Das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der 1,8-Billionen-Euro-Deal
Von der Kunst, die Widersprüche eines supranationalen Kreditgelds bis zum Gehtnichtmehr auszureizen und fortzuschreiben

Jüngst wurde die Zukunft der Währungsunion mal wieder auf die Probe gestellt: I. durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Anleihekaufprogramme der Europäischen Zentralbank (Public Sector Purchase Programme, PSPP) und II. durch den Streit um eine europäische Antwort auf die Corona-Wirtschaftskrise, die vorläufig in einen „historischen“ 1,8-Billionen-Euro-Deal gemündet ist.

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Das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der 1,8-Billionen-Euro-Deal
Von der Kunst, die Widersprüche eines supranationalen Kreditgelds bis zum Gehtnichtmehr auszureizen und fortzuschreiben

Jüngst wurde die Zukunft der Währungsunion mal wieder auf die Probe gestellt: I. durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Anleihekaufprogramme der Europäischen Zentralbank (Public Sector Purchase Programme, PSPP) und II. durch den Streit um eine europäische Antwort auf die Corona-Wirtschaftskrise, die vorläufig in einen „historischen“ 1,8-Billionen-Euro-Deal gemündet ist.

Soweit es die elementaren Prinzipien des Euro-Clubs betrifft, gibt es an den beiden Fällen nichts Neues zu erklären: Denn an den Widersprüchen des europäischen Kreditgelds, der Euro-Konstruktion und der Währungsunion hat sich nichts geändert; [1] den Widersprüchen zwischen

  • dem ökonomischen Zweck staatlicher Geldhoheit als der Bedingung einer soliden Geldschöpfung, dass nämlich das gesetzlich gestiftete Geld, das als Kredit in Verkehr gebracht wird, als Quelle seiner kapitalistischen Verwertung zu fungieren hat, um den Wert des dekretierten Geldes zu beglaubigen, und der Funktion dieses Geldes als frei verfügbares, autonom einsetzbares Herrschaftsmittel;
  • der ökonomischen Substanz des europäischen Kreditgelds, das den kapitalistischen Gesamterfolg der Währungszone in seiner Qualität als international gefragtes und verlässliches Geld repräsentiert, also braucht, und der Konkurrenz der Euro-Nationen, mit der die sich wechselseitig die Beiträge zur ökonomischen Beglaubigung ihres Gemeinschaftskredits streitig machen;
  • der autonomen Verfügung souveräner Nationalstaaten über ihr Kreditgeld, mit dem sie nach freiem Ermessen ihre Herrschaft bezahlen, und der supranationalen Qualität ‚ihres‘ Euro und den europäischen Institutionen, an die sie mit ihrer Geldhoheit ein wesentliches Moment ihrer Souveränität überantwortet haben.

Bemerkenswert ist allerdings, wie diese Widersprüche in Anbetracht immer neuer Fälle, die das Potenzial haben, diese Union mit ihrem gemeinsamen Kreditgeld konkurrierender Nationalstaaten praktisch ihrer Haltlosigkeit zu überführen, operationalisiert und immer weiter fortgeschrieben werden.

I. Fall: Das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

2015 und 2016 gehen beim BVerfG vier Beschwerden gegen die Praxis der EZB ein, Wertpapiere des öffentlichen Sektors auf den entsprechenden Finanzmärkten aufzukaufen: Die europäische Zentralbank überschreite ihr Mandat, sich alleine um die Wertstabilität des Euro zu kümmern, wenn sie inkompetenten Staaten wie Italien dabei helfe, es sich in dem künstlich geschaffenen Niedrigzinsumfeld bequem zu machen; für die Misswirtschaft und Disziplinlosigkeit europäischer Krisenstaaten dürfe nicht der deutsche Sparer bezahlen, der für sein gutes Geld keine Zinsen mehr bekommt. Da wird beim EZB-Mandat an den Schutz von ‚unserem‘ deutschen Euro gedacht. Der ist dank des überragenden deutschen Wirtschaftserfolgs und einer vorbildlichen staatlichen Verschuldungsquote grundsolide, eigentlich. Wären da nicht zum einen die unwilligen und unfähigen ‚Sünder‘ unter den Euro-Partnern, die das Recht der Deutschen auf eine ‚harte‘ Währung vergeigen. So stellt sich jedenfalls der Widerspruch dar, dass der Euro einerseits den Kredit aller Euro-Länder repräsentiert, ökonomisch also durch dessen kapitalistischen Gesamterfolg gerechtfertigt wird, und die Euro-Länder sich andererseits in ihrer Konkurrenz um nationales Wachstum die Mittel der ökonomischen Beglaubigung ihres Gemeinschaftskredits wechselseitig bestreiten – wenn man nur den deutschen Konkurrenzerfolg als gutes Recht hochhält und dessen notwendige Kehrseite, den Misserfolg der in der Konkurrenz unterlegenen Nationen den Partnern zur Last legt. Das wäre zwar eigentlich vermeidbar, wenn sich nur alle an die kreuzvernünftigen Kennziffern des deutschen Konkurrenzerfolgs halten würden. Weil ‚wir‘ von Krisenstaaten eine solche Vernunft aber nicht erwarten können und der Idealfall, den Euro als ‚Fehlkonstruktion‘ zu beerdigen oder zumindest die ‚schwarzen Schafe‘ auszuschließen, für die Kläger nicht zu haben ist, gehen sie gegen die in ihren Augen unrechtmäßige Praxis des Mitschuldigen, der EZB vor. Auf ihrer Seite haben sie die volkswirtschaftliche Erfahrung, dass die massenhafte geldpolitische Schöpfung von Geld für den Aufkauf von Staatsanleihen auf das Zinsniveau drückt, den Banken das Kreditgeschäft kaputtmacht und am Ende dem deutschen Sparer das Leben schwer – einer ehrwürdigen Figur, die in diesem Fall für nichts anderes steht und aufgerufen wird als das gute Recht des erfolgreichen deutschen Staats auf einen entsprechend erfolgreichen Kredit. Mit ihrem Verweis auf das in Mitleidenschaft gezogene Kreditgeschäft berufen sie sich auf die widersprüchliche Wirkung davon, dass die krisenbedingte Wahrnehmung des geldpolitischen Auftrags der EZB, die Geldwertstabilität des Euro zu sichern, in der Sache die Erhaltung aller, insbesondere von Entwertung bedrohter Euro-Staatsschulden als kapitalistische Vermögen leistet und damit die Absicherung des Euro als dem Geld, das diese Schulden repräsentiert [2] – um diese Wirkung zum Einwand gegen die marktwirtschaftliche Vernunft des Aufkaufprogramms der EZB zu machen. Ihre Ablehnung der Beihilfe der EZB zu einer unverantwortlichen Staatsverschuldung tragen die Kläger sogleich als Rechtsfrage vor: Sie suchen und finden formelle Gesichtspunkte, die die beklagten Schäden justiziabel machen und sich als Klage vor dem höchsten Gremium im deutschen Rechtsstaat geltend machen lassen. Das soll darüber richten, ob die EZB

„mit den Ankäufen von Wertpapieren auf der Basis des PSPP a) ihre währungspolitische Kompetenz überschreitet und in die wirtschaftspolitische Kompetenz der Mitgliedstaaten übergreift, b) gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung durch die Zentralbanken verstößt und c) die Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland verletzt“ (BVerfG, Urteil des zweiten Senats vom 5.5.20).

Verlangt wird so eine rechtskräftige Entscheidung über die Reichweite und den Inhalt des Aufsichtsrechts der zuständigen Instanzen des deutschen Souveräns über die mit der Geldpolitik und Geldschöpfung betrauten Institutionen. Die aufgeworfenen Rechtsfragen erstrecken sich auf das Kompetenzverhältnis zwischen Bundeseinrichtungen auf der einen und der europäischen Zentralbank auf der anderen Seite, an die schließlich die Souveränitätsrechte der Bundesbank überantwortet wurden; da die EZB folglich als europäische Institution nicht direkt dem BVerfG, sondern dem EuGH untersteht, zu guter Letzt auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen der deutschen und der europäischen Rechtshoheit in einer elementaren Lebensfrage moderner Staaten. So landet der Widerspruch zwischen Souveränität und europäisch geregelter supranationaler Geldhoheit beim zu regelnden Gegensatz zwischen den höchsten juristischen Instanzen.

Das BVerfG wird den Klagen gerecht, weist die der illegalen Staatsfinanzierung ab, stellt die Kompetenzwidrigkeit der Beschlüsse der EZB, die dem PSPP vorausgegangen waren, ebenso fest wie eine verfassungswidrige Tatenlosigkeit von Bundestag und Bundesregierung, stellt sich damit ausdrücklich gegen ein Urteil des EuGH, verdonnert Bundestag und Bundesregierung zur Wahrnehmung ihres Aufsichtsrechts und verpflichtet die Bundesbank dazu, ihre Unterstützung am Aufkaufprogramm der EZB einzustellen, wenn die nicht binnen dreier Monate die Nachvollziehbarkeit ihrer Entscheidungen darlegt. [3] Das BVerfG ficht das Urteil des EuGH in dem Selbstverständnis der höchsten richterlichen Instanz in Fragen der europäischen Räson der Bundesrepublik an, wenn es dem höchsten europäischen Gericht einen Ultra-vires-Akt attestiert – es ist an den deutschen Richtern, zu definieren, was durch die Kompetenzen des EuGH gedeckt ist und was nicht. Die Zurückweisung, dass sie sich damit selber einen Ultra-vires-Akt leisten, weil Deutschland wie alle anderen Euro-Mitglieder auch seine hoheitliche Kompetenz in geldpolitischen Fragen an europäische Institutionen übertragen hat, fürchten die deutschen Richter offensichtlich nicht. Was in der Sache den allgemeinen Widerspruch der nationalen innerhalb und neben einer supranationalen juristischen Entscheidungshoheit reflektiert, wird als Kompetenzüberschreitung bei der Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der EZB-Beschlüsse in einem speziellen Fall angeprangert. Geltend gemacht wird das wiederum in einem Rahmen, der eindeutig in die Zuständigkeit des BVerfG fällt und die Vereinbarkeit der Rechte und Pflichten aller Instanzen hochhält: Die beanspruchte Rechenschaftspflicht der europäischen Institutionen gegenüber der deutschen Jurisdiktion wird auf dem Umweg über die juristisch greifbaren Bundeseinrichtungen mit einem „konkreten“ Auftrag versehen, der den elementaren Gegensatz in Fragen rechtsstaatlicher Souveränität mit einer einlösbaren Bedingung ausstattet, die eine ordnungsgemäße Fortführung der Anleihekäufe ermöglicht. Da das BVerfG in Rechnung stellen muss, dass es der EZB keine direkten rechtlich bindenden Vorschriften machen kann, der Zentralbank aber einen klaren Auftrag erteilen will, wird ihr in einer erfüllbaren Kondition die Darlegung der Verhältnismäßigkeit freigestellt, die auszuschlagen im Grunde ausgeschlossen ist, möchte die EZB mit der deutschen Bundesbank nicht ein wesentliches Moment ihrer Existenzgrundlage verlieren. So bewirkt die Vollstreckung des Urteils über eine rechtliche Diskrepanz zwischen wahrgenommener und verfassungsmäßiger Fürsorgepflicht von Institutionen des deutschen Staates am Ende eine mögliche Gefährdung der gesamten Euro-Konstruktion und damit des Kernbestandteils der ökonomischen Räson der Bundesrepublik. Das Urteil selber, das diese mögliche Wirkung in Form der Unterstellung als Druckmittel gegenüber der EZB in Anspruch nimmt, regelt zugleich den Fortbestand ebendieser Konstruktion und bekräftigt auf diese Weise die prinzipielle Legitimität der längst in Recht gegossenen europäischen Kompetenzen von EZB und EuGH.

Der unauflösbare Widerspruch zwischen nationaler Souveränität und supranationaler Geld- und Rechtshoheit, ausgetragen auf der Ebene der höchsten Gerichtsbarkeit und verwandelt in ein rechtskräftiges Verhältnis aus Rechenschafts- und Kontrollpflicht, wird von den betreffenden Instanzen an diesem Endpunkt auf ebenso widersprüchliche Weise in Angriff genommen:

„Lange hatten Rechtsgelehrte, Politologen und Ökonomen darüber diskutiert, wie es die EZB schaffen könnte, aus dem Dilemma herauszukommen. Die europäische Notenbank durfte sich auf der einen Seite nicht den Anordnungen eines nationalen Gerichts unterwerfen. Andererseits konnte sie den Konflikt aber auch nicht gut eskalieren lassen – wenn dabei die Gefahr bestünde, dass die Bundesbank aus den geldpolitischen Anleihekäufen ausscheiden muss... Die EZB hat einen Weg gefunden, aktiv zu werden, ohne aktiv zu werden, wie es ein Ökonom formulierte. Die Notenbank hat Dokumente von erheblichem Umfang zusammengestellt, die belegen sollen, dass die Verhältnismäßigkeit der Anleihekäufe ausreichend abgewogen wurde. Zum Teil sind das Protokolle von EZB-Ratssitzungen, zum Teil ältere Analysen. Es wurde genau darauf geachtet, dass man keines dieser Papiere extra für das Bundesverfassungsgericht angefertigt hat. Aber zugleich wurde beispielsweise in das Sitzungsprotokoll des EZB-Rates aus dem Juni, das also nach dem Urteil angefertigt wurde, eine auffällig lange Passage über die Verhältnismäßigkeit von Anleihekäufen aufgenommen. Flankiert wurden die Papiere von Reden der EZB-Direktorin Isabel Schnabel und des EZB-Chefvolkswirts Philip Lane, die nochmal darlegten, dass Anleihekäufe durchaus wirkten, und zwar auf Inflation und Wirtschaftsleistung, und dass die Nebenwirkungen zwar vorhanden, aber doch geringer seien, als viele dächten... Die Dokumente wurden der Bundesbank übergeben, diese hat sie der Bundesregierung und dem Bundestag zukommen lassen. Beide Institutionen attestierten, die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts seien aus ihrer Sicht erfüllt. Die Darlegungen der EZB seien ‚nachvollziehbar‘. Entscheidend ist zunächst: Die Deutsche Bundesbank sieht nun alle Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts als erfüllt an. Sie ist der Auffassung, weiter Anleihen kaufen zu dürfen.“ (faz.net, 5.8.20)

Ein nicht ganz leicht zu meisternder Eiertanz, wenn die Vertreter der zwei Seiten dieses grundsätzlichen Widerspruchs ihren Gegensatz nicht auflösen, sondern im Geiste der Verfassungsklagen fortschreiben wollen, damit sich bei der Umsetzung der Krisenmaßnahme der EZB im Prinzip nichts ändern muss. Vorerst, denn die Kläger sind nicht zufrieden. Wie sollten sie auch, schließlich sind ihr Geldnationalismus der Grund und die supranationalen Existenzweisen ‚ihres‘ Geldes der bleibende Anlass, das in ihren Augen höchste Rechtsorgan anzurufen. Die handliche Konsequenz besteht darin, die Einsicht in Akten zu beantragen, die der Geheimhaltung unterliegen, um sich selbst ein Bild von der Darlegung der Verhältnismäßigkeit zu machen. Von der steht natürlich schon fest, dass sie nichts taugt; warum sollte man sie sonst vor ‚der Öffentlichkeit‘ verbergen...

II. Fall: Der 1,8-Billionen-Euro-Deal

Auf einem extra dafür anberaumten Gipfel ringen die Staaten Europas von gegensätzlichen Positionen aus um eine europäische ‚Lösung‘ der Corona-Wirtschaftskrise. Dass die sich am Ende des längsten Gipfels der EU-Geschichte tatsächlich auf ein 1,8-Billionen-Euro-Wiederaufbauprogramm einigen können, liegt nicht zuletzt an der Position der deutschen Führungsmacht der Euro-Zone, die zusammen mit Frankreich im Vorfeld des Gipfels mit einem eigenen Vorschlag für Aufsehen gesorgt hat, sowie der Dringlichkeit angesichts einer existentiellen Gefährdung ihres schönen Euro-Projekts.

Eine durch staatliche Vorschriften zur Bewältigung der Corona-Pandemie verschärfte Wirtschaftskrise stellt die Euro-Staaten mit ihrem Interesse, die Schäden für ihren Kapitalstandort zu kompensieren und irgendwann für eine Wiederbelebung zu sorgen, vor die Notwendigkeit, zusätzliche Haushaltsmittel zu akquirieren. In ihrer Freiheit, ihren enormen hoheitlichen Geldbedarf gerade dann durch eine Neuverschuldung zu bedienen, wenn diese Schulden nichts als das hoheitliche Machtwort zur Verhinderung eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs repräsentieren, stoßen – nicht erst seit Corona, durch die Corona-Krise aber verschärft – insbesondere die Südländer Europas an die Grenze einer drohenden Überforderung. Italien, immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft der EU, kann sich die Prolongation seiner Altschulden, geschweige denn eine Verschuldung zur Überwindung der Corona-Wirtschaftskrise immer weniger leisten. Das Land ist zwar wie seine Partner auch Mitbesitzer der europäischen Weltwährung, aber besitzt nur eine durch die Maastricht-Kriterien definierte, also das nationale Wachstum beschränkte Lizenz, sich ihrer zur nationalen Verschuldung zu bedienen. Der Widerspruch der autonomen Verfügung über ein ‚eigenes‘ Kreditgeld, das gar nicht einfach das nationale ist, sondern der europäischen Geldhoheit untersteht, deren Teil man ist, stellt sich praktisch als der sachliche Zwang ein, einen nach den Mitgliedsnationen differenzierten Preis für staatliche Haushaltsschulden zu entrichten. Italien erneuert seine Forderung nach Euro-Bonds als dem Mittel für bezahlbare Staatsschulden in nationaler Hand und untermauert das erneut mit dem warnenden Hinweis, dass schließlich der Bestand des Euro davon abhinge.

Tatsächlich steht nicht nur der Kredit des italienischen Staates auf dem Spiel, wenn der seine Verbindlichkeiten nicht mehr einlösen kann: Der Euro repräsentiert das Verhältnis aller Euro-Schulden zum kreditfinanzierten Wachstum im Euro-Raum, das die Euro-Kredite und den Euro ökonomisch beglaubigt. Die krisenbedingte Annullierung der kapitalistischen Verwertung von Massen an Euro-Schulden, nicht zuletzt durch die politische Einschränkung des kreditfinanzierten Wachstums der ‚Realwirtschaft‘, greift darum umgekehrt die Solidität des Euro an, mit dem sowohl die kreditwürdigen Konkurrenzgewinner als auch die Verlierer der innereuropäischen Konkurrenz ihre Nation regieren. Der Widerspruch ihres supranationalen staatlichen Kreditgelds steht den Führungsmächten und Hauptgaranten des Euro-Clubs nicht mehr nur als rechtfertigende Warnung der Südländer, sondern im Hinblick auf die Schwergewichte Italien oder Spanien als ernsthafte Gefahr für den Euro und den gemeinsamen Währungsraum vor Augen. [4] Weil es darum geht, das Kernelement des ökonomischen Konkurrenzerfolgs Deutschlands zu sichern, sieht sich die Kanzlerin zu einem bemerkenswerten Fortschritt herausgefordert: Um den Euro als taugliches Vehikel kapitalistischen Wachstums insgesamt vom Zweifel der Finanzmärkte zu befreien, muss sich die Union der Euro-Staaten eine neue Sorte gemeinschaftlicher Garantie leisten, die in erster Instanz darauf abzielt, den Euro als frei verfügbares Haushaltsmittel aller Euro-Staaten zu erhalten. Gemeinsam mit Frankreich stellt Deutschland einen 500 Mrd. Euro schweren Wiederaufbaufonds vor, mit dem das Ursprungsland der ‚schwarzen Null‘ zwar nur punktuell, aber doch substantiell von seinem kategorischen Imperativ der nationalen Eigenverantwortung einer unbedingt soliden Staatsverschuldung nach Maßgabe des europäischen Maastricht-Regimes abweicht, den es bisher mehr oder weniger streng gegenüber seinen Partner vertreten und durchgesetzt hat, um sich von denen nicht ‚seinen‘ guten Euro-Kredit kaputtmachen zu lassen. An die Stelle wird die Befürwortung einer eingeschränkten Schuldengemeinschaft gerückt, die dem Widerspruch der Euro-Konstruktion ebenfalls alle Ehre macht: [5] Die EU-Kommission erhält das Mandat, sich auf Basis der Bonität aller, also vor allem der konkurrenztüchtigen und kreditwürdigen Euro-Mitglieder an den Finanzmärkten zu verschulden; sie tritt als eigenständiges europäisches Subjekt an den Finanzmärkten an, um Gemeinschaftskredite für einen europäischen Aufbaufonds aufzunehmen. In diesem wahrlich supranationalen Schuldner ist die nationale Verantwortung der Mitglieder, auf sich lautende Staatsanleihen zu begeben und für sie einzustehen, im doppelten Wortsinn aufgehoben. Die staatliche Kreditaufnahme wird von den Vorbehalten gegenüber der nationalen Kreditwürdigkeit einzelner Euro-Mitglieder entschränkt zu Gunsten eines Haushalts aller Euro-Staaten, der durch eine vergemeinschaftete Kreditmacht beglaubigt wird – jedoch ohne die Eigenverantwortung der konkurrierenden Euro-Staaten für die ökonomische Tragfähigkeit ihres nationalen Kredits in einer Schuldenunion aufzulösen. Die Vergemeinschaftung der Kreditmacht der Euro-Staaten ist (vorerst) an den außerordentlich Zweck der Krisenbewältigung und des Wiederaufbaus gebunden, zeitlich und auf einen bestimmten Betrag beschränkt, für den und dessen Verzinsungsanspruch alle Mitglieder anteilsmäßig haften müssen. Daneben, in Bezug auf die überwiegende Masse an Alt- und zusätzlich zu den europäischen Hilfen geschöpften Staatsschulden bleibt der Gemeinschaft das Prinzip der nationalen Pflicht zur eigenverantwortlichen ökonomischen Rechtfertigung der eigenen Haushaltsmittel, das die Verlierer der innereuropäischen Konkurrenz notorisch und bis hin zur Existenzgefährdung der ganzen Euro-Konstruktion überfordert, selbstverständlich erhalten. Was die andere Seite, die Zuteilung der Gemeinschaftskredite betrifft, sieht der deutsch-französische Vorschlag einen ebenso bezeichnenden Fortschritt vor: Die Gesichtspunkte des Wiederaufbaufonds zeugen einerseits von einer Krise des europäischen Kredits, dessen Funktion als Kapital, verschärft durch die Wirkungen der Pandemiebekämpfung, europaweit infrage steht, der Not finanzschwacher Euro-Staaten, die drohende Entwertung von Vermögen durch die weitere Aufblähung ihrer Staatsschulden zu verhindern, und deren zunehmend fragwürdiger Kapitalqualität. Andererseits versteht sich das vorgeschlagene Hilfsprogramm auch als Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Krise[6] und zielt, vermittels der anspruchsvollen Idee einer mit jeder Menge Staatskredit finanzierten Zurichtung Europas zum Standort kapitalistischer Unternehmungen, die von Europa aus den Weltmarkt in so ziemlich allen ‚Zukunftsbranchen‘ dominieren, in der Sache auf eine künftige, flächendeckende und nachhaltige ökonomische Beglaubigung des Euro(kredits) als weltweit anerkanntes Wachstumsmittel. Die politisch-ökonomische Absichtserklärung ist zugleich mehr als das, nämlich selber eine außerordentliche Ausweitung einer europäischen Wirtschaftspolitik vom Standpunkt eines supranationalen Standortverwalters aus, die bindende Empfehlungen für die nach wie vor souveränen Konkurrenten des Euro-Clubs in Auftrag gibt, den die mit ihrer nationalen Wirtschaftspolitik in Einklang zu bringen haben.

Der Vorschlag, den Deutschland gemeinsam mit Frankreich vorstellt und die EU-Kommission in einem eigenen Hilfspaket aufnimmt, modifiziert und ausweitet, ist der Auftakt zu einem Gezerre zwischen den Euro-Staaten. Gestritten und gefeilscht wird um Fragen, die den von der deutschen Führungsmacht aufgebrachten widersprüchlichen Integrationsfortschritt nicht zum eigentlichen Streitgegenstand machen, vielmehr als Grundlage unterstellen und in eine etwas andere Kontroverse überführen: Es geht im Kern darum, ob und in welchem Maß die nationalen Haushalte von ihrer Verantwortung zur ökonomischen Rechtfertigung ihrer Verschuldungsfähigkeit befreit und umgekehrt wegen ihrer Freisetzung zur Nutzung von Gemeinschaftsschulden als nationalen Haushaltsmitteln auf eine echt solide, ökonomisch vertretbare Verwendung hin kontrolliert werden. Festgemacht und ausgetragen wird das wiederum an den Modalitäten der praktischen Umsetzung des Wiederaufbaufonds, der Form der Zuwendungen, Zuschuss oder Kredit, sowie den Kontroll- und Vetomechanismen. Während die Staaten um Italien und Spanien den deutsch-französischen Vorschlag begrüßen, soweit er ihnen zusätzliche Haushaltsmittel verschafft, ohne ihre Finanznot weiter zu verschärfen, sich allerdings gegen den ‚Preis‘ eines europäischen Haushaltsregimes verwehren, treten den Führungsmächten als prominentester Opponent die selbsterklärten ‚Sparsamen Vier‘ entgegen, die sich entschieden gegen die ‚Einführung einer Schuldenunion durch die Hintertür‘ einsetzen. [7] Für die kommt die Mithaftung für die Schulden anderer Länder, die mit einem jahrelangen ‚Missmanagement‘ nur die gute Bonität solide wirtschaftender Partner belasten würden, nicht infrage; schon gleich nicht, wenn Staaten wie sie, die ihre wirtschaftliche Vernunft in der europäischen Konkurrenz um Wachstum und Kreditwürdigkeit erfolgreich unter Beweis gestellt haben, die nationale Nutzung der Gelder durch ihre souveränen Partner nicht mitbestimmen, kontrollieren und mit einem Veto blockieren dürfen. Das bezeugt nicht zuletzt die Kunstfigur des Steuerzahlers in all den solide wirtschaftenden Staaten Europas, die für nichts anderes steht als das Recht, das die ‚Sparsamen Vier‘ sich zuschreiben, dass nämlich sie ‚ihr‘ eigentlich grundsolides, kapitalistisch wohlbegründetes Wachstums- und Machtmittel nicht von all denen ruinieren lassen, an denen sie so prächtig verdient und die auch sie bis zur Zahlungsverlegenheit niederkonkurriert haben. So bestehen praktisch alle Beteiligten von komplementären Seiten des Widerspruchs der Euro-Konstruktion aus auf einem soliden europäischen Kredit(geld) als Instrument ihrer Haushaltssouveränität und nationalen Konkurrenzposition: die einen durch die Inanspruchnahme der in einem Gemeinschaftskredit verkörperten Bonität aller Euro-Nationen in nationaler Hand; die anderen durch das Beharren auf einer ökonomischen Rechtfertigung eines national zu verantwortenden Euro-Kredits, den sie als Gewinner der Konkurrenz innerhalb Europas haben und nicht teilen wollen.

Das Ergebnis eines entsprechend hitzigen und langen Streits ist das größte Haushalts- und Finanzpaket der EU-Geschichte [8] – ein ebenso widersprüchlicher Kompromiss: Die Schöpfung von gemeinsam beglaubigten europäischen Haushaltsmitteln durch eine supranationale Institution soll sein – als zweckgebundenes, vorübergehendes Ausnahmeinstrument der um Rettung, Wiederbelebung und Wachstum des nationalen Geschäftslebens konkurrierenden Staaten. Zuschüsse werden dem unmittelbaren Herrschaftsbedarf der Euro-Nationen gerecht, den die Südländer mit den Schulden, die sie in nationaler Eigenregie verantworten müssen, kaum noch finanzieren können. Die Notwendigkeit, für die Kapitalqualität der Euro-Anleihen mit der hoheitlichen Verfügung über ihren nationalen Kapitalismus einzustehen, fällt ihnen dafür vermittelt über anteilsmäßige Garantien am Gesamtschuldner EU-Kommission zu [9] – dem Vorschlag des Wiederaufbaufonds folgend auf Jahre hinaus gestreckt, damit der Widerspruch zwischen dem Euro als frei verfügbarem Haushaltsmittel und ökonomisch beglaubigtem kapitalistischen Verwertungsmittel, der bei den Südländern zur drohenden Zahlungsunfähigkeit eskaliert, nicht von vornherein die außerordentliche Konstruktion einer bedingten Schuldenunion in Zweifel zieht. Was die Begünstigten von der Kommission in Form von Krediten erhalten, schulden sie nicht den Finanzmärkten, dafür der Kommission; der gegenüber müssen die Staaten für die Zahlungsverpflichtungen aufkommen. Das Prinzip der nationalen Verantwortung, das für alle bisherigen und zusätzlich zu den Hilfen aufgenommenen Staatsschulden weiterhin gilt, soll auch bei dieser ‚historischen Errungenschaft‘ nicht aufgehoben werden. Nach der Seite der souveränen Verwendung der zugeteilten Haushaltsmittel steht fest, dass die nach Vorgaben der Kommission im Sinne der Förderung des europäischen Wirtschaftsstandorts auszugeben sind, der sich zwar aus den Euro-Mitgliedern zusammensetzt, aber auch weiterhin durch deren Konkurrenz gegeneinander bestimmt ist. Die Verausgabung der Gelder in den nationalen Haushalten darf freilich kein Diktat Europas gegenüber den stolzen Einzelstaaten sein, muss aber im Einklang mit europäischen Kriterien stattfinden. Also formuliert die Kommission auf Basis eines gemeinschaftlich abgesegneten Programms einen Auftrag an die Staaten, denen die konkrete Umsetzung obliegt. Der damit ausgesprochene Bedarf nach einem Vetorecht ist überführt in ein Beschwerderecht gegenüber den ‚Reformplänen‘ der Mitglieder, in denen die darlegen müssen, wie sie sich an dem Auftrag der Kommission national ‚orientieren‘ wollen. Wem das nicht passt, dem gibt der Deal einen Kontrollmechanismus an die Hand, der zwar keine bindenden Einsprüche vorsieht, aber dafür die Aussicht auf eine angeregte Diskussion, an deren Ende möglicherweise dann doch ein Veto gegen eine nationale Verwendung der Gemeinschaftskredite steht, eine konsensfähige Mehrheit vorausgesetzt. Den Kompromiss haben sich insbesondere die ‚Sparsamen Vier‘ mit Konzessionen beim Streit um ihren Beitrag zum EU-Haushalt in Form von Rabatten abkaufen lassen, als hätte wirklich nichts als ein quantifizierbarer Geiz ihren prinzipiellen Widerstand begründet.

Dass die Euro-Staaten sich dieses Kunststück überhaupt leisten können, ohne von den Finanzmärkten abgestraft zu werden, lebt von ein paar bemerkenswerten Voraussetzungen: Die Weltgeldmächte führen seit der weltweiten Finanzkrise einen Dauerkampf darum, dem internationalen Finanzgewerbe jeden prinzipiellen Zweifel gegenüber schrankenlos vermehrtem Geld und darin denominierten Staatsschulden, die nichts als hoheitlich verfügten Ersatz für flächendeckende Misserfolge verkörpern, abzukaufen. Das sorgt für eine enorme Vermehrung spekulativer Geldvermögen, mit denen die Aktivisten der Finanzmärkte, berufsbedingt borniert auf der Suche nach lohnenden Anlagemöglichkeiten, den ein oder anderen Börsenboom samt möglichen ‚Blasen‘ herbeispekulieren und, berufsbedingt borniert auf der Suche nach ‚sicheren Häfen‘ in unsicheren Zeiten, Massen an Staatsanleihen der Weltgeldnationen kaufen und damit deren immensen Geldbedarf durch ihren Handel als Kreditmittel anerkennen. [10] Dieser produktive wie prekäre Zirkel wird im Fall des Euro dadurch gestärkt, dass seine kreditwürdigen Hauptgaranten gewillt sind, mit ihrer vergemeinschafteten nationalen Kreditmacht den Gemeinschaftskredit gegen spekulative Anfechtungen außer Frage zu stellen, und dadurch einen zusätzlichen Anreiz stiften, den Euro(kredit) als Vehikel globaler Geschäfte nachzufragen und zu beglaubigen – vorübergehend, beschränkt und im Rahmen ihrer schönen Euro-Konstruktion. Denn diese Voraussetzungen sind wie alles in Europa Umstand und Stoff des bis zum Gehtnichtmehr ausgereizten Gezerres um den Erhalt und die Fortschreibung eines supranationalen Kredit(geld)s als Geschäftsmittel konkurrierender Nationen und Machtmittel souveräner Staaten.

[1] Die werden im Folgenden noch einmal benannt, aber nicht weiter erklärt. Das leisten bereits ausführlich diverse Artikel dieser Zeitschrift; in der Hinsicht zu empfehlen sind unter anderem:

[2] Die großen Weltwirtschaftsmächte erhalten ihr Kreditgewerbe – auf Kosten des Kreditgeschäfts. Sie sichern ihr Kreditgeld – zu Lasten der Zweckbestimmung ihres Geldes, als Kredit zu fungieren. Ausführlich bestimmt in GegenStandpunkt 3-16: Im Jahr 9 nach Amerikas ‚Hypothekenkrise‘ – Weltkapitalismus im Krisenmodus

[3] Im Einzelnen: Nach dem Urteil haben Bundesregierung und Deutscher Bundestag die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verletzt, indem sie es unterlassen haben, dagegen vorzugehen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) in den für die Einführung und Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüssen weder geprüft noch dargelegt hat, dass die hierbei getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind. Dem steht das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 11. Dezember 2018 nicht entgegen, da es im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der zur Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüsse schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und damit ebenfalls ultra vires ergangen ist. Einen Verstoß gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung konnte der Senat dagegen nicht feststellen. Aktuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union oder der EZB im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Krise sind nicht Gegenstand der Entscheidung. Der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag wird aufgetragen, der bisherigen Praxis der EZB im Falle offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüberschreitungen ... im Rahmen ihrer Kompetenzen und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzutreten, was konkret bedeutet ... auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Außerdem dürfen deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte ... weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Der Bundesbank ist es daher untersagt, nach einer für die Abstimmung im Eurosystem notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Unter derselben Voraussetzung ist die Bundesbank verpflichtet, für eine im Rahmen des Eurosystems abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen. (BVerfG, Pressemitteilung Nr. 32/2020 vom 5.5.20)

[4] Merkel sagte, die Corona-Krise und ihre wirtschaftlichen Folgen seien die größte Herausforderung, der sich die Europäische Union in ihrer Geschichte stellen müsse. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft sei gefährdet. (SZ, 18.5.20)

[5] Das feiert Finanzminister Scholz als den ‚Hamilton-Moment‘ Europas, weil er darin als Freund der europäischen Integration einen Fortschritt hin zu so etwas wie den Vereinigten Staaten von Europa entdecken mag. Aus der Perspektive der Feinde dieser Idee stellt sich die Analogie zu den USA vergangener Tage als haltlos dar, der Fortschritt in Sachen europäischer Integration als ein Fehler. Worauf die politisch-interessierte Anschauung beider Seiten sich bezieht, ist der objektive Fortschritt einer neuerlichen Fortschreibung des Widerspruchs eines supranationalen Kredits ohne den dazu passenden Souverän, eines europäischen Geldes als Haushaltsmittel konkurrierender Nationalstaaten, von dem kein Beteiligter lassen will.

[6] Das sechsseitige Papier enthält darüber hinaus zahlreiche Vorschläge für die europäische Wirtschaftspolitik. Diese sind zu einem geringen Teil wirklich neu, sollen aber den Vorschlag eines gemeinsamen Fonds ergänzen... Noch mehr als Macron forderte die Bundeskanzlerin am Montag bei der Vorstellung der gemeinsamen Initiative, dass die EU-Staaten künftig eigene Unternehmen ‚auf dem globalen Markt stärken‘ müssten. Die EU fördere bereits heute ‚strategische Projekte‘ etwa in der Produktion von Computer-Chips oder Batteriezellen, sagte Merkel. ‚Diese Bestrebungen wird man jetzt bestärken.‘ Andere Länder hätten sich sehr um die Entwicklung ‚globaler Champions‘ bemüht. Das werde nun auch die EU in den Investitionen zur Krisenbewältigung tun. (faz.net, 20.5.20)

[7] Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark kämpfen entschlossen für einen schlanken EU-Haushalt und ihre ungeteilte Kreditmacht.

[8] Die Führungsspitzen der EU haben sich auf ein Aufbaupaket und den Haushalt 2021-2027 geeinigt, mit denen die Wiederherstellung der EU nach der Pandemie unterstützt und Investitionen in den ökologischen und digitalen Wandel gefördert werden... Die Führungsspitzen der EU haben sich auf ein umfassendes Paket von 1824,3 Mrd. € geeinigt, das den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und außerordentliche Aufbaumaßnahmen im Rahmen des Instruments ‚Next Generation EU‘ (NGEU) verknüpft... Der Umfang des MFR – 1074,3 Mrd. € – wird es der EU ermöglichen, ihre langfristigen Ziele zu erreichen und die volle Kapazität des Aufbauplans zu bewahren... Der MFR wird folgende Ausgabenbereiche umfassen: Binnenmarkt, Innovation und Digitales; Zusammenhalt, Resilienz und Werte; Natürliche Ressourcen und Umwelt; Migration und Grenzmanagement; Sicherheit und Verteidigung; Nachbarschaft und die Welt; Europäische öffentliche Verwaltung. Durch ‚Next Generation EU‘ wird die Union mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet, um die Herausforderungen infolge der COVID-19-Pandemie zu bewältigen. Im Rahmen der Einigung wird die Kommission Mittel in Höhe von bis zu 750 Mrd. € an den Märkten aufnehmen können. Diese Mittel könnten für Back-to-Back-Darlehen und für Ausgaben im Rahmen der MFR-Programme verwendet werden. Die an den Finanzmärkten aufgenommenen Mittel werden bis 2058 zurückgezahlt. Aufbau- und Resilienzfazilität: 672,5 Mrd. € (Darlehen: 360 Mrd. €, Finanzhilfen: 312,5 Mrd. €); ReactEU: 47,5 Mrd. €; Horizont Europa: 5 Mrd. €; InvestEU: 5,6 Mrd. €; Entwicklung des ländlichen Raums: 7,5 Mrd. €; Fonds für einen gerechten Übergang: 10 Mrd. €; rescEU: 1,9 Mrd. €. Mit dem Plan wird sichergestellt, dass das Geld in die am schwersten von der Krise betroffenen Länder und Sektoren fließt: Von den Finanzhilfen der Aufbau- und Resilienzfazilität werden 70 % in den Jahren 2021 und 2022 und 30 % im Jahr 2023 gebunden. Zuweisungen aus der Aufbau- und Resilienzfazilität RRF für den Zeitraum 2021-2022 werden gemäß den Zuweisungskriterien der Kommission unter Berücksichtigung des Lebensstandards, der Größe und der Arbeitslosenquote der jeweiligen Mitgliedstaaten festgelegt... Im Einklang mit den Grundsätzen der verantwortungsvollen Staatsführung werden die Mitgliedstaaten nationale Aufbau- und Resilienzpläne für den Zeitraum 2021-2023 ausarbeiten. Diese müssen mit den länderspezifischen Empfehlungen im Einklang stehen und zum ökologischen und digitalen Wandel beitragen. Konkret sollen mit den Plänen Wachstum und Beschäftigung angekurbelt und die ‚wirtschaftliche und soziale Resilienz‘ der EU-Mitgliedstaaten gestärkt werden. Die Pläne werden 2022 überprüft. Die Bewertung dieser Pläne wird vom Rat auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit gebilligt. Die Auszahlung von Finanzhilfen erfolgt nur dann, wenn die vereinbarten Etappenziele und Zielvorgaben der Aufbau- und Resilienzpläne erreicht werden. Sollten ausnahmsweise ein oder mehrere Mitgliedstaaten der Auffassung sein, dass schwerwiegende Abweichungen von der zufriedenstellenden Erfüllung der einschlägigen Etappenziele und Zielvorgaben vorliegen, können sie darum ersuchen, dass der Präsident des Europäischen Rates den Europäischen Rat auf dessen nächster Tagung mit der Angelegenheit befasst... Die Führungsspitzen der EU sind übereingekommen, der EU neue Mittel bereitzustellen, um die im Rahmen von ‚Next Generation EU‘ aufgenommenen Mittel zurückzuzahlen. Sie einigten sich auf eine neue Kunststoffabgabe, die 2021 eingeführt werden soll. Im selben Jahr wird die Kommission voraussichtlich einen Vorschlag für eine CO2-Ausgleichsregelung und eine Digitalabgabe vorlegen, die beide spätestens bis zum 1. Januar 2023 eingeführt werden sollen. Die Kommission würde anschließend einen überarbeiteten Vorschlag zum EU-Emissionshandelssystem (EHS) vorlegen, der möglicherweise auf die Bereiche Luft- und Seeverkehr ausgeweitet wird. Es könnte auch weitere neue Eigenmittel geben, z.B. eine Finanztransaktionssteuer... Die neuen Quellen kommen zu den bestehenden Eigenmitteln hinzu. (consilium.europa.eu, Sondertagung des Europäischen Rates, 17.-21. Juli 2020, Wichtigste Ergebnisse)

[9] Die Mitgliedsstaaten haften nach Maßgabe des prozentualen Anteils am EU-Haushalt für die Tilgung der Schuldforderungen, soweit die EU-Kommission diese nicht aus

vorhandenen Finanzquellen oder neu zu erschließenden Eigenmitteln begleicht. So kommen die Euro-Staaten über ihre Mitgliedsbeiträge an die EU kontinuierlich für die Zinsen und ab 2028 auch für die Tilgung der Gemeinschaftsschulden auf.

[10] Ausführlich erläutert in GegenStandpunkt 2-20: Pandemie VII: Kredit und internationale Konkurrenz – Mit Weltgeld gegen die ‚Corona-Krise‘