Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die Demokratisierung des Nahen Ostens kommt voran:
In den Palästinensergebieten und in Israel wird gewählt – die Gewalt eskaliert – die Aufsichtsmächte probieren ein „nation building“ neuen Typs

In den Palästinensergebieten gehen die Wähler Ende Januar, in Israel Ende März zu den Urnen und verhelfen damit Regierungen ins Amt, die den Konflikt im Nahen Osten weiter verschärfen. Die israelischen Wähler stimmen für Olmerts „Konvergenz-Plan“, der eine Konsolidierung des israelischen Staates neben durch unüberwindliche Grenzanlagen abgetrennten, aus der israelischen Besatzung entlassenen palästinensischen Territorien vorsieht. In den Palästinensergebieten verweigern die Wähler der bisher regierenden Fatah ihre Zustimmung und schließen sich der Kritik der Hamas an, dass der Oslo-Prozess eine Sackgasse ist und nichts als die Aufgabe nationaler Interessen einbringt.

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Gliederung

Die Demokratisierung des Nahen Ostens kommt voran:
In den Palästinensergebieten und in Israel wird gewählt – die Gewalt eskaliert – die Aufsichtsmächte probieren ein „nation building“ neuen Typs

In den Palästinensergebieten gehen die Wähler Ende Januar, in Israel Ende März zu den Urnen und verhelfen damit Regierungen ins Amt, die den Konflikt im Nahen Osten weiter verschärfen.

Der Sieg der Kadima-Partei – „Disengagement“ für eine provisorische Endlösung

In Israel setzen sich die „gemäßigten“ Politiker durch: Die Wähler erteilen den im Likud verbliebenen Gegnern der „Disengagement-Politik“ (Rückzug aus dem Gazastreifen) und den „ultra-nationalistischen“ Parteien, die „keinen Zentimeter jüdischen Bodens“ preisgeben wollen, eine Absage und machen die noch von Scharon gegründete „Kadima“ zur stärksten Partei. Sie stimmen damit für Olmerts „Konvergenz-Plan“, der eine Konsolidierung des israelischen Staates neben durch unüberwindliche Grenzanlagen abgetrennten, aus der israelischen Besatzung entlassenen palästinensischen Territorien vorsieht. Wie schon Scharon unterwirft sich die neue Regierung formell Amerikas Ordnungsvorstellungen für die Region, die nach wie vor auf der „Vision“ Bushs von „zwei lebensfähigen Staaten nebeneinander“, Israel und Palästina, beruhen, wobei unterstellt ist, dass das palästinensische Staatswesens nur sehr bedingt souverän sein wird und sämtlichen „israelischen Sicherheitsbedürfnissen“ Rechnung tragen muss.

Mit der Wahl ist die alte, das jüdische Volk seit Jahrzehnten spaltende Frage – Soll Israel „fundamentalistisch“ auf seinem zionistischen Anspruch, Palästina insgesamt in Besitz zu nehmen, bestehen oder sich „realistisch“ mit einem von ihm abhängigen und kontrollierten palästinensischen Gemeinwesen in möglichst engen Grenzen an seiner Seite abfinden, um endlich ein „normaler Staat“ zu werden? – entschieden. Der Kurs der neuen Regierung bringt die divergierenden Linien zu einer Synthese:

„So wie ich die Sache sehe, ist das gesamte Territorium vom Jordan bis zum Meer integraler Bestandteil unseres Landes. … Aber manchmal ist die Realität komplex. … Deshalb muss eine Entscheidung getroffen werden, ob wir Israels Identität als jüdischer Staat verlieren oder auf einen Teil des Gebiets verzichten wollen, so dass Israel ein jüdischer Staat bleiben kann.“ (Olmert, Haaretz, 27.4.)

Die neue Regierung gibt den fundamentalistischen Anspruch, das gesamte Land in Besitz zu nehmen, das der Gott Jahwe seinem Volk versprochen hat, sprich die Palästinenser aus dem biblischen Territorium zu vertreiben, nicht auf. Wenn das Ziel aber selbst unter Israel-Freund Bush nicht zu erreichen ist, verbessert der jüdische Staat wenigstens seinen Status soweit, wie die USA es zulassen und unterstützen:

  • „Die Grenzen Israels, die sich in den kommenden Jahren herausbilden werden, werden sich deutlich vom heutigen israelischen Territorium unterscheiden.“ (Olmert, Antrittsrede vor der Knesset)
    Zu dem Zweck soll möglichst noch 2006 die von Israel errichtete Mauer bzw. Sperranlage im Westjordanland fertig gestellt und noch in dieser Legislaturperiode international als definitive, in gewisser Weise aber doch noch provisorische, nämlich für Israel revidierbare Staatsgrenze durchgesetzt werden. Durch die Einbeziehung der großen Siedlungsblöcke um Jerusalem herum und den Bau der Sicherheitsanlagen auf palästinensischem Gebiet plant Israel, ca. 40 Prozent des besetzten Territoriums zu annektieren; zudem soll Ostjerusalem endgültig Bestandteil „unserer vereinten Hauptstadt“ (Olmert) werden; schließlich beansprucht Israel auch das Jordan-Tal für sich, um die Ostgrenze zu Jordanien zu kontrollieren.
  • „Der Sicherheitszaun wird an die im Osten und Westen vorgesehenen Grenzen angepasst werden. Die operative Reichweite der Sicherheitskräfte wird nicht beschränkt und sich in Übereinstimmung mit der Realität der Sicherheitslage befinden, mit der wir fertig werden müssen.“ (Olmert, ebd.)
    Mit der hermetischen Grenze zu den Palästinensergebieten will die neue Regierung nicht nur die völkische Reinheit des jüdischen Staates sicherstellen, sie will vor allem den Dauer-Krieg gegen die Palästinenser, die ihr „Recht auf Gründung eines eigenen Staates“ durchsetzen wollen, aus dem Staatsgebiet Israels hinausverlagern. Aus Sicherheitsgründen sollen die 70.000 Siedler, die derzeit noch außerhalb des Befestigungsrings wohnen, heimgeholt und in die noch auszubauenden Großsiedlungen – Ma’aleh Adumim, Ariel, Greater Jerusalem and Gush Etzion – innerhalb der Mauer integriert werden. Israels Armee soll sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen, um, wenn immer es geboten erscheint, vom sicheren israelischen Staatsgebiet aus Angriffe auf „terroristische Ziele“ in den Palästinenser-Gebieten unternehmen zu können.
  • „Wir haben nicht die Absicht, allein zu handeln. Wir werden Beratungen, Diskussionen und Gespräche abhalten, und ich bin sicher, dass wir ein Einvernehmen erzielen werden, das eine breite Basis internationaler Unterstützung für diese Maßnahmen schaffen wird, zuallererst mit unserem Verbündeten und engem Freund, den durch Präsident George Bush geführten Vereinigten Staaten, und auch mit unseren Freunden in Europa.“ (Olmert, ebd.)
    Die Führung in Jerusalem will zwar nicht alleine handeln, aber ohne die Palästinenser, die nach den Oslo-Verträgen und der „Roadmap“ über die „Endstatus“-Fragen gleichberechtigt mitverhandeln sollten. Sie will einseitig – nur in Absprache mit den USA und deren Verbündeten – den Status Israels und der palästinensischen Gebiete festlegen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil Jerusalem nur ein stabiles Provisorium schaffen will, das für eine endgültige, für Israel noch günstigere Lösung Raum lässt. Die Verpflichtung, in Endstatus-Gesprächen gemäß Roadmap in Absprache mit der Gegenseite eine völkerrechtlich verbindlich abschließende Regelung der Palästinafrage anzustreben, soll damit endgültig vom Tisch sein. Dafür braucht Olmert das Plazet der obersten Weltordnungsmacht, das Israels Regelungen internationale Verbindlichkeit geben würde. Außerdem hofft er auf großzügige US-Beihilfen, weil das Projekt Israels finanzielle Möglichkeiten bei weitem überfordert. Zudem liegt ihm daran, dass Amerika auf die maßgeblichen arabischen Staaten einwirkt, diese Lösung der Palästinenserfrage nicht nur hinzunehmen, sondern auch noch mit der Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel zu honorieren. Wie schon sein Amtsvorgänger Scharon hält Olmert die fast uneingeschränkt positive Haltung der derzeitigen US-Regierung zu Israel für eine „einzigartige Chance“, die Israel keinesfalls verpassen sollte; darum will er das Projekt bis zum Ende von Bushs Amtszeit im Januar 2009 entschieden und abgesegnet haben.

Antiterrorkrieg gegen die Palästinenser – nun erst recht

Das schließt, wie gesagt, ein provisorisches Element zu Lasten der palästinensischen Seite ein: Israels Regierung ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass aus dem Palästinenser-Ghetto jenseits der israelischen Grenzen keinesfalls ein lebensfähiges politisches Gebilde wird, und der palästinensischen Bevölkerung jede Hoffnung auf aushaltbare Lebensbedingungen in den Territorien auszutreiben. Deswegen tut sie auch alles dafür, die USA davon zu überzeugen, dass jeglicher Versuch, ein palästinensisches Gemeinwesens neben Israel zu etablieren, notwendig die Gefahr des Terrorismus im Nahen Osten erhöht.

  • Israel bemüht sich um immer neue Beweise dafür, dass es auf palästinensischer Seite „keinen Friedenspartner“ hat, also gezwungen ist, einseitige Schritte zu unternehmen. In Bezug auf die neue Hamas-Regierung ist dies relativ einfach, solange die sich weigert, ohne israelische Gegenleistung das Existenzrecht des jüdischen Staates anzuerkennen und in Verhandlungen einzutreten, bei denen sie nicht als Partner „auf gleicher Augenhöhe“ anerkannt wird. Gegenüber Präsident und PLO-Chef Abbas, der sich als Alternative zur Hamas-Regierung anbietet und von den USA als vertrauenswürdiger Politiker anempfohlen wird, verfährt Olmert so, wie auch schon Scharon mit Erfolg verfahren ist: Seine Forderung nach „vertrauensbildenden Maßnahmen“ wird strikt zurückgewiesen, sämtliche israelischen Verpflichtungen aus der Roadmap – Siedlungsstopp, Einstellung des Mauerbaus, Erleichterung der Lebensverhältnisse, Einrichtung sicherer Passagen zwischen Westjordanland und Gazastreifen, Freilassung von Gefangenen, Einstellung der Liquidierungsaktionen – werden verweigert. Stattdessen beharrt Israel auf seinem altbekannten Katalog der Vorbedingungen für jegliche Verhandlung: Zerstörung der Infrastruktur des Terrors, Unterbindung jeglicher Hetze und Entwaffnung der Milizen, und fügt neuerdings hinzu: Sturz der Hamas-Regierung. Die israelische Regierung weiß, dass der Palästinenser-Präsident, selbst wenn er diese Kapitulationsforderungen akzeptieren wollte, gar nicht die Macht dazu hat, sie durchzusetzen. Die Unerfüllbarkeit der Bedingungen ist Bestandteil ihres Kalküls: zu zeigen, dass Abbas nicht die Lösung, sondern selbst Teil des palästinensischen Terrorismus-Problems ist.
  • Mit seinen Militäraktionen („außergerichtlichen Tötungen“, ständigen Razzien und massenhaften Verhaftungen) und Sicherheitsmaßnahmen (Vervielfachung der Straßensperren im Westjordanland, Einrichtung einer kilometerbreiten Todeszone im Gazastreifen als Reaktion auf die Angriffe durch Kassam-Raketen, immer häufigere totale Abriegelung der besetzten Gebiete) untergräbt der jüdische Staat schon lange jedes normale Leben im Westjordanland und erstickt jegliche Hoffnung im Gazastreifen, nach dem Rückzug der israelischen Besatzer würden sich die Lebensverhältnisse bessern. Nach dem Wahlsieg der Hamas erklärt die israelische Regierung, dass sie die gesamte palästinensische Autonomieverwaltung als „Terrorregime“ ansieht und die palästinensische Bevölkerung, die diese Führung gewählt hat, dafür büßen lassen will. Was ein israelischer Minister zynisch „den Palästinensern eine Diät verordnen“ nennt, sieht praktisch so aus, dass nicht nur 165.000 Staatsbedienstete keine Gehälter ausgezahlt bekommen, weil Israel die palästinensischen Zoll- und Steuereinnahmen einbehält, sondern dass die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen zeitweise unterbunden bzw. dauerhaft drastisch reduziert wird. Die israelische Armee macht die Grenzen zum Gazastreifen und den besetzten Gebieten tagelang dicht und öffnet sie nur noch nach eigenem Belieben.
  • Die ohnehin mit wenig Nachdruck vorgetragenen Appelle der US-Regierung, die humanitäre Situation in den palästinensischen Gebieten nicht noch mehr zuzuspitzen, kontert die israelische Regierung regelmäßig mit dem Verweis auf ihre vorrangige Verpflichtung, für die Sicherheit der eigenen Bürger zu sorgen. Einzelne Selbstmordanschläge und kaum Schaden anrichtende Angriffe mit Kassam-Raketen kommen wie gerufen, um zu belegen, dass die Sicherheitslage sich trotz Mauerbau und Rückzug aus dem Gazastreifen nicht grundlegend gebessert habe. Der Streit zwischen Fatah und Hamas, der nicht zuletzt wegen der Militär- und Boykottmaßnahmen der IDF immer schärfer wird, dient Olmert als Beweis, dass die Palästinenser gar nicht in der Lage sind, überhaupt ein geordnetes Gemeinwesen zu organisieren. Das in „den Gebieten“ herrschende Chaos soll die Welt davon überzeugen, dass dort ein einziger terroristischer Sumpf herrscht und Bushs gut gemeinte Vision eines „friedlichen Nebeneinander zweier Staaten“ eine gefährliche Illusion ist.

Der Sieg der Hamas – Auftakt zu einigem „Bruderkrieg“

In den Palästinensergebieten verweigern die Wähler der bisher regierenden Fatah ihre Zustimmung und schließen sich der Kritik der Hamas an, dass der Oslo-Prozess eine Sackgasse ist und nichts als die Aufgabe nationaler Interessen einbringt.

Über ein Jahrzehnt hat die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) unter Führung der Fatah sich abgemüht, den Aufbau eines palästinensischen Staatswesens voranzutreiben, und ist ständig auf die Schranke gestoßen, dass Israel und die USA ihr die dafür nötigen Mittel bestreiten und die Berechtigung zur Machtausübung absprechen:

  • „Palästinensische Autonomie“ hat nie bedeutet, dass die Autonomiebehörde (PA) die Macht im eigenen Land über eigene Untertanen ausüben kann. Als Besatzungsmacht bleibt Israel stets präsent, verfügt eigenmächtig über das palästinensische Territorium (Annexion, Siedlungsbau, militärische Stützpunkte, Mauerbau, Einrichtung von Sperrzonen und Straßensperren etc.), regelt die Außenbeziehungen (Überwachung der Grenzen, Verweigerung eines Hafens und Flughafens) und behält sich jeden Zugriff auf die palästinensische Bevölkerung (Razzien, Verhaftungen, gezielte Tötung, Deportation) vor. Die IDF behandelt selbst die palästinensischen Sicherheitskräfte wie Terroristen, wenn sie ihren Aktionen im Weg sind.
  • Finanziell ist die PA einerseits von den Zahlungen der Gebernationen (insbesondere USA und EU) abhängig, andererseits von der Bereitschaft Israels, die Abgaben, die es von den Palästinensern eintreibt, an die Führung in Ramallah abzuführen. Von einer ökonomischen Entwicklung kann in den besetzten Gebieten keine Rede sein. Die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte wird weitgehend durch das israelische Grenzregime unmöglich gemacht, Arbeitern wird der Zugang zu ihren Arbeitsplätzen in Israel verboten; der Großteil der Bevölkerung wird vom UN-Flüchtlingswerk notdürftig versorgt.
  • Von Anfang an schlägt sich die PLO mit dem Widerspruch herum, dass Widerstand gegen die Besatzungsmacht das einzige Druckmittel der Palästinenser ist, zugleich aber Israel und den USA den Vorwand liefert, jedes Eingehen auf ihre Forderungen abzulehnen und den Anti-Terrorkrieg in den besetzten Gebieten fortzusetzen. Der Streit, ob Kooperation mit der und Unterordnung unter die Besatzungsmacht oder deren Bekämpfung der effektivere Weg ist, ein eigenes Staatswesens zu erringen, entzweit nicht nur die verschiedenen Fraktionen innerhalb der Fatah und der PLO; er führt vor allem zu der erbitterten Feindschaft zwischen Fatah und Hamas, die immer mal wieder droht, zu einem regelrechten Bürgerkrieg zu eskalieren.

Nach ihrem Wahlsieg sieht sich die Hamas ermächtigt, einen Kurswechsel in der Politik gegenüber Israel und den USA durchzusetzen. Ministerpräsident Ismail Hanija verkündet, die neue Regierung sei zu einer „schrittweisen Friedenslösung“ bereit:

„Als Bedingung für eine Anerkennung seines Existenzrechts durch die Hamas müsse Israel einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 akzeptieren, die palästinensischen Häftlinge freilassen und ein Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr nach Israel anerkennen … Man werde alle Verträge mit Israel prüfen und sich an jene halten, ‚die im Interesse des palästinensischen Volkes sind‘. ‚Wir hegen keine feindseligen Gefühle gegenüber Juden. Wir wollen sie nicht ins Meer werfen. Wir wollen nur unser Land zurück und niemandem Schaden zufügen.‘“ (NZZ, 26.2.)

Das einzige Zugeständnis, das der neue Regierungschef Israel machen will, ist die Fortsetzung des Waffenstillstands, den die Hamas vor einem Jahr erklärt und in den eigenen Reihen auch durchgesetzt hat:

„‚Wenn Israel uns eine Zeit der Ruhe gibt und die Militäroperationen und Attentate stoppt, dann können wir unser Volk überzeugen, die Phase der Ruhe aufrecht zu erhalten.‘ Alles hänge von Israel ab.“ (ebd.)

Die Hamas will sich keinesfalls wie die Fatah mit einer Anerkennung wegen Wohlverhaltens abspeisen lassen, die weiter nichts wert ist. Sie verlangt von Israel, als eigenständige Regierung eines Staates im Werdestatus anerkannt und als gleichberechtigter Partner im „Friedensprozess“ respektiert zu werden. Im bilateralen Verhältnis soll das Prinzip von Leistung und Gegenleistung gelten. Bis der Gegner das akzeptiert, besteht die Hamas auf dem „Recht“ zum gewaltsamen Widerstand gegen die Besatzungsmacht. Auf diese politische Linie will die Hamas-Führung alle anderen Palästinenserfraktionen verpflichten und schlägt zu diesem Zweck die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit vor. Die PLO-Gruppierungen um Präsident Abbas lehnen dieses Ansinnen ab und verlangen umgekehrt das Einschwenken des Wahlsiegers auf ihren Kurs: die Anerkennung der Oslo-Verträge und das Bekenntnis zur Roadmap. Die Parlamentswahlen haben somit, was die innenpolitischen Verhältnisse angeht, zum Ergebnis, dass der Machtkampf, der seit den Tagen Arafats zwischen Autonomiebehörde und militanten Gruppierungen der „Ablehnungsfront“ stattfindet, nun auch in den gesamten palästinensischen „Staatsapparat“ getragen wird, was die Auseinandersetzungen auf der Straße zusätzlich anheizt:

  • Kaum ist die Regierung Hanija gewählt, verkündet Präsident Abbas, er könne sie gemäß palästinensischer Verfassung jederzeit entlassen, gestehe ihr jedoch vorläufig eine Probezeit zu. Er hält an seiner Forderung fest, dass die Hamas das Existenzrecht Israels anerkennen und sich an getroffene Vereinbarungen früherer Regierung halten muss, und fordert unverzüglich Kompetenzen zurück, die in den letzten Amtsjahren Arafats – um ihn zu entmachten – der Präsidentschaft entzogen und auf den Ministerpräsidenten übertragen worden waren, insbesondere die Kontrolle über die Sicherheitsdienste, die Zuständigkeit für die Außenpolitik und die Verhandlungen mit Israel. Hanija sucht diesen Streit dadurch zu entschärfen, dass er Abbas eine Arbeitsteilung anträgt: Solange Israel und die Internationale Gemeinschaft die Hamas-Regierung boykottieren, soll der Präsident seine weiterhin bestehenden Außen-Kontakte dazu nutzen, die Isolation zu durchbrechen, um die Lebensbedingungen der Palästinenser etwas erträglicher zu gestalten. So entstehen zwar Kompromisse über die Kompetenzfragen, die aber an den grundsätzlich gegensätzlichen Zielen beider Parteien nichts ändern. Während Hanija sich Zeit für die Etablierung seiner Regierung verschaffen will, strebt Abbas den Beweis an, dass die Hamas-Regierung die Palästinenser in nur noch größere Schwierigkeiten bringt und darum so schnell wie möglich gestürzt werden muss.
  • Beim Streit um die Kontrolle der Sicherheitsdienste entscheidet sich für viele Palästinenser auch die Frage, wie es künftig um ihr Einkommen steht. Fast ein Viertel der Bevölkerung bestreitet ihren Lebensunterhalt aus den Lohnzahlungen für diese Jobs. Die Fatah-Anhänger, die bisher das Personal der Polizei stellen, fürchten nicht nur, künftig durch Hamas Mitglieder ersetzt zu werden, schon jetzt sehen sie sich als Opfer der neuen Regierung, weil diese wegen des Boykotts durch Israel und die Geberländer keine Löhne auszahlen kann. Immer wieder kommt es darum zu gewaltsamen Protesten, Besetzungen von Ministerien und Polizeistationen. Inzwischen führen Konfrontationen zwischen den Anhängern der rivalisierenden Parteien auch zu Schießereien mit Toten und Verletzten.

Eine Herausforderung für die Weltaufsichtsmächte

Der Sieg der Hamas kommt für die USA überraschend. Schließlich sind die Wahlen auf ihr Drängen zustande gekommen, sollten ihrem Mann, Mahmud Abbas, für den die USA einige Wahlkampfgelder locker gemacht haben, den Rücken stärken, damit er die Entwaffnung der militanten Palästinenser endlich auf den Weg bringt. Zudem haben die israelischen und amerikanischen Geheimdienste auch den Sieg der Fatah fest vorausgesagt. Bush hat aber keine Mühe, diesen Rückschlag richtig einzuordnen:

„Wie Sie wissen, bin ich ein starker Befürworter von Demokratie und freien Wahlen, aber das bedeutet nicht, dass wir gewählte Politiker unterstützen müssen, die sich nicht für den Frieden einsetzen. Die Hamas hat klar gesagt, dass sie das Existenzrecht Israels nicht anerkennt, und ich habe im Gegenzug klar gesagt, dass wir keine Kontakte zur Führung der Hamas unterhalten werden, solange sie diese Politik vertritt. Demokratische Politiker können nicht mit einem Bein im Lager der Demokratie und mit dem anderen im Lager des Terrors stehen. Die Hamas muss die Forderungen der internationalen Gemeinschaft akzeptieren und Israel anerkennen, die Terroristen entwaffnen, den Terrorismus zurückweisen und damit aufhören, den Weg zum Frieden zu versperren.“ (Bush in einer Rede am 4.5.)

Er stellt Hanija und seine Mannschaft vor die Alternative: Entweder sie erfüllen die drei Bedingungen, die das Nahost-Quartett formuliert hat, „Bekenntnis zum Existenzrecht Israels, Verzicht auf Gewalt und Anerkennung der geschlossenen Verträge“, oder die USA behandeln sie als Terrorregime und sorgen für ihren Sturz. Als ersten Schritt, Druck auf die neue Regierung auszuüben, setzen die USA durch, dass die Unterstützungszahlungen der Geberländer eingestellt werden und dass Abbas noch vor Antritt Hanijas bereits geleistete Zahlungen der USA, die noch nicht verwendet wurden, zurücktransferiert.

Dass die Hamas sich davon nicht beeindrucken lässt – die stolze palästinensische Nation werde sich nicht erniedrigen lassen (Meschaal, FAZ, 25.4.) – und Gegenmaßnahmen ergreift, indem sie islamische und arabische Staaten als Ersatz-Geberländer gewinnt, werten die USA als Angriff auf sich als Ordnungsmacht im Nahen Osten. Schon die verbale Unbotmäßigkeit der Palästinenser-Regierung ist in ihren Augen ein Skandal, der Versuch, unter arabischen Staaten Solidarität und Sympathie für den Widerstand gegen Israel und die USA zu mobilisieren, ein feindseliger Akt und das Hilfeersuchen bei „Schurkenstaaten“ wie Syrien und Iran der endgültige Beleg für Terrorismus. Für die USA steht damit das Todes-Urteil für die Hamas-Regierung fest: Bis zu deren Kapitulation sorgt Washington dafür, dass der Autonomiebehörde und zwangsläufig auch der palästinensischen Bevölkerung sämtliche Unterstützungsgelder vorenthalten werden, die sie zum Überleben benötigen, indem es die amerikanischen und ausländischen Banken bedroht:

„Nach amerikanischem Recht können die amerikanischen Guthaben jeder ausländischen Bank, die sich weigert, mit den Vereinigten Staaten bei der Unterbindung der Finanzierung der Hamas zusammenzuarbeiten, eingefroren werden, und der Zugang zu den US-Finanzmärkten kann ihr versagt werden. Außerdem können US-Banken, die ‚Korrespondenz‘-Beziehungen mit gesperrten ausländischen Banken unterhalten, des Bruchs amerikanischen Rechts für schuldig befunden werden.“ (Haaretz, 2.5.)

Auf ihr Anti-Hamas-Programm als Unterfall ihres Antiterrorkriegs im Nahen Osten will die Bush-Regierung die gesamte internationale Gemeinschaft verpflichten. Das ruft die Konkurrenten in Weltordnungsfragen auf den Plan, die die Hamas-Regierung zwar gleichfalls zwingen wollen, bedingungslos das Existenzrecht Israels anzuerkennen und sich der Roadmap unterzuordnen, aber sich nicht den Weiterungen der USA und Israels anschließen möchten, die einen modernen Belagerungszustand gegen die Palästinenser eröffnen. Die EU will „ein Chaos“ im Gazastreifen und in der Westbank vermeiden, „das Auswirkungen auf die gesamte Region haben könnte“, und besteht darauf, die harte Linie gegen die Hamas mit einer Nothilfe für die palästinensische Bevölkerung und der Stärkung der Stellung von Abbas zu verbinden.

Die Ordnungsmächte einigen sich schließlich auf eine Lösung, die probehalber für drei Monate gelten soll:

„Das Quartett erzielte die „stillschweigende Übereinkunft“, einen Treuhänderfonds einzurichten, der die Gehälter der palästinensischen Beamten über das Büro des Vorsitzenden der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, auszahlt… Die USA erklären sich dazu bereit, 10 Mill. Dollar für medizinische Hilfe zur Verfügung zu stellen und diese direkt an Hilfsorganisationen auszuzahlen.“ (NYT, 10.5.)

Unter Umgehung der frisch gewählten Regierung soll die Bevölkerung betreut und davon abgehalten werden, ein Chaos zu veranstalten. Das Nahostquartett erfindet so eine neue Form des „nation building“, nämlich indem es folgendes Experiment veranstaltet: Wie lässt es sich hinkriegen, ein Volk, das gerade seinen Willen zu einer neuen Obrigkeit bekundet hat, dieser zu entziehen, bis es sich in die ihm aufoktroyierte Rolle als ausgegrenzte Restbevölkerung fügt, die sich ihren politischen Willen vom großen Nachbarn diktieren lässt? In der Verfolgung dieses Zwecks unterscheiden sich die Aufsichtsmächte in Nuancen: Während die EU und Russland der Hamas – unterschiedlich weit – „die Tür offen halten“ wollen, sich zu bekehren, sind die USA entschieden, an Hanija und seiner Mannschaft wieder einmal vorzuführen, dass Auflehnung gegen ihren Willen den Regimewechsel zwangsläufig nach sich zieht. Derweil sorgt Israel dafür, den unhaltbaren Zustand in den Palästinensergebieten aufrechtzuerhalten, damit der Transfer der Bevölkerung in die arabischen Nachbarstaaten auch nach der „endgültigen“ Grenzziehung als alternative Lösung auf dem Tisch bleibt.