ländern zurückgeführt. Erstens gibt es von ihnen viel zu wenig, zweitens sind ihre Einsatzmöglichkeiten viel zu beschränkt. Zum Töten und Zerstören der einmarschierenden Russen darf die Ukraine sie ja nicht nach eigenem Bedarf, sondern nur nach den Vorgaben der Sponsoren gebrauchen. Das wird wiederum als entscheidender Grund dafür verbucht, dass der Verschleiß an menschlichen und materiellen Ressourcen auf ukrainischer Seite so gravierend ist: Er ist zu hoch und dauert zu lange an.

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Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus der Zeitschrift GegenStandpunkt 3-24, die am 20.09.2024 erscheint.
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Der Ukraine-Krieg: Das fünfte Halbjahr

I.

Die Ukraine wird von den russischen Streitkräften zunehmend zerstört; ihre Armee hält dem russischen Druck an der weitgespannten Front immer weniger stand. Das liegt nach dem Urteil nicht nur der ukrainischen Staats- und Militärführung, sondern auch der westlichen Fachwelt einerseits daran, dass das ukrainische Menschenmaterial im Kräftemessen mit der russischen Seite tendenziell zur Neige geht. Sodass man sich abermals mit der zynischen Sachlichkeit vertraut machen darf, mit der Staaten auf ihre Völker blicken: Größe und demografische Unterteilung der ukrainischen und russischen Bevölkerungen werden locker in die kurz-, mittel- und langfristige Tiefe des jeweiligen Pools an menschlichem Kriegsmaterial umgerechnet; das Resultat wird durchaus als bedrückend empfunden – vor allem wegen des überdeutlichen Ungleichgewichts. Andererseits und in erster Linie werden die fortgeschrittene Zerstörung des Landes und die Dezimierung der ukrainischen Armee auf den mangelnden Nachschub an ­Waffen aus den NATO-Ländern zurückgeführt. Erstens gibt es von ihnen viel zu wenig, zweitens sind ihre Einsatzmöglichkeiten viel zu beschränkt. Zum Töten und Zerstören der einmarschierenden Russen darf die Ukraine sie ja nicht nach eigenem Bedarf, sondern nur nach den Vorgaben der Sponsoren gebrauchen; dafür hat sich unter den enttäuschten Experten die Sprachregelung eingebürgert, man würde die Ukraine dazu zwingen, „mit einem Arm hinter dem Rücken gebunden“ zu kämpfen. Das wird wiederum als entscheidender Grund dafür verbucht, dass der Verschleiß an menschlichen und materiellen Ressourcen auf ukrainischer Seite so gravierend ist: Er ist zu hoch und dauert zu lange an.

II.

In die Krise gerät damit zwar nicht der Westen selbst, wohl aber die Art und Weise, wie er den Krieg bislang definiert hat: als großangelegte Hilfsaktion für das überfallene ukrainische Opfer, die so lange fortgesetzt wird, bis der russische Aggressor die Schlacht verloren gibt, seinen Übergriff beendet und sich zurückzieht.

Dieser Kriegsstandpunkt ist verlogen. Jedenfalls einerseits: Dem amerikanisch geführten, brutal hilfsbereiten westlichen Sponsorenkollektiv geht es von Anfang an und bei aller fortgesetzten Berufung auf russische Verbrechen gegen die Ukraine erklärtermaßen um sich – darum, worin es sich angegriffen sieht, wenn Russland die Ukraine angreift: nicht als souveräne Herrscher über ihre eigenen Territorien, dennoch existenziell. Denn nur als Hüter einer Ordnung, die alle staatlich regierten Territorien umspannt, fühlen sich diese Staaten sicher. Die Intaktheit besagter Ordnung bemisst sich insofern daran, ob und inwieweit der globale Kontrollanspruch respektiert wird, den sie auf den Gebrauch militärischer Gewalt – auch auf den Besitz kriegerischer Gewaltmittel – erheben; eine Frage, die konsequenterweise dem Urteil der maßgeblichen Hüter selbst unterliegt. Nach derzeitiger Beschlusslage erfordert die Wiederherstellung ihrer Weltfriedensordnung, dass Russland die Fähigkeit nachhaltig genommen wird, die monopolisierte Verfügungsmacht des Westens über den globalen Gewalthaushalt substanziell anzufechten; es gehört in diesem grundsätzlichen Sinne, als autonome Weltmacht, unschädlich gemacht, also endgültig zum Objekt der eigenen degradiert. Dazu verhilft sich der Westen, wenn er der Ukraine hilft.

Das ist ein Kriegsziel, das nicht nur über die Ukraine weit hinausreicht, sondern sie auch in jeder Hinsicht weit überfordert; der Totalverschleiß des Landes wird als Mittel zum Zweck einkalkuliert. Für die ukrainische Staatsgewalt gilt nämlich dasselbe wie für das Inventar an Land und Leuten, das für ihren Selbsterhalt sachgerecht verschlissen wird: An dem, was die Ukraine an Krieg aushält, hat das westliche Kriegsziel in der Ukraine vielleicht eine letzte Grenze, aber daran nimmt der westliche Helfer von vornherein nicht Maß. Gerade deswegen ist der Standpunkt der Hilfe zur Selbstverteidigung zugleich ernst gemeint: Der antirussische Krieg wird so eingerichtet, dass er auf die Ukraine als Schauplatz beschränkt stattfindet, die NATO nicht als direkt kriegführender Feind aktiv wird. Und das nicht nur im Sinne einer winkeladvokatischen Auslegung des Kriegsvölkerrechts, sondern praktisch im Maß der in Auftrag gegebenen, angeleiteten und gelenkten Kriegführung der Ukraine. Wenn die NATO-Mächte ihrer eigenen waffenmäßigen Unterstützung Schranken setzen, dann nicht deswegen, weil sie an unüberwindliche Kapazitätsgrenzen stoßen, schon gar nicht, was die Reichweite und Wirksamkeit der Waffen in ihren Arsenalen betrifft. Jede Eskalation im Sponsoring des Krieges, jede Überschreitung bisher gezogener Grenzen, ist der praktische Beweis: Sie ist eine Frage des Entschlusses. Der lautet wiederum nach wie vor, bei jedem quantitativen und qualitativen Übergang des Waffengangs und der westlichen Beteiligung daran: Russland soll durch die NATO nicht direkt, sondern vermittels der Ukraine bekriegt, seine Armee verschlissen werden. Entsprechend fällt die transatlantische Beteuerung der Notwendigkeit aus, der Ukraine in ihrem Abwehrkrieg gegen Russland nachhaltig beizustehen: Wenn der Westen den russischen Machtwillen nicht dort kaputt kriegt, dann muss er das übermorgen hier tun; was da als gesicherte Vermutung über den Kriegswillen Putins ausgedrückt wird, ist die eigene Entschlossenheit, die Ukraine als Schauplatz dieses Konflikts möglichst auszureizen.

Dass die Ukraine in diesem Krieg durchhält und dabei immer mehr kaputtgeht – nach beiden Seiten ihrer heillosen Überforderung als militärisches Werkzeug und Kampfplatz des Westens gegen Russland hin ist die Situation der Ukraine das Ergebnis westlichen Kalküls, nämlich wie die NATO ihren Kriegseinsatz definiert und dosiert. Dieses Kalkül steht infrage, wenn bzw. seit die Ukraine ihr Durchhalten nicht mehr aushält.

III.

Die – zeitweilige – Stornierung der Waffenhilfen aus Amerika verschärft diese Krise.

Zum einen macht sich an der Front akuter Mangel an Waffennachschub geltend, wenn der bisherige Hauptlieferant eine Weile ausfällt. Weitaus gravie­render ist der Umstand, dass die Kongress-Republikaner mit ihrem hartnäckigen Widerstand gegen die Kriegslinie der Biden-Regierung die kriegs­politische Grundsatzfrage aufwerfen: Ob, wie lange und inwieweit hält die Weltmacht, die ihre Allianz in diesen Krieg gegen Russland auf dem Schauplatz Ukraine hineingeführt, sein Ziel und seine Bedingungen vorgegeben hat, an dessen welt­­politisch entscheidender Bedeutung fest? Mit der Auflösung dieser Blockade, also mit dem nächsten doch noch verabschiedeten Paket an Geld- und Gewaltmitteln wird diese Frage überhaupt nicht abschließend beantwortet und erledigt. Immerhin ist damit die Alternative in die amerikanische Entscheidungsfindung gebracht worden und nun in ihr präsent, den Krieg im Sinne seiner verharmlosenden Le­­benslüge ernsthaft herunterzudefinieren: zur Beihilfe für einen osteuropäischen Randstaat des westlichen Zugriffsinteresses, zu einem Konflikt also, der Amerika auf je­­den Fall viel weniger angeht als die Europäer, sich für die Weltmacht womöglich auf Dauer nicht lohnt. Erst recht präsent ist diese Alternative, weil der punktuelle kongressrepublikanische Widerstand gegen das eine Waffenpaket sich als bloßer Vorgeschmack darauf versteht, was eine erneute Trump-Regierung für das Verhältnis der USA zum ukrainischen Opfer und Schützling, zum russischen Feind und zu den europäischen Partnern verspricht. Und auch wenn dieses Szena­­rio nicht eintreten sollte, machen sich regierende Europäer und fachmännische Beobachter nicht viel vor: Die Infragestellung der Bedeutung dieses Krieges im Besonderen und der Kriegsallianz mit Europa im Allgemeinen ist auch den noch regierenden Demokraten nicht fremd; auch die wissen zwischen Feinden zu un­­terscheiden und lassen keinen Zweifel daran, dass die wirklich epochemachende Bedrohung amerikanischer Weltherrschaft anderswo liegt. So registrieren die NATO-Verbündeten auf ihre Weise, was diese Episode in der amerikanischen Dauersendung „Spaltung der Nation“ über die Generallinie des amerikanischen Imperialismus in diesem Krieg mal wieder offenbart: die kalkulatorische Freiheit, die Amerika sich bei allem kriegerischen Engagement stets vorbehält. Amerika lässt den Krieg in der Ukraine führen, macht ihn feder­führend zum eigenen Anliegen, ohne ihn zu seinem Krieg zu machen.

IV.

Schon das Aufkommen solcher Zweifel an der Bedeutung dieses Waffengangs für Amerika hat für das Kriegskalkül der europäischen NATO-Mächte noch weiter reichende Konsequenzen als die kritische Lage der und in der Ukraine selbst. Erst einmal müssen sie sich mit der Alternative befassen, womöglich auch ohne ihre Führungsmacht den Ukraine-Krieg zu bewältigen, also dessen programmgemäße Durchführung „so lange wie nötig“ wenigstens teilweise zu „europäisie­ren“. Daran schließt sich auf längere Sicht die gar nicht bange, eher aus einer ge­­wissen Anspruchshaltung heraus aufgeworfene Frage an, wie sie als europäische Macht die konfrontative Nachbarschaft zu Russland auf Dauer gestalten können und wollen.

Unmittelbar und vordringlich hat die europäische Kriegspolitik es jedenfalls mit den zwei Fragen zu tun:

  • Was muss der europäische NATO-Pfeiler leisten, um mit der kritischen Kriegslage der Ukraine, notfalls zeitweilig auch ohne die USA, fertigzuwerden?
  • Was soll und was kann Europa sich gegen Russland als atomkriegsfähigen Feind leisten, ohne die Sicherheit eines verlässlichen „atomaren Schutzschirms“ der USA?

In der ersten Frage herrscht entschiedene Einigkeit darüber, dass viel mehr getan werden muss, um Land und Armee des östlichen Vorpostens vor der russischen Übermacht zu schützen und das Kriegsglück umzudrehen. Der Konsens zieht folgerichtig eine unentschiedene Uneinigkeit in der zweiten Frage nach sich. Denn für die erforderlichen ukrainischen Erfolge braucht es, mit oder ohne die USA, nicht nur mehr Waffen und Munition, sondern in europäischen Arsenalen durchaus vorhandene Waffen mit entscheidend höherer Zerstörungskraft und Reichweite, die bisher nicht oder nur unter einschränkenden Bedingungen geliefert werden. Konsens herrscht auch darüber, dass daher nicht weniger als eine Neudefinition des europäischen Kriegseinsatzes zur Debatte steht. Dabei plädiert keine Seite – nicht einmal eine Strack-Zimmermann, die jeden Anflug von Vorsicht beim Bekriegen der Russen für Wasser auf die Mühlen des ­Gegners hält – für einen Übergang in eine direkte Konfrontation der NATO mit Russland; beide Seiten teilen wiederum die Bereitschaft, das Risiko auf neue Weise einzugehen, dass die russische Führung die für fällig erachtete Eskalation des Krieges nicht mehr als Unterstützung der Ukraine hinnimmt, mit der sie weiterhin „vor Ort“ fertigwerden kann, also will, sondern als NATO-Angriff auf ihre nationale Sicherheit definiert und entsprechend beantwortet.

Festgemacht wird dieses Risiko an der Frage der Lizenz fürs ukrainische ­­Militär, mit den entsprechenden westlichen Waffen, schon gelieferten wie vermehrt zu liefernden, über die Landesgrenzen hinweg russische Stellungen und Aufmarschräume zu beschießen – zivile Kollateralschäden werden, soweit un­­vermeidlich, eingepreist –, sowie am nicht nur faktischen, sondern offiziell angesagten Einsatz von NATO-Soldaten im ukrainischen Kriegsgebiet. In der Frage, ob Deutschland seine Taurus-Raketen liefern sollte, fällt für die deutsche Regierung beides zusammen. Während Bundeskanzler Scholz bislang eine Lieferung ausschließt, weil die Waffen ohne direkte Beteiligung deutscher Soldaten nicht zu bedienen seien, antworten seine Kritiker in- und außerhalb der Regierungsparteien mit einer Mischung aus „stimmt nicht!“ und „na und?“. In der Auseinan­dersetzung in und zwischen verschiedenen NATO-Ländern über das Risiko einer Ausweitung des Krieges erklärt die eine Seite es für unbeachtlich bis nicht vorhanden, zumindest was die derzeit diskutierten Fortschritte betrifft; hier kann man daher Kanzler Scholz „gar nicht verstehen“, der mit der Lieferung und der Lizenz zum grenzüberschreitenden Einsatz der Raketen immer noch hadert. Die andere Seite hält eine Steigerung des westlichen Einsatzes für nötig, den diskutierten qualitativen Fortschritt dabei für nur teilweise erforderlich und für doch risikobehaftet; hier „wundert sich“ der Kanzler, „dass einige nicht einmal darüber nachdenken, ob es gewissermaßen zu einer Kriegsbeteiligung kommen kann durch das, was wir tun“. Weitere Fortschritte hält er nur unter der Bedingung und nur insoweit für angesagt, wie sie mit der Rückendeckung bzw. im Schlepptau der USA getan werden – also nur dann, wenn die USA sich ausdrücklich auch dazu entschließen.

An diesem Vorbehalt wird kenntlich, dass die USA bei den nächsten Eskalationsschritten – wie auch bei allen vorangegangenen – nicht nur als Ausstatter gefragt sind, sondern als die Weltkriegsmacht, die dem russischen Feind auf der höchsten Ebene der strategischen Abschreckung begegnet und die diskutierte Eskalation unter ihren „atomaren Schutzschirm“ stellt. Den bringen europäische Politiker und Strategen deswegen auch in die Diskussion; nicht im Sinne eines expliziten Zweifels an seiner Verlässlichkeit, aber schon mit der vorsichtigen Überlegung, ob es dafür einen europäischen Ersatz geben könnte und müsste. In der aktuellen Debatte führt dieser gedankliche Ausflug ins Katastrophen­­szenario der atomaren Abschreckung – im Hintergrund von Beginn an in allen Kriegskalkulationen präsent – wieder zurück zu den uneindeutig gegensätzlichen Einschätzungen, ob eine solche Weltkriegsgefahr für die jetzt anstehenden Entscheidungen überhaupt nicht gegeben oder aber doch irgendwie in Rechnung zu stellen und deswegen durch eine „rote Linie“ vor einem offen aktiven Kriegseinsatz der Allianz auszuschließen wäre.

Daneben stellt sich damit für Europas Kriegsverantwortliche die Frage der langfristigen Wehrhaftigkeit im militärischen Kräftemessen mit Russland. Die einschlägigen Planungen, auf ein halbes bis ganzes Jahrzehnt angelegt, sprechen die Probleme einer Europa-eigenen nuklearen Abschreckung an, machen ihre – auf alle Fälle schwierige – Lösung aber überhaupt nicht zur Voraussetzung für die weitere Ausnutzung der amerikanischen Atommacht, nämlich für den Entschluss und ersten Schritt hin zu einer subatomaren europäischen Streitmacht unter dem atomaren Schutzschirm der USA, die einer russischen Aggression von der Art des Ukraine-Krieges auf NATO-Gebiet vom ersten Quadratzentimeter an keine Chance lassen wird. Ein solcher Ernstfall wird an die Wand gemalt, als rechnete man in Europas Hauptstädten schon damit als einer Gelegenheit zu beweisen, dass Verteidigungsfähigkeit sich nur auf die eigene Überlegenheit auf jeder Eskalationsstufe reimen kann.

V.

Nach mehrmonatiger Verzögerung setzt sich in den USA das strategische In­­teresse an der Zerstörung der russischen Militärmacht in der Ukraine durch und tritt wieder in Kraft. Im April wird dann doch ein milliardenschweres Hilfspaket bewilligt; keine Lieferung in dem Sinn, sondern eine finanzielle Freigabe von 61 Milliarden Dollar für zukünftige Lieferungen, mit einer ersten Tranche von einer Milliarde. Auch wenn Zugeständnisse an die Republikaner gemacht wurden und Teile des Pakets gar nicht direkt für die Ukraine, sondern für die Lagerbestände des US-Militärs vorgesehen sind und andere Teile nicht als Zuwendung, sondern als Kredit vergeben werden, stellt das Ausmaß des Hilfspakets den Krieg auf eine neue Grundlage.

Für die NATO ist das eine starke Ermunterung, die Aufrüstung der Ukraine mit mehr Waffen für eine wirkungsvolle „Vorwärtsverteidigung“ voranzutreiben. F-16-Kampfflugzeuge sollen jetzt endlich geliefert werden; die Entsendung von französischen Ausbildern ins Kriegsgebiet wird bekannt gegeben; die Briten erteilen die Lizenz zum Einsatz ihrer Marschflugkörper über die russische Grenze hinweg; der NATO-Generalsekretär legt nach mit der Aufforderung an die Mitgliedstaaten, Restriktionen zu streichen; die amerikanische Führungsmacht mit ihrem deutschen Mit-Führer geben den grenzüberschreitenden Einsatz ihrer eigenen weitreichenden Raketen frei – zwar mit einer Beschränkung auf den Einsatz an der Front im Norden, dafür mit der Klarstellung, die Einsatzregeln je nach Entwicklung der Kriegslage angemessen anzupassen.

Welche neue Qualität des Krieges durch die von Amerika betriebene bzw. gedeckte Eskalation Einzug in den Stellvertreterkrieg hält, wird nicht zuletzt an der Reaktion kenntlich, die darauf von russischer Seite folgt. Den britischen Vorstoß beantwortet Russland mit einer expliziten Drohung, britische Ziele auch außerhalb der Ukraine anzugreifen. Getrennt von dieser expliziten Be­­nennung feindlicher Ziele reagiert die russische Regierung auf die gesamten westlichen Eskalationsschritte, unter denen es auch noch polnische Vorstöße, US-Atomwaffen in Polen zu stationieren, und die Stationierung amerikanischer Kurz- und Mittelstreckenraketen rund um Russland nennt, mit einer öffentlich gemachten Übung des Einsatzes taktischer Atomwaffen:

Wir hoffen, dass diese Übung die ‚Hitzköpfe‘ in den westlichen Hauptstädten abkühlt, ihnen die möglichen katastrophalen Folgen der von ihnen verursachten ­strategischen Risiken vor Augen führt und sie davon abhält, das Kiewer Regime bei seinen terroristischen Aktionen zu unterstützen und sich auf eine direkte bewaffnete Konfrontation mit Russland einzulassen.“ (Erklärung des Außenministeriums der Russischen Föderation, 8.5.24)

Mit dieser Übung unterhalb der Stufe der strategischen Atomwaffen wird die Fähigkeit zur schrittweisen Eskalation auch in dieser Waffenkategorie dokumentiert. Damit verleiht die russische Macht ihrer abschreckenden Warnung vor immer weitergehenden kriegerischen Übergriffen auf ihr Land deutlich mehr Glaubwürdigkeit als mit der Erinnerung an ihre Verfügung über die Waffen des nicht mehr hinnehmbaren finalen strategischen Schlagabtauschs. Sie demons­triert so ihre Potenz, die weitere Eskalation des Krieges effektiv zu gestalten.

So geht das Ringen um die Dominanz bei der Eskalation des Krieges, die den Gegner zum Innehalten und Aufhören zwingen soll, einmal begonnen, seinen Gang.