Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Das „Flüchtlingsherkunftsland“ Eritrea

Den seit geraumer Zeit anschwellenden Flüchtlingsstrom aus Osteuropa, dem Nahen Osten und Afrika betrachten die europäischen Staaten – ein Großteil ihrer Bürger schon gleich – als ein ernsthaftes Problem: Als unerwünschte Fremde, die nicht auf Einladung und nicht nach den vorgesehenen Regeln einwandern, sind sie von Haus aus zu viele, eine Last, die es möglichst zu reduzieren gilt. Dabei sind sowohl der deutsche Staat als auch seine journalistische Öffentlichkeit zu der Überzeugung gelangt, dass es nicht ausreicht, einen effektiveren Umgang mit den erfolgreich Geflüchteten zu finden, die Schleuser entschiedener zu bekämpfen und die noch nicht Geschleusten glaubwürdiger abzuschrecken. Man muss vielmehr die Sache an der Wurzel packen, die „Fluchtursachen selber bekämpfen“, heißt es. Das lenkt den Blick der Öffentlichkeit auf eine Reihe von Staaten, in denen das Leben für viele seiner Insassen offensichtlich unerträglich ist. Diese Staaten firmieren seitdem unter der Kategorie „Flüchtlingsherkunftsland“, womit der Gesichtspunkt der kritischen Begutachtung hinreichend benannt ist: Sie versagen vor der Aufgabe, ihre Bevölkerung im Land und Europa von Flüchtlingen frei zu halten.

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Das „Flüchtlingsherkunftsland“ Eritrea

Den seit geraumer Zeit anschwellenden Flüchtlingsstrom aus Osteuropa, dem Nahen Osten und Afrika betrachten die europäischen Staaten – ein Großteil ihrer Bürger schon gleich – als ein ernsthaftes Problem: Als unerwünschte Fremde, die nicht auf Einladung und nicht nach den vorgesehenen Regeln einwandern, sind sie von Haus aus zu viele, eine Last, die es möglichst zu reduzieren gilt. Dabei sind sowohl der deutsche Staat als auch seine journalistische Öffentlichkeit zu der Überzeugung gelangt, dass es nicht ausreicht, einen effektiveren Umgang mit den erfolgreich Geflüchteten zu finden, die Schleuser entschiedener zu bekämpfen und die noch nicht Geschleusten glaubwürdiger abzuschrecken. Man muss vielmehr die Sache an der Wurzel packen, die „Fluchtursachen selber bekämpfen“, heißt es. Das lenkt den Blick der Öffentlichkeit auf eine Reihe von Staaten, in denen das Leben für viele seiner Insassen offensichtlich unerträglich ist. Diese Staaten firmieren seitdem unter der Kategorie Flüchtlingsherkunftsland, womit der Gesichtspunkt der kritischen Begutachtung hinreichend benannt ist: Sie versagen vor der Aufgabe, ihre Bevölkerung im Land und Europa von Flüchtlingen frei zu halten.

Das gültige öffentliche Urteil über Eritrea: ein „afrikanisches Nordkorea“!

Ganz weit oben in diese Kategorie gehört das ostafrikanische Eritrea: Pro Monat verlassen 2 000 bis 3 000 Menschen das Land; inzwischen sollen rund 360 000 Eritreer, fast 6 Prozent des gesamten Staatsvolks, geflüchtet sein, wovon ca. 37 000 in Europa registriert sind. Die meisten flüchten auf dem Landweg, der in der Regel in einem der afrikanischen Nachbarländer endet; ein anderer Teil von ihnen wird in der „Folterkammer Sinai“ aufgegabelt, wo sie von diversen Banden als Geiseln gehalten werden, bis das Lösegeld fließt; eine Minderheit schlägt sich bis zum Mittelmeer durch und bildet nach den Syrern die zweitgrößte Gruppe der „boat people“, die die risikoreiche Überfahrt in die „Festung Europa“ unternehmen.[1]

Über die Beweggründe dieses Exodus wird man hierzulande detailreich aufgeklärt: In Eritrea herrscht zwar extreme Armut – laut IWF-Statistiken ist es das fünftärmste Land der Welt –, doch laut der hiesigen Berichterstattung verdankt sich die massenhafte Flucht nicht, jedenfalls nicht vorwiegend, ökonomischem Elend, sondern flächendeckender politischer Repression. Diese Flüchtlinge sind also keine anrüchigen Wirtschaftsflüchtlinge, die bloß ihre Lebenslage verbessern wollen, sondern politisch Verfolgte, deren Menschenrecht auf gute Herrschaft verletzt wird.[2] Das macht sie in den Augen eines Großteils der Bürger in den Zielländern nicht beliebter, aber nach den Kriterien des Rechtsstaats macht das den entscheidenden Unterschied: So gut wie jedem eritreischen Flüchtling, der es nach Europa schafft, wird Asyl gewährt.

Zur politischen Unterdrückung, der die Eritreer daheim ausgesetzt sind, gehört vor allem die sogenannte Militarisierung der eritreischen Gesellschaft: zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung – Frauen wie Männer, Teenies wie Alte – gehören zum stehenden Heer; das 12. Schuljahr wird gleich im Militärlager mit der einschlägigen Ausbildung absolviert. Der Militärdienst dauert de jure anderthalb Jahre, ist aber de facto oft unbefristet. Die Rekruten werden nicht nur für die Verteidigung der Nation, sondern auch für zivile Staatsdienste eingesetzt: Im Rahmen des „National Service“ leisten sie schlecht bis unbezahlte Zwangsarbeit im Straßen-, Wohnungs- und Bergbau sowie in der Landwirtschaft. Hunger, Inhaftierung und Folter von unwilligen Dienstkräften sind keine Seltenheit, sodass von einer modernen Form der Sklaverei berichtet wird. Wer zu fliehen versucht, wird als Deserteur behandelt; wer dabei erwischt wird, wird in ein Lager gesteckt und oft gefoltert; und wer es über die Grenzen schafft, kann damit rechnen, dass seine Familie mit Geld- und Haftstrafen belegt wird. Das Gleiche gilt, wenn Auslandseritreer es versäumen, die sogenannte „Diaspora-Steuer“ von zwei Prozent auf ihr Auslandseinkommen nach Hause zu überweisen; erst recht, wenn sie im Exil oppositionell tätig werden. Auch mit politischer Opposition daheim wird nicht zimperlich umgegangen – und sogar Mitglieder der Regierung sind vor Repression nicht sicher: 2001 befiehlt Präsident Isaias Afewerki die Verhaftung des gesamten Politbüros seiner allein regierenden Partei wegen Landesverrats, weil es sich für die Verabschiedung einer demokratischen Verfassung mit Parteienpluralismus aufgeschlossen gezeigt hatte. Das Allerschlimmste für hiesige Journalisten aber ist: Über all dies darf nicht einmal frei berichtet werden. Seit 2002 gibt es weder private Rundfunk- noch Fernsehsender noch Zeitungen; nach der kritischen Berichterstattung über das rabiate Vorgehen des Präsidenten wurden solche Presseorgane der Gefährdung der nationalen Sicherheit beschuldigt und sämtliche privaten Zeitungen geschlossen und deren Personal verhaftet. Der letzte ausländische Korrespondent im Lande wurde 2008 ausgewiesen, mindestens sechs Journalisten des staatlichen Presseorgans sitzen noch in Haft, einige sind ganz verschwunden. Das alles hat diesem afrikanischen Nordkorea (SZ, FAZ, Handelsblatt, Stern, Tagesschau…) den letzten Platz in der Rangliste der Pressefreiheit bei „Reporter ohne Grenzen“ eingebracht, noch hinter dem echten Nordkorea.

Afrikanisches Nordkorea – das ist bloß eine der Formeln, die üblicherweise verwendet werden, um die eritreischen Verhältnisse auf den Begriff zu bringen. Das Land gilt auch als ein gigantisches Gefängnis (Human Rights Watch), eine riesige Kaserne (NZZ) oder einfach die Hölle auf Erden (ARD-Weltspiegel). Ein soeben veröffentlichter Bericht des UN-Menschenrechtsrats fasst das Ganze zusammen: In Eritrea herrscht nicht das Recht, sondern die Angst. Damit ist das Interesse der journalistischen Öffentlichkeit an den Verhältnissen im Lande voll und ganz befriedigt. Mit dem negativen Befund, dass das eritreische Regime umfassend gegen die Regeln guter Herrschaft verstößt, ist schon alles Nötige darüber gesagt, wie und warum es das Land so regiert: Da wird Macht nicht gebraucht, sondern durch einen „paranoiden Diktator“ (SZ) missbraucht, der sich von vermeintlichen Feinden umgeben (FAZ) und bedroht fühlt (Tagesschau). Laut einem Frankfurter Experten verfolgt Präsident Afewerki überhaupt kein Staatsprogramm in dem Sinne; als Ein-Mann-Staat (FAZ) ist er sich selbst genug.

Sonst nichts?

Die eritreische Herrschaft: die Organisation von Volk und Führung für die staatliche Selbstbehauptung

Eritrea ist zwar seit seiner Unabhängigkeit 1993 als vollwertiger Staat anerkannt, mit Sitz und Stimme in der UNO, doch als Staatsgewalt in einer fundamentalen Hinsicht unfertig: Die Reichweite seines herrschaftlichen Anspruchs, der Umfang seiner Verfügung über Land und Leute, stehen noch nicht fest. In der Frage führt Eritrea seit gut zwanzig Jahren einen mal kalten, mal heißen Krieg. Nicht etwa mit vermeintlichen Feinden, sondern mit allen seinen Nachbarn über den Verlauf seiner Staatsgrenze und damit grundsätzlich für seine Anerkennung als eigenständige Herrschaft. Der Hauptgegner in dieser Auseinandersetzung ist Äthiopien, von dem sich Eritrea losgesagt und dem es vor gut 20 Jahren seine Unabhängigkeit gewaltsam abgerungen hat. Die bislang letzten Schlachten im noch umstrittenen Grenzgebiet fanden kurz vor der Jahrtausendwende statt, seitdem stehen sich diese zwei Armeen einander gegenüber in einer sogenannten no war, no peace situation. Dieser andauernde Kriegszustand, der Kampf um die Selbstbehauptung der eritreischen Staatsgewalt nach außen, bestimmt Charakter und Innenleben der Nation.

Sofern es um den Reichtum geht, mit dem der eritreische Staat seine Herrschaft finanziert, ist seine Bevölkerung zum größten Teil überflüssig. 80 Prozent sind in der Landwirtschaft tätig, und zwar zum großen Teil als Subsistenzbauern; entsprechend wenig tragen sie zum für moderne Nationen entscheidenden, im Geld bemessenen Reichtum bei. Eritrea ist wie so viele seiner Nachbarn auf dem Kontinent nämlich ein „Rohstoffland“, dessen nationale Geldquelle darin besteht, dass es natürliche Elemente eines kapitalistischen Produktionsprozesses liefert, der anderswo stattfindet und anderswo seine Erträge abwirft. Das Land exportiert hauptsächlich diverse Mineralien wie Gold, Kupfer und Kali – bislang alles in sehr überschaubaren Mengen – sowie einige Agrargüter. Der Löwenanteil dieser Ökonomie befindet sich in Staatshand, die Erträge fließen direkt in den Staatshaushalt und gehen mehr oder weniger in der Bedienung seines obersten Zwecks und Bedarfs auf: der Verteidigung der Nation, also dem Aufbau und der Aufrechterhaltung seiner militärischen Schlagkraft. Dazu leistet auch und vor allem die eritreische „Diaspora“ ihren Beitrag, deren Überweisungen zurück in das Heimatland gut 1/3 des BIP ausmachen – eine entscheidende Quelle der Devisen, auf die der eritreische Staat für die Anschaffung des nötigen Militärgeräts angewiesen ist.

Mit der ökonomischen Überflüssigkeit der allermeisten daheimgebliebenen eritreischen Bürger für ihren Staat ist keineswegs das letzte Wort über sie gesprochen. Im Gegenteil: Die oben erwähnte Militarisierung der eritreischen Gesellschaft zeugt davon, wie sehr der eritreische Staat sie als seine Manövriermasse für absolut unerlässlich hält: als das lebende Mittel seiner Selbstbehauptung. Die Ansprüche, die er an das Leben seiner Gesellschaft und an die Herrschaft selber stellt, sind danach: Die Staatsführung schafft und erhält sich ein Volk unter Waffen als schlagkräftigen militärischen Kampfverband im dauerhaften Bereitschaftszustand; und sie organisiert und sichert ihre Herrschaft als eine jederzeit handlungsfähige Befehlsgewalt über ihr Land:

– Was die Bevölkerung angeht, so sorgt der Staat für eine dienstbare Mannschaft, indem er große Teile der Landesbewohner zwangsweise zum Militärdienst einzieht, sie neben den militärischen auch zu inneren Diensten abkommandiert, eine große Zahl dauerhaft mit mehr oder weniger Gewalt in diesem Status erhält und sie – mehr schlecht als recht – aus seinen auswärtigen Geldeinnahmen alimentiert. So stiftet er, bei aller offiziellen Anerkennung für die ethnische, sprachliche und religiöse „Heterogenität“ des kleinen eritreischen Volkes, dessen entscheidende Identität: Die mögen sich für Christen oder Moslems, für Tigrayer, Tigrer oder Afaris halten, aber in erster Linie haben sie ein eritreisches Volk zu sein, das auf ein nationales Kommando hört. Damit schafft der eritreische Staat zugleich Gründe zum Weglaufen, die etwas anders gestrickt sind als in den afrikanischen Nachbarländern. Im Unterschied zu den Ländern, in denen der wechselseitige Terror konkurrierender ethnischer oder religiöser Milizen die Landesbewohner in die Flucht treibt, wie etwa in Nigeria, der Zentralafrikanischen Republik, Mali, Sudan, Süd-Sudan etc., leben in Eritrea Christen und Moslems, Tigrayer, Tigrer und Co. Seit‘ an Seit‘ – im und durch ihren kollektiven Dienst für die Staatsgewalt. Wenn ihr Leben in Anspruch genommen und aufs Spiel gesetzt wird, dann nicht für die politische und ökonomische Selbstbehauptung eines Volksteils gegen konkurrierende Ansprüche im eigenen Land, sondern für die Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols: Dessen Selbstbehauptung nach außen, für die die Bevölkerung eingespannt wird, schmiedet sie zu einem Volk zusammen und bestimmt, was die Massen zu erwarten und zu befürchten haben.

– Deshalb sind alle konkurrierenden Ansprüche auf die Staatsgewalt selbst, damit auf die Mittel des Staates sowie auf die Loyalität der Bürger, auszuschalten. Der Staatsapparat darf nicht zum Schauplatz eines Kampfes um Posten in der staatlichen Hierarchie und damit um ein Stück Kontrolle über die einzige bedeutende nationale Einkommensquelle verkommen. Alles und alle im Lande haben auf ein nationales Kommando zu hören. Dass Afewerki bei der Durchsetzung dieses herrschaftlichen Anspruchs erfolgreich ist, wird seinem ansonsten verschrienen Regime eine Zeitlang sogar als eine beachtliche Resistenz gegen die für Afrika typische „Korruption“ zugutegehalten. Hier findet Herrschaft nicht als ständiger Kampf konkurrierender Politiker mit ihren partikularen Vorteilsrechnungen statt; deren Anhänger und Anhängsel sollen und können sich nichts davon versprechen, dass einer der ihren an die Schaltstellen der Macht gelangt. Hier wird vielmehr pur im Sinne der Selbstbehauptung der souveränen Macht des Staates regiert. Deren Notwendigkeiten vertragen keine solche Konkurrenz.

– Wer es unten wie oben nach dem Ermessen des obersten Patrioten am Einsatz für dieses nationale Kampfprogramm fehlen lässt oder sich diesem hohen Auftrag gar verweigert, untergräbt die Kampfkraft, ist von daher ein Feind und wird entsprechend behandelt. Und umgekehrt: Wenn die nationale Selbstbehauptung nicht gelingt, dann hat es der Nation wegen innerer Feinde an der nötigen kämpferischen Einheit gefehlt: So zieht Afewerki kurz nach dem verlorenen Krieg gegen Äthiopien um den Verlauf der Grenze einen messerscharfen Schluss auf einen weitverbreiteten „Defätismus“ im Lande, also auf einen Mangel an Siegeswillen. Oppositionelle Stimmen sind dann offensichtlich ein Zeichen auswärtiger Zersetzungsarbeit; und wenn sogar die Mitglieder seines eigenen Politbüros Zweifel an der Siegesfähigkeit des Präsidenten äußern und die Möglichkeit demokratischer Wahlen ins Spiel bringen, dann sind sie Verräter, die ausgeschaltet gehören.

Dass Afewerki die Ziele, denen sich seine Bürger mit Haut und Haar zu verschreiben haben, in Tönen beschwört, die noch jeder moderne demokratische Staat in Zeiten „nationaler Bedrohung“ im Programm hat – Selbständigkeit, nationale Einheit, Selbstaufopferung, eine starke Beziehung zwischen Volk und Führung – ist nur gerecht. In dem, wie er seine Gewalt einsetzt, wie in dem, wie er diesen Einsatz rechtfertigt, ist er ein gelehriger Schüler des Imperialismus, dessen Subjekte in Europa und Amerika daheim sind. Was er auf seine brutale Weise durchzusetzen versucht, ist die Grundlage und Existenzbedingung von der Sorte Gemeinwesen, die in der von diesen Mächten beaufsichtigten Staatenkonkurrenz Respekt genießen. Er führt vor, worauf ein erfolgreiches „nation-building“ mit einem einigen Volk unter nationaler Führung beruht: auf einer Staatsgewalt, die nach innen das Gewaltmonopol ausübt und sich als solche nach außen Respekt und ihren Hoheitsansprüchen Geltung verschafft. Von wegen Ein-Mann-Staat! Was dem Afewerki-Regime als eine flächendeckende Missachtung von fundamentalen Bürger- und Menschenrechten seiner Bürger angekreidet wird, ist in Wahrheit die konsequente, der Notlage der Herrschaft entsprechende rigorose Inanspruchnahme der Menschen in ihrer ersten Eigenschaft als Basis und Manövriermasse der Staatsgewalt. Das definiert, was sie an Rechten besitzen und ihnen an Pflichten aufgezwungen wird: Ohne die erfolgreiche Selbstbehauptung der Gewalt ist ihr Leben nichts; wenn sich diese Gewalt gefährdet sieht, dann haben sie für deren Selbstbehauptung alles zu geben.

Die wechselnde imperialistische Rolle Eritreas im US-Ordnungsprogramm für Ostafrika

Die Erfahrung, die der eritreische Staat in diesem Dauerkampf macht, zeigt allerdings, wie wenig ein Staat von diesem untergeordneten Schlag tatsächlich Subjekt des Erfolgs seiner Herrschaft und überhaupt ihres Bestands ist. Was ein solcher Staat ist und mit seiner Macht auszurichten vermag, entscheidet sich vielmehr an den Berechnungen, die die bestimmenden Weltmächte mit ihm und seinen Nachbarn anstellen.

In diese Berechnungen hat der eritreische Staatswille nie so recht hineingepasst. Das gilt im Grunde schon seit dem Beginn des Unabhängigkeitskampfs vor ca. 50 Jahren, als Eritrea noch die nördlichste Provinz Äthiopiens war – eines Landes, das die USA zur potenten Regionalmacht aufgerüstet und in seinen Offensiven gegen die eritreischen Rebellen finanziell und militärisch unterstützt haben. Auch nach dem Sturz des Kaisers Haile Selassie durch das „marxistische“ Derg-Regime hilft es den eritreischen Freiheitskämpfern in den Augen Washingtons überhaupt nicht, dass ihr Feind zum Sowjetfreund geworden ist. Die USA trauen der – nach ihrer Einschätzung selber viel zu „kommunistisch“ gestrickten – Befreiungsfront nicht über den Weg, wollen auch nicht – jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt – auf dem afrikanischen Kontinent einen sezessionistischen „Präzedenzfall“ schaffen. Für die Schwächung des äthiopischen Regimes setzen sie lieber auf die offiziell anerkannten Staaten in der Nachbarschaft, vor allem auf Somalia. Für einen amerikanischen Perspektivwechsel sorgt erst das plötzliche Verschwinden der Sowjetunion und damit der Unterstützungsmacht des äthiopischen Staates sowie der Zusammenschluss der eritreischen Rebellen mit der „Volksbefreiungsfront von Tigray“ – einer ebenfalls nach Autonomie strebenden Rebellengruppe im Norden Äthiopiens – zu einem militärischen Zweckbündnis, das dann gegen die kollabierende äthiopische Armee Sieg um Sieg erringt. Im eritreischen Freiheitsdurst sehen die Amerikaner jetzt eine Gelegenheit, das anachronistische Ärgernis des „sozialistischen“ äthiopischen Regimes zu beseitigen und sich als die exklusiv zuständige Weltmacht in dem wichtigsten Staat der Region zu etablieren. Zu dem Zwecke leistet Amerika der eritreisch-tigrayischen Kriegsallianz bei deren Endspurt gegen die äthiopische Armee finanziellen Beistand und diplomatische Anerkennung als legitimem und zuständigem Mitentscheider über die Zukunft des Landes. Der Führer der tigrayischen Rebellen wird zum neuen Präsidenten Äthiopiens, während die eritreischen Rebellen aus dem Krieg bald danach als die Führer eines eigenständigen Staats hervorgehen. Einige Jahre lang gilt der zum Präsidenten gemauserte Rebellenführer Afewerki seinen amerikanischen Sponsoren als „Hoffnungsträger“ neben anderen Vertretern der neuen Generation afrikanischer Führer wie Paul Kagame in Rwanda, Yoweri Museveni in Uganda und Meles Zenawi in Äthiopien, deren segensspendende Großtaten für ihre Völker in den einschlägigen UNO-Berichten nachzulesen sind. Aus Sicht der USA sind dann mit dem Ende des feindlichen äthiopischen Regimes und der Geburt des neuen Staates aber auch alle Ansprüche dieser nützlichen afrikanischen Partner abgegolten.

Für diese selber hat sich damit allerdings überhaupt nichts erledigt: Schließlich ist nach der Unabhängigkeit die Frage, wo Eritrea aufhört und die angrenzende äthiopische Provinz Tigray anfängt, keine bloß administrative Frage mehr, sondern eine der Reichweite der jeweiligen Staatsgewalt. Und das ist – getrennt davon, wie bedeutend oder unbedeutend das umstrittene Gebiet in ökonomischer oder strategischer Hinsicht tatsächlich sein mag – eine grundsätzliche Gewaltfrage zwischen Staaten, also auch eine Sache nationaler Ehre. Aber weil dieser Konflikt sich bloß um deren Ansprüche und nicht mehr um die der entscheidenden Mächte dreht, gilt dieser Krieg jetzt als vollkommen sinnlos und wird zeitweise zum absurdesten Konflikt der Erde gekürt: ein Kampf um ein ödes, unfruchtbares Gebirgsdreieck ohne Bodenschätze oder strategischen Wert, also bloß wegen der Geltungssucht der ehemaligen Kampfgefährten Afewerki und Zenawi.[3] Nach einem zweijährigen Stellungs- und Abnutzungskrieg wird der Grenzverlauf von einer UN-Kommission festgelegt, deren Urteil von Äthiopien aber bis heute nicht anerkannt wird; das Land hält Teile des Eritrea zugesprochenen Territoriums unter Besatzung und knüpft dessen Rückgabe an die „Normalisierung der Gesamtbeziehungen“, die es selber entschieden verweigert.

Dass dieser Konflikt im Laufe der 2000er immer weniger absurd und immer mehr die Schuld Eritreas wird, liegt vor allem daran, dass Äthiopien zu einem einigermaßen potenten und äußerst kooperationswilligen Partner der USA in der Region geworden ist, in der Washington inzwischen neue Bedrohungen ausgemacht hat: Die äthiopische Armee stellt den Hauptteil der „boots on the ground“ in dem von Amerika angeführten Kampf gegen islamistische Milizen in Somalia; 2007 besetzt Äthiopien weite Teile des Landes inklusive der Hauptstadt Mogadischu, zieht dann wegen zunehmender Proteste in der Hauptstadt nach zwei Jahren wieder ab; doch nach wie vor bilden die äthiopischen Streitkräfte einen Eckstein im militärischen Fundament der vom Westen zusammengebastelten somalischen „Übergangsregierung“. Da hat sich Eritrea also nun den falschen Feind ausgesucht – und auch die falschen Freunde. Es versucht nämlich die Gegner, die sich Äthiopien im Zuge seiner regionalen Ordnungsdienste macht, für seinen Kampf zu nutzen: Als Mittel in einem kleindimensionierten Stellvertreterkrieg gewährt es der in Somalia aktiven und vom Westen angefeindeten „Union islamischer Gerichte“, den mit Al Qaida verbündeten Al Shabaab sowie einigen anderen kleinen äthiopischen Rebellengruppen finanzielle Unterstützung und Unterschlupf. Zu allem Überfluss veranstaltet es einen Überfall auf einen Armeestützpunkt in Djibouti, mit dem sich Eritrea ebenfalls in einem Grenzkonflikt befindet, und nimmt einige Soldaten gefangen. Auch hier nimmt sich Eritrea einen Staat zum Gegner, mit dem die USA inzwischen eine gedeihliche militärische Kooperation pflegen – hauptsächlich als Ausgangsbasis für ihre Drohnenoperationen in der Gegend. Das alles macht Eritrea in den Augen der USA endgültig zu einem Schurkenstaat. Im UN-Sicherheitsrat setzen sie diverse Sanktionen gegen das Afewerki-Regime durch und erwägen sogar, das Land auf ihre Terrorliste zu setzen. Auch Europa entschließt sich zu einer entschiedenen Ächtung des Staates, unterstützt die von den USA geforderten Sanktionen und zieht alle Botschafter aus dem Lande ab.

Die neue Aufgabenzuweisung für die eritreische Herrschaft durch Europa: Von der Fluchtursache zum Fluchtverhinderer

Doch für Europa schafft der nicht enden wollende Flüchtlingsstrom, nicht zuletzt aus Eritrea, eine neue Lage und sorgt für einen neuen, „differenzierteren“ Blick auf das eritreische Unterdrückungsregime: Dieser Staat ist jetzt als Produzent von Flüchtlingen ein Problem – was für die EU die Aufgabe bedeutet, ihn zu einem potenziellen Partner zu machen, damit er mit seiner Gewalt nicht mehr als Fluchtursache, sondern als Fluchtverhinderer fungiert. So wird Eritrea Teil eines größeren Europa-Programms für das ganze einschlägige Afrika: Dezember 2014 einigt sich die EU – unter der Federführung Deutschlands – mit allen anderen Staaten in der Region auf eine „Africa Migration Route Initiative“, die inzwischen den Namen „Khartoum-Prozess“ trägt. Das Abkommen soll die Unterstützung der afrikanischen Staatsgewalten beim Grenzschutz und bei der Bekämpfung von Schleuserbanden stärken – der Schwerpunkt liegt auf der Polizeiausbildung und dem „Management“ von Flüchtlingsbewegungen. Für Eritrea winkt ein einschlägiges „Entwicklungspaket“ über mehrere Millionen Dollar. Was sich da „entwickeln“ soll, macht schon der Anlass deutlich: Die Gewalt des eritreischen Staates soll fortan den Ordnungsbedarf Europas befriedigen, also die richtige Sorte Unterdrückung entfalten. Prompt ändert sich mit der imperialistischen Interessenlage auch die menschenrechtliche Beurteilung, und man entdeckt hoffnungsvolle Ansätze: So sieht der stellvertretende Außenminister Italiens Juli 2014 bei einem Besuch in Eritrea nun die Zeit für einen Neuanfang gekommen; er unterstreicht die Entschlossenheit seines Landes, unsere bilateralen Beziehungen wiederzubeleben und Eritreas Rolle als verantwortlichen Akteur und wichtiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft bei der Stabilisierung der Region wiederherzustellen. Nach einem starken Anstieg der Zahl eritreischer Flüchtlinge im Lande schickt die dänische Regierung Ende 2014 eine „fact-finding-mission“ nach Eritrea und kommt zu dem interessanten Befund, dass die Menschenrechtssituation in Eritrea womöglich nicht so schlecht sei wie allgemein angenommen, woraufhin sie bei der Asylgewährung für Eritreer entsprechend mehr Strenge walten lässt. Bald danach schicken Norwegen und Großbritannien ähnliche Teams nach Eritrea und kündigen – nach Versicherungen der eritreischen Regierung, dass der Militärdienst in Zukunft ganz sicher nicht mehr unbefristet sein wird – ähnliche Reformen in der Bearbeitung eritreischer Asylanträge an. Eine dankenswerte Klarstellung, wie frei, unbekümmert und funktional Europas Imperialisten ihr Verhältnis zu fremden Staatsgewalten und darüber auch zu deren Völkern gestalten. Die eritreischen Flüchtlinge, die bislang das zweifelhafte Glück gehabt haben, in ihren Zielländern als politisch Verfolgte zu gelten, bekommen zu spüren, wie sehr ihr Status als asylberechtigte Flüchtlinge nicht von ihrer eigenen Notlage und den Zuständen, denen sie entfliehen wollen, sondern davon abhängt, wie die Zielstaaten ihr Verhältnis zum Herkunftsstaat definieren und ausgestalten. Bei aller Annäherung an das eritreische Regime wird der Vorwurf der Menschenrechtsverletzung allerdings keineswegs einfach aus dem Verkehr gezogen. Er leistet weiterhin seinen Dienst als Titel für die Klarstellung, dass es bei der Zusammenarbeit mit Europa in Sachen „Bekämpfung der Fluchtursachen“ allemal um Ansprüche geht, die Europa stellt und die Eritrea zu erfüllen hat.

[1] In der vorletzten großen Auflage der Reihe „Flüchtlingstragödie im Mittelmeer“, bei der 2013 fast 400 Menschen vor Lampedusa ertrunken sind, stammen fast alle Opfer aus Eritrea.

[2] Wie man erfährt, fliehen auch prominentere Vertreter der Nation: einige ehemalige Mitglieder der Regierung zum Beispiel, sowie zwei Militäroffiziere, die es mit dem Privatjet des Präsidenten nach Saudi-Arabien geschafft haben; um das gekaperte Flugzeug zurückzuholen, wird eine Kampfpilotin nach Riad geschickt, die dann unmittelbar nach ihrer Ankunft Asyl beantragt. Immer wieder nutzen die Athleten der Nation ihre Auslandsspiele für die Flucht, zuletzt 2012, als die gesamte Fußballnationalmannschaft samt Mannschaftsarzt in Uganda ab- und anderthalb Jahre später in den Niederlanden aufgetaucht ist... Alles Dokumente, durch die die Öffentlichkeit ihre Kritik bestätigt sieht, dass das Land einfach nicht ordentlich regiert wird.

[3] Vgl. dazu Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea: Der „absurdeste Konflikt der Erde, GegenStandpunkt 3-98.