Er ist wieder da: der hässliche Russe
Die deutsche Kunst, sich von Moskau enttäuschen zu lassen
Bei der Wahl hat Schirinowski mit nationalistischen Parolen (zu viel) Erfolg gehabt – die westlichen Beobachter stellen fest, dass der russische Nationalismus nicht nur antisowjetisch, also gut, sondern auch tatsächlich nationalistisch, also böse ist. Das will erklärt werden – für die westlichen Berichterstatter der Auftakt, eine neues Feindbild zu schaffen, das keineswegs auf das alte Feindbild verzichtet.
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Er ist wieder da: der häßliche
Russe
Die deutsche Kunst, sich von Moskau
enttäuschen zu lassen
Seit der russischen Wahl ist die alte Eindeutigkeit dahin, mit der die deutsche Presse[1] noch Anfang Dezember die russische Parteienlandschaft in Jelzin-Freunde = Reformer = die Guten und Jelzin-Gegner = Bremser = die Bösen sortiert hatte.
Jahrelang sollte man sich bekanntlich die Lage in Rußland so vorstellen, daß ewiggestrige Bremser unseren Hoffnungsträgern, den mutigen marktwirschaftlich-demokratischen Reformern – erst Gorbatschow, dann Jelzin –, Knüppel zwischen die Beine werfen. Mit diesen Lageanalysen haben die hiesigen Rußland-Experten nichts anderes ausgedrückt als die westliche Wunschvorstellung bezüglich einer marktwirtschaftlich-demokratischen Entwicklung in Rußland: das Ideal, den ehemaligen Hauptfeind als stabiles und gleichzeitig fügsames Staatswesen unter Kontrolle zu bringen. Bis neulich – eben bis zur Wahl – waren sämtliche berufsmäßigen Kommentatoren der russischen Entwicklung so sehr Parteigänger dieses westlichen Anspruchs, daß sie sich ganz leicht, so als wäre es das Normalste von der Welt, folgendes Szenario vorstellen konnten: Die russische Wirtschaft bricht zunehmend zusammen; die russischen Massen verarmen; in Moskau wird gehungert; die Obdachlosigkeit nimmt zu; die Energieversorgung im russischen Winter wird zunehmend unsicher; der im Lande noch vorhandene Reichtum wird vom „neuen russischen Mittelstand“, den westliche Kommentatoren hoffnungsvoll vorstellen, gegen Devisen verscherbelt (oder auch von der „neuen russischen Mafia“, die natürlich mit der alten „Nomenklatura“ identisch ist); die nationale Währung taugt zu gar nichts, am allerwenigsten für den Lebensunterhalt… – und die russischen Massen nehmen das alles mit ihrer sprichwörtlichen Leidensfähigkeit hin und jubeln weiter unserem Jelzin und seinem in Harvard geschulten Reformer-Team zu; und in der russischen Führungsmannschaft sehen alle ganz gelassen zu, wie die Grundlagen ihrer Macht den Bach runtergehen – Hauptsache Clinton und Kohl bleiben gut Freund und sichern westliche Hilfe zu beim Verschrotten der geerbten Atomraketen.
Nicht im Traum würde deutschen Journalisten ein solches Szenario für das eigene Staatswesen einleuchten. In der Weltwirtschaftsmacht Deutschland ist es völlig selbstverständlich, daß Politiker, sobald eine Wirtschaftskrise mit „Nullwachstum“ konstatiert wird, das Schlimmste für die Nation befürchten, auf nationale Abwehrprogramme sinnen und den Standort retten müssen, koste es was es wolle. Aber Deutschland ist ja auch nicht Rußland. Und wenn dort nicht bloß ein „Nullwachstum“ zu beklagen ist, sondern die gesamte Produktion dank der mutigen Reformen am Zusammenbrechen ist, dann wird man im Westen doch wohl erwarten können, daß diese Sache reibungslos über die Bühne geht, damit Rußland endlich das Entwicklungsland wird, das die Sowjetunion doch immer nie war.
Ganz im Sinne dieses westlichen Ideals einer reibungslosen Verarmung und Entmachtung des ehemaligen Hauptfeinds wurden die demokratisch nicht ganz astreinen Wahlvorbereitungen Jelzins hierzulande noch durchaus verständnisvoll kommentiert.[2] Jelzins Wille, in Rußland eine starke Macht zu installieren, ging eben solange in Ordnung, wie für die westlichen Beobachter feststand, daß der Mann seine Macht nur in „unserem“ Sinne einsetzen würde – im Klartext: für die weitere Entmachtung Rußlands. Deswegen wurde er auch schon immer beargwöhnt, wenn er so etwas wie einen eigenen außenpolitischen Standpunkt Rußlands deutlich machte – so etwas konnte gar nicht entschieden genug zurückgewiesen werden.
Spätestens mit den Wahlen ist nun die Illusion geplatzt, so etwas wäre wirklich und auf Dauer zu haben: ein starker Mann an der Spitze Rußlands, der nichts anderes ist und sein will als Garant der Fügsamkeit seiner Nation gegenüber westlichen Ansprüchen. Die westlichen Beobachter nehmen zur Kenntnis, daß der russische Nationalismus nicht bloß antisowjetisch, also gut, sondern tatsächlich nationalistisch, also selber böse ist. Sie arbeiten sich daher langsam zu einem neuen Feindbild hin, verzichten dabei aber keineswegs auf ihr altes.
Das gute alte Feindbild vom Kommunismus und den „ewiggestrigen Bremsern“ muß nämlich nicht ad acta gelegt werden, wenn es jetzt darum geht, dem westlichen Publikum das „Phänomen Schirinowski“ vorzustellen. Schließlich wurde in den letzten Jahren von sämtlichen Ost-Experten oft genug das Bild vom „Rot-Braunen-Anti-Jelzin-Block“ bemüht. Und wenn in der deutschen Öffentlichkeit ein paar Tage lang die Spekulation breitgetreten wird, daß Schirinowski angeblich von alten SED-Konten Geld bezogen haben könnte (auch wenn die PDS überhaupt keinen Zugriff auf diese Konten hat, sondern ein Mensch, der mit der Treuhand zusammenarbeitete), dann versteht das jeder richtig: Auch mit der „altkommunistischen“ PDS steckt der böse Mann unter einer Decke. Auch der Ruf nach einem starken russischen Präsidenten, dem der Westen gegen Schirinowski den Rücken stärken muß, ist in westlichen Kommentaren nicht ausgestorben. So pflegt die hiesige Öffentlichkeit weiter ihr liebgewonnenes Ideal von einem starken russischen Führer, dem der Standpunkt einer starken Nation fremd zu sein hat. Alle real existierenden russischen Führerpersönlichkeiten hat sie dagegen längst als neue russische Gefahr ausgemacht – zuallererst den „russischen Faschisten“.
„Schirinowski, der Russen-Hitler“
Mit dieser Schlagzeile hat die Bild-Zeitung am Tag nach der Wahl in ihrer übersichtlichen Art den Grundtenor aller westlichen Berichterstattung auf den Punkt gebracht: Bei dem Mann handelt es sich um einen „hochintelligenten, extrem gefährlichen Verückten“. Die Sache mit der hohen Intelligenz – gemeint ist sowieso „kriminelle Energie“, also potenzierte Gefahr – mal beiseite gelassen, mag das Urteil ja stimmen. Es wirft dann allerdings ein Licht auf noch ganz andere, im Unterschied zu Schirinowski hochangesehene Politiker. Der Mann unterscheidet sich in seiner Denkweise nämlich in nichts von anderen nationalen Führern, die sich um die Stärke ihrer Nation sorgen. Denn was wird ihm eigentlich vorgeworfen?
Ein Rassist soll er sein, der die Anrainerstaaten Rußlands damit bedrängt, daß er sich zum Schutzherren der dort lebenden Russen aufbaut. Das sagen diejenigen, denen es völlig selbstverständlich ist, daß sich deutsche Staatssekretäre seit Jahr und Tag in Rußland herumtreiben, um dort Sonderrechte für sogenannte „Wolgadeutsche“ durchzusetzen. Das russische Reich in den Grenzen von Anno irgendwann, einschließlich Alaska, will er wiederherstellen. Das halten diejenigen, denen die Wiedervereinigung Deutschlands ein Herzensanliegen war, für gefährlichen Imperialismus. Mit dem deutschen Rechtsradikalen Frey hat er sich getroffen, ihm die Rückgabe Ostpreußens versprochen und die „Oder-Neiße-Grenze nicht für das Ende der Geschichte“ gehalten. Das halten diejenigen für ein Verbrechen, die damals das größte Verständnis dafür hatten, daß Kanzler Kohl „seinem Freund Gorbi“ nur mit Hängen und Würgen den Vertrag über die „Endgültigkeit der Oder-Neiße-Linie“ unterschrieben und danach öffentlich erklärt hat, daß „die deutsche Einheit nunmal (leider) einen Preis hat“. In Bulgarien soll Schirinowski die Ablösung des Präsidenten gefordert haben. Das halten diejenigen für eine unglaubliche Einmischung in auswärtige Angelegenheiten, die gewohnheitsmäßig jeden auswärtigen Regierungswechsel kritisch nach dem Maßstab beäugen, ob er „uns“ paßt, und derzeit dem griechischen Bündnispartner die „Reife“ für die EU-Präsidentschaft absprechen, weil – nach deutschem Geschmack – der falsche Mann Präsident ist. Vom Ausland (Irak!) soll Schirinowski unterstützt worden sein. Das entlarven Leute, die heftig fordern, der Westen müsse jetzt erst recht Jelzin unterstützen. Der „Russen-Hitler“ hat tatsächlich Deutschland mit Krieg und neuen „Wunderwaffen“ gedroht. Ein himmelschreiender Skandal – für Leute, die durchaus Verständnis für CDU-Abgeordnete haben, die beim Wahlerfolg Schirinowskis gleich wußten, daß die Zeit für eine neue „Nachrüstung“ mit Mittelstreckenraketen reif ist. Undiplomatisch tritt der Mann mit seinen starken Sprüchen auf – und das ist im Grunde schon der ganze Unterschied zu ehrenwerten Führern, die für ihre Nation nur das Beste wollen. Vorgeworfen wird ihm das von Kennern des politischen Geschäfts, die erstens zu Protokoll geben, daß der Mann sich diese Offenheit noch leisten kann, weil er noch nicht an der Macht ist, und die zweitens nicht verhehlen können, daß sie vom politischen Talent dieses nationalistischen Wahlkämpfers durchaus beeindruckt sind.
„Schirinowski kam in Fernsehauftritten und mit professionellen Werbespots gut an, beeindruckte mit seinem Redetalent. Geschickt griff er die Sorgen der Bürger auf – die hohen Preise, den Zerfall des Familienverbunds, den Verfall von Ordnung und Sitten. Mal gibt er sich moderat, mal als radikaler Säuberer: Alle Kaukasier, Zentralasiaten und sonstige Nicht-Slawen raus aus Rußland, die Grenzen dicht machen, die Nachbarrepubliken wirtschaftlich in die Knie zwingen.“ (SZ 14.12.93)
Zugegeben, so reden anständige deutsche Politiker nicht daher. Wenn die „Ausländer raus und Grenzen dicht“ meinen, verweisen sie auf die „Gefährdung der deutschen Identität durch die Problematik der internationalen Flüchtlingsströme“. Und wenn sie daran gehen, Nachbar- und sonstige Republiken wirtschaftlich in die Knie zu zwingen, erinnern sie ganz zurückhaltend an deutsche Kreditlinien und reden ansonsten ganz allgemein über „die Notwendigkeit, den deutschen Wirtschaftsstandort gegen auswärtige Konkurrenz zu sichern“. Kohl und Co halten Reden über die „weltweit gewachsene deutsche Verantwortung“, Schirinowski sagt schlicht und einfach: „Rußland vor!“. Der Mann redet halt eher wie Heitmann und nicht wie Weizsäcker[3] – abgesehen von dem allerdings entscheidenden Unterschied, daß sie sich für verschiedene Nationen engagieren
Es stimmt also durchaus: Schirinowski ist zweifellos gefährlich – so verrückt und gefährlich wie alle nationalen Führer, die Großes mit ihrer Nation im Schilde führen. Eben deshalb gibt es ja so viele Parallelen zu hochangesehenen demokratischen Politikern; und deshalb können auch verantwortungsbewußte deutsche Journalisten ein gewisses Verständnis für seine Positionen nicht verbergen. Denen ist die Sorge um die Stärke der eigenen Nation nämlich so selbstverständlich, daß sie einen gefährlichen Nationalismus am leichtesten im Ausland dingfest machen – dessen Gedankenwelt aber problemlos nachvollziehen können, weil sie mit umgekehrten nationalen Vorzeichen genauso ticken.
Um trotzdem die erschreckende Abartigkeit Schirinowskis zu demonstrieren, zieht die deutsche Öffentlichkeit deswegen alle Register ihrer jahrelang bewährten Feindbildpflege. Alle öffentlich anerkannten Bösewichter der Weltgeschichte – Hitler, Stalin, der KGB, Saddam Hussein – werden zitiert, um den Mann zu charakterisieren. Politische Bösewichter, für die in der öffentlichen Moral längst durchgesetzt ist, daß sich jeder Vergleich mit patriotisch gesinnten demokratischen Politikern verbietet. Kein Journalist hält die Bösartigkeit von Schirinowski für hinreichend gekennzeichnet, wenn er ihn als Rassisten vorstellt – was auch kein Wunder ist in einem Land, in dem der jetzige bayerische Ministerpräsident schon vor Jahren vor einer „durchmischten und durchraßten Gesellschaft“ gewarnt hat. Erst mit dem Vorwurf des Antisemitismus ist – streng nach der Logik der deutschen Nachkriegs-Ideologie – die Scheidelinie klar zwischen irgendwie verständlicher Abneigung gegen alles Fremdartige und dem unerklärbaren Bösen schlechthin. Nicht nur für blonde Russen ist Schirinowski also, sondern gegen Juden – und dazu paßt für die deutsche Öffentlichkeit die „Hintergrundinformation“, daß der Mann selber einen „Vater jüdischer Herkunft“ (Spiegel 10.1.94) hatte:
„Sein Vater ist Jude, er ist Antisemit, redet nur von seiner russischen Mutter.“ (Bild 14.12.93)
Offensichtlich halten tolerante bürgerliche Köpfe den Hinweis „Selber Jude!“ immer noch für die schlagendste Zurückweisung des Antisemitismus. Und Hitler soll ja auch kein Arier gewesen sein. Wenn die Öffentlichkeit schon mal beim Vergleichen ist, dann findet sie bezeichnende Parallelen, wo sie auch hinsieht:
„Hitler sieht Schirinowski wegen dessen politischer Fehlleistungen nicht als Vorbild. (Womit er sich doch wohl in bester Gesellschaft von deutschen Historikern befindet, die Hitler schon längst als strategische Null entlarvt haben.) Aber ein wenig ähnelt sich vielleicht die psychologische Ausgangslage der beiden: Wie Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“ beschreibt sich Schirinowski in seiner Biographie als einsamen, kontaktscheuen jungen Mann, der Probleme mit dem anderen Geschlecht hatte und so die Politik zu seiner Leidenschaft machte.“ (SZ 14.1293)
Man mag ja gar nicht die Frage aufwerfen, wer nicht alles in seiner Jugend „Probleme mit dem anderen Geschlecht“ hatte. Schon deshalb nicht, weil die Süddeutsche Zeitung mit dieser interessanten Feststellung selbstverständlich nicht behaupten wollte, daß Helmut Kohl deshalb so ein unerschütterlicher Demokrat ist, weil er schon seit frühester Jugend sexmäßig voll auf seine Kosten kam. Sie wollte ja mal nur darauf hinweisen, daß sich zwei Politiker „vielleicht ein wenig ähneln“, von denen sowieso fraglos festzustehen hat, daß sie nur nach den Kriterien der Psychopathologie zu beurteilen sind.
Die Bild-Zeitung ist nach demselben Strickmuster auf ähnlich entlarvende Parallelen gestoßen:
„Er trinkt – im Gegensatz zu russischer Gepflogenheit – nur bei festlichen Gelegenheiten Alkohol, und auch dann sehr maßvoll. – Auch Hitler war Antialkoholiker.“ (Bild 19.12.93)
Am 23.12. dann in der gleichen Bild-Zeitung folgende Entlarvung:
„Schirinowski lallte. Er konnte kaum noch gerade gehen. Offensichtlich war er beschwipst, als man ihn zum Mercedes seines Kärntner Freundes und Gastgebers führte.“
Und weiter:
„Der „Russen-Hitler“ kam mit 3 dunkelhaarigen „Beraterinnen“ (rote Lippen, Tiger-Minis, enge Dekolletes). Geschützt von 7 Leibwächtern („meine Berater“): Goldketten, wuchtige Ringe.“
Am 10.1.94 setzt Bild noch eins drauf: Eine österreichische Bardame berichtet exklusiv und in Fortsetzungen:
„Ich war seine Sex-Sklavin.“
Was ist den besorgten Bild-Redakteuren denn nun lieber: ein „nach russischer Gepflogenheit“ besoffener Schirinowski oder ein stocknüchterner „Russen-Hitler“? Und soll man jetzt Goldketten und Ringe der Leibwächter von Clinton oder Kohl zählen oder die alte Geschichte von Franz-Josef Strauß im New Yorker Puff aufwärmen? Wäre der Bild-Zeitung damit gedient, wenn sich Schirinowski statt mit Frauen in „Tiger-Minis“ mit knackigen Burschen umgeben würde, oder gar wenn er nur „die Politik zu seiner Leidenschaft macht“?
Klar, das ist alles typisch Bild-Zeitung, nichts für Intellektuelle. Folgendes dagegen ist typisch Spiegel:
„Der Mann, der seine Landsleute aufstörte und die Nachbarn in Nato-Deckung treibt, hielt vergangene Woche in seiner schäbigen Moskauer Parteizentrale hof, als berühre ihn die internationale Aufregung nicht… Wladimir Schirinowski ist der Pudding, den niemand an die Wand nageln wird. Seine Sätze sprudeln wie Sturzbäche, mal verhalten, mal drohend, meistens auf Schockwirkung bedacht, von beflissenen Gehilfen mühsam in Drei-Minuten-Portionen für die ausländischen TV-Teams zerteilt, die dafür bereitwillig hundert Dollar bezahlen. Eine Sekretärin trägt die Deviseneinnahmen in ihre Kladde ein, stellt Quittungen aus: Kleinbürgermief durchzieht das Hospiz zur nationalen Hoffnung in Moskaus Rybnikow-Gasse. Die Spießigkeit ist so wohlinszeniert wie alles übrige Treiben des Wladimir Wolfowitsch.“ (Spiegel 10.1.94)
Wie wär’s denn hier recht gewesen: Der Mann residiert in einer luxuriösen Parteizentrale; die Sekretärin bedient einen supermodernen Computer; auf die bei solchen Gelegenheit sonst üblichen Deviseneinnahmen von der internationalen Pressemafia wird großzügig verzichtet – Publicity ist Lohn genug; Schirinowski redet nur wie ein Wasserfall (bzw. nur sehr verhalten)? Wetten, daß dann jeder Spiegel-Reporter den „Kleinbürgermief aus allen Ritzen der wohlinszenierten weltläufigen Professionalität“ hätte ziehen sehen? Es gehört zu den leichtesten Übungen der freien pluralistischen Öffentlichkeit, bei feststehendem Feind das nötige Material für seine Bebilderung zu (er)finden.
Mit dieser Übung ist der „Russen-Hitler“ bzw. „der Hetzer“ (Spiegel) Schirinowski für die deutsche Öffentlichkeit erschöpfend auf den Begriff gebracht. Sie kann sich jetzt der spannenden Frage widmen, was mit dem Rest der Russen los ist.
Wie erklärt man sich den Wahlerfolg des Bösen?
Die Ursachenforschung über das demokratische Versagen des russischen Volks, zu der die bekannten Rußland-Experten am Tag nach der Wahl angetreten sind, bringt durchaus Verständnis auf für das Volk. Die Rußland-Kenner der deutschen Öffentlichkeit hatten zwar bis zur Wahl schwer auf einen Erfolg der „Reform-Parteien“ gesetzt, nach der Wahl kann ihnen aber über den Volkscharakter keiner mehr was vormachen:
„Der Verfall des Lebensstandards, Arbeitslosigkeit und Angst um die Arbeitsplätze, der Verlust der Sicherheit und der sozialen Stellung haben ihm (Schirinowski) und seinem Parteiapparat die Chance gegeben, eine Menge russischer Wähler emotionell anzusprechen.“ (Gerd Ruge, AZ 16.12.93)
Den falschen Schluß von persönlichem Elend auf die Forderung nach einem starken Staat beherrschen offensichtlich nicht nur die russischen Wähler, die sich mit einem Wahlkreuz für Schrinowski eine „starke Hand“ bestellen. Auch Leute wie Gerd Ruge können diesen Wunsch durchaus nachvollziehen, genauer: nachempfinden, wenn sie ihn auch, was Rußland betrifft, nicht billigen können. Massenarbeitslosigkeit und „Chance für emotionelle Ansprache“ sind für Ruge unmittelbar dasselbe. Er braucht nicht den Hauch eines Zwischenarguments, um die eigenartige Gefühlswelt näher zu bestimmen, die sich da durch Massenelend antörnen läßt. Eine entsprechende Nachfrage käme ihm (und seinen Lesern) höchstwahrscheinlich zutiefst abwegig vor. Daß der Standpunkt der Nation, deren Gewalt man unterworfen ist, sich ins eigene Gefühlsleben einprägt, halten zivilisierte Menschen des 20. Jahrhunderts nämlich für eine Grundkonstante der menschlichen Psyche. Sie selber sind es schließlich gewöhnt, aus tiefstem Herzen „deutsch zu denken und zu fühlen“. Die Übersetzung von persönlichem Elend in verletzten Nationalstolz halten Ruge und seinesgleichen deshalb nicht für einen erklärenswerten und kritikablen Fehlschluß von Nationalisten, sondern für einen natürlichen menschlichen Implus. Ein Impuls, der allerdings – bei allem Verständnis –, sobald einem seine Resultate nicht passen, auch als äußerst bedenklich eingeschätzt wird. Sobald im In- oder Ausland die – aus maßgeblicher deutscher Sicht – falschen Führerpersönlichkeiten das gesunde Volksempfinden mobilisieren, lautet die Diagnose: „Volksverführung“ bzw. „Volksverhetzung“.[4]
Angesichts der feststehenden Diagnose, daß es sich bei Schirinowski um einen solchen gefährlichen Volksverhetzer handelt, werden hiesige Kommentatoren bei ihrer radikalen Ursachenforschung beinahe selbstkritisch und kommen zu erstaunlichen Erkenntnissen über ihre objektive Berichterstattung von gestern:
„Präsident Jelzin, der sich mit einem Kommentar zur Wahl vierzehn Tage Zeit ließ, sprach von einem ‚Votum gegen die Armut‘ und kündigte eine Kehrtwende in seiner Wirtschaftspolitik an… Für diese Wende ist es höchste Zeit. Denn diese Armen – inzwischen bereits die Mehrheit der Bevölkerung – gibt es nicht erst seit dem Wahltag – nur daß man sie vorher schlicht übersehen hatte. Denn sie paßten nicht ins westliche Wunschbild, sie störten die Fiktion namens ‚Reform‘, an der man sich berauschte. In diesem Traumbild gab es eine tapfere Reformermannschaft mit einem mutigen Reformpräsidenten, die gegen die Widerstände reformfeindlicher Altkommunisten ungebrochen versuchen, in Übereinstimmung mit den Wünschen des reformwilligen Volkes demokratische und marktwirtschaftliche Reformen voranzutreiben. Für die Menschen zwischen Smolensk und Wladiwostok ist der Begriff Reform jedoch schon längst zu einer bedeutungslosen Worthülse verkommen, ähnlich den Slogans der kommunistischen Vergangenheit. Ob ‚leuchtende Zukunft des Sozialismus‘, ‚Perestrojka‘ oder ‚Reform‘ – in die russische Alltagssprache übersetzt, bedeuteten sie immer dasselbe: Elend, Armut, Entbehrungen. Westeuropäer und Amerikaner übersahen indes geflissentlich die sozialen Folgen der Jelzinschen Reformpolitik und forderten die Menschen in Rußland unbekümmert auf, sich doch nicht so zu haben wegen der paar notwendigen, unumgänglichen Einschränkungen, die der Übergang zum Markt zwangsläufig mit sich bringe… Am sorgsam gepflegten Selbstbetrug vom unaufhaltsamen Fortschritt des Reformprozesses wirkten oft genug auch die Massenmedien mit. Gerne wurde die schöne neue Welt in Rußland gezeigt: Modeschauen, Mercedes-Eigner und Millionäre. Daß mittlerweile viele Menschen in Moskaus Mietskasernen Hühner im Treppenhaus halten, um überhaupt noch Eier essen zu können, daß in der russischen Provinz schon vor Wochen Warnrufe über das Erstarken der Schirinowski-Partei ertönten, daß unter den Demonstranten, die am 3. Oktober zum Fernsehzentrum Ostankino zogen, nicht nur ‚rotbraune Faschisten‘, sondern auch verarmte Moskauer Arbeiter waren – all dies wurde nicht zur Kenntnis genommen.“ (Wolfgang Koydl, SZ 27.12.93)
Herr Koydl hat es also schon lange gewußt, daß die Sprachregelungen von den „mutigen Reformern“ und den „Bremsern“ ein verlogenes westliches Wunschbild waren. Es bleibt sein Geheimnis, warum man dann in all seinen Kommentaren, die er vor der russischen Wahl für die Süddeutsche Zeitung verfaßt hat, von diesem Insider-Wissen so herzlich wenig gemerkt hat.[5] Daß er selber nichts anderes getrieben hat, als „am sorgsam gepflegten Selbstbetrug“ der Öffentlichkeit mitzustricken, diesen verwegenen Gedanken mag der Mann wahrscheinlich noch nicht einmal denken, geschweige denn aufschreiben. Er hält es ja auch heute noch nicht für einen Widerspruch, einerseits zu Protokoll zu geben, daß die überwiegende Mehrheit der Russen durch die Reformen verelendet wurde, also wesentlich schlechter dran ist als zu Zeiten des Sozialismus; und andererseits das alte westliche Feindbild vom Elend unter der sozialistischen Planwirtschaft zu bemühen. Am Ende lautet dann die Botschaft, was „Elend, Armut und Entbehrungen“ betrifft, sei für das russische Volk alles „immer dasselbe“ geblieben.
Verständnis für ein „verarmtes, verführtes Volk“ wird also ausführlich geäußert, hat dann aber auch mal wieder aufzuhören, und vor allem muß es richtig einsortiert werden. Die Rußland-Experten der FAZ haben da von Anfang an klar gesehen:
„Der Westen könnte Orientierungshilfe leisten, indem er klipp und klar sagt, wo die Grenze zwischen berechtigten Interessen Rußlands und der Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates verläuft. Die Wirtschaftspolitik bedarf einiger Korrekturen. Die Verarmung eines großen Teils der Bevölkerung ist auch politisch brisant. Aber es wäre fatal, wenn die Regierung unter dem Druck der neuen Verhältnisse das Fernziel finanzieller Stabilität aufgäbe.“ (Horst Bacia, FAZ 17.12.93)
Eine gelungene faz-mäßige Kurzdefinition der Bedingungen, unter denen der Westen weiterhin bereit ist, auf den „Reformprozeß“ in Rußland zu setzen: Der Westen mischt sich in Rußland weiter „klipp und klar“ ein, um selbstlos Nachhilfe zu geben über den Unterschied zwischen „Orientierungshilfe“ und „Einmischung in innere Angelegenheiten“. Daneben hat die Wirtschaftspolitik in Rußland weiterzugehen wie bisher, auch wenn niemand weiß, wie „das Fernziel einer finanziellen Stabilität“ in Rußland damit zu erreichen wäre, ganz zu schweigen von einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Falls sich gegen dieses Programm in Rußland Widerstand regt, handelt es sich – im Unterschied zur nicht weiter störenden stinknormalen Armut – um „politisch brisante Armut“. Auf die muß die russische Regierung ein Auge haben, darf ihr aber auf keinen Fall nachgeben. Alles andere wäre nämlich „fatal“ – für wen und warum? Das muß für das FAZ-Publikum gar nicht weiter erläutert werden.
Die Verarmung der russischen Massen ist eine Sache, daneben kennen die westlichen Ursachenforscher noch ein weiteres besorgniserregendes Stimmenpotential für Schirinowski:
„Der verletzte Nationalstolz der Offiziere und das Gefühl, daß Rußland seine Rolle als Großmacht verliert, ist ein anderer Faktor in Schirinowskis Rechnung.“ (Gerd Ruge, AZ 16.12.93)
Auch in diese Abteilung enttäuschter Nationalisten kann Ruge sich noch hineinfühlen. Sein nationales Sensorium ist sensibel genug, auch noch den drohenden Machtverlust einer Atommacht als „Gefühlsfrage“ zu erspüren. Für die überwiegende Mehrheit der hiesigen Kommentatoren hört bei der russischen Armee allerdings jede verständnisvolle Gefühlsduselei auf. Sie neigen eher zu der besorgten Frage, ob nicht eigentlich das Militär als wirkliche russische Gefahr „hinter Schirinowski lauert“:
„Hinter Schirinowski erkennt man als den anderen steinernen Gast die politisierte russische Armee. Sie handelt noch nicht aktiv. Sie könnte es aber tun. Von ihrem Auftritt trennt sie vielleicht nur ein Herzschlag. Sollte Jelzin amtsunfähig werden, träte verfassungsgemäß Premier Viktor Tschernormyrdin die Nachfolge an, der von der Mehrheit im Parlament weit entfernt ist und keine Abstimmung überstehen würde. Ehe die Duma aber einen Schirinowski oder seinesgleichen zum Premier wählt, werden die Militärs den überzeugenden Argumenten aus dem Hause Kalaschnikow Nachdruck geben; ungehindert, da die doppelte Kontrolle durch Parteioffiziere und Geheimdienst-Gegenmacht ja abgeschafft ist. Was das alles für das nähere und fernere Ausland bedeuteten würde, ist in der Militärdoktrin nachzulesen.“ (Karl Grobe, FR 29.12.93)
Ein Sittengemälde wie zu Zeiten der guten alten „Kreml-Astrologie“: Bei der Armee laufen alle (geheimen) Fäden zusammen. Sie lauert auf einen Putsch – und niemand kann sie hindern! Denn – man traut seinen Augen nicht – Karl Grobe von der Frankfurter Rundschau muß bedauernd feststellen, daß die alten kommunistischen Parteioffiziere und der KGB abgeschafft worden sind! Und was macht die Armee, nachdem sie „mit der Kalaschnikow argumentiert“ hat? Sie geht mit ihrer neuen Militärdoktrin auf den Rest der Welt los.
Und wer hat diese verwerfliche Militärdoktrin neulich verkündet? Das war der Jelzin! Womit die besorgte Öffentlichkeit bei der nächsten großen (kaum noch) offenen Frage ist:
Wieviel von Rußland wird unter das neue Feindbild subsumiert?
Eines stand schnell fest: Der strahlende Held Jelzin hat ausgestrahlt. Die Episode, in der jeder westliche Kommentator mindestens einen zutiefst demokratischen Russen gekannt haben will, ist vorbei. Jelzin ist mit der russischen Wahl schlagartig zur fragwürdigen Figur geworden. Die Frage besteht eigentlich nur noch darin, ob die Öffentlichkeit noch eher zurückhaltend auf „Schwäche“ ihres ehemaligen Lieblings-Russen plädiert; oder ob sie schon mehr zur Diagnose „Bösartigkeit“ tendiert; oder ob sie sich für eine Kombination aus beidem entscheidet.
Die Bild-Zeitung erinnert zum x-ten Mal an die negativen gesundheitlichen Folgen des Alkoholismus:
„Jelzin todkrank – kommt jetzt der Russenhitler? Tiefe Sorge um Boris Jelzin… Die furchtbare Diagnose: Jelzin leidet angeblich an einer Schrumpfleber… Leberschrumpfung ist Folge von Medikamenten- oder Alkoholmißbrauch.“ (Bild 6.1.94)
„Jelzin (wirkt) eher wie ein tapsiger Bär… fahrig und ratlos… ihm fehlt es offenbar an einem klaren politischen Konzept.“ (HNA 23.12.93)
Schirinowski ist er jedenfalls nicht gewachsen:
„… taktische und psychologische Kleinarbeit war niemals die Stärke Jelzins. Er ist eher ein Mann, der in Krisensituationen mit starken Nerven einen Durchbruch erzwingt, sich aber der alltäglichen Malaise durch Abtauchen zu entziehen beliebt.“ (Gerd Ruge, AZ 16.12.93)
Ein eher plumper Dummdödel also, der allerdings gerade dadurch den ein oder anderen „Durchbruch“ erkämpft hat, der ganz im Sinne des Westens war – das ist das derzeit noch zuvorkommendste Urteil über den „demokratischen Helden“ von gestern.
Der Spiegel hatte zwar auch bis neulich noch den „Mann mit den starken Nerven“ für „unseren Mann“ in Rußland gehalten, tendiert jetzt aber eher zu „Dummdödel“ pur:
„Boris Jelzin verfügt über kaum mehr als eine blasse Vorstellung von dem, was im Lande gärt und zur Wut wird. Wie der Eigentümer eines baufälligen Hauses reagiert er auf Kurzschlüsse, indem er die Sicherungen überbrückt.“ (Spiegel 27.12.93)
Und wenn sich die westlichen Sachverständigen in der restlichen Reformermannschaft umschauen, dann müssen sie leider auch feststellen, daß sie da bisher auf ziemliche Flaschen gesetzt haben:
„Zu den gefahrenträchtigsten Konsequenzen dieser Wahl gehört, daß ganz allein Jelzin der Garant einer demokratischen und reformorientierten Entwicklung in Rußland bleibt… Die Demokraten und Reformer sind im Parlament in der Minderheit und dazu noch untereinander zerstritten… Bislang zeigt sich auch kein Politiker mit dem notwendigen Charisma, der die Führung übernehmen könnte, wenn Jelzin, ein von den letzten zwei schweren Jahren gezeichneter Mann, eines Tages aufhören muß.“ (Horst Bacia, FAZ 17.12.93)
Der FAZ-Korrespondent entwickelt vor lauter Trauer um sein altes Ideal vom „starken Mann in Moskau“ unfreiwillig komische Seiten. Der Ausgangspunkt für sein Gejammer: Die russischen Wähler haben sich gerade für einen „Politiker mit dem notwendigen – den Russen zumindest hat es genügt – Charisma“ entschieden, vor dessen Willen, „die Führung zu überzunehmen“, es den Mann von der FAZ graust. Das läßt ihn nur um so erbitterter eine „russische Führerpersönlichkeit“ mit dem wirklich „notwendigen (= FAZ-gefälligen) Charisma“ vermissen. Solche intellektuellen Glanzleistungen ergeben sich nunmal als Nebenwirkung aus der Generallinie, nach der die eigenen Ansprüche an den russischen Staat immer als Sorge um die dortige Entwicklung von Land und Leuten vorgebracht werden.
Es kann festgehalten werden: Die Reformer um Jelzin haben charismamäßig ziemlich versagt. Trostlose Gestalten sind sie bei Lichte betrachtet, diese ehemaligen „Hoffnungsträger der Reformen“:
„An ihrem Debakel sind sie selber schuld. Zersplittert in vier Parteien, die sich programmatisch wenig voneinander unterscheiden, gruben sie sich gegenseitig das Wasser ab… Ihre Spitzenkandidaten Gajdar, Jawlinskij, Schachraj und Sobtschak haben mit ihrem Egoismus nicht nur sich selbst geschadet, sondern auch dem ganzen Land.“ (Thomas Urban, SZ 17.12.93)
Widerliche Karrieristen, die noch dazu von Tuten und Blasen keine Ahnung haben.
„Daß Gajdar mit den Sorgen des normalen Bürgers wenig gemein hat, bestätigte er auch als Vizepremier und Wirtschaftsminister, der offenbar Brot- und Milchläden nicht von innen kennt, wo die russischen Bürger tagtäglich angstvoll auf die Preisschilder schauen.“ (Miriam Neubert, SZ 14.12.93)
Außerdem zeigen sie gefährliche Tendenzen zu falschen Koalitionen – zu welchen auch immer:
„‚Kampf dem Faschismus‘ lautet Gajdars Parole. Und den will er, der bisherige Radikalreformer, notfalls gemeinsam mit den Kommunisten führen. Den Teufel mit Beelzebub austreiben? Rußlands Reformer sehen schweren Zeiten entgegen.“ (FAZ 16.12.93)
„Fraktionen pokern vor der ersten Duma-Sitzung um Einfluß. Vorgespräche zeigen Interessensnähe zwischen Rechtsextremisten und Reformern aus dem Regierungsblock.“ (FR 5.1.94)
Wo die Öffentlichkeit auch hinschaut, sie kann einfach keine neuen „Hoffnungsträger“ entdecken – also wieder zurück zur Beurteilung Jelzins. Hier zeichnet sich ein immer düstereres Bild ab. Die versammelte Öffentlichkeit nimmt enttäuscht und verbittert die an sich nicht erstaunliche Tatsache zur Kenntnis, daß der Präsident der Russen selber ein russischer Nationalist ist. Vorgeworfen wird ihm das einerseits als Charakterfehler:
„Schwankend zwischen Reformen dieser und jener Art, der Konfrontation mit den Ultra-Kräften ausweichend, erliegt die Jelzin-Equipe der nationalistischen Versuchung… Es scheint, als dringe Schirinowski schon auf den Beifahrersitz.“ (Karl Grobe, FR 20.1.94)
Entsetzliche Rückfälle ins „alte Denken“ müssen registriert werden:
„Er (Jelzin) verlangt Waffenexport, vordergründig um der Arbeitsplätze willen. Angesichts des Umfangs, den der militärisch-industrielle Komplex angenommen hat, ist das durchaus ein Argument. Jelzin hat, um weiterer Arbeitslosigkeit zu wehren, einer Reihe Staatsbetriebe ausgiebige Kredite zugesagt… Das Manöver wird flankiert durch Zusagen, die sozialen Lasten der Privatisierung – die Verarmung der Arbeitenden – zu mildern. Das knüpft an Sehnsüchte nach Privilegien an, wie sie im verklärten Bild des alten Sowjetstaates kräftig gezeichnet sind. Nur ist dieses Bild ebenfalls die Bauzeichnung einer Sackgasse.“ (Karl Grobe, a.a.O.)
Vor lauter Empörung verheddert sich der Mann in seinen eigenen Vorwürfen. Was ist jetzt das Verwerfliche: Daß das Argument mit den Arbeitsplätzen nur „vordergründig“ ist? Oder daß bloß zur Vermeidung weiterer Arbeitslosigkeit „unrentable Staatsbetriebe“ erhalten werden? Ist es schlimm, daß die „Verarmung der Arbeitenden gemildert“ werden soll, weil es sich dabei um die „Anknüpfung“ an menschenverachtende Privilegien des Sowjetregimes handelt? Oder hat es solche „Privilegien“ überhaupt nie wirklich gegeben, sondern nur im „verklärten“ Propaganda-Bild? Oder ist das alles gut gemeint, aber eine Sackgasse – wie schon der alte Sowjetstaat…? Aber mag auch die Logik der Argumente ein wenig durcheinandergehen – der Redakteur der FR ist dagegen, daß Rußland durch Waffenexporte Einfluß gewinnt; die Botschaft ist deutlich.
Wo solche „Rückfälle in die alte Denkweise“ konstatiert werden, drängt sich den fachmännischen Beobachtern andererseits ganz zwanglos die Frage auf, ob Jelzin nicht schon längst ganz aus eigener Bösartigkeit auf dem Weg zum „neuen alten Rußland“ ist:
„Das neue alte Rußland… Schon lange vor dem Wahlgang hat sich Jelzin in die nationale Richtung bewegt und sich damit die Unterstützung des Militärs beim Oktobersturm gesichert. Interventionsrechte in ehemaligen Sowjetrepubliken, Widerstand gegen eine NATO-Erweiterung, neue Aktivitäten auf dem Rüstungsmarkt und in der dritten Welt: Das sind nur einige der Angebote Jelzins an Militär und Nationalisten. Selbst in den Wahlprogrammen der Reformer war von Drosselung des Reformtempos, von Austerity die Rede. Der neue Trend war schon auf dem Wege, und er heißt, Rußland besinnt sich auf seine eigenen Kräfte und Interessen. Unter diesem Dach kann es zu einem breiten Konsens in Moskau kommen. Das neue Rußland wird nicht bequemer sein als frühere Ausgaben.“ (Josef Riedmiller, SZ 14.12.93)
Eine schöne Klarstellung, wie sämtliche westlichen Sprachregelungen gemeint waren, die die jetzt zu Ende gehende „Reformära“ begleitet haben. Hatte es nicht Jahre lang geheißen, der Westen könne Rußland nur „Hilfe zur Selbsthilfe“ geben, das Land müsse sich wirtschaftlich „auf die eigenen Beine stellen“, weil alles andere darauf hinausliefe, daß der Westen seine „Hilfe“ in ein „Faß ohne Boden“ schütten würde? Jetzt „besinnt sich Rußland auf seine eigenen Kräfte“ – und alle deutschen Nationalisten wissen schlagartig, daß ein erstarkter russischer Nationalismus für sie mindestens genau so „unbequem“ bis unerträglich ist wie der verblichene sowjetische Internationalismus.
Mit der Bildung des neuen russischen Kabinetts sieht die deutsche Öffentlichkeit sich in ihren Befürchtungen bestätigt:
„Moskau kehrt zur alten Linie zurück – Der russische Außenminister schreckt die Balten, der Premierminister bremst die Reformen.“ (SZ 22.1.94)
Die Sache mit der „Rückkehr zur alten Linie“ entspricht zwar nicht den Tatsachen. Keine politische Partei in Rußland will die alte sozialistische Planwirtschaft wieder einführen. Das behauptet auch keiner der hiesigen Kommentatoren ernsthaft. Die denken nur stur an ihrem alten Bild von den „Bremsern“ und den „Reformern“ weiter. Und weil ihnen die neue Linie der russischen Politik nicht paßt, ziehen sie den messerscharfen Schluß: Dafür können nur „die Bösen“ = „die Bremser“ = „die Ewiggestrigen“ verantwortlich sein.
Mit dem Ausscheiden Gajdars aus dem Kabinett wird er wieder mehr als verlorene „Galionsfigur der Reformer“ (Thomas Urban, SZ 27.1.94) betrauert. Die Vorwürfe von neulich – Egoisten, die an ihrem Debakel selber schuld sind – spielen keine Rolle mehr. Jetzt gilt es die neuen „Bremser“ dingfest zumachen. In der Innenpolitik deutet sich einiges Unheil an:
„Das Ausscheiden der beiden im Westen hochangesehenen und von Präsident Boris Jelzin gestützten jungen Ökonomen bedeutet einen Sieg für Viktor Tschernomyrdin, eines Vertreters des militärisch-industriellen Komplexes. Rußlands Premier will nicht mehr auf die vom Westen empfohlenen Maßnahmen zur Eindämmung der Inflation setzen, sondern vor allem die Staatsindustrie weiter unterstützen. Trotz gegenteiliger Behauptungen bedeutet dies einen entscheidenden Schwenk im Wirtschaftskurs. Diese Kursänderung muß nicht unausweichlich in eine Katastrophe münden. Zunächst dürfte sie sogar dazu führen, daß die am meisten vom jungen Kapitalismus gebeutelten Bevölkerungsgruppen in Form von gesteigerter Sozialhilfe Linderung ihres harten Alltags erfahren… Doch die Verschiebung der Gewichte zugunsten der Staatsindustrie dürfte nur die Eingliederung Rußlands in die Weltwirtschaft verzögern. Gleichzeitig droht bis zu einem gewissen Grade eine Rückkehr der Mängelwirtschaft mit den überwunden geglaubten sozialistischen Schlangen vor den Geschäften. Die Last trägt wieder der kleine Mann, der indes das Schlangestehen gelernt hat, in einer unüberschaubaren freien Wirtschaft aber unterzugehen droht.“ (Thomas Urban, SZ 27.1.94)
Entzückend, diese ausgewogene Warnung eines Experten. Fangen wir von hinten an: Der kleine Mann ist natürlich mal wieder der Dumme: Er hat nichts gelernt als Schlangestehen in diesem vergeigten Sowjetsystem. Kein Wunder, daß er „in einer freien Wirtschaft“ untergeht, in der es nichts gibt, wofür man sich in einer Schlange anstellen könnte, bzw. das, was es gibt, unerschwinglich ist. Kein Wunder auch, daß die „überwunden geglaubten“ menschenverachtenden Schlangen wieder da sind, sobald die Staatsbetriebe in die Lage versetzt werden, die Versorgung der Bevölkerung mit – höchstwahrscheinlich „militärisch-industriellen“ – Lebensmitteln halbwegs sicherzustellen. Aber wie Urban den Laden und den russischen „kleinen Mann“ kennt, wird der sich – er hat ja eben nichts anderes gelernt – mit dieser „Mängelwirtschaft“ mal wieder abfinden. Sie wahrscheinlich sogar als „Linderung seines harten Alltags“ begrüßen, ohne sich im geringsten – nichts anderes gelernt – darüber klar zu sein, was er damit „dem jungen Kapitalismus“ antut, der ihn „beutelt“. Dem wird dadurch nämlich seine „Eingliederung in den Weltmarkt“ verbaut. (Wo sich doch alle Weltwirtschaftsmächte schon so auf eine fetzige Konkurrenz durch russische Billigimporte gefreut hatten!) Und wer ist mal wieder der Dumme? Der „kleine Mann“ in Rußland – siehe oben!
Die neue Außenpolitik Rußlands verspricht noch viel größeres Unheil:
„Noch sind die Freundschaftsbekenntnisse, mit denen sich der amerikanische Präsident Bill Clinton und sein russischer Gastgeber Boris Jelzin vor einer Woche gegenseitig erfreut haben, nicht richtig verklungen, und schon hängt der Haussegen zwischen Washington und Moskau wieder schief… Der Regierungschef (Tschernomyrdin) drückte eine Riege von Gesinnungsgenossen aus dem militärindustriellen Komplex in Schlüsselpositionen…[6] Die sich bereits seit Monaten abzeichnende neue außenpolitische Linie wäre letztlich nur das Gegenstück zum Schwenk in der Wirtschaftspolitik, den Tschernomyrdin bereits vor geraumer Zeit eingeleitet hat – lange vor dem Wahlerfolg des Ultranationalisten Wladimir Schirinowski… Jedenfalls ist nicht von der Hand zu weisen, daß Kosyrew auf die Linie von Verteidigungsminister Pawel Gratschow eingeschwenkt ist… Auch der General bemühte schon lange vor dem Auftauchen Schirinowskis das Wort von den ‚russischen Interessenssphären‘, so wie er gemeinsam mit Kosyrew im Sommer jegliche Versuche des Westens und der Ukraine, sich miteinander zu arrangieren, als ‚Störung des strategischen Gleichgewichts‘ bezeichnete. Diese Begriffe belegen nach Einschätzung westlicher Sicherheitsexperten, daß die russische Führung noch lange nicht vom Blockdenken Abschied genommen hat. Die Angst vor ‚unfreundlich gesinnten Kräften‘ oder einem ‚Ungleichgewicht‘ setzt nämlich schlicht voraus, daß nach wie vor zwei Blöcke gegeneinanderstehen, allen Freundschaftsbeteuerungen der Präsidenten zum Trotz. In Riga, Wilna und Tallinn hat man eine klare Antwort auf die Frage, wen Moskau als unfreundlich gesinnt empfinden könnte: die NATO.“ (Thomas Urban, SZ 22.1.94)
In Riga, Wilna und Tallinn mußte man also Umfragen starten, um endlich zu erfahren, von wem oder was sich die Russen bedroht fühlen könnten – sehr witzig. Überaus gelungen auch die ganz neutrale Ableitung des typisch „ewiggestrigen Blockdenkens“ der Russen mittels Sprachanalyse. Nur dürften sich „westliche Sicherheitsexperten“ dann eigentlich nicht übermäßig wundern, wenn die entsprechenden „russischen Sicherheitsexperten“ bei der Analyse der NATO-Verlautbarungen der letzten Jahre zu ähnlich betrüblichen Ergebnissen gekommen sind. Einmal ganz abgesehen von solchen Kleinigkeiten, daß die NATO den Warschauer Pakt nicht nur putzmunter überdauert hat, sondern jetzt auch in aller Freiheit darüber entscheidet, ob – und gegebenenfalls wann – sie die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in ihren ehrenwerten Verein voll eingliedert – mit einer Ausnahmen natürlich! Das hat alles überhaupt nichts mit „Blockdenken“ zu tun – so was fällt für kritische Journalisten unter verantwortungsbewußte „weltweite Sicherheitspolitik“. Und an der haben sie höchstens auszusetzen, daß sie angeblich viel zu viel Rücksicht auf das widerliche „Blockdenken“ der Russen nimmt und denen sogar eine „Veto-Recht“ bezüglich der NATO-Erweiterung zugesteht, statt unerschrocken die westliche Einflußsphäre auch durch einen festen militärischen Block bis an die Westgrenze Rußlands auszudehen:
„Wenn der Westen heute davor zurückscheut, sich einem schwachen Rußland zu widersetzen, wird er dann in ein paar Jahren bereit sein, einer wiedererstarkten Atommacht mit imperialen Gelüsten die Stirn zu bieten? Es wäre illusorisch zu glauben, man könnte Rußland ‚austricksen‘ und ein paar Länder sozusagen durch die Hintertür in die NATO schmuggeln – im entscheidenden Moment wird Rußland stets mit Nachdruck protestieren.“ (Erich Hauser, FR 14.1.94)
Wenn nicht „austricksen“, was eigentlich sonst?
Die freiheitliche pluralistische Presse scheint jedenfalls bereit zu sein, jede denkbare Feindschaftserklärung mit einem entsprechenden Feindbild zu untermauern. Dagegen ist die offizielle Politik derzeit fast zurückhaltend mit ihren Verlautbarungen. Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag hat „Kohl-Freund“ Jelzin und seinem Außenminister Kosyrew bisher „nur“ ganz zivil und ohne jeden drohenden Unterton vorgeworfen:
„… die drohenden Untertöne der beiden Politiker gegenüber den Nachbarstaaten seien latent imperialistisch. Lamers forderte den Westen zu einem klarem Wort an die Adresse Moskaus auf. … der Westen habe bewiesen, daß er Partner Rußlands sein wolle. Jetzt scheine es an der Zeit zu sein, zu zeigen, daß er auch Widerpart sein kann.“ (SZ 7.1.94)
Militante Stellungnahmen von offizieller Seite sind bisher noch die Ausnahme. Keine westliche Macht will – bis jetzt – Rußland offiziell die Feindschaft erklären. Das Feindbild nimmt diese Rücksichten nicht. Von der vorübergehenden Begeisterung über die Reformierbarkeit des russischen Volkscharakters bleibt die bittere Einsicht, daß der Typus des „Reform-Bremsers“ wohl doch ziemlich allgemeingültig ist. Immerhin: Dafür kann man heute leibhaftige russische Stimmen zitieren:
„Moskauer Soziologen haben dafür (für den Popularitätsverlust Jelzins) auch eine Erklärung. Die Russen verfügen traditionell über einen Hang zu Gleichmacherei und unterstützen deshalb begeistert jeden, der es mit den Mächtigen aufnimmt… Ein Teil der Massen jubelt dafür Schirinowski zu, der als ‚einfacher Mann aus dem Volke‘ den Präsidial-, den Regierungs- und den Parlamentsapparat das Fürchten lehren will.“ (Thomas Urban, SZ 18.1.94)
„Russen, nach eigenem Lebensgefühl ständig unterwegs, lieben jene, die gleich ihnen auf dem Wege sind – und sei es auch nach oben. Boris Jelzin hat den Bonus des Aufsteigers lange genossen: Sympathien für den Mann von unten, der zum Gipfel strebt, um den Mächtigen dort Angst und Beine zu machen. Aber sind die Hoffnungsträger von gestern am Ziel, werden sie für die dialektisch begabten Russen rasch hoffnungslose Fälle – dies oft durchaus zu Recht.“ (Spiegel 27.12.93)
Da sind sich die beiden Weltblätter ja mal wieder einig: Der Russe ist ein dialektischer Gleichmacher, traditionell immer auf Achse und weiß im Grunde nie, was er will. Wenn das schon „Moskauer Soziologen“ sagen, welcher deutsche Journalist wollte dem widersprechen? Und außerdem hat „der Russe“ null demokratische Tradition und braucht – schon wegen seinem Hang zur Gleichmacherei – eine starke Hand, die Knute und so… Neulich haben Rußland-Experten, der Süddeutschen Zeitung z.B., vor diesem klaren Russenbild zwar noch gewarnt: Man sollte diesem Volk nicht von vornherein die Fähigkeit zur Demokratie absprechen. Aber das war auch noch vor der ersten demokratischen Wahl in Rußland.
[1] Die in diesem Artikel verwandten Zitate stammen aus: Süddeutsche Zeitung (SZ), Der Spiegel, Bild-Zeitung, Abendzeitung München (AZ), Frankfurter Allgemeine (FAZ), Frankfurter Rundschau (FR), Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (HNA).
[2] Hierzu gibt der Artikel „Aufschlußreiche Bedenken von Demokraten gegen die beste aller Staatsformen“ in GegenStandpunkt 4-93, Seite 35, eine kleine Übersicht.
[3]
Internationalismus ist die Idee der Vermischung,
Nationalismus ist die Idee der Qualität. Nationalismus
sind die eigenen vier Wände statt der
Gemeinschaftswohnung oder des gemeinsamen Schlafsaals.
Wenn Sie in Ihrer eigenen Wohnung wohnen, so werden Sie
mit Vergnügen die Nachbarn besuchen und diese zu sich
einladen – einen gemeinsamen Tisch und eine gemeinsame
Toilette jedoch gibt es nicht mehr, und damit weniger
Streit und Schweinerei. Was folgt praktisch daraus?
Wenn wir anerkennen, daß wir einen eigenen
Nationalstaat aufbauen, mit einer nationalen Ideologie,
ohne jeglichen Eurasismus und Atlantismus, dann müssen
wir zuerst und vor allem die Grenzen dieses Staates
festlegen. Und die Grenzen sollten wir mit einem Schloß
verriegeln… Die Philosophie des National-Sozialismus
ist die eines Normalmenschen, eines Kleinbürgers, der
ruhig leben will, eine liebende Ehefrau, gesunde Kinder
und einen sicheren Arbeitsplatz haben möchte, der
sonntags im Gärtchen arbeitet und einmal im Jahr in
Urlaub fährt. Er will niemanden stören – aber auch
selbst nicht gestört werden. Er ist ganz und gar kein
Held, möchte nicht gefrorene Erde mit der Spitzhacke
aufbrechen und sich nicht im Namen irgendwelcher
Grundsätze vor Panzer werfen. Er verachtet Bettler und
ärgert sich ein bißchen über die ganz Reichen. Er
möchte sicher sein, daß seine Tochter nachts auf der
Straße nicht vergewaltigt wird und daß sein Sohn nicht
eine Flasche über den Schädel geschlagen bekommt. Er
ist absolut kein Fanatiker, er braucht nicht, wie
Hitler, einen Kult.
(Schirinowski, lt. Spiegel 10.1.94) Was
unterscheidet eigentlich solche Aussagen von denen des
Ex-Präsidentschaftskandidaten Heitmann, dem sich
angesichts der Ausländerdichte in westdeutschen
Großstädten die Frage aufdrängte, ob er überhaupt noch
in Deutschland sei; und der im Namen des
„Normalbürgers“ den Antrag, sich „multikulturell“ zu
den Fremden zu stellen, als quasi unnatürliche
Verordnung zurückgewiesen hat? Was unterscheiden sie
von den Stellungnahmen des CSU-Vorsitzenden zum
„Super-Wahlkampf 94“? Zum Abschluß einer Klausursitzung
des CSU-Vorstands in Wildbad Kreuth hat Waigel
angekündigt: Die CSU will in den Wahlkämpfen des
Jahres 94 auch das Ausländer- und Asylproblem in den
Mittelpunkt stellen. Zu den harten Themen, die
herausgearbeitet werden sollen, gehört auch die Frage
der nationalen Identität, die Angst vor
Überfremdung.
(SZ
6.12.93) Die Abgrenzung von „rechtsradikalen
Fanatikern und ihren Kultfiguren“ gelingt Heitmann und
Waigel auch ganz lässig. Beide haben erklärt, daß man
es doch nicht ihnen zur Last legen kann, wenn sich ihre
Ansichten zufällig mal mit denen von Rechtsradikalen
decken: Den Vorhalt, daß die CSU mit einer
besonderen Betonung der Ausländer- und Asylpolitik im
Wahlkampf Wasser auf die Mühlen der rechtsradikalen
Parteien schütte, wies Waigel zurück: ‚Wenn Herr
Schönhuber zufällig mal sagen sollte, daß zwei mal drei
sechs ist, kann ich nicht umhin, ihm zuzustimmen‘.
(SZ 6.12.93) Der
Unterschied zwischen Schirinowski und den Demokraten
Heitmann und Waigel liegt also auf der Hand:
Deutschlands Demokraten tragen ihre Position als
Vertretung der legitimen Ängste und Ansprüche des
„Normalbürgers“ vor; sie bauen sich auf als Anhänger
ihrer Anhänger. Schirinowski dagegen stellt sich auf,
sagt seinem Volk einfach, wo es lang zu gehen hat, –
und nennt den „Normalbürger“, auf den er sich dafür
beruft, als geschulter Klassentheoretiker
„Kleinbürger“.
[4] Wie verkehrt es ist, aus dem persönlichen Elend heraus auf die Stärke der Nation zu setzen, so als wäre die ein Lebensmittel, das fällt manchem Betrachter an anderen Staaten – wie z. B. jetzt an Rußland mit seinem Schirinowski – einerseits durchaus auf; daß von dessen Großmachtträumen niemand satt wird, will nämlich jeder wissen. Am eigenen Staat versteht sich die Gleichung dagegen von selbst. Da ist es jedem Staatsbürger und erst recht jedem Journalisten längst in Fleisch und Blut übergegangen, das eigene Wohlergehen als abhängige Variable vom Erfolg der Nation und ihrer Wirtschaft zu begreifen. Insofern verstehen sich Patrioten andererseits über die Ländergrenzen hinweg gerade in diesem Punkt auch wieder sehr gut. Wenn deutsche Kommentatoren die Gleichung: privates Elend = schwacher Staat / starker Staat = privater Wohlstand, für Rußland dennoch nicht gelten lassen, dann nicht, weil sie ausgerechnet an Rußland den Fehler des Nationalismus entdeckt hätten, sondern bloß, weil sie den russischen für gefährlich für Deutschland halten. Der falsche Rückschluß von rechtsextremer Gesinnung auf soziale Ursachen wird ausführlich erklärt und kritisiert in GegenStandpunkt 4-92, Seite 3: „Das offene Geheimnis des ‚Rechtstrends‘: Eine Nation macht mobil“.
[5] Vgl. hierzu GegenStandpunkt 4-93, S.35; „Das Letzte über Nutzen und Nachteil der Demokratie“.
[6] Bis neulich hat die freie Presse, wann immer sie über Jelzin berichtete, „demokratisch gewählt“ neben den Namen gestempelt. Jetzt haben sie einen ganz feinen neuen Stempel: „Tschernomyrdin – der Vertreter des militärindustriellen Komplexes“.