Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Julija Dolorosa: Der Fall Timoschenko – eine neue Runde im Kampf mächtiger Nachbarn um die Zu- und Unterordnung der Ukraine

Seit Julija Timoschenko verurteilt und inhaftiert ist, erlebt die Ukraine „Zeiten autoritärer Rückfälle“ (FAZ, 16.10.11). In Kiew herrscht „politische Justiz“: Die Gebote der freien und unabhängigen Rechtsprechung werden mit Füßen getreten. Der amtierende Staatschef herrscht als Autokrat, der seine politische Konkurrentin mit illegitimen Mitteln erledigen will und ihr auch noch medizinische Versorgung im Knast verweigert. In diesem Sinne sollen freie Bürger im Westen sich unter gebührender Anteilnahme ihr politisches Urteil über den Machtkampf bilden, der in der Ukraine tobt zwischen Julija Timoschenko, der in der „Revolution in Orange“ 2004 unter tatkräftiger Mithilfe des Westens an die Macht gekommenen, nunmehr abgewählten Regierungschefin, und Viktor Janukowitsch, dem neuen Machthaber. Merkel und Westerwelle, Barroso und Cameron lassen keine Gelegenheit aus, die flagrante Verletzung heiliger Rechtsnormen zu geißeln.

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Julija Dolorosa: Der Fall Timoschenko – eine neue Runde im Kampf mächtiger Nachbarn um die Zu- und Unterordnung der Ukraine

Seit Julija Timoschenko verurteilt und inhaftiert ist, erlebt die Ukraine Zeiten autoritärer Rückfälle (FAZ, 16.10.11). In Kiew herrscht politische Justiz: Die Gebote der freien und unabhängigen Rechtsprechung werden mit Füßen getreten. Der amtierende Staatschef herrscht als Autokrat, der seine politische Konkurrentin mit illegitimen Mitteln erledigen will und ihr auch noch medizinische Versorgung im Knast verweigert. In diesem Sinne sollen freie Bürger im Westen sich unter gebührender Anteilnahme ihr politisches Urteil über den Machtkampf bilden, der in der Ukraine tobt zwischen Julija Timoschenko, der in der Revolution in Orange 2004 unter tatkräftiger Mithilfe des Westens an die Macht gekommenen, nunmehr abgewählten Regierungschefin, und Viktor Janukowitsch, dem neuen Machthaber. Merkel und Westerwelle, Barroso und Cameron lassen keine Gelegenheit aus, die flagrante Verletzung heiliger Rechtsnormen zu geißeln.

Das kann schon deswegen keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes sein, weil die Ukraine selbst zu Europa gehören möchte und ihre Regierung sich deshalb zu Verpflichtungen bekannt hat, welche die EU aus diesem ukrainischen Interesse ableitet: Dass die Ukraine auf der Grundlage gemeinsamer Werte die Annäherung an die EU anstrebt, hat sie bei der Gründung der Östlichen Partnerschaft der EU im Mai 2009 ausdrücklich unterschrieben: Grundlage der Partnerschaft ist ein gemeinsames Engagement für die Völkerrechte, für Grundwerte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie für Marktwirtschaft, nachhaltige Entwicklung und gute Regierungsführung.[1] Und was gute oder schlechte Regierungsführung bei unseren Partnern ist, bestimmen immer noch wir! Es sind schließlich unsere Regeln, die da verletzt werden.

Die Intervention der EU

Unter dieser Perspektive betrachtet wird in Kiew derzeit nicht rechtsförmlich staatliche Macht über Land und Leute ausgeübt wie in anderen Staaten auch. Dem Präsidenten der Ukrainer soll es hauptsächlich um den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehen: Der Mann regiert genau andersherum, als wir uns das wünschen. Be- und Verurteilen fallen hier aufs Schönste zusammen, und das hilft sehr, das Wesentliche der ukrainischen Politik zu erkennen. Wenn Janukowitschs Partei der Regionen mit Hilfe von Überläufern die Regierung Timoschenko stürzt und mit ihrer so gewonnenen Mehrheit das Wahlrecht und die Strafprozessordnung ändert, also ihre staatspolitischen Interessen in die Form des Rechts gießt und nach kodifizierten Verfahren praktiziert, dann ist das aus der Warte der europäischen Rechtsposition nur eines: Unrecht.

Da nützt es nichts, dass auch in Kiew keiner ohne Berufung auf das passende Gesetz vom zuständigen Gericht verurteilt und eingesperrt wird und dass Anklagen wegen Amtsmissbrauch und Korruption auch in anerkannten Demokratien üblich sind: Der Fall Timoschenko ist ein klarer Beleg für Willkürjustiz im Auftrag des Präsidenten.

Die Beweise sind dementsprechend schlagend:

Die Anklage stützt sich auf einen Tatbestand nach geltendem ukrainischem Recht. Das ist schon deswegen haltlos, weil es diesen Tatbestand im EU-Recht nicht gibt. Als wäre das nicht entlarvend genug, stellt sich im Zuge von Nachforschungen auch noch heraus, dass der einschlägige Paragraph aus Sowjetzeiten stammt, in denen bekanntlich das Unrecht schlechthin regierte.

Damit ist die Untersuchungshaft selbstverständlich ein unverhältnismäßiger Übergriff eines Richters, der unmöglich unabhängig sein kann, und die Verurteilung zu sieben Jahren Haft – ein einziger Justizskandal. Und dann auch noch das: Das ukrainische Recht besteht darauf, dass kranke Strafgefangene zur Behandlung nicht ins Ausland reisen dürfen, ein klarer Fall von Verletzung des Menschenrechts Inhaftierter auf Behandlung durch deutsche Professoren in einer Berliner Uniklinik.

Zweifellos eine zwingende Argumentation, die der schlichten politischen Parteinahme des Westens für Timoschenko gegen die Herrschaftsinteressen von Janukowitsch höhere Dignität verleiht: Recht eigentlich liegt hier ein Kapitel des epischen Kampfes pro bono contra malum vor.

Damit diese Botschaft auch gemütsmäßig gut einleuchtet, wird die zwischenstaatliche Gewaltaffäre für die breite Öffentlichkeit hierzulande zu einer Angelegenheit aufbereitet, in der es pur um Menschlichkeit geht. Bei der mit viel Liebe inszenierten Opferfigur – eine zarte Frau mit unaushaltbaren Schmerzen schmachtet im Kerker – kann jeder, der ein Herz hat, gar nicht anders, als im Dringen auf Unterordnung der ukrainischen Staatsführung unter europäische Direktiven vor allem eines zu sehen: einen Dienst am Menschen. Den gehen die Kämpfer für das Humanum sehr prinzipiell an und auch ohne falsche Rücksicht darauf, ob das ihrem Schutzobjekt gut bekommt: Die EU verlangt unbedingt, dass Timoschenko von deutschen Ärzten behandelt werden kann, ist damit aber keineswegs zufrieden. Sie ist zu keinerlei Zugeständnissen bereit, wenn eine Gesetzesänderung, welche die Freilassung Timoschenkos zur Folge hätte, oder eine Begnadigung angeboten wird. Die Forderungen der EU sind nicht verhandelbar. Sie verlangt nicht weniger als die Freilassung und vollständige politische Rehabilitierung aller politischen Gefangenen, also eine umfassende Kapitulation: Janukowitsch soll praktisch anerkennen, dass seine Machtausübung illegitim und das Recht, das die EU verordnet, auch für die Ukraine bindend ist. Er soll den Versuch aufgeben, seine Macht dadurch zu konsolidieren, dass er seine inneren Feinde aus der Parteienkonkurrenz ausschließt: Die EU kündigt schon mal vorsorglich an, dass die nächsten Wahlen im Herbst nur dann als frei und fair anerkannt werden, wenn Timoschenko und alle ihre Kampfgefährten daran teilnehmen können.

Was da unter dem schönen Titel einer Bemühung um die Zivilisierung der politischen Sitten der Ukraine vorliegt, ist alles andere als ein über den Parteien stehendes, unparteiisches Schiedsrichterwesen, es ist ein brachialer, interessierter Eingriff in diesen Streit. Aus der Perspektive der Wacht über alles Gute und Schöne, was die europäischen Werte so gebieten, hätten den Chef-Demokraten nämlich schon zu Zeiten der Regentschaft von Timoschenko und ihrer Aktionen gegen Janukowitsch und der politischen Kriege zwischen Juschtschenko und Timoschenko einige Regelverstöße auffallen können, nämlich so ziemlich dieselben, mit denen sich jetzt Janukowitsch den Autokraten-Vorwurf einfängt. Damals waren freilich unsere orangenen Demokraten an der Macht, also bestand auch kein Anlass, ihnen Verbrechen nachzusagen. Mit der Berufung auf die guten demokratischen Sitten nimmt die EU im Kampf zweier Linien in der Ukraine Partei für ihre Ikone der Revolution in Orange; sie duldet nicht, dass Timoschenko aus dem Verkehr gezogen werden soll. Denn darum geht es offenbar der EU und ihrer Öffentlichkeit: In der Ukraine soll wieder die politische Linie gelten, für die Timoschenko steht und die dummerweise abgewählt worden ist.

Der Machtkampf in der Ukraine

beschränkt sich ersichtlich nicht aufs Stimmenauszählen, auf die zivilen Formen des demokratischen Machtkampfs per Wahlen, auf die damit geregelte Ablösung von Regierung und Opposition. Einander feindlich gegenüberstehende politische Lager nutzen einmal errungene Machtpositionen, um die Gegner möglichst dauerhaft von der Macht auszuschließen.[2]

Dieser Machtkampf wird so erbittert geführt, weil sein Gegenstand die grundlegende Ausrichtung der ukrainischen Staatsraison ist.[3] Seit der Staatsgründung geht es um die Zuordnung der Nation zu den sich ausschließenden Ansprüchen der mächtigen Nachbarn Europa und Russland. An die Beziehungen zu diesen Nachbarn knüpfen sich alle Berechnungen der Ukraine, sich im marktwirtschaftlichen Konkurrenzkampf ein Nationaleinkommen [4] zu verschaffen: Die Ukraine braucht den Marktzugang nach und den Kredit aus Europa genauso unbedingt wie den Wirtschaftsverkehr mit Russland: Vom russischen Gaspreis hängt die Rentabilität weiter Teile der Wirtschaft ab; Russland und die GUS sind unverzichtbare Exportmärkte; wichtige Branchen wie Luft- und Raumfahrt, Atomwirtschaft und Rüstungsindustrie sind nur in den Kooperationsstrukturen mit russischen Unternehmen überlebensfähig. Und auch russische Investoren und Kredite finanzieren ukrainisches Kapitalwachstum. Auch dieser mächtige Nachbar dringt daher auf eine eindeutige politische Zuordnung des „Partners“: Putin fordert beispielsweise immer wieder den Beitritt der Ukraine zur russisch-kasachisch-weißrussischen Zollunion, der von Seiten der EU aber wiederum als prinzipiell unvereinbar mit ihrem Freihandelsabkommen erklärt wird.

Kurz: Die Ukraine ist existenziell auf gute Beziehungen zu Russland und zur EU gleichermaßen angewiesen und kann sich den dafür jeweils verlangten Preis nicht leisten. Der Machtkampf im Innern wird demgemäß um unterschiedliche Linien beim Lavieren zwischen diesen beiden auswärtigen Machtansprüchen geführt.

Auch unser demokratisches Traumpaar Julija Timoschenko und Viktor Juschtschenko hat sich da eine erbitterte Auseinandersetzung geliefert. Der Versuch von Präsident Juschtschenko, die Ukraine auf einen kompromisslosen Integrationskurs in EU und Nato zu trimmen, hat auf Seiten Russlands ein Maß an Feindschaft hervorgerufen, das nicht nur die damalige Opposition, sondern auch Mitstreiter aus der Revolution in Orange wie seine Intimfeindin und damalige Ministerpräsidentin Timoschenko als für ihr Land nicht aushaltbar bewerteten. Sie sah die Ukraine in eine ausweglose Lage manövriert und sich – auch von der EU, die ein Ende der Gaskrise verlangte – dazu genötigt, mit Russland einen Gasvertrag zu schließen, den Juschtschenko als modernen Molotow-Ribbentrop-Pakt verteufelt und dessen rechtliche Verbindlichkeit er nur auf massiven Druck aus Brüssel hin akzeptiert hat. Heute bekommt die ausgewiesene Westfreundin Timoschenko von Seiten der neuen Führung für ihre Tour des Lavierens zwischen Ost und West den Vorwurf Vaterlandsverrat wegen ruinös hoher Gaspreise, die sie mit Russland ausgehandelt hat. Und umgekehrt soll Janukowitsch mit dem Stationierungsabkommen für die russische Schwarzmeerflotte und der Initiative, Russisch zur zweiten Amtssprache zu erheben, nach Meinung der heutigen Opposition denselben Tatbestand erfüllt haben; auch sie hält die Politik der anderen Seite für unvereinbar mit der von ihr für nötig erachteten Ausrichtung der ukrainischen Staatsraison, und entsprechend fundamental sind die Vorwürfe. Janukowitschs Wahlsieg wird von Anfang an nicht anerkannt, weil da eben die Falschen, also lauter Verbrecher und Landesverräter die Macht erobert haben:

„Die inhaftierte ukrainische Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko hat die Opposition aufgefordert, sich ‚angesichts des inneren Feindes‘ zusammenzuschließen. ‚In der Ukraine ist die Mafia an die Macht gekommen‘, so Timoschenko in ihrem Appell, der am Sonntag während einer Protestaktion in Kiew verlesen wurde. Die Ex-Ministerpräsidentin warf der jetzigen Regierung in Kiew vor, die ukrainischen Werte ‚von innen‘ zu zerstören und die Unabhängigkeit des Landes zu gefährden. ‚Der innere Feind ist viel gefährlicher als der äußere.‘“( RIA, 22/01/2012)

Die entscheidende Leistung, die der zusammengezählte Wählerwille in gefestigten Demokratien zum Ergebnis hat, kommt in der Ukraine nicht zustande. Die Ermächtigung zur Herrschaftsausübung ist mit dem Wahlsieg zwar formell erfolgt, aber der Machtkampf geht nach der Wahl mit anderen Mitteln weiter: Die siegreiche Partei ringt darum, die Konkurrenten aus einflussreichen Positionen zu entfernen und eine Machtvertikale aus eigenen Leuten herzustellen, um ihrem Kommando landesweite materielle Wirksamkeit zu verleihen. Mit der ihr übertragenen Regierungsgewalt reformiert sie am Rechtsstaat herum und sorgt dafür, dass die Entmachtung und Ausmischung der Opposition in der zivilisierten Form der Kriminalisierung – im Namen der Durchsetzung von Recht und Gesetz – stattfindet. Die hier nötige politische Tugend der Durchsetzungsfähigkeit ist beiden Kontrahenten in hohem Maß zu eigen; ein Experte informiert, was nach einem Wahlsieg von Frau Timoschenko im Oktober zu erwarten ist:

„Janukowitsch hat guten Grund, einen Regierungswechsel zu fürchten. In einem Land, in dem der Präsident wichtige Posten in Behörden bis auf die kommunale Ebene hinab mit den eigenen Leuten besetzen kann, bedeutet eine Wahlniederlage mehr als in einem demokratischen Rechtsstaat. Schon jetzt sammelt die Opposition Beweise, um ihrerseits Vertreter der gegenwärtigen Regierung vor Gericht zu bringen, sobald sie an die Macht kommt und die Janukowitsch-Getreuen aus Gerichten und Behörden entfernt hat. So kommen Politiker in die Lage, dass Machterhalt zur Überlebensfrage wird.“ (Julian Haas, SZ, 27.04.)

Dem Mann von der SZ ist nicht unbekannt, was Janukowitsch abverlangt wird, wenn die vollständige politische Rehabilitierung seiner Feinde gefordert wird. Mitleid ist aber nicht angebracht, schließlich hat er seine missliche Lage durch den Abbau der Demokratie in der Ukraine selbst herbeigeführt. Am Ende hat er wohl auch zu verantworten, dass die Opposition im Falle eines Wahlsiegs nicht zimperlich sein kann, wenn sie ihn und seine Getreuen von den Schalthebeln der Macht entfernt.

Die aktuelle Zuspitzung durch die EU: Boykottdrohungen und Aussetzung des Assoziierungsabkommens

Beim EU-Ukraine-Gipfel im November letzten Jahres geht die EU dazu über, etwas längere Erpressungshebel in ihrem Kampf um Humanität und Menschenrecht zum Einsatz zu bringen: Der Ratifizierungsprozess für das bereits zu Ende verhandelte Assoziierungsabkommen (AA) zwischen der Ukraine und der EU wird nicht wie vorgesehen eingeleitet. Das damit verbundene, für die Ukraine enorm wichtige Freihandelsabkommen wird ebenfalls nicht in Kraft gesetzt, sodass die Ukraine vom EU-Binnenmarkt weitgehend ausgeschlossen bleibt. Eine Debatte über den Boykott der Fußball-EM in der Ukraine wird angezettelt. In beiden Affären wird darauf geachtet, dass Janukowitsch sich nicht mit hochrangigen europäischen Politikern als erfolgreicher Staatsmann präsentieren kann. Der Mann wird geschnitten, seine Regierung weltöffentlich diskreditiert, dem kranken Folteropfer ostentativ die Ehre eines Besuchs erwiesen, damit das ukrainische Volk merkt, wer seine Sympathie verdient und wer sie schamlos mißbraucht, damit es demnächst wieder einen Machtwechsel herbeiwählt. Die Fußball-EM haben wir nämlich dem ukrainischen Volk und seinen damaligen orangenen Führern geschenkt, und keinem Rechtsbrecher.

Schwedens Außenminister Carl Bildt stellt klar, dass die EU der Ukraine im Fall Timoschenko eine sehr prinzipielle Richtungsentscheidung abverlangt:

„Die Politik der Rache hat keinen Platz in der europäischen Politik. Aber es ist Sache der Politiker in der Ukraine zu entscheiden, ob sie ihr Land in Richtung Polens oder in Richtung Weißrusslands führen wollen.“ (RIA, 14/05/2012)

Was Platz in der europäischen Politik hat, steht nicht zur Debatte. Das definiert die EU, und im Fall Timoschenko fällt Herr Bildt mit der Diagnose Politik der Rache einen Unvereinbarkeitsbeschluss. Die Anfrage, ob Janukowitsch die Ukraine in Richtung Weißrusslands führen will, wird der schon richtig verstehen. Nicht dass der jemals an eine solche Entscheidung gedacht hätte, aber die Drohung, von der EU genauso wie Weißrussland geächtet und sanktioniert zu werden, ist nicht zu überhören.

Die Politik der Erpressung ist über den aktuellen Fall hinaus ein Prinzip der EU-Nachbarschaftspolitik:

„Im Mittelpunkt der neuen Strategie steht das Prinzip ‚Mehr für mehr‘: Nur denjenigen Partnern, die sich für politische Reformen einsetzen und die gemeinsamen universellen Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit achten, werden die wichtigsten Aspekte der EU-Politik angeboten, nämlich Wirtschaftsintegration (im Rahmen des Aufbaus einer umfassenden Freihandelszone), Mobilität der Bürger (Mobilitätspartnerschaften) und stärkere finanzielle Unterstützung durch die EU. Ebenso reagierte die EU auf Verletzungen der Menschenrechte und demokratischen Grundsätze mit einer Einschränkung ihres Engagements.“ [5]

Das Prinzip im Klartext: Mehr Unterordnung unter europäische Richtlinienkompetenz für mehr Berücksichtigung existenzieller ökonomischer Notwendigkeiten der Partner. Im Moment werden der Ukraine überhaupt keine wichtigsten Aspekte der EU-Politik angeboten. Solange Timoschenko nicht frei- und zur Wahl zugelassen ist und solange sich die Parlamentswahlen im Oktober von der EU das Prädikat frei und fair noch nicht verdient haben, bekommt die Ukraine das Abkommen mit der für ihre Ökonomie wichtigen umfassenden Freihandelszone [6] nicht.

Unter dem Strich addieren sich für die Ukraine die Schäden im Verhältnis zu beiden Seiten: Der Gaspreis bleibt unbezahlbar hoch und der Binnenmarkt der EU weitgehend verschlossen, Zölle und Handelsschranken in allen Himmelsrichtungen, das Kreditabkommen mit dem IWF bleibt ausgesetzt. Verstöße gegen die Gebote der Humanität und die europäischen Werte haben eben ihren Preis.

Den bestimmt maßgeblich die EU und macht damit zugleich deutlich, wofür sie eine defekte Bandscheibe gut gebrauchen kann: Erstens belegt sie die Abwesenheit einer Herrschaft des Rechts in der Ukraine. Damit ist zweitens auch klar, dass Aufsicht von außen ein Gebot der Menschlichkeit ist und dafür sind ausschließlich EU und NATO qualifiziert. Zuletzt taugt der Fall Timoschenko für Klarstellungen auf der obersten strategischen Ebene: Die Leiden von Julija sind so groß und so wichtig wie die Ukraine, die deshalb unbedingt dem Einflussbereich Russlands entzogen und Europa einverleibt werden muss:

„Eine unabhängige, souveräne und stabile Ukraine, die sich voll auf die Demokratie und die Herrschaft des Rechts verpflichtet hat, ist der Schlüssel zur euro-atlantischen Sicherheit.“ (Pressemitteilung der NATO, Chicago, 20. Mai 2012)

Echte Unabhängigkeit gewinnt die Ukraine dann, wenn sie sich an keine Verpflichtungen von niemandem halten muss – außer an die des Westens.

[1] Europäische Kommission, Östliche Partnerschaft: Fahrplan bis zum Gipfeltreffen im Herbst 2013, 15.5.2012, JOIN(2012) 13 final, Seite 2

[2] „Eine Einführung in die ukrainische Demokratie“ findet sich in GegenStandpunkt 1-05.

[3] Nähere Erläuterungen zum Widerspruch der ukrainischen Staatsraison bietet der Artikel „Anmerkungen zur Unabhängigkeit der Ukraine“ in: GegenStandpunkt 1-09.

[4] Der Geburten- und BIP-Rückgang seit der Unabhängigkeit verdeutlichen, wie katastrophal die Lage ist: Während der letzten zwanzig Jahre ist die Sterberate der Ukraine mit 15,43 Sterbefällen pro 1.000 Personen noch hinter die Werte von kriegsgebeutelten Staaten des subsaharischen Afrika (15,03) zurückgefallen. Gleichzeitig erreichte die Geburtenrate in der Ukraine einen weltweit selten gefundenen Tiefstwert (1,35 Kinder pro Frau). Darüber hinaus war die Ukraine während der letzten beiden Dekaden das am schnellsten schrumpfende Land weltweit, gemessen an der natürlichen Bevölkerungsentwicklung …In den 1990er Jahren, als die Ukraine durch die tiefste Wirtschaftskrise aller postsozialistischen Staaten, die nicht durch Kriegshandlungen ausgelöst worden war, ging, kam es zu einem BIP-Rückgang von 60 % innerhalb eines Jahrzehnts... Im Jahre 2010 hatte die Wirtschaft der Ukrainer erst 66 % ihres Vortransformations-Niveaus erreicht. Der Bevölkerungsrückgang in dieser Zeit betrug 12 %. (Ukraine-Analysen Nr. 105, 12.06.)

[5] Europäische Kommission, Umsetzung einer neuen Europäischen Nachbarschaftspolitik, Brüssel, den 15.5.2012, JOIN(2012) 14 final, S. 4

[6] In diesem Abkommen verpflichtet sich die Ukraine zur Einführung der auf dem Binnenmarkt der EU gültigen Normen und Standards. Die damit verbundenen Schwierigkeiten, Kosten und Schäden für bisherige Geschäfte ist sie bereit als Vorleistungen für die Wachstumsimpulse zu erbringen, die sie sich vom Zugang zum Binnenmarkt der EU erhofft.