Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
„Der Afghanistan-Einsatz: Zwischen Scheitern und Versagen“
Die teuerste Hinrichtung der Weltgeschichte und ihre Nebenwirkungen

Im Sommer 2021 passiert es: Was sein Vorvorgänger Obama schon als Projekt verkündet und beworben hatte, was sein unmittelbarer Vorgänger Trump unter der Parole „Bring our boys back home“ praktisch in die Wege leitete, das zieht der nun amtierende Präsident Biden durch – er befiehlt den Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan; sofort, bedingungslos, vollständig. Und er legt Wert darauf, dass dies als Akt überlegener Freiheit Amerikas geschieht und auch so wahrgenommen wird: Für die Lage und Zukunft Afghanistans erklärt er die von ihm angeführte Weltmacht für unzuständig, denn das, was seiner oberkommandierenden Definition gemäß Sinn und Zweck des Einsatzes war, das ist erledigt: „We delivered justice to bin Laden.“

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

„Der Afghanistan-Einsatz: Zwischen Scheitern und Versagen“
Die teuerste Hinrichtung der Weltgeschichte und ihre Nebenwirkungen

1.

Im Sommer 2021 passiert es: Was sein Vorvorgänger Obama schon als Projekt verkündet und beworben hatte, was sein unmittelbarer Vorgänger Trump unter der Parole Bring our boys back home praktisch in die Wege leitete, das zieht der nun amtierende Präsident Biden durch – er befiehlt den Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan; sofort, bedingungslos, vollständig. Und er legt Wert darauf, dass dies als Akt überlegener Freiheit Amerikas geschieht und auch so wahrgenommen wird: Für die Lage und Zukunft Afghanistans erklärt er die von ihm angeführte Weltmacht für unzuständig, denn das, was seiner oberkommandierenden Definition gemäß Sinn und Zweck des Einsatzes war, das ist erledigt: We delivered justice to bin Laden. Die Weltmacht hat erfolgreich Rache genommen an dem Terroristen, der es gewagt hatte und dem es gelungen war, ihr in ihrem politischen und wirtschaftlichen Zentrum einen Schlag zu versetzen. Bis dahin – over a decade ago – waren also offensichtlich der Afghanistan-Krieg, die Zerstörung des Landes und alle Kosten für die USA gerechtfertigt; seither nicht mehr, zumal ihm seine Fachleute versichern, dass auch die Gefahr weiterer Terrorakte gegen Amerika von Afghanistan aus unter Kontrolle ist. Seinen westlichen Alliierten lässt Biden damit keine andere Wahl, als auch so schnell wie möglich abzuziehen, ohne dass sie für sich dieselbe Attitüde des souveränen Siegers geltend machen könnten. Aber das ist ihm egal, denn für die Macht, der er vorsteht, bleibt es dabei: Mission accomplished.

2.

Das sieht die deutsche Öffentlichkeit im Verein mit der gedemütigten deutschen Politik anders. Sie lässt sich von den herzzerreißenden Bildern, die Szenen der Verzweiflung am Flughafen von Kabul zeigen, an Saigon erinnern, womit erstens feststeht, was diese Bilder sind: Zeugnisse einer schmachvollen Niederlage. Wessen? Der des Westens, der rückblickend noch einmal als Kampfgemeinschaft beschworen wird, um insbesondere seine Führungsmacht der durch Verrat herbeigeführten Niederlage zu bezichtigen.

Darin enthalten ist zweitens eine deutliche Botschaft bezüglich dessen, worin die „Niederlage“, „das Scheitern“ eigentlich genau bestehen: im „Schicksal der Menschen vor Ort“, die nun wieder unter die Herrschaft der zwei Jahrzehnte lang bekämpften Taliban geraten werden. Und dass dies nichts anderes als ein einziges Grauen sein kann, belegen die Bilder von der Verzweiflung, die bis zum suizidalen Fatalismus derer reicht, die sich an startende Flugzeuge klammern. Was diese Leute nunmehr zu erwarten haben, steht fest: Die Rückkehr zu all den Unsitten einer islamistischen Herrschaft, die insbesondere für Frauen eine einzige große Trostlosigkeit darstellt, die in ihrem Kontrast zu allem, was man aus dem Westen kennt, ausführlich bebildert wird:

„Was sie erwartet, ist eine komplette Entrechtung. Schon jetzt werden Reporterinnen im staatlichen Fernsehen entlassen, Aktivistinnen entführt, Mädchen an Talibankämpfer zwangsverheiratet und damit versklavt. Schon bleiben Schulen geschlossen, trauen sich Frauen vielerorts nicht mehr ohne männliche Begleitung aus dem Haus. Viele fürchten sexualisierte Gewalt, Unsichtbarkeit und Unsicherheit, ökonomische Abhängigkeit. Bald könnten Frauen wieder überall nicht mehr beim Namen gerufen werden, sondern nur noch als ‚Ehefrau von‘, ‚Tochter von‘, ‚Eigentum von‘ bezeichnet werden. Ihnen droht Entpersonalisierung.“ (SZ, 23.8.21)

Analoges gilt für all diejenigen, die darauf gesetzt hatten, in einem wenigstens halbwegs freien, friedlichen und die Menschenrechte wahrenden Staat leben zu können (faz.net, 16.8.21). Auch in Bezug auf diese Abteilung von Afghanen bleibt es nicht der individuellen Phantasie überlassen, wen man sich darunter vorzustellen habe. So detailreich, wie es die an Afghanistan in den letzten Jahren weitgehend desinteressierte Öffentlichkeit kaum je getan hat, werden Frauen und Männer in Szene gesetzt, deren Angst vor der Zukunft so heftig wie nachvollziehbar ist, weil sie sich bis gestern noch unter dem Schutzschirm der westlichen Interventionsmächte in einer Weise und für Anliegen exponiert haben, die man von hierzulande kennt und schätzt: Freie Radiomacher kommen da zu Wort und Professorinnen, Betreiber von Mädchenschulen und Läden für Damenmode, AktivistInnen in Geschlechter- und Genderfragen und Wahlhelfer...

Wie gesagt: Egal, ob von Frauen die Rede ist, die ganz ohne jedes eigenes Zutun, schlicht weil sie Frauen sind, unter der neuen Taliban-Herrschaft wenig Gutes zu erwarten haben, oder von Leuten, die fest damit rechnen dürfen, auf die Verfolgungs- oder Abschusslisten der Taliban zu geraten, weil sie sich in einer Weise betätigt haben, die die neuen Herrscher als unanständig bis feindselig einstufen – noch stets läuft die menschliche Anteilnahme mit den schlimmen Schicksalen dort auf den Abgleich mit den Verhältnissen hier hinaus, und das ist eine Aussage über den Zweck, den höheren, „unseres“ Afghanistan-Einsatzes, der – man „sieht“ es ja an diesen Bildern – darin bestanden hat, den Leuten dort die guten, normalen, menschengemäßen Verhältnisse zu bringen, die ‚bei uns‘ die Norm sind.

Gemessen daran ist der Einsatz tatsächlich gescheitert. Zu ganz eigenen Ehren kommt daher eine Gruppe von Afghanen, die diesen Sinn des Einsatzes und sein Scheitern in besonderer Weise verkörpern: die „Ortskräfte“. Die waren für die Öffentlichkeit hier, solange der Krieg noch lief, so wichtig oder unwichtig wie der ganze Rest des „Grauens“, das anlässlich des Abzugs ein paar Tage lang beschworen wird. Übersetzer, Köche, Chauffeure ... eben all die Kollaborateure, die ein solcher Militäreinsatz vor Ort braucht, die sich stets für Geld und mitunter vielleicht sogar aus Überzeugung als Dienstkräfte zur Verfügung gestellt haben, inkarnieren die gute Sache der westlichen Militärmission – die Installation westlicher, also menschlich-normaler Verhältnisse – ebenso wie deren, also „unser Scheitern“, praktisch und moralisch. So wird der Aufenthalt einer zwischenzeitlich reduzierten, aber bis zum Schluss schlagkräftigen internationalen Truppe zum moralischen Dienstverhältnis an ihren Helfern vor Ort, der Abzug darum ebenso zur moralischen Affäre mit eindeutiger Rollenverteilung: Die „für uns den Kopf hingehalten haben“, werden jetzt „von uns im Stich gelassen“. „Scheitern des Westens“ eben.

3.

So eindeutig dieser Befund ergeht, so sehr sind Zweifel angebracht.

Nein, nicht in dem Sinn, dass es irgendwie fraglich wäre, was aus den paar Errungenschaften in Sachen westlicher Zivilisation und Lebensart wird, die sich vorzugsweise im Bereich der Organisation des Privatlebens und der Kultur freier Meinungs- und Geschmacksbildung abspielen; die – von den Frauenrechten bis hin zu Tanz, Gesang und freiem Polittalk – werden von den Taliban mit dem passenden Furor und der dazugehörigen Gewalt ganz sicher zielstrebig abgeräumt.

Anzuzweifeln ist vielmehr deren Gleichsetzung mit westlicher Zivilisation und ihrem Export. Woran da gedacht und was da mithilfe der einschlägigen sympathischen Charaktere von der Hochschulrektorin bis zum Blogger bebildert wird, das bestimmt nämlich auch in den Heimat- und Absenderstaaten moderner Zivilisation schon nicht das ganze Leben. Das dreht sich bekanntlich vor jedem Feierabend mit Wein, Weib und Gesang ökonomisch permanent ums Geld und dessen Verdienen im kleinen wie im großen Maßstab, was – auch dies ist bekannt – durch den permanenten regelnden Einsatz der Rechtsgewalt des Staates begleitet wird.

Und was die dafür einschlägigen paar Grundprinzipien westlicher Zivilisation – ihrer Ökonomie und ihrer gewaltmäßigen Administration – angeht, ist der Einsatz des Westens für deren Export nach Zentralasien ganz sicher nicht nach Wunsch seiner Befehlshaber verlaufen, aber ebenso sicher auch nicht ohne einschneidende Wirkung geblieben. Dies wird ironischerweise gerade an den paar Facetten der Zustände in Afghanistan deutlich, die in den Augen der öffentlich enttäuschten Parteigänger westlicher Zivilisierungsanstrengungen für das Land mit Vorliebe mal als Bebilderungen, mal als Gründe dafür zitiert werden, dass der Westen mit seinen guten Werken dort hinten gescheitert ist.

4.

a) Dass es nicht geklappt hat, den Afghanen – Menschen und Land – eine materielle Perspektive zu geben und zu vermitteln, ist ein Gemeinplatz, der regelmäßig unter Hinweis auf die Blüte der Opiumwirtschaft in Afghanistan plausibel gemacht wird. Nur – steht die nicht eher fürs Gegenteil? So viel Marktwirtschaft ist offensichtlich in Afghanistan angekommen: Auch dort wird modern vom Geld gelebt, also für Geld gewirtschaftet. Und das geht, die marktführende Stellung der afghanischen Opiumbauern beweist es, unter den dortigen Gegebenheiten mit dem Anbau, der Weiterverarbeitung und dem Export der rauscherzeugenden Ware offensichtlich besser als mit den wenigen überhaupt vorstellbaren Alternativen. Womit der Afghane zugleich die Einsicht beweist und praktiziert, dass es, wenn schon aufs Geld, dann nicht auf irgendeines ankommt, sondern vorzugsweise auf den Dollar, das papierne Symbol schlechthin westlicher Lebensart nach ihrer materiellen Seite. So: als größter und verlässlicher Versorger des einschlägigen weltweiten Kulturbetriebs samt Drogenpartys, -toten und -kriegen ist Afghanistan geradezu vorbildlich integriert in das vom Westen dominierte Global Village mit seinen Lieferketten und Geldströmen. Und umgekehrt: Die Tatsache, dass sich ansonsten mit Feldfrüchten in Afghanistan kein Geld von der richtigen Sorte und in der nötigen Menge verdienen lässt, ist ebenfalls schon lange kein Resultat der sprichwörtlichen Abgeschiedenheit des Landes mehr. Den Bauern fehlen mit dem Geld die dafür auf dem Weltmarkt käuflichen technischen Möglichkeiten, aus ihren Böden mehr herauszuholen; sie wirtschaften stattdessen mit „traditionellen“, also den billigsten Mitteln. Entsprechend dürftig sehen ihre Ernten aus, wenn sie durch die ortsüblichen Naturlaunen nicht komplett ausfallen – von Überschüssen ganz zu schweigen, mit denen sie auf dem Weltmarkt konkurrieren könnten. Umgekehrt fehlt es ihren Landsleuten nicht an Bedarf nach Agrarprodukten, sondern wiederum an dem Geld, diese den Bauern zu Preisen abzukaufen, von denen die irgendwie leben können. Und darum sind die alternativen Visionen von legalen landwirtschaftlichen Produkten auch keine Alternativen – auch dann nicht, wenn sie ihnen im Zuge westlichen Zivilisierungselans durch regelmäßiges Niederbrennen ihrer Mohnfelder nahegebracht werden sollen. Die fälligen Ausnahmen sind darum auch in Afghanistan nicht der mögliche Anfang davon, dass alles ganz anders kommen wird, sondern bestätigen die Regel: Am gelegentlich zitierten Safrananbau für die kulinarische Luxussparte auf dem Weltmarkt zeigt sich der Geschäftssinn afghanischer Agrar-Kleinstunternehmer, die erfolgreich den Standortvorteil in Sachen Ausbeutung von Billigstarbeitern entdeckt haben und kleinflächig legale Alternativen zum Opium erschließen – mit vielen fleißigen Mädchenhänden, die endlich ihrem Menschenrecht auf freie Teilhabe an der Konkurrenz nachkommen und fürs finanzielle Überleben ihrer Familien Staubbeutel zupfen.

Und auch im großen Maßstab ist das Land erfolgreich zivilisatorisch aufs Gleis gesetzt worden. Das zeigt sich an den Bedenken darüber, wie „stark importabhängig“ das Land mit seiner „chronisch negativen Handelsbilanz“ ist, und ebenso an den offen und öffentlich gewälzten Kalkulationen hinsichtlich der ökonomischen Erpressbarkeit der unliebsamen neuen Herren: All dies lebt und geht aus davon, dass Afghanistan gemäß den Prinzipien ökonomischer Bereicherung in den Weltmarkt integriert ist, dass also nationaler, aus auswärtigen Quellen gespeister Bedarf und internationale Angebote, daran nach Kräften zu verdienen, auch in diesem Land zusammenkommen; mit den entsprechenden Konsequenzen und auf jeden Fall für die eine Seite profitabel. Andernfalls gäbe es die einschlägigen Statistiken gar nicht. Ein ziemlich häufig thematisiertes, dabei aber gänzlich unpassend kommentiertes Highlight ist in diesem Zusammenhang im Übrigen der Umstand, dass – nach welchen Formeln auch immer ausgerechnet – ein größerer Teil des Bruttoinlandsproduktes Afghanistans bisher unmittelbar der auswärtigen Militärpräsenz mit ihrem umfassenden Bedarf an Ausrüstung, Nachschub und Versorgung entsprungen ist. Einen zwanzig Jahre währenden Dauerkrieg zwischen auswärtigen Interventionsmächten und inländischen Freischärlern unter dem Gesichtspunkt des finanziellen Aufwandes und seines Beitrags zur lokalen Geschäftstätigkeit zu bilanzieren: auch dieser marktwirtschaftlich absolut sinnvollen Perversion ist das Land inzwischen zugänglich, was ohne Integration in die moderne Zivilisation des Kommerzes nicht zu haben wäre.

Dass diese Integration im Falle Afghanistans zu größten Teilen in der geschäftlichen Ausnutzung des Krieges und international finanzierter Aufbauprojekte sowie im Abgreifen der Geldflüsse der internationalen Almosenindustrie besteht, ist erstens Pech für das Land, zweitens kein Verstoß gegen das ökonomische Grundprinzip westlicher Lebensart und drittens – das lehrt ein Blick in die unmittelbare und erweiterte Nachbarschaft des Landes – allerhöchstens in dieser Kombination so etwas wie eine Besonderheit dieses Landes.

b) Auch in Gewaltdingen ist Afghanistan dank westlicher Bemühungen schon lange kein vormoderner, von den entsprechenden Errungenschaften der modernen Welt isolierter Staat mehr.

Das geht schon bei den sachlichen Mitteln los. Die Weisheit, dass es bei denen nicht auf die koschere Herkunft, sondern auf die Feuerkraft ankommt, beherzigen noch die bärtigsten paschtunischen Salafisten, die bereits vor nunmehr 40 Jahren bei ihrem Kampf gegen die atheistischen Kommunisten des Segens der Produkte christlich-abendländischer Rüstungsschmieden teilhaftig werden durften. Geändert hat sich seither in Afghanistan die westliche Interessen-, also die örtliche Auftragslage und mit der die Art, wie man an die feine Ware gelangt. In dieser Hinsicht ist gerade den von „Freiheitskämpfern“ zu „Warlords“ mutierten Konkurrenten um die Macht über Afghanistan bzw. Teile davon das Prinzip vertraut, dass auch da alles eine Frage des Geldes ist.

Das hat bei den einschlägigen Figuren sehr schnell zu der nächsten Erkenntnis geführt, dass, was auch immer sonst noch ihre Agenda sein mag, der erste und dauerhaft abzuarbeitende Zweck der Macht, über die sie jeweils verfügen, in der Erschließung von und in den notwendigen Dienstleistungen an entsprechenden Geldquellen besteht. Noch jeder bedeutendere Warlord hat neben seinen Leuten fürs Schießen seine Experten für den Kommerz, mancher kleinere Feldkommandeur erledigt beides in Personalunion, und alle zusammen organisieren dann die „Ökonomie der Gewalt“, über die sich westliche Beobachter empören, weil ihnen jegliche Symbiose von Geld, Geschäft und obrigkeitlicher Gewalt von daheim natürlich völlig unbekannt ist. In Afghanistan entdecken sie jedenfalls so schlimme Sachen wie Wegelagerei, Waffenhandel und von den Herren über die jeweiligen Landesteile und Grenzabschnitte geduldeten Schmuggel, und das hat in ihren Augen selbstverständlich überhaupt keine Verwandtschaft zu den Zuständen daheim, wo sich ein richtiger Staat, der übers ganze Land regiert, mit seinem Steuerapparat an den Geldeinkommen einer brummenden kapitalistischen Nationalökonomie bedient und auf die Weise auch seinen Bedarf an Gewaltmitteln finanziert.

An dem Maßstab einer das ganze Land regierenden Zentralgewalt, die nicht einfach nur die größte, sondern die monopolistische Inhaberin des Rechts und der Mittel zur Gewaltausübung ist, blamieren sich die kämpfenden Parteien in Afghanistan zwar sämtlichst. Aber so viel zivilisatorischen Fortschritt hat der Militäreinsatz in Afghanistan doch gebracht, dass sie in ihrer Konkurrenz um Landesteile und Geldquellen alle auf die Zentrale in Kabul bezogen worden sind und sich bezogen haben. Der über 20 Jahre im Land geltend gemachte westliche Anspruch, eine proamerikanische Zentralregierung in Kabul zu installieren, der sich alle diese konkurrierenden Machtansprüche im Land zu- und unterordnen, hat in dieser Hinsicht durchschlagend sittenbildend gewirkt. Dies allerdings nicht durch die moralische Kraft des Vorbilds, sondern zum einen durch die Ausstattung der Zentrale mit vergleichsweise groß dimensionierten Geldmitteln und zum anderen durch die Schaffung einer Armee, der mit dem Abzug ihrer Paten zwar der Sinn abhandengekommen ist, die es aber immerhin zur zwischenzeitlich größten Kriegspartei im Lande gebracht hat.

Entsprechend hat dann auch die Zentrale in Kabul funktioniert, zwar nicht im gewünschten Sinne einer Macht, die verlässlicher Vasall westlicher Ansprüche sein und zugleich und immer mehr machtvollkommener Herr übers ganze Land werden sollte, aber auf eigene, durchaus folgerichtige Weise: Jeglicher Kabuler Herrschaftswille und dementsprechend die Konkurrenz um den Zugriff auf möglichst große Teile der vom Westen gesponserten Zentrale richtet sich auf die von außen bereitgestellten Mittel, aber er richtet sich natürlich nicht einfach an ihnen aus. Die Politiker, die es mit westlichem Segen in die in Kabul eingerichteten Ämter geschafft haben, handhaben sie als Mittel für ihre von den westlichen Invasoren neu entfachte und auf Kabul hin orientierte Konkurrenz. Und die dreht sich – ganz modern und angepasst an die gegebenen Umstände – um nichts anderes als die wechselseitige Nützlichkeit bzw. Nutzbarmachung von Geld- und Gewaltmitteln. Insofern belegen weder die „Warlords“ in den Provinzen noch die „korrupten Politiker“ in der Hauptstadt eine für dieses ‚Volk‘ mit seinen diversen verfeindeten ‚Volksgruppen‘ typische Resilienz gegenüber westlichen Fortschrittsunternehmungen; vielmehr sind beide Zeugnis konsequenter Anpassung an die vom Westen etablierten Bedingungen dessen, was in diesem Land allenfalls an Herrschaft funktioniert. Dem Ideal guten Regierens, in dessen Namen der Westen seinen Anspruch auf Staaten exportiert, die mit ihrer freiheitlich-demokratischen Verfasstheit die zuverlässig abrufbare Botmäßigkeit und Dienstbarkeit garantieren, entsprechen sie damit aber natürlich nicht – aber wo auf der Welt tun das die regierenden Ganoven schon, mit denen der Westen bei allen Abweichungen von den einschlägigen Checklisten seine Beziehungen pflegt? Und sogar aufs Wählen-Lassen haben sich die Machtkonkurrenten in Afghanistan eingelassen. Diese Übung ist unter den Bedingungen einer ausländischen Militärbesatzung, die ihren Krieg gegen ihre Feinde im Lande führt, noch nicht einmal dem Schein nach eine Verbeugung vor dem Fetisch eines Volkssouveräns, sondern der Kotau vor den Besatzern, den diese verlangen. Auch das entspricht ganz sicher nicht dem, was Wahlen im Westen sind. Aber was sollten sie unter diesen Umständen in Afghanistan eigentlich anderes sein?

c) Sogar die steinzeitmäßigen Taliban machen ihrem Namen alle Ehre und erweisen sich als gelehrige Schüler ihrer westlichen Gegner. Aus der Steinzeit entsprungen waren zwar schon die „alten“ Taliban nicht, denn immerhin wussten sie, von welchen schon seinerzeit in Afghanistan um sich greifenden Errungenschaften der westlichen Welt sie ihr Volk ‚befreien‘ bzw. von welchen sie es von Anfang an fernhalten wollten; und solidarisch waren sie mit auswärtigen Glaubensbrüdern, deren Kampf seinerseits eine zeitgemäß moralische Opposition gegen das Wirken des Westens in ihrem Teil der Welt war. Die „neuen“ sind allerdings gemäß dem alles entscheidenden Unterscheidungskriterium zwischen einer modernen und einer vormodernen Staatsgewalt ein wirklicher Fortschritt: Mit dem oppositionellen Isolationismus ihrer Vorgängergeneration haben sie nichts mehr am Hut. Sie spechten auf die Anerkennung der lieben Familie von Staaten, die sie bis neulich noch unter Führung einer westlichen Elite nach Kräften bekämpft hat, und das schließt bei ihnen die eifrig praktizierte Einsicht ein, auf wen es da besonders ankommt. Mit Trump haben sie sich auf eigene und isolierte Verhandlungen eingelassen in der Sicherheit, dass ein Einvernehmen mit der amerikanischen Weltmacht jeden Kompromiss mit ihren rivalisierenden afghanischen Volksgenossen und Glaubensbrüdern überflüssig macht. Die erste große praktische Bewährungsprobe in dieser Frage haben sie während Bidens Abzug absolvieren dürfen und bestanden: Dem ausgehandelten Vertrag folgend haben sie sich darauf verlegt, die afghanische Armee in die Flucht zu schlagen; den Ungläubigen aus Amerika und Europa haben sie sich nicht mehr entgegengestellt und sich sogar für Security-Dienste rund um deren Abzug hergegeben. Eingebracht hat ihnen das immerhin, dass auch Amerika sie militärisch in Ruhe gelassen hat und weiter lässt, womit endgültig deutlich wird, wo der wirklich gültige, nämlich in den westlichen Hauptstädten und Generalstäben getroffene Unterschied zwischen unbedingt zu bekämpfenden Menschheitsfeinden und anderen Gewalthabern liegt: bei Frauenrechten und Ähnlichem jedenfalls nicht.

d) Und die „einfachen Afghanen“? Die stehen, wie man den vertrauenswürdigen Berichten in Presse und Funk entnehmen kann, sehr viel Schlange. Zum einen an den Läden, bei denen sie ihren Bedarf an Gebrauchsgegenständen aller Art gegen Geld decken. Dass gemäß den Fernsehbildern und Zeitungsberichten diese Schlangen umso größer sind, je grundlegender und existenzieller der Bedarf verfasst ist, der sie dahin treibt, und je billiger die entsprechenden Lebensmittel zu bekommen sind, kennt man freilich nicht nur aus Afghanistan und ist völlig in Ordnung, in marktwirtschaftlicher nämlich. Sodann fangen die Fernsehkameras – oftmals noch viel längere – Schlangen ein, die sich vor Bankfilialen bilden, aus denen Afghanen das Geld, über das sie allenfalls verfügen, abholen. So zivilisiert ist offensichtlich Afghanistan inzwischen allemal, dass zwischen dem Besitz von Geld und der Möglichkeit, es zu benutzen, ein Bankensystem samt Schaltern und Automaten liegt, von dem die Afghanen – in Gelddingen inzwischen geschult – wissen, dass sie dem mit ihren paar Ersparnissen komplett ausgeliefert sind; rasante Geldentwertung und gelegentliche Nichtauszahlung des hart verdienten Geldes inklusive. Apropos ‚Geld verdienen‘: Dass alle Afghanen Geld brauchen, also irgendeine Gelegenheit, sich eines zu verdienen, heißt für sehr viele von ihnen dummerweise nicht, dass sie auch eine haben. Letztere stehen, wie das Fernsehen ebenfalls zeigt, dann in eigenen Schlangen. Zwar nicht auf dem Arbeitsamt – so schön bürokratisch geht es in Afghanistan dann doch noch nicht zu –, aber dafür auf den Bürgersteigen und an den Straßenrändern der Städte des Landes, die – hat man das nicht schon von woanders gehört? – unter dem modernen Phänomen der „Landflucht“ leiden. Da warten sie dann, wie man vorgeführt bekommt, auch ohne eine Nummer zu ziehen, gesittet darauf, dass sich irgendjemand findet, der sie für irgendeine Arbeit brauchen kann, die er ihrer Tagelöhnernot entsprechend schlecht bezahlt. Und für diejenigen Wartenden, die leider nicht abgeholt werden, gibt es dann noch eine letzte Gelegenheit, sich anzustellen: an den Verteilpunkten und Suppenküchen einer vor allem international gesponserten und betriebenen Almosenindustrie, die – ausweislich der dem Publikum der Auslandsberichterstattung gut vertrauten Aufdrucke auf den Lebensmittelverpackungen und den Helferuniformen – für Afghanistan nun wirklich nicht eigens erfunden werden musste. Irgendwie exotisch ist das alles nicht, sondern sieht dem Lebenswandel ziemlich ähnlich, dem die eben kein bisschen speziell für Afghanistan typische, sondern weltweit anzutreffende Spezies nachgeht, die man überall in Rubriken wie „einfache Menschen“, „kleine Leute“, „Ärmste der Armen“ oder, etwas weniger herzig, „die Unterschicht“ einsortiert.

Den stereotypen Reim, den die Afghanen sich auf ihre Lage machen, kriegen sie zusammen mit den Trümmern des westlichen Reichtums, die in Afghanistan landen, gratis auch noch geliefert. Dass man bloß Geld genug zu haben braucht, um sich die leisten zu können, erfahren sie praktisch, als Not, es zu erwerben. Dass man mit richtig viel Geld allen möglichen Luxus kaufen kann, der außerhalb ihrer Reichweite liegt und womöglich bis vor kurzem außerhalb ihres Vorstellungsvermögens gelegen hat, führt ihnen ihre nationale Elite mit ihren Luxuskarossen, Edelvillen, den Maßanzügen und ihren Stelldicheins in den Luxushotels von Kabul und Kandahar vor: Inhaber politischer und militärischer Ämter, die ihre Posten zu Geld machen konnten, und Geschäftemacher, die sich am Krieg und den Aufbauprojekten des Auslands gesundgestoßen haben. Wo der ganze schöne Reichtum herkommt, das verraten ihnen die Labels auf den Waren und Containern. Und das Satellitenfernsehen sowie das Internet, zu dem man auch in Afghanistan per Billig-Smartphone und Datentarif Zugang hat, liefern den Rest der Erklärung dafür, wie das alles zusammenhängt und was das mit einem selbst zu tun hat: Wer schön, tüchtig, raffiniert oder einfach skrupellos genug ist, für den ist die Marktwirtschaft nicht nur eine riesengroße Warensammlung, sondern eine ebenso große Ansammlung von Chancen dafür, die für den Zugriff auf all das Zeug notwendige Kohle zu beschaffen. Dass sie in Afghanistan – wenn überhaupt – in aller Regel nicht zu mehr kommen als den Billigvarianten der schönen kapitalistischen Warenwelt, den gebrauchten Smartphones und den verbeulten Pick-ups, übersetzen sie regelmäßig so, wie es ihnen die Gesellschaftskunde nahelegt, die mit jeder Zeitungs- und Leuchtreklame und jeder Seifenoper ergeht, egal ob sie aus Holly- oder aus Bollywood stammt: Am Ort der Quelle müsste man sein, also idealiter im Westen. So, ganz schlicht und ohne propagandistische Extraanstrengung, hat sich der Westen in den Materialismus der Afghanen eingenistet – als Idealismus über den westlichen Sehnsuchtsort, dessen Sitten sie, soweit sie dazu in der Lage sind, nacheifern oder nachäffen. Schwärmen können sie während ihres afghanischen Überlebenskampfes auf jeden Fall, und sei es nur in der – im deutschen Fernsehen exemplarisch vorgeführten – Form, am eigenen schrottreifen Auto, mit dem man als Taxifahrer sein Brot verdient, einen gefälschten Mercedes-Stern anzukleben.

Aber wie es sich für ein modernes Land gehört, gibt es diesen Idealismus auch in einer weniger profanen Form, und zwar bei einer inzwischen auch dort ansässigen Bildungselite, deren Angehörige ihre Modernität und westliche Aufgeklärtheit genau in der dünkelhaften Form vor sich hertragen, die man von den Originalen in den Metropolen auch kennt: Sie halten ihre hinterwäldlerischen und ungebildeten Volksgenossen schlecht oder gar nicht aus und glauben allen Ernstes, das Leben im Abendland, in das es darum auch sie so heftig zieht, bestehe aus dem freien Diskurs und der individuellen Selbstentfaltung, zu dem und der es sie drängt, und die Kleinigkeit mit dem materiellen Dasein erledige sich für feine und freie Geister wie sie schon irgendwie, wenn sie erst einmal am Ursprungsort aller Ideale der Freiheit und Selbstbestimmung landen dürfen.

Aus beiden Abteilungen von Afghanen rekrutiert sich der Drang Richtung Westen, wo er als Konsequenz und Ausweis der Unübertrefflichkeit „unserer liberalen Wirtschaftsordnung“ und „unserer Werte“ gilt. Die intellektuellen Vertreter und politischen Aktivisten höherer westlicher Güter in Afghanistan haben sich daher einen sehr kurzen Moment lang reger Anteilnahme an ihren Schicksalen und öffentlichen Verständnisses für ihre Auswanderungspläne, sogar eines bisschen Mitfieberns, erfreuen dürfen. Was der westlichen Öffentlichkeit darum leicht gefallen ist, weil ihr erstens diese Reiselust schmeichelt, es zweitens von diesen unseren Lieblingsafghanen sowieso nur eine überschaubare Anzahl gibt und drittens zwischen ihnen und uns dann doch so viel Asien und so viel konsularischer Amtsweg liegt, dass die praktische Folgenlosigkeit dieses Anflugs von ein bisschen Daumenhalten von Anfang an außer Zweifel stand. Und sobald die Rede auf die Armutsmigration kommt, begrüßt die Öffentlichkeit im humanistischen Europa mehrheitlich sowieso niemanden und nichts mehr, sondern warnt vor der Gefahr eines Massenexodus aus Afghanistan in Richtung Europa. Aber der ist bisher weitgehend ausgeblieben – auch hier spielen Geografie, Staatsbürgerschafts- und Asylrecht sowie die mit ein bisschen Nachhilfe bisher halbwegs brauchbar als Vorfeld funktionierenden Nachbarstaaten Afghanistans so zusammen, dass das Abendland von seinen afghanischen Fans ganz gut verschont bleibt. Das wiederum erfährt man weniger durch eine fortgesetzte Berichterstattung und entsprechende Statistiken, vielmehr dadurch, dass und wie schnell die Öffentlichkeit das Interesse an Afghanistan und den Afghanen nach dem Abzug wieder verloren hat. Und auch dies ist Folge und Form der Integration Afghanistans in unsere eine Welt: Geistig ist das Land von den dafür Zuständigen fertig verpackt und einsortiert als einer der vielen Schadens- und Unfälle der Weltpolitik, die irgendwie dazugehören und damit, solange sie nicht weiter stören, fortdauernde Aufmerksamkeit und Aufregung schlicht nicht verdienen.

*

Was bleibt von all den öffentlichen Beschwerden und Fehlanzeigen, die im Tonfall heftigster und ehrlichster Selbstkritik ergehen – solange sich überhaupt noch irgendjemand um die Sache schert? Das sagen die publizistischen Wortführer dankenswerterweise gleich selber noch, wenn sie ihrem Bedauern für die afghanischen Opfer so richtig Nachdruck und realpolitischen Gehalt verleihen wollen. Die praktische Beschlusslage der Weltmacht, den Afghanistan-Krieg einzig und allein als große Racheaktion an Usama bin Ladin und Spießgesellen zu definieren und in diesem Sinne für abgeschlossen zu erklären, haken sie ab und docken an der Aufwandsrechnung an, die der amerikanische Präsident präsentiert hat und mit dem Abzug bereinigt haben will. Ihr ideologisches Verantwortungsbewusstsein und ihre ganze Originalität besteht dann schlicht darin, die Sache umgekehrt zu interpretieren: So viel Aufwand für nichts als einen toten Terroristen?? Die menschlichen Opfer stehen so vor dem Hintergrund der breit ausgepinselten Folgen- und Nutzlosigkeit des längsten und teuersten westlichen Krieges aller Zeiten für ein ganz anderes Objekt des Bedauerns: Das selbstverständliche Recht auf umfassenden Erfolg ist verletzt, der Aufwand und Opfer rechtfertigen könnte. Was unsere werteorientierte Öffentlichkeit also im Rückblick auf zwanzig Jahre Afghanistan vermisst, das ist die Effizienz der Gewalt, die vom Westen ausgeht. Dieser Krieg hat sich nicht gelohnt. Wenn das keine Lehre für die Zukunft ist.