Claus Weselsky
„Deutschlands radikalster Gewerkschafter“ geht in den Ruhestand
Wann immer Weselsky und seine Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit Ausständen gedroht, sie vorbereitet und schließlich durchgeführt haben, ist von Deutschlands Öffentlichkeit infrage gestellt worden, ob das denn so in Ordnung sei. Weselsky selbst hat auf diese „Frage“ immer eine rechtsbewusste Antwort gehabt.
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Länder & Abkommen
Gliederung
- I. Weselsky, der Gewerkschafter: Ein gerechter Kampf für einen gerechten Lohn
- II. Weselsky, der integre Arbeiterführer
- III. Weselskys Karriere und die Karriere seiner GDL im antigewerkschaftlichen Deutschland
- Weselskys erster großer Kampf – um das Recht auf Vertretung und die legalen Voraussetzungen gewerkschaftlichen Engagements
- Weselskys zweiter großer Kampf – um die von der Bahn ständig neu infrage gestellte Aushaltbarkeit der Arbeitsbedingungen
- Der Kritiker des vom DGB verschuldeten Niedergangs der Gewerkschaftsbewegung tritt zufrieden ab
Claus Weselsky
„Deutschlands radikalster Gewerkschafter“ geht in den Ruhestand
I. Weselsky, der Gewerkschafter: Ein gerechter Kampf für einen gerechten Lohn
Wann immer Weselsky und seine Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit Ausständen gedroht, sie vorbereitet und schließlich durchgeführt haben, ist von Deutschlands Öffentlichkeit infrage gestellt worden, ob das denn so in Ordnung sei. Weselsky selbst hat auf diese „Frage“ immer eine rechtsbewusste Antwort gehabt: Der Kampf, den seine Gewerkschaft so kompromisslos führt, ist erstens erlaubt, zweitens gerecht und drittens schlicht und ergreifend notwendig. In allen drei Zuspitzungen führt Weselsky prototypisch die Sache der Gewerkschaft vor – und deren Fehler.
Erlaubt
Die Tarifautonomie ist für den Mann, der ehedem als junger Schienenfahrzeugschlosser und Lokomotivführer bei der Deutschen Reichsbahn in der DDR zwar die Wertschätzung der Arbeit kennen lernte, aber dabei stets die Bevormundung zu erdulden hatte, dass der realsozialistische Staat die für seine Arbeiterschaft angemessenen Lohn- und Arbeitsverhältnisse festgelegt hat, ein hohes Gut und eine stolze Errungenschaft. [1] Das Gleiche gilt für das – wie er gerne betont: grundgesetzlich verankerte – Streikrecht, also die eigentümliche Lizenz des modernen bürgerlichen Rechtsstaates zu periodischen Vertragsbrüchen zwecks Fortführung des Arbeitsverhältnisses zu korrigierten Bedingungen, um die eine in die freie Lohnfindung entlassene Gewerkschaft kämpfen muss und das nur kann, wenn sie neben einer organisierten hinreichenden ökonomischen Streikmacht auch die rechtliche Erlaubnis dazu im Rücken hat. Begeistert vom Geist der Freiheit hält Weselsky diese zwei Rechtsgüter für weit mehr als die juristischen Geschäftsgrundlagen deutscher Gewerkschaften, nämlich für eine staatliche Gunst und die Ermunterung dazu, dass die Arbeitnehmerseite organisiert in freier Eigenverantwortung selbst für ihre legitimen Lohninteressen eintreten kann. In Abgrenzung gegenüber den alteingesessenen westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären, die sich mit Verweis auf die gleichen hohen Rechtsgüter beständig in Zurückhaltung üben, ist Weselsky von Beginn an der Auffassung, eine ordentliche Gewerkschaft sollte die ihr geschenkten Freiheiten dann gefälligst auch für sich nutzen und sie ausschöpfen – ein Standpunkt, den die Öffentlichkeit kaum wiedergeben kann, ohne Weselskys Stellung zum Gebrauch des Rechts immerzu als dessen Missbrauch zu denunzieren.
Entsprechend rechtsbewusst hat Weselsky sich auch stets sämtlicher juristischer Nebenfronten des ökonomischen Arbeitskampfes angenommen, die die Gegenseite ihm noch jedes Mal aufgemacht hatte, weil sich das für sie in dem Maße lohnt, wie es gewerkschaftliche Kräfte bindet – auch unabhängig von der Aussicht auf rechtlichen Erfolg. Und oft genug war es ihm vergönnt, bei den Auseinandersetzungen der Winkeladvokaten beider Seiten am Ende als stolzer Sieger aus deutschen Arbeitsgerichten herauszutreten, der sich hochzufrieden zeigen konnte, dass ihm mal wieder richterlich bescheinigt wurde, dass seine Gewerkschaft das, was sie praktizieren muss, um ihren materiellen Forderungen gegenüber der Bahn überhaupt Gehör zu verschaffen, auch glatt darf. [2]
Gerecht
Dass der erlaubte periodische Ausstand sich auch gehört, ist für Weselsky ebenso klar. Denn was er für seine Belegschaft kämpferisch einfordert, ist nichts als ein Gebot der Gerechtigkeit:
„Es geht um Gerechtigkeit. Es kann doch nicht sein, dass das Management weiter Boni einstreicht und das Fußvolk für die Krise zahlen soll. Da machen wir nicht mit. Ständig schieben meine Leute bei niedrigen Gehältern Überstunden.“ (web.de, 4.2.24) „Wenn Sie 37 Prozent Wasserkopf haben, wenn sich die Vorstände mit Boni bedienen, ist dann kein Geld da für die Mitarbeiter, die die tatsächliche Wertschöpfung erbringen.“ (Dlf, 13.3.24)
Die „tatsächliche Wertschöpfung“ durch seine Leute soll diese dazu berechtigen, eine bessere Behandlung zu erfahren, damit ihre Bezahlung ihrer Leistung auch entspricht. Dass sich ihre Dienstbarkeit für den privateigentümerischen Nutzen ihres Unternehmens für sie selbst gerade in Form von schlechter Bezahlung und langen Arbeitszeiten niederschlägt, soll das noch untermauern. Was der Sache nach ein Dokument des Gegensatzes der kommandierten Lohnarbeit ist, soll Beleg eines Anrechts auf mehr von einem gemeinsamen Betriebsergebnis sein, das in Form von Gehältern und Boni total ungerecht verteilt wird und zu großen Teilen für die Finanzierung des „Wasserkopfes“ draufgeht, der dazu eher wenig beiträgt. Zu den bloßen Kostgängern des Betriebsergebnisses zählt Weselsky insbesondere die Vorstände und Chefs des real existierenden Bahnbetriebs, also diejenigen, die als Funktionäre des Geschäfts überhaupt entscheiden und umfassend definieren, wie und wofür in sämtlichen Abteilungen der Betriebsbelegschaft – von der Verwaltung bis zum Fahrbetrieb – gearbeitet wird.
Angesichts einer so eindeutigen Gerechtigkeitslage war für Weselsky auch immer klar, dass er sich für sein Anliegen eigentlich nicht zu rechtfertigen braucht. Gegenüber den zu jeder Gelegenheit öffentlich breitgetretenen Beschwerden, die die Auswirkungen der GDL-Ausstände auf Land und Pendlervolk einseitig ihm und seiner Gewerkschaft zur Last legen, [3] besteht er auf der Umkehrung:
„Es gibt in der Bevölkerung viel Frust über die Bahn – und das liegt am jahrzehntelangen Missmanagement. Wir streiken nicht aus Jux und Tollerei. Wir wollen bessere Arbeitsbedingungen für unsere Mitglieder. Und das ist auch im Sinne der Kunden.“ (web.de, 4.2.24)
Die unzufriedenen Kunden gehen auf das Konto der anderen Seite, die die Eisenbahn „in die Grütze gefahren“ (ebd.) hat. An detaillierten Ausmalungen, wie sehr das gute Werk eines Beförderungsbetriebs von Personen und Gütern quer durchs Land unter den Managemententscheidungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte gelitten hat, lässt Weselsky es zu keiner Gelegenheit fehlen. Die schlechten Arbeitsbedingungen bei der Bahn kann er locker in eine Liste sonstiger trauriger Negativrekorde in Sachen Pünktlichkeit, Kundenkomfort, maroder Infrastruktur usw. einreihen, gegen die sein Kampf um bessere Arbeitsbedingungen sich ebenso richtet.
Notwendig
In einem Punkt hat Weselsky sich gewiss nie getäuscht. Er weiß, dass er für die Berücksichtigung der Belange seiner Leute immer kämpfen muss, weil die andere Seite seiner Klientel nichts davon freiwillig zugesteht:
„Unsere langjährige Erfahrung sagt, dass sich das Bahn-Management nur durch Arbeitskampf beeindrucken lässt. Wir werden die Streiks ausweiten... Ich erwarte nicht, dass sich die Manager auf den Rücken legen und sagen: Wir wollten dem Weselsky immer schon seine Wünsche erfüllen.“ (SZ, 17.8.21)
Obwohl der kapitalistische Grund dafür aus den einschlägigen Schilderungen über Leistungsdruck und ausufernde Arbeitszeiten, die Weselsky und seine GDL zu jedem Ausstand abliefern, deutlich genug hervorgeht, hat Weselsky sich die beständige Notwendigkeit des gewerkschaftlichen Kampfes von Anfang an verkehrt zurechtgelegt: Wo seine Mannschaft es der Sache nach mit den Zumutungen eines Bahnunternehmens zu tun hat, in dem, wie in jedem Unternehmen, eine Geldrechnung herrscht, die die Angestellten dem Diktat von möglichst viel geldwerter Leistung bei möglichst geringen Kosten unterwirft, entdeckt Weselsky immerzu etwas anderes, nämlich die Inkompetenz und das persönliche Bereicherungsinteresse von Vorständen und Managern. Wenn er sie polemisch und demonstrativ politisch unkorrekt als „Nieten in Nadelstreifen“, „Vollpfosten“ und „Pfennigfuchser“ bezeichnet, dann wirft er ihnen den Unwillen bzw. die Unfähigkeit vor, für eine ordentliche Verteilung und eine ordentliche Betriebsführung zu sorgen. Sein Generalvorwurf an die andere Seite lautet schlicht „Missmanagement“. Auch der „Betriebswirt“ steht bei ihm für diese Beschimpfung: Das Wort bezeichnet nicht den Job eines Funktionärs des Kapitals, der gemäß den Geboten kapitalistischer Betriebswirtschaft den Bahnbetrieb eben auf das trimmt, worauf es in ihm entscheidend ankommt, und der entsprechend konsequent den Gegensatz zur Belegschaft ausgestaltet, sondern für eine zum eigentlichen Bahnbetrieb extern stehende Figur, „die von Eisenbahn keine Ahnung“ hat. [4]
Die in dieser radikalen Kritik des Totalversagens steckende verkehrte Fassung des Gegensatzes zwischen Lohnarbeit und Kapital, die dessen ökonomischen Grund negiert, passt wunderbar zum Programm der gewerkschaftlichen Gegenwehr und seiner konstruktiven Perspektive, für die Weselsky immer konsequent gestanden hat: So gewiss seiner Kämpfernatur ist, dass ohne den beständigen Einsatz der Gewerkschaft Unvernunft und Gewissenlosigkeit ungehindert zum Zuge kämen, so sicher ist er sich umgekehrt, dass mit dem Korrekturkampf, der in seinem Bilde darum auch nicht einfach das ist, was er ist – die notwendige, per se reaktive und unterlegene Gegenwehr gegenüber einem ökonomisch herrschenden Interesse, von dem man alternativlos abhängt –, ein angemessenes, also gerechtes Verhältnis von gezahlten Löhnen und dafür verlangter Arbeitsleistung auch zu haben ist. Und nicht nur das: Die Berücksichtigung der gewerkschaftlichen Belange würde auch dem „System Bahn“ insgesamt zugutekommen, also der allgemeinwohldienlichen Einheit von Fahrbetrieb und Belegschaft, zu der Weselsky den Bahnkonzern überhöht. [5]
Dieses affirmative Urteil schlägt sich in seiner weniger polemischen, mehr positiven Fassung als die schöne Vorstellung einer Deutschen Bahn als attraktivem Arbeitgeber nieder. Wenn Weselsky seine Forderungen nach Besserstellung der Arbeiter regelmäßig mit Verweisen auf die Personalprobleme der Bahn begleitet, ist das mehr als eine bloße Rechtfertigung. Darin kommt die versöhnlerische Vorstellung eines beiderseitigen Nutzens zum Tragen, für den Weselskys Truppe glatt mit sorgen könnte, wenn die andere Seite das bloß mal kapieren würde: Eine angemessene Bezahlung bei angemessenen Arbeitszeiten und Leistungsvorgaben wäre nicht nur im Sinne der Lokführer, Zugbegleiter usw., sondern damit könnte die Bahn auch ihr eigenes Problem des Fachkräftemangels proaktiv angehen. [6]
Arbeiter, Konzern, Pendler: Im vollen Bewusstsein des Dauerkonflikts zwischen Gewerkschaft und Konzern besteht Weselsky darauf, dass sein gewerkschaftlicher Kampf unterm Strich zum allseitigen Nutzen wäre. Für diese überaus konstruktive und affirmative Auflösung der Notwendigkeit seines Arbeitskampfes stehen letztlich auch alle Beschwerden über das „verkorkste System Eisenbahn“, über dessen Fehlleistungen und Verfallserscheinungen der Mann sich in kultiviertem Sächsisch authentischer empören kann als jeder genervte Pendler.
Reaktionär
Was seine ostdeutsche Vergangenheit angeht, gibt Weselsky sich betont unpolitisch. DDR-Bashing ist ebenso wenig seine Sache wie eine Verteidigung der SED-Diktatur. Er war weder im FDGB assoziiert, noch Teil der Bürgerbewegung, auch kein Parteimitglied; zur CDU hat er erst lange nach der Wende aus rein pragmatischen Gründen gefunden. Dass er in der ersten sozialistischen Republik auf deutschem Boden eine gewisse politische Bildung erfahren hat, merkt man ihm trotzdem an: Den Wert der Arbeit hat er jedenfalls derart schätzen gelernt, dass einem Realsozialisten das Herz aufgehen könnte.
Er verteidigt ihn erstens gegen die von der DB geplante Perspektive, ihre Züge irgendwann von ganz alleine fahren zu lassen. Aus den entsprechenden hochtrabenden Absichtserklärungen der Vorstände lässt er lässig die Luft heraus. [7] Deren Vorhaben, im Sinne des Geschäfts mittels technischen Fortschritts künftig immer mehr bezahlte Arbeit einzusparen, erklärt Weselsky für schlicht verlogen; letztlich gehe es dem Vorstand damit um die Verachtung der Arbeit der Belegschaft und darum, ihr nicht nur die Würde, sondern auch ihre Standesvertretung zu nehmen:
„Die Wirtschaftlichkeit im Eisenbahnsystem ist lange gegeben, die ist überhaupt nicht zu bestreiten. Ein Lokführer, 800 Fahrgäste hinten drin; ein Lokführer, 2000 Tonnen hinten dran! Wer jetzt so tut, als müssten wir den vierfachen Invest tätigen, um diesen Lokführer wegzubringen, verfolgt ein ganz anderes Ziel. Im Übrigen sage ich dann: An der Stelle ist die Gewerkschaft trotzdem nie weg, denn ich weiß auch, dass ein automatisierter Zugbetrieb Menschen braucht, die in den Leitständen sitzen und diesen automatisierten Zugbetrieb überwachen.“ (Jung & Naiv, Folge 700, 8.4.24)
Weil für Weselsky so selbstverständlich ist, dass arbeitssparender Fortschritt seiner Klientel – und das sind immerhin diejenigen, die die Arbeit zu erledigen haben – keinesfalls zum Vorteil gereicht, verwirft er solche Perspektiven zweitens auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Utopien:
„Ich habe immer die Frage persönlich für mich gestellt: Wo ist denn der Mehrwert, wenn die Produktion vollautomatisch ist und die Menschen nur noch konsumieren sollen? Ich habe das Gefühl, dass das momentan die Zielstellung ist: Die Menschen sollen nur noch konsumieren und produzieren sollen die Automaten. Ja und wer schafft bitteschön den Mehrwert? Wer schafft in dieser Gesellschaft das Bruttosozialprodukt? Wenn die nur noch Konsumenten auf der einen Seite haben und die Produktion vollautomatisch ist? Das führt übrigens zur Verblödung und Degeneration.“ (Freiheit Deluxe, 19.4.24)
So gehören die Phrasen sozialistischer Politmoral und sächsischer Anstandskonservatismus zusammen: Die Arbeit spricht Weselsky als die Quelle des kapitalistischen Reichtums an, um sie als Quelle von Wohlstand und Anstand zu verteidigen. Im Stichwort „Mehrwert“ steckt bei ihm keine Erinnerung an die schäbige Rolle der Arbeit im Kapitalismus als Quelle fremder Bereicherung, sondern ein trotziges Recht auf anständige Würdigung der Dienstkräfte und zugleich der Verweis auf Arbeit als einen sittlichen Wert an sich. Im furchtbaren Bild von flottem Konsum auf der einen Seite und einer automatisierten Produktion auf der anderen Seite sieht er nichts als die Missachtung dieses hohen Wertes. Etwas anderes als ein anständiges Leben in Arbeit und für die Arbeit kann und will sich Weselsky für die freiheitliche Gesellschaft und ihre Mitglieder überhaupt nicht vorstellen. [8]
Entsprechend unpassend ist es eigentlich, wenn fesche Nachwuchsmoderatoren Weselsky kokettierend als Revoluzzer ansprechen. Sie liefern ihm damit aber immerhin Gelegenheiten für sachdienliche Klarstellungen der folgenden Art:
Tilo Jung: „Marx würde sagen: Die beuten die jetzt aus.“ Weselsky: „Moment, wir sind nicht im Klassenkampf. Sondern wir sind in der Marktwirtschaft. Und das sage ich ganz klar: Ein Geschäft, das keinen Profit abwirft, ist kein Geschäft. Niemand macht ein Geschäft, wenn man zum Schluss noch zusätzlich einzahlen muss. Von daher ist es zulässig und richtig, dass ein Geschäft am Ende des Tages auch Gewinn abwirft. Und solange sich das Management und auch der Eigentümer als Gesellschafter im normalen Rahmen bewegt und der Profit bzw. Gewinn nicht überbordend groß ist, solange ist alles in Ordnung. Was wir bei der Deutschen Bahn erleben, ist ein Management, das sich die Taschen vollstopft, ... für sich selbst das Beste will und unseren Kolleginnen und Kollegen sagt, sie sollen den Gürtel enger schnallen, weil es nicht genug zu verteilen gibt.“ (Jung & Naiv, Folge 645, 5.6.23) „Davor habe ich mich immer gefürchtet, dass man mich zum Klassenkämpfer abstempelt: der Ossi, der rote Politik macht. Das, was ich mache, ist Arbeitskampf, kein Klassenkampf. Ich bin in der CDU, weil ich in meinem Inneren erzkonservativ bin.“ (BZ, 28.4.24)
Wieso sollte ein kämpferischer Gewerkschafter einer marxistischen Kritik des Kapitalismus nahestehen? Weselsky besteht offensiv auf dem Gegenteil: Als konsequenter Parteigänger des Anliegens, vom Lohn leben zu können, kann er mit einem „Klassenkampf“, der das Gewinninteresse loswerden will, nichts anfangen; sein „Arbeitskampf“ weiß das unternehmerische Profitstreben als Voraussetzung der davon abhängigen Einkommensquelle der lohnabhängigen Massen anzuerkennen. „Ausbeutung“ bezeichnet für einen Gewerkschafter wie ihn eben nicht das Prinzip der gesellschaftlichen Produktion für privaten Gewinn, sondern ist eine Frage der gerechten Verteilung der Geldeinkommen.
Wenn er darauf besteht, „in meinem Inneren erzkonservativ“ zu sein, und er darin keinerlei Widerspruch zu seiner prominenten Rolle als „letzter echter Arbeiterführer Deutschlands“ sieht, dann hat er mit beidem verdammt recht.
II. Weselsky, der integre Arbeiterführer
Wenn Weselsky eines nicht leiden kann, dann, dass von Arbeitgeberseite und von einer parteilichen Öffentlichkeit immer wieder so getan wird, als würde er mithilfe seiner GDL seinen höchstpersönlichen Gegensatz zum Bahnvorstand austragen, und das womöglich noch aus narzisstischen Motiven:
„Die Bahn will mich wieder zum Sündenbock machen. Aber ich trete hier für die Interessen der Mitarbeiter ein. Die tragen einen Konflikt mit dem Management aus. Ich bin nur der Gewerkschaftschef, der ihn auf den Punkt bringt.“ (SZ, 17.8.21)
Dagegen verweist er auf seine Rolle als Chef der Gewerkschaft; in diesem Beruf hat er eine Aufgabe zu erfüllen. Ein „nur“ verdient die keineswegs: Immerhin ist es die Sache der Gewerkschaftsführung, die jeweiligen materiellen Unzufriedenheiten der Mitglieder, die als Lohnabhängige mit ihrem Interesse, aus ihrer Arbeit für sich ein Auskommen zu erzielen, in Konkurrenz zueinander stehen, überhaupt auf ein gemeinsames Ziel zu lenken und ihnen die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes für gemeinsame, von der Gewerkschaft zu formulierende Forderungen anzutragen. [9] Das umso mehr, als es von DB-Seite laufend Initiativen gibt, die Belegschaft in zig Unterbetriebe und Berufsgruppen zu spalten und gegeneinander auszuspielen. Insofern gehört zur Sache einer Gewerkschaft unbedingt eine Führung, die der Basis agitierend und organisierend als entschlossene Vertreterin des gemeinsamen Interesses an Korrekturen der Arbeitsbedingungen und Einkommensverhältnisse gegenübertritt; anders ist eine solche Interessenvertretung überhaupt nicht zu machen. Davon redet Weselsky der Sache nach, wenn er darüber räsoniert, dass es einer Figur mit entsprechend markantem Charakter und Auftreten auf dem Führungsposten bedarf:
„‚Sie müssen eine Vision entwickeln: Wo wollen Sie hin? Und dann müssen Sie alle Bataillone, alle Abteilungen auf dieses Ziel vereinigen.‘ Deshalb müsse er auch so reden, wie er eben rede. ‚Kampfrhetorik ist das, weil wir sind im Kampf, im Arbeitskampf. Und Sie bewegen 20 000, 30 000 Menschen nicht so, wenn Sie nicht auch die entsprechende Sprache wählen.‘“ (SZ, 10.1.24)
Wenn Weselsky darauf besteht, dass es eine markige moralische Anmache durch jemanden wie ihn unbedingt braucht, dann hat er damit einerseits recht. Andererseits unterschlägt er, dass seine Autorität als Einpeitscher ihre Kehrseite darin hat, dass die Gewerkschaftsführung mit dem Maß der Unzufriedenheit auch das Maß der Zufriedenheit für ihre Leute vorgibt, das die zu akzeptieren haben. Sie entscheidet darüber, wann das Kampfziel erreicht ist, rausgeholt wurde, was eben rauszuholen war, und die Sache damit im Prinzip erst einmal wieder ins Lot gebracht ist. Bis zum nächsten Mal, wenn wiederum die Führung ihrer Basis nahelegt, dass die Arbeitsverhältnisse jetzt endgültig nicht mehr auszuhalten sind und nach einem kollektiven gewerkschaftlich organisierten Ausstand rufen.
*
Zwischen diesem Anfangs- und Endpunkt liegt für Weselsky noch die Aufgabe des Verhandelns mit der Gegenseite. Auch da gibt er sich demonstrativ unbescheiden, was seine persönliche Eignung für diese Aufgabe angeht:
„Wenn man in so eine schwierige Situation gerät wie wir jetzt, braucht es eine starke Führung. Man sagt mir wahrscheinlich nicht zu Unrecht nach, dass ich das abbilde.“ (Ebd.)
Als Chef ist er nicht nur der „Einheizer aus Sachsen“, sondern immerhin derjenige, der die Verhandlungen mit der Gegenseite führt. Er setzt die Macht ein, die durch die gewerkschaftliche Basis, ihre Masse und Streikbereitschaft verkörpert wird. Umgekehrt sind für die seine Erfolge und Misserfolge am Verhandlungstisch tatsächlich ausschlaggebend; das Vorankommen ihrer materiellen Interessen hängt davon ab. Die Leute können und müssen dabei nur ihre Rolle als Druckmittel spielen, während der Streit und die Konditionen der Einigung nicht in ihrer Hand liegen.
*
Zu dieser Doppelbestimmung des Verhältnisses zwischen Gewerkschaftsführung und Basis, die Weselsky darin reflektiert, einerseits „nur der Chef“ einer kämpferischen Truppe und andererseits der ‚harte Hund‘ am Verhandlungstisch zu sein, [10] gehört die Tugend der Glaubwürdigkeit deswegen unbedingt dazu. Seitens der Basis ist gegenüber der Führung nicht Einsicht, sondern Vertrauen angesagt, wenn die sich des Widerspruchs annimmt, um die Bedingungen zur Wiederaufnahme des Dienstverhältnisses zu streiten, also immerhin um die neuerliche Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, mit dem die Lohnabhängigen so schlecht zurechtkommen und gegen dessen Härten der gemeinsame Oppositionswille mobilisiert worden ist.
Was für ein Glück, dass eine von Weselskys vorbildlichen Charakterstärken darin besteht, unkorrumpierbar zu sein. Ein einschlägiges Angebot der Bahn auf einen gut dotierten Posten im Konzernvorstand hat Weselsky, wie man auch heute noch oft genug mitgeteilt bekommt, bereits 2007 ausgeschlagen; und er verachtet Gewerkschafter, die „private und dienstliche Interessen“ vermischen oder sich gar auf den Hochverrat eines Seitenwechsels einlassen – wie etwa sein Tarifgegner Martin Seiler, der vor seiner zweiten Karriere als Personalmanager Gewerkschaftsfunktionär bei ver.di war. Und wenn Weselsky zum Ende seiner Karriere auf Nachfrage damit kokettiert, ob er nicht der nächste Bahnchef werden könnte, dann bleibt er auch damit seiner Sache treu – nämlich seinem unverwüstlichen Mantra, dass die schlechten Arbeitsbedingungen, die er ein Leben lang bekämpft hat, sich nur durch die ungeheure Inkompetenz der „Flachzangen“ auf der anderen Seite erklären lassen:
„Ich bringe auf jeden Fall 150 Prozent mehr Eisenbahn-Sachverstand ein als das Management, das derzeit am Werke ist.“ (n-tv.de, 1.4.24)
III. Weselskys Karriere und die Karriere seiner GDL im antigewerkschaftlichen Deutschland
Der Standpunkt, dass er nur die Freiheiten wahrnimmt, zu denen der Staat die Lohnabhängigen ermuntert, und dabei von der Arbeitgeberseite nur das einfordert, was im Einklang mit einem für alle Seiten guten Gesamtgelingen steht, weswegen er immer darauf bestanden hat, Arbeitskampf statt Klassenkampf zu machen – all das hat ihn und seine GDL nie vor dem Klassenkampf der anderen Seite bewahrt. Die Realität der zwei entscheidenden Kämpfe des Claus Weselsky in seiner Zeit als GDL-Vorsitzender hat in beiden Fällen eine etwas andere Sprache gesprochen, als der unverwüstliche Konstruktivismus des großen Gewerkschaftsvorsitzenden es nahelegt.
Weselskys erster großer Kampf – um das Recht auf Vertretung und die legalen Voraussetzungen gewerkschaftlichen Engagements
Nachdem Spartengewerkschaften wie die GDL in den Nullerjahren von sich reden gemacht hatten, [11] standen die Tarifauseinandersetzungen des Jahres 2014, in denen die GDL ihre Position als die im Vergleich zur EVG (bzw. zu deren Vorgängern GDBA und Transnet) bessere gewerkschaftliche Interessenvertretung bei der Bahn ausbauen und festigen wollte, rasch unter dem Vorzeichen einer von der Politik neu einzuführenden und von der Bahn dann anzuwendenden Rechtslage. Das explizit zu diesem Zweck erfundene Tarifeinheitsgesetz (TEG) sollte die unliebsame Macht der GDL gehörig beschränken, indem es vorschreibt, dass in einem Betrieb nur noch der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die dort die meisten Beschäftigten vertritt. [12]
Die GDL hat sich daher dazu genötigt gesehen, sich zulasten ihrer materiellen Forderungen auf eine Verschiebung ihres Kampffeldes einzulassen, und darum gekämpft, als Gewerkschaft überhaupt ihren Status als Tarifpartner zu behalten. Weil die Politik diesen Status an den dadurch noch forcierten Konkurrenzvergleich der Gewerkschaften geknüpft hat, drehte sich ihr Engagement folgerichtig um die Erringung der Mitgliedermehrheit in den einzelnen Bahnbetrieben (der DB-Konzern ist aus gutem antigewerkschaftlichem Grund ein Geflecht aus mehr als 300 Einzelbetrieben) bzw. Berufsgruppen. Im zweiten Schritt hing und hängt daran auch ihre Potenz zur Wahrnehmung des Streikrechts, weil Streiks, denen die realistische Perspektive einer verbindlichen tarifvertraglichen Einigung abgeht, schnell als unverhältnismäßig gelten und Gefahr laufen, gerichtlich unterbunden zu werden.
Woran die GDL sich also seit ungefähr einem Jahrzehnt abzukämpfen hat, [13] ist die Tatsache, dass die beiden großen rechtlichen Errungenschaften Tarifautonomie und Streikrecht eben nicht einfach die Geschenke des freiheitlich-marktwirtschaftlichen Staates an die Gewerkschaft sind, als die Weselsky sie so sehr schätzt. Vielmehr handelt es sich dabei um Konzessionen: vom Staat gewährte Lizenzen, die er de facto an das Gebot einer ihm genehmen Wahrnehmung durch die Gewerkschaften knüpft. Während sie von den DGB-Gewerkschaften in einem für den deutschen Staat im Großen und Ganzen zufriedenstellenden Sinne geräuschlos, also verantwortlich wahrgenommen werden, übt sich die Weselsky-Truppe durch überbordenden Gebrauch nach hoheitlicher Auffassung immer wieder im Missbrauch der ihr gewährten Rechte. In Gestalt gewerkschaftsfeindlicher Ansprachen durch Politiker und entsprechende Beschlüsse ergeht die hoheitliche Klarstellung an die GDL und alle anderen Gewerkschaften, dass die Wahrnehmung ihrer Freiheiten ein Beitrag zur kapitalistischen und sozialstaatlichen Bewirtschaftung der Erwerbsquelle Lohnarbeit zu sein hat – und keine wie klein auch immer geartete Infragestellung des souveränen Umgangs der Unternehmerschaft mit ihrem wachstumsdienlichen Bedarf an rentabler Arbeit zu ihr genehmen Bedingungen. Wo eine solche Infragestellung anfängt und wo folglich der Umkipper genehmer Gewerkschaftsarbeit zur unerwünschten Störung registriert wird, liegt nicht in der Hand der Gewerkschaften, sondern begründet sich alleine im hoheitlichen Urteil des staatlichen Lizenzgebers, weshalb Weselskys Selbstauffassung als eine allgemein gute Sache wahrnehmender Missionar der anständigen freien Marktwirtschaft an der Feindschaft, die er sich von staatlicher Seite zuzieht, nichts geändert hat. Unterm Strich ist diese Selbstauffassung nicht mehr und nicht weniger als (s)eine gewerkschaftliche Lebenslüge.
Weselskys zweiter großer Kampf – um die von der Bahn ständig neu infrage gestellte Aushaltbarkeit der Arbeitsbedingungen
Für seinen letzten großen Kampf ab 2023 hat Weselsky sich der epochalen Forderung einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich angenommen; nach dem Motto: Das Beste kommt zum Schluss. Und nach allgemeinem Dafürhalten ist er im Frühjahr 2024 sogar als Sieger aus der – schon wieder: – „härtesten Auseinandersetzung“ zwischen Bahn und Gewerkschaft hervorgegangen. [14]
Sieg hin oder her: Die bei Lichte betrachtet reichlich trostlose Sache einer solchen Forderung ist das Bemühen um Kompensation. Das gibt die Gewerkschaft auch selbst kund. [15] Mit Blick auf das Bahn-eigene Schichtsystem, seine diversen vertraglichen Öffnungs- und Ausnahmeklauseln (z.B. was die Möglichkeit angeht, vereinbarte Ruhezeiten zwischen den Schichten bei Zugverspätungen kontinuierlich zu unterschreiten) und die Feststellung, dass die letzten Jahre ein sehr hohes Maß an Verdichtung und Unberechenbarkeit in die Schichtarbeit von Zugbegleitern, Bordgastronomie-Personal und Lokführern gebracht haben, kommt sie zu dem Urteil, dass ein massiver Befreiungsschlag notwendig ist, der die nominell übliche Zeitdauer dieser Tortur wenigstens irgendwann in ein paar Jahren auf 35 Wochenstunden begrenzt. Damit ist zugleich die neue Bezugsgröße für alle sich künftig ‚einschleichenden‘, d.h. von der Bahn machtvoll durchgesetzten Abweichungen gesetzt, die zum Teil jetzt schon vorsorglich tarifvertraglich antizipiert werden. Die erzielte Einigung ist gleichermaßen eine kompensatorische Schranke wie ein neuer Ausgangspunkt für die Arbeitgeberseite, von dem aus künftig praktisch ausgetestet wird, was innerhalb der 35 Stunden so alles möglich und zumutbar ist.
Dabei bleibt für die Bahn auch das Interesse der Angestellten nach mehr Arbeit für mehr Geld zuverlässig ansprechbar; entsprechende Wahlmöglichkeiten sind auch in diesem Tarifvertrag, der sich der Entlastung der Angestellten verschrieben hat, enthalten. Für sie ist und bleibt das Eintauschen von mehr Lebenszeit für mehr Geld ein Angebot, das sie nur schwer ablehnen können, weil die Gewerkschaft in puncto Lohnhöhe auch in dieser Tarifeinigung wieder einmal der Inflation hinterherrennt. Was auch nach der Seite der Bezahlung hin klarmacht: Alleine schon die Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse unter den neuen, für 26 Monate gültigen, nominell gleichbleibenden Bedingungen ist für die Arbeitnehmerseite vom ersten Tag an identisch mit der kontinuierlichen Verschlechterung des Verhältnisses von Preis und Leistung der Arbeit. Zur Durchsetzung entsprechender Korrekturen kann und muss sie dann nach Ablauf der Friedensfrist erneut in den Ausstand treten.
Wo die GDL und Weselsky sich dieser Sache unter dem Gesichtspunkt angenommen haben, dass ein Ausgleich möglich ist, wenn man ihn nur entschlossen erkämpft, führt die Bahn der Gewerkschaftsseite praktisch vor, wie unwahr das ist: Die Arbeit unter den Bedingungen der letzten Einigung führt wie von selbst, d.h. unter kräftiger Wahrnehmung aller Freiheiten der Arbeitgeberseite in deren Regime über die Arbeit, dazu, dass jeder Ausgleich eher früher als später in erneute Schieflage gerät und der Korrekturbedarf niemals aufhört. Der Standpunkt, dass im Lohnarbeitsverhältnis der Ausgleich der Interessen zwischen Lohnarbeit und Kapital möglich sei, bildet die zweite Lebenslüge Weselskys wie der gewerkschaftlichen Sache überhaupt.
Der Kritiker des vom DGB verschuldeten Niedergangs der Gewerkschaftsbewegung tritt zufrieden ab
Weselsky hält – schon immer und explizit auch im Rückblick auf sein Lebenswerk – große Stücke darauf, mit seinem Engagement dem Trend der elenden DGB-mäßigen Kompromissbereitschaft etwas entgegengesetzt und sich damit um den Erhalt der Errungenschaften einer sozialen Marktwirtschaft verdient gemacht zu haben:
„Die Gewerkschaftschefs hätten in den vergangenen Jahren zugelassen, dass der Flächentarifvertrag ‚bis ins Nirwana‘ aufgeweicht werde, sagt er. Vor allem aber haben sie die Tarifpolitik vernachlässigt und Lohnabschlüsse für Gold verkauft, die eigentlich eine Zumutung seien. ‚Man sollte sich nicht einbilden, dass die deutschen Arbeitnehmer das nicht spüren.‘ Kein Wunder sei es deshalb, wenn den Gewerkschaften die Mitglieder in Scharen davonliefen. Diese seien eigentlich das ‚Korrektiv in der sozialen Marktwirtschaft‘, nähmen ihre Rolle aber kaum noch wahr, sagt Weselsky. Für den 52-Jährigen ist das alles ein Beweis dafür, dass der kompromisslose Kurs seiner Gewerkschaft ‚absolut richtig‘ sei... Wer dem Gewerkschaftschef zuhört, merkt schnell, dass es ihm um mehr geht, als nur um Tarifverträge und höhere Löhne. Weselsky will über das große Ganze sprechen, darüber, wie gerecht es in Deutschland zugeht, und welche Rolle den Gewerkschaften dabei zufällt.“ (Zeit Online, 7.3.11) „Es gibt nur eine Kraft, die das ‚Sozial‘ in der Marktwirtschaft gestalten kann. Das ist die Gewerkschaftsbewegung. Und wenn wir heute nur 18 % Organisationsgrad im ganzen Land haben, dann ist das eigentlich eine Schwäche der Gewerkschaft und deswegen sind wir eine Ausnahme.“ (Jung & Naiv, Folge 700, 8.4.24)
Den kontinuierlichen Niedergang der deutschen Gewerkschaftsbewegung hat deren authentischster Kritiker zwar nicht aufzuhalten vermocht. Aber wenn er als deren letzte entschlossene Ausnahmeerscheinung jetzt in den wohlverdienten Ruhestand geht, sich sichtlich zufrieden und gut gelaunt interviewen und als Mischung aus gewerkschaftlichem Fossil und Orchidee von der bürgerlichen Öffentlichkeit gebührend würdigen lässt, ist er wenigstens mit sich voll und ganz im Reinen.
Genauso wie die Republik, die ihre Nachrufe auf ihn verfasst.
[1] „Hier ist ein Mann, der seine Rechte kennt und durchsetzt. Wahrscheinlich übrigens besser als viele Westdeutsche, denn als jemand, der in Dresden geboren und in der Nähe aufgewachsen ist, gehört er zu denjenigen, die in Wendezeiten die Tarifautonomie kennen- und schätzen gelernt haben. ‚Für mich hat im neuen System vieles gepasst: die Gewerkschaftsarbeit, die Prinzipien der Tarifautonomie... Mit der Gründung der GDL-Ost am 24. Januar 1990 habe ich meine Nische gefunden. Die Arbeit hat mich begeistert.‘“ (FAZ, 16.11.23)
[2] Exemplarisch: „Das Gericht hat es zum wiederholten Male bestätigt: Die Streiks der GDL sind verhältnismäßig, zulässig, rechtmäßig und somit geeignet, die berechtigten Forderungen der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner mittels Arbeitskampf weiter zu verfolgen.“ (zit. n. gdl.de, 11.3.24)
[3] Die entsprechenden Vorwürfe hat er einfach an die Gegenseite zurückgereicht; seine diesbezügliche Lieblingsanekdote, die er auch heute noch gerne erzählt: Wenn die Bild anno 2014 Stimmung macht und ihre Leser dazu aufruft, ihren Frust über die Zugausfälle beim Chef der streikenden Gewerkschaft abzulassen und dazu dessen Telefonnummer veröffentlicht, lässt der seine Sekretärin eine automatische Weiterleitung der Anrufe an den damaligen Bahnchef einrichten.
[4] Seine Kritik richtet sich – vor allem dann, wenn er auf Vorwürfe gegen seine GDL seitens der Politik reagiert – auch an die Adresse der politischen Entscheidungsträger: Wenn sie mit der Unzuverlässigkeit der Bahn und den Streiks der GDL schon unzufrieden sind, dann sollen sie sich gefälligst an die eigene Nase fassen, anstatt der Gewerkschaft die Schuld in die Schuhe zu schieben, wenn die notgedrungen mit den fatalen Auswirkungen diverser politischer Fehlentscheidungen umgeht. Die Tatsache, dass der Bund als Eigentümer der Bahn deren großartige Infrastrukturleistung nach der Wende in die Form einer Aktiengesellschaft mit etlichen kooperierenden und konkurrierenden Unternehmen überführt hat, die der Aktionärsdividende sowie der Bedienung der Geldansprüche der Gläubiger verpflichtet sind, steht für Weselsky nicht wirklich für die Erkenntnis, dass er es bei seinem Gegenüber mit einem profitorientiert rechnenden kapitalistischen Konzern zu tun hat, der seinen Gegensatz zur Belegschaft exekutiert, wie es im Buche steht; seine Beschwerde über die „Privatisierung“ soll unterstreichen, dass der gleiche Geist der Verantwortungslosigkeit gegenüber der Eisenbahn und den Beschäftigten auch in die Politik eingezogen ist.
[5] Auch den Gedanken einer eigentlichen Betriebsfamilie hat Weselsky in guter Gewerkschaftstradition parat. Und zwar in Form von Vermisstenanzeigen, wonach sie vom Management längst zerstört wurde und seitdem nur noch als verlogener Berufungstitel existiert:
„Im Bahn-Tower wird die Eisenbahnerfamilie an einem einzigen Tag beschworen – wenn Tarifverhandlungen anstehen und es heißt, dass alle den Gürtel enger schnallen sollen.“ (web.de, 4.2.24) „Die Eisenbahnerfamilie gibt es schon lange nicht mehr, und zwar seitdem wir von Verwaltungs- und Führungskräften überschwemmt werden und Menschen, die von Eisenbahn keine Ahnung haben.“ (phoenix, 1.9.21)
[6] Exemplarisch: „Wir sind davon überzeugt, dass das Eisenbahnsystem in der Zukunft nur mehr Menschen generieren kann, wenn wir das System im Arbeitszeitrhythmus verändern, wenn wir die Qualität des Systems verbessern. Wir leben seit 10 Jahren im Personalmangel und alles, was wir von der Arbeitgeberseite gehört haben: ‚Ja, wir müssen mal die Initiative und mal die Initiative‘ ... nichts Genaues weiß keiner. Jetzt haben wir das System verändert, jetzt machen wir das System attraktiver durch verkürzte Arbeitszeiten und einen besseren Schichtrhythmus. Und da hoffen wir und da sind wir ziemlich überzeugt davon, dass einerseits die Menschen, die im System sind, zufriedener werden und andererseits wieder neue Menschen in das System hineinkommen.“ (Jung & Naiv, Folge 700, 8.4.24)
[7] „Schauen Sie sich doch die grandiose Idee von Bahn-Vorstand Ronald Pofalla an, der bei Hamburg einen Zug angeblich autonom fahren lässt. Da sitzen Lokführer dabei. Noch ist lange nicht klar, ob die Bahn den Betrieb von 2035 an voll automatisieren kann. Und auch dann werden wahrscheinlich Lokführer an Bord sein müssen. Flugzeuge können ja auch schon weitgehend automatisch starten und landen. Trotzdem braucht es Piloten.“ (SZ, 17.8.21)
[8] Dabei könnte das alles durchaus Fragen aufwerfen. Warum ist eigentlich so klar, dass der arbeitssparende Fortschritt für die Arbeiter keine gute Nachricht ist, vielmehr ihre Existenz bedroht? Warum macht die Utopie von Arbeitsfreiheit die Gewerkschaft nicht schlicht überflüssig, sondern entmachtet sie und treibt ihre Klientel in die unmöglichsten Arbeitsbedingungen hinein, was Intensität und Dauer der Arbeit angeht?
Die Antwort steht im „Exkurs zum Verhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Kapitalismus“ (erschienen in: Margaret Wirth/Wolfgang Möhl: ‚Beschäftigung‘ – ‚Globalisierung‘ – ‚Standort‘. Anmerkungen zum kapitalistischen Verhältnis zwischen Arbeit und Reichtum, Gegenstandpunkt Verlag, München 2014, S. 53–67) und enthält in jedem Fall ein vernichtendes Urteil über das Lebensmittel, auf das die Arbeiter im Kapitalismus alternativlos verwiesen sind und das die Gewerkschaften unbedingt zu deren Mittel machen wollen. Auch wenn die Lohnabhängigen ohne den gewerkschaftlichen Kampf vom Lohn gleich gar nicht leben können, mit ihm sind sie der kapitalistischen Rentabilitätsrechnung, die den Arbeitsalltag beständig umwälzt, um von dem proletarischen Lebensunterhalt mehr einzusparen, als entsprechende Produktivitätsfortschritte den Unternehmer selber kosten, ebenso sehr ausgeliefert.
[9] Exemplarisch: „Als Gewerkschaft musst du die Leute davon überzeugen, dass der Weg richtig ist. Wenn du das nicht tust, treten sie entweder aus oder folgen dir nicht... Wir schaffen es, unsere Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen, dass die Forderungen, die wir gestellt haben, die wir dann gemeinsam erkämpfen, dass die aus dem Herzstück der Organisation kommen... Und so ist auch die 35-Stunden-Woche entstanden. Die Diskussion wird von uns strategisch von oben her geführt und dann gehen wir in die Basis, dann gehen wir zu unseren Kolleginnen und Kollegen runter und dann diskutieren wir mit denen, ob das die richtige Zielsetzung ist.“ (Jung & Naiv, Folge 700, 8.4.24)
[10] „Eben noch hat er eine Karikatur gezeigt, die ihm besonders gefällt: Da sitzen US-Präsident Joe Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping beieinander, und Biden sagt: ‚Seien wir ehrlich: Wir führen Supermächte an, aber der härteste Hund, mit dem wir uns beide nicht anlegen würden ...‘ ‚ ... ist Claus Weselsky‘, sagt Xi. Weselsky hat sich die Karikatur nicht nur ausgedruckt... Er hat den Karikaturisten angerufen und das Original gekauft...“ (SZ, 10.1.24)
[11] Die Öffentlichkeit wurde des „harten Hundes“ Weselsky, der damals noch Co-Vorsitzender war, erstmals im Zuge von Arbeitskämpfen gewahr, mit denen sich die GDL und andere Spartengewerkschaften von den von ihnen als brave Hausgewerkschaften verschrienen DGB-Konkurrenten absetzten und die die Republik als unlautere Störung ihres kapitalistischen Normalvollzugs verbucht hat. Siehe: „Die ‚Lokführergewerkschaft‘ kämpft um mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen – Die ganze Republik steht Kopf: Dürfen die das? – Bahn AG und Bahngewerkschaften sind sich einig: So nicht!“, erschienen in der Artikelsammlung Die Lohnfrage – einst und heute, GegenStandpunkt 3-07, sowie: „Der härteste Arbeitskampf in der Geschichte der Deutschen Bahn beendet? Von wegen! Mehdorn schlägt zurück in GegenStandpunkt 1-08.
[12] Siehe: ‚Keine Tarifauseinandersetzung, sondern bloß ein Machtkampf‘ – was heißt hier bloß?! Der Kampf der GDL um ihre Tarifmacht und das Ringen des Staates um ein neues Streikrecht in GegenStandpunkt 4-14 sowie: Der Tarifkampf und Tarifabschluss bei der Bahn. Die trostlose Wahrheit des stolzen Rechtes auf gewerkschaftlichen Arbeitskampf in GegenStandpunkt 3-15.
[13] Die Auswirkungen des TEG haben sich für die GDL bis zum heutigen Tag nicht erledigt. Seit dem Auslaufen der letzten mit der GDL noch wirksam vereinbarten Tarifverträge aus der Zeit vor dem Gesetz wendet die Bahn das Rechtsprinzip der Tarifeinheit konsequent an, was für die GDL in den meisten Bahnbetrieben de facto der Unmöglichkeit gleichkommt, für ihre Mitglieder bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen zu vereinbaren, und sie nebenher ständige Rechtsstreits um Fragen der Feststellung der Mitgliedermehrheit kostet. Neben ihrem fortgesetzten offensiven Werben um neue Mitglieder versucht sie sich einerseits an der Anwendung eigener rechtlicher Kniffe wie der Gründung einer eigenen Leiharbeitsgenossenschaft namens ‚Fair Train‘ (dazu siehe den Abschnitt „Die GDL kämpft um ihre Existenzberechtigung“ im Artikel „Lohnkampf bei der Deutschen Bahn und bei Amazon. Tarifpolitik im Niedergang“, erschienen in GegenStandpunkt 3-23), welche die Bahn natürlich juristisch bekämpft. Außerdem hat sie sich mit der Initiative ‚Fairness Plan‘ darum bemüht, auch in den sogenannten „blauen Betrieben“, in denen nicht sie, sondern die konkurrierende EVG die Mitgliedermehrheit hat, für ihre Mitglieder bessere Leistungen zu erwirken. Die Bahn, die sich die Freiheit der Auslegung des TEG für ihre Betriebe vorbehält, liefert sich auch in diesem Punkt kontinuierliche Rechtsstreits mit der GDL und kündigt nach einer diesbezüglichen Niederlage vor dem Hessischen Landesarbeitsgericht an, bis vor das Bundesarbeitsgericht zu ziehen.
[14] Siehe auch: Der Streik der GDL. Betriebsstörung im Kein-Streik-Land in GegenStandpunkt 2-24.
[15] Ein kleines Sittenbild über die Schichtarbeit bei der Bahn und über den hinterherlaufenden, kompensatorischen Charakter der Forderungen der Gewerkschaft liefert ein Auszug aus einem offenen Brief eines GDL-Lokführers an den Bahnvorstand, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Die Angestellten arbeiten „zu jeder erdenklich unmöglichen Uhrzeit mit Dienstbeginn und Dienstende am Tag oder in der Nacht ... mit möglichen Schichtlängen von bis zu 12 und gar 14 Stunden. Getoppt wird diese enorme Schichtbelastung von einem jahrzehntelang anhaltenden, schlimmer werdenden Personalmangel ... [was] die schon geringe Freizeitplanung komplett zerstört... Es leiden ja nicht nur unsere Kunden unter den Verspätungen, Zugausfällen und dem ganzen alltäglichen Bahnchaos. Nein, auch wir Mitarbeiter an der Basis leiden täglich darunter! ... Wir brauchen dringend Entlastung durch weniger Wochenarbeitszeit, mehr Ruhezeiten und weniger Schichten am Stück... Wir fordern eine 35-Stundenwoche und eine echte 5-Tage-Woche. Also 5 Tage arbeiten und 2 Tage frei... Unsere Berufe müssen dringend eine echte Entlastung und Aufwertung erfahren! Der Krankenstand ist nicht ohne Grund gestiegen und nicht ohne Grund ist es immer schwerer, genügend nachhaltigen Neuzugang in den Schichtberufen zu bekommen... Vor dem Hintergrund der Inflation seit der letzten Tarifrunde ... geraten mehr und mehr Mitarbeiter an ihre finanzielle Belastungsgrenze ... ein Zugbegleiter, der pro Woche gerne auch mal bis zu 60 Stunden leistet, [muss] sich darüber Gedanken machen ..., wie er das Benzin bezahlen kann, das er benötigt, um seine Schicht anzutreten ... da er mit seinem Auto zu seiner Einsatzstelle fahren muss, weil zu der Uhrzeit, zu der er seine Schicht antreten muss, noch kein öffentlicher Personennahverkehr unterwegs ist... Nun fordern wir das, was notwendig ist: Wertschätzung durch einen guten und richtigen Tarifabschluss. Bessere Arbeitsbedingungen durch weniger Wochenarbeitszeit, weniger Tage am Stück, mehr Ruhezeit und natürlich eine ausreichende finanzielle Entlastung!“ (zit. n. gdl.de, 15.11.23)