Bolsonaros Kampf um die Neukonstitution der brasilianischen Herrschaft
Brasilien und sein Bedarf nach souveräner Gewalt

Seit bald drei Jahren regiert der Populist Jair Bolsonaro in Brasilien. Die Generäle der Streitkräfte haben den ehemaligen Armeehauptmann, jahrelangen Hinterbänkler und radikalen Rechten ausgesucht und ihm bei den letzten Wahlen zur Macht verholfen. Durch erfolgreichen Druck auf Justiz und Politik haben sie erst den Sturz der sozialdemokratischen Regierung Dilma Rousseff, dann die Ausschaltung seines aussichtsreichsten sozialdemokratischen Konkurrenten, Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, tatkräftig unterstützt und für den Fall, dass ihr Kandidat nicht gewählt werden sollte, mit Putsch gedroht. Bolsonaro sollte der Mann sein, der das Land aus der Wirtschaftskrise führen, die Politik von vaterlandslosen Elementen jeder Couleur säubern und das durch Krise und Korruptionsskandale aufgeregte Volk hinter seinem fanatisch antilinken Kurs einigen sollte.

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Bolsonaros Kampf um die Neukonstitution der brasilianischen Herrschaft
Brasilien und sein Bedarf nach souveräner Gewalt

Seit bald drei Jahren regiert der Populist Jair Bolsonaro in Brasilien. Die Generäle der Streitkräfte haben den ehemaligen Armeehauptmann, jahrelangen Hinterbänkler und radikalen Rechten ausgesucht und ihm bei den letzten Wahlen zur Macht verholfen. Durch erfolgreichen Druck auf Justiz und Politik haben sie erst den Sturz der sozialdemokratischen Regierung Dilma Rousseff, dann die Ausschaltung seines aussichtsreichsten sozialdemokratischen Konkurrenten, Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, tatkräftig unterstützt und für den Fall, dass ihr Kandidat nicht gewählt werden sollte, mit Putsch gedroht. Bolsonaro sollte der Mann sein, der das Land aus der Wirtschaftskrise führen, die Politik von vaterlandslosen Elementen jeder Couleur säubern und das durch Krise und Korruptionsskandale aufgeregte Volk hinter seinem fanatisch antilinken Kurs einigen sollte.

Die Krise nach dem Zusammenbruch des zehnjährigen Booms des brasilianischen Kapitalismus ist längst nicht bewältigt, als die Pandemie das Geschäft am Standort erneut beschädigt, in Windeseile weltrekordverdächtige Infektions- und Todesfälle produziert und neben der ökonomischen die politische Krise innerhalb der herrschenden Klasse neu anfacht. Dabei ist Bolsonaro auf der Seite derer, die den weiteren, jetzt seuchenbedingten Niedergang der Wirtschaft und die damit verbundene Katastrophe der nationalen Volksernährung unbedingt vermeiden wollen – und die dafür die Seuche verharmlosen, Todeszahlen ignorieren und die Bekämpfung der Krankheit als unnötig und unbrasilianisch denunzieren. Auf der anderen Seite stehen Gouverneure, Teile der Unternehmerschaft, die Öffentlichkeit und konkurrierende Parteien, die angesichts der rasenden Ausbreitung der Krankheit auf Gegenmaßnahmen im Sinne der Volksgesundheit drängen, die sie auch in Brasilien für pflegebedürftig halten; und die selbst kapitalistisch überflüssigen Volksteilen Impfungen zukommen lassen wollen, deren Verteilung im Land angesichts des Desinteresses der Regierung und daraus resultierender organisatorischer Schwierigkeiten nur langsam vorangeht.

Das Militär hat mit der drohenden Wucht seines Gewaltapparats den Präsidenten Bolsonaro nicht nur ins Amt gebracht, sondern sich seit Beginn seiner Regierung im Kabinett mit Ministern engagiert und kontrollierend und unterstützend zugleich an seinem Regime mitgewirkt. Als der Präsident, ein entschiedener Anhänger der alten und, wenn nötig, auch einer neuen Militärdiktatur, im innenpolitischen Streit den Gouverneuren wegen deren Lockdown-Maßnahmen mit dem Einsatz des Militärs droht, kommt es zum Eklat: Teile der Militärführung sehen sich zu sehr in den Streit der Politiker hineingezogen, sogar missbraucht und instrumentalisiert durch den Präsidenten, dem sie vorwerfen, dadurch ihren Status als überparteiliche und übergeordnete, aus eigener Zuständigkeit, Macht und Verantwortung entscheidende Staatsinstanz infrage zu stellen. Deshalb treten der General Verteidigungsminister und die Chefs der Teilstreitkräfte aus Protest zurück bzw. werden entlassen. Einige Militärs bleiben in der Regierung an der Seite des Präsidenten, während Teile der Generalität diesem die freie Wahl bei der Neubesetzung der Armeespitze verweigern, während der auf seine formelle Befehlsgewalt pocht und zugleich seine Einigkeit mit dem Militär betont usw.

Dabei haben die bewaffneten Sachwalter der brasilianischen Nation gerade ernste Zukunftsprobleme ihres großartigen Heimatlandes ausgemacht. Die Spitzen der Streitkräfte wollen beim Blick in die Welt, die sie stellvertretend für die ganze Nation beobachten, seit einiger Zeit das Heraufziehen einer neuen Lage konstatiert haben: einer Lage der Nation in einer sich ändernden Welt, in der sie nicht kleinlichen Streit, sondern nur unverbrüchlichen Zusammenhalt des Gemeinwesens brauchen können und seine umfassende ökonomische, politische, militärische und moralische Aufrüstung. Es gilt nämlich, das höchste Gut Brasiliens, dessen Gefährdung den Landsleuten noch kaum ins Bewusstsein gedrungen ist, über kommende schwierige Zeiten hinweg zu retten: die Souveränität ihres Staatswesens.

I. Die nationale Auftragslage und die staatspolitische Verantwortung des Militärs

In dem im Sommer 2020 veröffentlichten „Weißbuch zur Nationalen Verteidigungspolitik“ und den Papieren zur „Nationalen Verteidigungsstrategie“ meldet sich das Militär zu Wort und teilt Politik und Öffentlichkeit verbindlich den schicksalhaften Stand der Dinge mit:

„Das gegenwärtige internationale System ist gekennzeichnet durch eine Auflösung der nach dem Ende des Kalten Krieges etablierten Ordnung und zeichnet sich durch einen beschleunigten Prozess der Neuordnung der zwischenstaatlichen Machtbeziehungen aus... Im Gegensatz zu den Ankündigungen in der Zeit nach dem Kalten Krieg ... ist in den letzten Jahren die Gefahr eines militärisch-strategischen Konflikts zwischen den Großmächten gewachsen und der Wettbewerb um globale Vorherrschaft wiedergekehrt... Darüber hinaus gibt es eine Zunahme von Konfrontationen und Rivalitäten zwischen Staaten, sowohl auf globaler als auch auf regionaler Ebene, was sich auf die Ausweitung der militärischen Verteidigungsausgaben und die Zunahme der Spannungen zwischen Staaten auswirkt.“ [1]

Im Jargon einer internationalen Politikwissenschaft, die in ihren Abstraktionen keine Subjekte kennen will, notieren die Militärs Ereignisse und Tendenzen, bei denen man wohl an die Fortschritte des Weltimperialismus und seiner Staatenkonkurrenz nach dem Ende des „Freien Westens“ denken soll, an den Aufstieg des chinesischen Machtkonkurrenten, das Ringen der EU um eine Großmachtrolle und die ewig lästige Selbstbehauptung der Russen; und sind da bei der Aufzählung der Gefahren noch lange nicht am Ende, wenn sie nur an die internationale Konfiguration denken, die durch Machtasymmetrien gekennzeichnet ist, Spannungen und Instabilitäten [erzeugt], die zusammen mit ethnischen und religiösen Konflikten zur Entstehung aufständischer Gruppen und terroristischer oder krimineller Organisationen beitragen.

Diese Definition einer internationalen Bedrohung geht fraglos davon aus, dass Brasilien sich in dieser globalen Gefährdungslage aktiv zu positionieren hat, was allein durch die Größe Brasiliens – dass Brasilien zur Größe geboren (Lula) ist, weiß sowieso jeder gute Brasilianer – alternativlos vorgegeben ist:

„Brasilien spielt eine wichtige Rolle im globalen Kontext. Es ist das Land mit der fünftgrößten territorialen Ausdehnung, gehört zu den zehn bevölkerungsreichsten Ländern und zählt zu den größten Volkswirtschaften der Erde. Ausgestattet mit einem breiten Spektrum an natürlichen Ressourcen und einem technologischen und industriellen Potential, das sich in einem beschleunigten Prozess des Fortschritts befindet, hat das Land eine wachsende internationale Bedeutung erreicht und kann in mögliche Interessenkonflikte mit unterschiedlichen Akteuren verwickelt werden.“

Der nun schon wieder jahrelange Kampf gegen die ökonomische Krise und der beschleunigte Prozess des Fortschrittes, in dem sich weniger die brasilianischen Potentiale als vielmehr die Wirtschaftskrise und die Pandemie befinden, ändern nichts am Anspruchsniveau der Verfasser, das ganz selbstverständlich von der Notwendigkeit einer erfolgreichen Selbstbehauptung gegenüber dem ganzen Rest des Globus ausgeht. Sie wissen nämlich, dass die Welt bereits neidisch auf den brasilianischen Reichtum blickt, der Aufmerksamkeit von außen auf sich zieht, sodass der Aufstieg [des Landes] im globalen Kontext Maßnahmen zur Gewährleistung seiner Souveränität erfordert, die das deutliche Abstecken des vorrangigen Interessengebietes der Nation einschließen und zu dessen Schutz die Anwendung militärischer Gewalt selbstverständlich nicht ausschließen:

Die nationale Verteidigungsstrategie legt „als vorrangiges Interessengebiet das brasilianische strategische Umfeld fest, das Südamerika, den Südatlantik, die Länder der westafrikanischen Küste und die Antarktis umfasst... [Diese Regionen] bergen bedeutende Reserven an natürlichen Ressourcen... Dieses Szenario könnte zu Konflikten führen, in denen die Anwendung von Gewalt oder ihre Unterstützung an die Stelle der Verhängung politischer und wirtschaftlicher Sanktionen tritt.“

Die Verfasser der nationalen Verteidigungsstrategie gehen davon aus, dass es in Zukunft im Rahmen der weltweiten Ausdehnung der menschlichen Aktivitäten – so heißt bei ihnen der globalisierte Kapitalismus – zu einer erhöhten Nachfrage nach natürlichen Ressourcen kommen wird und zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen um Meeres- und Landgebiete, um Quellen von Süßwasser, Nahrungsmittel, Bodenschätze und Energie; und dass Brasilien – anders als andere – genug von all dem Zeug hat. Deshalb halten sie den Hinweis für angebracht, dass das alles der Souveränität von Staaten unterliegt und die Brasilianer bereit sind, dafür jeden möglichen Rahmen von Konflikten in Betracht zu ziehen. Selbstverständlich würde Brasilien es vorziehen, als mitbestimmende Macht mit einer stärkeren Repräsentativität bei Entscheidungen in regionalen und globalen Foren dem Machtanspruch der Großmächte mit einer Stärkung der Multipolarität mit kooperativem Charakter entgegenzutreten, aber darauf, dass daraus etwas wird, kann sich verantwortungsvolle Politik nicht verlassen. So muss Brasilien eben seiner Verteidigung kontinuierliche Aufmerksamkeit widmen und versuchen, sie auf einem Niveau zu halten, das seiner politisch-strategischen Statur entspricht.

Wenn Generäle etwas von Ökonomie wissen, dann das, dass die Verteidigung des Landes untrennbar mit seiner Entwicklung verbunden ist, das Land also hinsichtlich seiner Entwicklung auch ausgreifenden Machtansprüchen zu genügen hat. Deshalb ergibt sich aus den konstatierten Veränderungen der Weltlage, die das große Brasilien als Gelegenheit wahrnehmen und keineswegs nur als Bedrohung sehen soll, ein ganz abstrakter, um die wirkliche, krisenhafte Lage von sachlichem, Finanz- wie Humankapital im Land ganz unbekümmerter, dafür aber universeller Auftrag an die nationale Politik und Ökonomie, diese Verbindung von „Entwicklung“ und „Verteidigung“ der brasilianischen Souveränität zu stärken:

„Brasilien sollte sich um mehr Investitionen und Effizienz in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Technologie und Innovation, in der Qualifizierung des Humankapitals und in der Infrastruktur (Transport, Energie, Kommunikation etc.) bemühen, um bestehende Engpässe zu überwinden, was die effektive Entwicklung des Landes und die Stärkung der nationalen Verteidigung begünstigt.“

Darüber hinaus ist auch die brasilianische Gesellschaft gefragt, an ihrer Sicht der Notwendigkeiten der Landesverteidigung zu arbeiten:

„Es geht darum, die Sensibilität der gesamten brasilianischen Gesellschaft für die Bedeutung von Fragen im Zusammenhang mit der Verteidigung des Landes zu erhöhen, die Beteiligung der Bürger an den Diskussionen im Zusammenhang mit diesem Thema zu steigern und eine solide Kultur der Verteidigung zu schaffen.“

Auf Grundlage eines solchen Kulturwandels kann die Bewahrung des nationalen Zusammenhalts und der Einheit erreicht werden – ein Höchstwert nicht nur in militärischen Kreisen, den aber die Kameraden Autoren gleich als nationales Verteidigungsziel in ihre Strategiepapiere aufnehmen. Der Anspruch der Militärs, künftige Lagen, wie immer sie sich Brasilien präsentieren mögen, vorwärtsweisend für den Aufstieg der Nation zu nutzen – präsentiert als eine defensive Reaktion auf neue Sachzwänge der internationalen Politik – lässt sie mit hoheitlichem Blick auf die nationale Verfügungsmasse blicken. Der entdeckt in dem großen Land überall Potentiale und Ressourcen für den brasilianischen Aufstieg, die, konsequent entwickelt, Brasilien in jeder Hinsicht: politisch, wirtschaftlich, psychosozial, militärisch und wissenschaftlich-technologisch – Wirtschaftskrise hin, Pandemie her – imperialistisch konkurrenzfähig machen. Die Politik verfügt also über alle Mittel und hat deshalb auch die Pflicht, die souveräne Handlungsfreiheit der bewaffneten Staatsgewalt als unabdingbare Voraussetzung für die Durchsetzung der nationalen Interessen zu gewährleisten. Dem Volk, verwöhnt von seinem friedlich-zivilen Überlebenskampf zwischen Lohnarbeit, massenhaft unnützer Armut und Verbrechen in der brasilianischen Klassengesellschaft, gilt es, den neuen Ernst der globalen Lage und den dafür unerlässlichen nationalen Zusammenhalt beizubringen. Dazu hat sich die Nation von Antagonismen zu lösen, die seine nationalen Ziele gefährden könnten, und stattdessen die grundlegenden und gemeinsamen Ziele der Nation als Ganzes in den Blick zu nehmen.

Mit diesem aus dem Rechtsanspruch auf nationale Größe hergeleiteten Anspruch an Politik und Gesellschaft setzt sich die militärische Spitze des Staates eindrucksvoll ignorant über den gegenwärtigen Zustand der Nation, die politische und ökonomische Verfasstheit des Landes, die Krisenlage und deren Gründe hinweg. Zugleich geben die Chefs der Truppe damit aus der Perspektive einer obersten Entscheidungsinstanz im Staat, die über die brasilianische Politik wacht, den ebenso hoffnungs- wie anspruchsvollen abstrakten Maßstab vor, an dem sie Politik und Volk messen und dessen politische Erfüllung sie anmahnen. Die Militärs sind nach eigenem Dafürhalten die Instanz, der – wie stets – die entscheidenden staatspolitischen Aufgaben der Zukunft zufallen. Dazu gehört nicht nur, der Nation die Betroffenheit Brasiliens vom Wandel der Weltlage nahezubringen, sondern auch, den daraus sich ergebenden machtvollen Handlungsbedarf einer verantwortlichen Politik für Brasilien zu definieren; und dafür von allen Beteiligten, der herrschenden Klasse in Ökonomie und Politik ebenso wie vom Volk, Gefolgschaft einzufordern, höflich im Ton und bestimmt in der Sache. Damit reklamieren sie eine Kompetenz, welche die in den westlichen Demokratien übliche Rolle des Militärs als Diener der nationalen Politik umkehrt: Sie gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass in Brasilien die bewaffnete Macht der Nation ihre staatstragende Pflicht als letztveranwortlicher Auftraggeber für Politik und Gesellschaft erfüllt; und dass die Politik sich als Dienst an den gestellten Aufgaben zu bewähren hat. Die Souveränität des brasilianischen Staates verkörpert in letzter Instanz das Militär. [2] Im Bewusstsein, der exklusive Hauptwohnsitz brasilianischer Staatlichkeit und oberster Garant eines gesamtbrasilianischen Gemeinwohls zu sein, erteilen die Chefs der Truppe der Politik ihren abstrakten nationalen Kampfauftrag.

II. Bolsonaro – der berufene politische Exekutor des nationalen Standpunkts

Den Präsidenten Bolsonaro hätte man mit der Durchsetzung von nationalem Zusammenhalt und Einheit nicht eigens beauftragen müssen, die sind ihm ein politisches Herzensanliegen. Und mit der von den Generälen vorgegebenen Aufgabe, die ökonomischen und politischen Potenzen Brasiliens neu zu entfalten, weiß er sich im Grundsatz ohnehin einig. Mag er auch bezüglich des Multilateralismus, den das Militär im Namen Brasiliens gegen die neuen, bedrohlich ausschließenden Ansprüche der Großmächte hochhält, mit seinen Generälen nicht ohne Weiteres einig sein, [3] er teilt jedenfalls deren nationalistische Gewissheit der historischen Notwendigkeit und fraglosen Berechtigung des brasilianischen Erfolges in der Welt – und dass die machtvolle Wahrnehmung dieses Rechts vor allem anderen eine Erneuerung der Nation verlangt. Lange bevor die Armeespitze ihre Einschätzung der bedrohlich geänderten globalen Verhältnisse vorlegt, hat er die Gefährdung der nationalen Gemeinsamkeit im Inneren des staatlichen Gemeinwesens festgestellt und den Kampf gegen die dafür verantwortlich gemachten linken Umtriebe und das vaterlandslose Treiben der politischen Klasse zum Programm seiner Präsidentschaft gemacht. Er hält von Anfang an dafür, dass nicht nur eine zukunftsweisende Positionierung Brasiliens in der Welt, sondern überhaupt jeder Fortschritt der Nation vor allem eines verlangt: rücksichtslose Ordnungsstiftung unter seiner Führung im Innern. Als der politische Exekutor des abstrakten Militärstandpunkts ergänzt der Präsident die Perspektive der Generäle von den Kommandohöhen des Staatswesens auf das, was Brasilien demnächst und überhaupt braucht, um seinen praxisorientierten, der Macht seines Präsidentenamtes gewissen Blick auf die Nation. Dabei hat er die beiden fundamentalen nationalen Missstände ausgemacht, die in seinen Augen seit geraumer Zeit den Fortschritt und die Entwicklung Brasiliens zu einem im Weltmaßstab erfolgreichen Kapitalismus mit einer modernen Konkurrenzgesellschaft, der die Bevölkerung ernährt und das Land wirklich groß und unabhängig macht, behindern:

  • die mangelnde innere Souveränität der Herrschaft, ihre Befangenheit im Streit der gesellschaftlichen Interessen, die ein Ende haben muss;
  • und die sittliche Entfremdung maßgeblicher Teile des Volkes vom Standpunkt einer selbstverantwortlichen, konkurrenztüchtigen Lebensführung, die zur Spaltung der Massen in die große Mehrheit der guten Brasilianer und eine große Minderheit von Sozialschmarotzern geführt hat; eine Spaltung, die geheilt werden muss, indem deren bekannte Urheber unschädlich gemacht werden.

Zwei große Aufgaben für einen Mann der Tat wie Bolsonaro; aber immerhin sind die Objekte seines radikalen Reformbedarfs – das ist die gute Nachricht – als souveräne Erfolgsmittel der Nation dem exklusiven Zugriff der präsidentiellen Gewalt zugänglich. Diese Aufgaben zu lösen nimmt er sich von Beginn seiner Regierung an vor, um seiner Nation mit der Etablierung einer rigiden rechten Herrschaft und einem für seinen Lebenskampf moralisch aufgerüsteten Volk die substanzielle Grundlage des Erfolges zu sichern, den sie schon immer verdient.

Die brasilianische Herrschaft

1. Demokratie ohne ausreichend souveräne Gewalt – Kapitalismus ohne ausreichenden Beitrag zur nationalen Größe

Die eine Hälfte seiner Mission nationaler Erneuerung gilt der Freiheit der brasilianischen Regierungsgewalt. Der Mangel an Souveränität der Staatsführung zeigt sich für ihn an den Eigenheiten demokratischen Regierens in Brasilien und dessen prinzipieller Fehler schon im Zustandekommen und Funktionieren des legislativen Zentralorgans: In der brasilianischen Politik wird der Kampf der Interessen nicht von konkurrierenden staatstragenden Parteien auf der Grundlage eines gemeinsamen Grundkonsenses über die politischen Prinzipien und die ökonomischen Zwecke der Herrschaft ausgetragen; vielmehr von politischen Vereinen, die in Gestalt einer zersplitterten nationalen Parteienlandschaft mit der politischen Vertretung der Interessen befasst sind, denen sie sich jeweils unmittelbar verpflichtet sehen und die ihnen umgekehrt ihre einflussreiche und lukrative politische Karriere sichern. Die Vertreter der anspruchsberechtigten herrschenden Interessen konkurrieren um einen mit ihnen möglichst eng verbundenen und von ihnen dominierten Herrschaftsapparat, damit aus ihnen praktische – möglichst unmittelbar mit Staatsgeld und -protektion beförderte – Politik wird. Die staatliche Wirtschaftspolitik fällt dabei regelmäßig mit der unmittelbaren staatlichen Protektion und Bedienung ökonomischer Privatinteressen zusammen, die für ein nationales Wirtschaftswachstum mobilisiert werden sollen. Die konkurrierenden Kapitalfraktionen und die großen Massenvereine der Gesellschaft wie Kirchen und Gewerkschaften sorgen mit ihren Mitteln für die Wahl ihrer Vertreter ins Parlament oder kaufen sich die politische Promotion ihrer Interessen unter den vielen kooperationswilligen Parlamentariern von im Parlament vertretenen Kleinparteien zusammen, die sich von der Praxis des ‚besten Angebots‘ leiten lassen. Auf diese Weise haben Wirtschaftsverbände der großen und kleinen Industrie, Großagrarier, die sich als Rückgrat der Devisenerwirtschaftung wissen, Vertreter der evangelikalen Kirchen als Sprachrohre der rechten Medienagitation und Provinzen mit regionalen Sonderinteressen ihre Leute als unmittelbare politische Vertreter ihrer konkurrierenden Interessen im Legislativorgan der Nation sitzen, die alle im Rahmen ihrer „imperativen Mandate“ ihren jeweiligen Entsendern verpflichtet sind. Sie finden sich zeitweise in überparteilichen Fraktionen („Bancada Bala, Boi e Biblia“ – etwa „Fraktion Waffen, Rinder, Bibel“) zusammen, um in gemeinsamer Abstimmung ihre Sonderinteressen politisch durchzusetzen.[4] So kommt brasilianische Politik seit jeher zustande als permanenter Streit und befristete Übereinkunft zwischen den politischen Sachwaltern der durchsetzungsfähigen gesellschaftlichen Interessen: als mit Geld, Posten, Einfluss und Erpressung in Gang gehaltenes Geben und Nehmen, das – mit stets prekärer Richtlinienkompetenz der gerade Regierenden – Regierungen, Opposition, politische Programme und sogar eine veritable Staatsräson hervorbringt, allerdings stets umkämpft und auf Zeit, und auf Dauer einen umfänglichen Staatsapparat mit sämtlichen Institutionen, die staatliche Gewalt benötigt. Die sind mehr oder weniger denen der erfolgreichen demokratischen Herrschaftssysteme nachgebildet, in ihrer brasilianischen Variante aber mit immerzu strittigen Aufgaben und Techniken des Regierens, also einem Dauerkampf innerhalb der und zwischen den Institutionen der Herrschaft befasst. Das kann nicht ausbleiben, sind diese Institutionen doch mit Führungspersonal bestückt, das ebenfalls nach Lage der aktuellen Machtverhältnisse ausgewählt oder bei Bedarf eingekauft und dann – besonders effektiv im Justizsystem – in den fälligen Zwistigkeiten, wenn nötig, parteilich aktiv wird. Die Beschaffung von Posten, juristischen Entscheidungen und Parlamentsmehrheiten mit Geld und guten Worten gehört zum Normalbetrieb brasilianischer Demokratie. Dem Kampf um Einfluss auf die und innerhalb der Institutionen steht die grundsätzliche Rechtsförmigkeit der Regierungsmethoden gegenüber, mit der Folge, dass mancherlei politisch nützliche Verfahrensweisen mit dem nicht nur moralisch, sondern immer wieder auch strafrechtlich wirksamen Titel Korruption belegt sind. Das bereichert die gängige Art der Gestaltung brasilianischer Politik um den allseitig in Anschlag gebrachten Korruptionsvorwurf und macht ihn als Kampfmittel gegen missliebige Figuren in der Herrschaftskonkurrenz geeignet. Dieser alltägliche politische Dauerkampf innerhalb der herrschenden Kreise um Zugriff auf den Staat und des Staats um ökonomische Wachstumsdienste seiner konkurrierenden Kapitalfraktionen zeigt und erzeugt immerwährende Unzufriedenheit.

Vom Standpunkt des nationalen Erfolges bleiben die maßgeblichen Subjekte der brasilianischen Ökonomie, die beständig um die Durchsetzung ihrer Interessen in der Politik streiten, am Ende stets die nötigen Leistungen für die Größe Brasiliens schuldig, die eine verantwortlich regierende Gewalt zu Recht erwarten könnte, die kapitalistische Verhältnisse im Land flächendeckend durchgesetzt hat und aufwändig betreut. Nach dem Dafürhalten national denkender Politiker fehlt es an der Erschließung der kapitalistischen Ressourcen und Potenzen, an der produktiven Indienstnahme des Landes und an einer umfassenden Bewirtschaftung der nationalen Arbeit, was die Volksmassen zu großen Teilen zum Sozialproblem und zu einer Last des Staates macht, anstatt sie nützlich für die Nation zu machen. Während umgekehrt beteiligte Akteure aus der Wirtschaft, die sich mit den negativen Wirkungen der landesüblichen politischen Konkurrenz für ihr jeweiliges Privatinteresse herumschlagen, ihre Erfahrungen, dass kein zufriedenstellendes Verhältnis von Kapital, Politik und deren Kommando über das Volk zustande kommt, auf ein politisches Versagen der dafür zuständigen Instanzen zurückführen. Das stellt zuverlässig die Unzufriedenheit aller – und zugleich die eingeführten Methoden der politischen Konkurrenz – auf Dauer: bei den regierenden wie nicht ausreichend mitregierenden und ökonomisch profitierenden politischen Vertretern und bei den gerade nicht mitregierenden Fraktionen unter den notorischen Nutznießern der brasilianischen Politik, die weiterhin alles daran setzen, ihre Version einer zukunftsweisenden nationalen Räson zur Geltung zu bringen, die selbstredend mit der wohlverstandenen Berücksichtigung ihres privatkapitalistischen Vorteils zusammenfällt.

Auch bei den zu elenden Bedingungen benutzten wie bei den überflüssigen Volksmassen ist Unzufriedenheit mit den Regierenden und Reichen, die nur an sich denken und keine Verbesserung der Verhältnisse hinkriegen, ein Dauerzustand. Das erzeugt bei den Vertretern der Herrschaft wiederum das ebenfalls dauerhafte Bedürfnis nach stabilen und gedeihlichen Beziehungen zum immerhin wahlberechtigten Volk, dem man immer wieder mit „politischen Projekten“ kommt, in denen auch der einfache Brasilianer irgendwie wichtig sein und ein aussichtsreiches Feld seiner freiheitlichen Lebensführung finden soll. [5]

2. Die verhasste volksfreundliche Alternative: Subventionierte Staatswirtschaft und soziale Volkseinheit

Das seit den Zeiten des antikommunistischen Volksfreundes Getúlio Vargas jüngste Angebot dieser Art, das Bolsonaro nicht nur als hinderlich für den Erfolg, sondern in seinem antilinken Fanatismus als gefährlich für den Bestand der Nation betrachtet, hatte die – schon von seinem Amtsvorgänger als Regierungspartei abservierte – sozialdemokratische Mannschaft des ehemaligen Gewerkschafters und späteren Präsidenten Lula gemacht. Dessen 2002 erstmals an die Regierung gekommener Partido dos Trabalhadores (PT) mischte sich neu in den von der herrschenden Klasse monopolisierten, hergebrachten Streit um den Zugriff auf die politische Macht ein. In seinem nationalen Fortschrittsprogramm wies Lulas Verein – ganz nationale Partei der Arbeiter – eben auch den Volksmassen und ihrer Arbeitskraft eine wichtige Rolle zu in seiner Version einer neuen Räson des brasilianischen Staates, die mit dem Volk zugleich die Macht und Souveränität des Staates voranbringen sollte. [6] Das Programm des PT zielte auf eine staatlich geförderte und, wo nötig, geschützte innere ökonomische Entwicklung unter vermehrter Nutzung des nationalen Arbeitsangebotes. Ein brasilianisches Wachstum von Weltformat sollte irgendwann das riesige brasilianische Proletariat mittels eines entwickelten Arbeitsmarkts auf dem immer weiter wachsenden Standort aufsaugen, durch Lohnarbeit ernähren und in die Lage versetzen, nach dem Vorbild erfolgreicher sozialstaatlich verfasster kapitalistischer Länder die Sozialkosten ihrer nützlichen Armut lebenslang an hochproduktiven sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen selbst zu finanzieren. Die Veranstalter dieses sozialdemokratischen Menschenversuchs verbanden damit den politischen Idealismus, auf diese Weise das ganze brasilianische Volk zur nützlichen, demokratisch zivilisierten und national geeinten Basis einer souveränen menschenfreundlichen Herrschaft zu machen. In den Ländern allerdings, die den brasilianischen Lulas als Vorbild dienten, hängt das Funktionieren des sozialstaatlichen Wunders, infolgedessen der Arbeitslohn, der für die Finanzierung eines einzelnen proletarischen Lebenslaufes inkl. Altersversorgung nicht hinreicht, als zwangskollektivierte Finanzmasse aber der Klasse das Überleben ermöglicht, von ein paar kapitalistischen Geschäftsbedingungen ab, zu denen vor allem die flächendeckende Verwendung einer sozialbeitragspflichtigen nationalen Arbeitermannschaft gehört. Darüber haben sich die Politiker des PT in ihrem Glauben an den unaufhaltsamen Fortschritt Brasiliens hinweggesetzt. Der brasilianische Kapitalismus hat es nicht einmal während seines sagenhaften Booms  [7] dazu gebracht, mehr als die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung für sein Wachstum in Dienst zu nehmen, und das zu Löhnen, die ausreichende Sozialversicherungsbeiträge nicht einmal für die benutzten Volksgenossen hergaben. Erst recht unfinanzierbar aus den Abgaben der Arbeitenden waren soziale Versicherungsanstalten für die andere Hälfte, die sich in der vielgestaltigen Armutswelt eines informellen Sektors der brasilianischen Ökonomie – ohne Papierkram, ohne Abgaben, ohne Arbeitsschutz – mal mit ein wenig, mal mit ganz wenig und mal ganz ohne Lohn durchschlägt.

Geworden ist aus dem schönen Ideal der Arbeiterpartei die Karikatur eines Sozialstaates, der große Teile der kapitalistisch überflüssigen Bevölkerung mit Beiträgen zur Elendsbewältigung über Wasser hielt, auf seine Anstrengungen zur Hungerbekämpfung und ein wenig Sozialhilfe sehr stolz war, solange die sozialdemokratischen Glücksritter der Hochkonjunktur derlei Kosten für fiskalisch tragbar hielten und mit ihrer paternalistischen Zuwendung zu den armen Massen deren Verhältnisse und ihre Abhängigkeit von der schäbigen Staatsknete reproduzierten. Das aber nur so lange, bis das Ende des brasilianischen Wachstums die Staatseinkünfte schrumpfen ließ und die Armenpflege den von den fortschrittlichen Staatsmännern und -frauen verwalteten Notwendigkeiten der ‚Haushaltssanierung‘ angepasst wurde.

Gescheitert ist diese Herrschaft an dem Ende der über 10 Jahre dauernden Hochkonjunktur der brasilianischen Wirtschaft [8] und den daraus erwachsenden politischen Folgen: Zu denen gehörte zum einen das Ende der Regierungskoalition. Die politische Betreuung des großen Wirtschaftsaufschwungs hatte sich der PT, ohne eigene Parlamentsmehrheit an der Macht, ungeachtet aller Ideale guten Regierens, auf die brasilianische Art gesichert: durch eine teuer erkaufte Regierungsbeteiligung bürgerlich-konservativer Koalitionspartner aus den traditionellen Führungskreisen. Deren Gegensätze zu den Emporkömmlingen aus dem PT waren während des Aufschwungs der Ökonomie offenbar nur sistiert, solange sie ihre sonst stets kollidierenden Interessen im Jahrzehnt des großen Booms umfassend bedient sahen. Die Regierung der Linken und die Beteiligung der Rechten daran war von der kapitalistischen Erfolgssträhne gerechtfertigt. In der Krise ordnen die konservativen Kreise der Wirtschaft und ihre politischen Vertreter das Desaster, also ihren Vermögensschaden, als Folge schlechten Regierens linker Ideologen ein, denen man eigentlich noch nie getraut hat, weil deren Politik sich viel zu sehr aufs Volk statt auf ihr Vorankommen richtet. Darüber entdecken sie ihre alte und – wie sich nun erweist – stets berechtigte Feindschaft gegen alles Linke wieder, die man sich auch durch das viele Geld, das man im Boom verdient hatte, niemals hätte abkaufen lassen dürfen. Dem entsprechend führen sie das Ende der PT-Regierung herbei, denunzieren deren Anführer mit allen Mitteln der politischen Intrige, kriminalisieren sie und entfernen sie am Ende mit Hilfe der Gerichte in einer Art juristischem Staatsstreich aus ihren Ämtern. [9]

Zum anderen war das Ende der PT-Herrschaft damit besiegelt, dass der Partei in den Wahlen 2018 nach dem Ende des Zwischenregimes des Präsidenten Temer die hinreichende Zustimmung der Massen als Wahlvolk abhandenkam. Denen brachte die Agitation der Rechten, die an die Blamage aller Wachstums- und Sozialstaatshoffnungen in der Krise anknüpfte, zu Teilen erfolgreich die Überzeugung nahe, in der Politik der Armutsbetreuung der Linken und der damit verbundenen Abhängigkeit von staatlichen Almosen zumindest einen einzigen Riesenfehler, wenn nicht eine linke Machenschaft und einen Betrug am Volk zu sehen; und in dem PT den Hauptschuldigen für den allgegenwärtigen Korruptionssumpf. So kam Lula ins Gefängnis und Bolsonaro ins Amt.

3. Das rechte Gegenprogramm für freies Regieren

Wo sich Lulas Sozialdemokraten einen erfolgreichen Kapitalismus mit einer produktiven Arbeiterklasse unter dem Dach einer irgendwie sozial- und rechtsstaatlichen Herrschaft gewünscht hatten, die in der Lage ist, die versöhnten Interessen der Gesellschaft machtvoll zu betreuen, sieht Bolsonaro darin eine einzige Schwächung der Staatsmacht durch die Etablierung neuer, gefährlicher, ideologisch begründeter Abhängigkeiten: Er wirft den linken Regierungen Lula und Rousseff vor, die freie Regierungsgewalt von der mit – bewiesenermaßen – unbezahlbaren, schuldenfinanzierten sozialen Versprechungen erkauften Zustimmung korrumpierter, ideologisierter Massen abhängig gemacht zu haben, anstatt ihnen einen eigenverantwortlichen Lebensunterhalt zu verschaffen und dann als souveräne Macht ihren schuldigen Anstand und Gehorsam einzufordern.

Der politischen Hinterlassenschaft der Linken tritt Bolsonaro mit einer entschiedenen und umfassenden Revision linker Politik entgegen und knüpft damit an die von der konservativen Zwischenregierung Temer eingeleiteten Maßnahmen an. Bolsonaro kassiert Sozial- und Arbeitsschutzgesetze aus der PT-Zeit, [10] stampft ganze Ministerien und geschaffene Strukturen ein, mit denen der PT seine Politik im Staat verankert hat, definiert sie um oder entzieht ihnen per Umwidmung staatlicher Gelder den politischen Handlungsspielraum. Die zum linken Lager zählenden Figuren überzieht er mit Hetzkampagnen und Korruptionsvorwürfen, um sie so aus den Ämtern zu entfernen oder zumindest als alternativen politischen Partner bei der Mehrheitsfindung im Parlament grundlegend zu delegitimieren. Mit der von ihm angegangenen Säuberung der nationalen Politik von linken antinationalen Kräften pocht er darauf, gerade durch die von ihm betriebene Exkommunikation der Linken aus der Gemeinschaft der anständigen Brasilianer zugleich die Grundlage für die so dringend notwendige nationale Einheit zu schaffen. Den Widerspruch, dass ihre notwendige Spaltung am Ende ihrem Zusammenhalt dient, muss die Nation aushalten. Er tritt als politischer Saubermann und Antikorruptionskämpfer an, um mit der Politik seiner Vorgänger gründlich aufzuräumen und die verhasste politische Alternative aus dem Politikbetrieb zu eliminieren. [11]

Neben dem Kampf gegen die Staatsfeinde, die er in den Reihen der Sozialdemokraten am Werk sieht, erklärt der Präsident als seine vordringliche Aufgabe, die Souveränität der Staatsmacht dadurch herzustellen, dass er als deren befugter Inhaber die Abhängigkeit von den wechselnden und in Parlament und Institutionen übermächtigen Interessenkoalitionen loswird. Deshalb trachtet er danach, sich die als relevant erachteten Interessen der herrschenden Klasse funktionell und moralisch zuzuordnen. [12] Er bedient ihre Ansprüche mit Positionen in seiner Regierung, um sie zusammen mit zahlreichen Militärs auf Kabinettsposten in den ökonomischen und politischen Wiederaufbau nach der Krise einzubinden. So kämpft er um die Konzentration der Staatsgewalt unter seiner Führung und darum, seiner Politik die nötige Mehrheit auch im Parlament zu verschaffen. So will er sein politisches Großvorhaben verwirklichen, seine Politik aus den Verstrickungen der speziellen brasilianischen Demokratie heraus- und in ein souveränes nationales Herrschaftssystem überführen, das sich unter seiner Führung auf die staatstragenden Kräfte, die herrschenden Eliten, die für die Nation erfolgreichen Kapitalisten und insbesondere auf das Militär stützt. Eine Herrschaft, auf die sich alle freien Brasilianer beim Kampf um ihren Platz in der nationalen Konkurrenzgesellschaft zuverlässig und dienstbereit beziehen können.

Das brasilianische Volk

1. Ein bevormundetes Volk braucht eine neue Freiheit – überall viel moralischer Erziehungsbedarf

Die Neuformierung des brasilianischen Volks ist die zweite große Aufgabe, der Bolsonaro sich mit seiner politischen Macht widmet. Denn der Blick auf das Volk, auf das er mit seinem Programm trifft, stiftet bei ihm, und nicht erst bei Ausbruch der Corona-Pandemie, die Gewissheit, dass Teile dieses Volkes über die Jahre der PT-Regierung moralisch verkommen sind: Sie haben sich an das Leben auf Staatskosten gewöhnt, anstatt sich dem harten Lebenskampf zu stellen. Seit langem rufen zu viele nach staatlicher Hilfe und Schutz, und wenn dann Corona kommt, stehen sie nicht einfach, wie es sich gehört, das Grippchen durch, das einen echten Brasilianer ohnehin nicht umhaut. Diejenigen armen Leute aber, die sich gegen Lockdown-Maßnahmen wehren, weil sie damit brotlos gemacht werden, sofern sie überhaupt eine Beschäftigung haben, die sie halbwegs ernährt, werden von ihm deshalb als Vorbilder einer unabhängigen, selbstbestimmten Lebensführung propagiert, die auch mitten in der Pandemie für sich selbst und ihren Lebensunterhalt sorgen und nicht aufgeben wollen. [13] Solche Leute konnte der Präsident schon immer gut leiden, weshalb er sie zu Seuchenzeiten mit Lob bedenkt; und viele von ihnen danken es ihm mit ihrer politischen Zuneigung, umso mehr, als er sich doch noch entschließt, denen, die, wie er unentwegt klarstellt, die „absurde und feige“ Anti-Corona-Politik seiner Gegner von jeder Quelle der Ernährung abgeschnitten hat, eine kleine Stütze zukommen zu lassen. So macht ihm von Beginn seiner Regierungszeit an und auch in den Zeiten von Corona ein harter Kern von Anhängern von fast einem Drittel der Wählerschaft Hoffnung auf einen noch viel umfassenderen Erfolg seines Volkserziehungsprogramms.

Überhaupt hat die Hälfte des brasilianischen Volkes, die für die Schaffung des Reichtums im Land eher überflüssig oder nur am Rande eingebunden ist, in der Krise und durch Corona Zuwachs erfahren. Der Kampf des PT gegen den Hunger als Ausweis sozialdemokratischer Menschenfreundlichkeit ist, als Bolsonaro antritt, Geschichte. Für die staatsbürgerliche Bildung der armen Leute im Land haben die sozialdemokratischen Jahre dennoch viel geleistet, woran der neue Präsident anknüpfen kann: zuerst, indem auch viele aus den Reihen der Abgeschriebenen wieder Hoffnung auf einen Aufstieg in die Ränge der gegen Lohn angewendeten Volksgenossen gefasst hatten und sich als Objekte einer neuen Arbeits- und Sozialpolitik erstmalig in den Stand irgendwie auch anspruchsberechtigter Volksgenossen versetzt sahen. Dass aus den armen Massen in Brasilien in der überwiegenden Mehrzahl keine stolzen, sozialstaatlich einsortierten Arbeiter werden, dass die Politik der Elendsfürsorge sie also nicht dauerhaft aus der Armut herausführen würde, haben allerdings viele von ihnen trotz aller Lula-Verehrung noch während der PT-Regierungszeit auch bemerkt. Danach haben sie als Kritiker dieser Politik ihren enttäuschten Rechtsstandpunkt und ihre systemkonforme Erfahrung geltend gemacht, dass nicht die konjunkturell volatile Abhängigkeit von sozialpflegerischen Almosen, nicht das Verschleudern von Staatsgeld für die Falschen, sondern nur das Recht auf und die Gelegenheit zum Verdienen eines eigenen Lebensunterhalts das Überleben sichern können. So hat auch diese Unzufriedenheit der Patrioten von ganz unten mit ihrer ehemaligen, sozialstaatlich gestimmten Obrigkeit zur Niederlage der Sozialdemokraten beigetragen und zugleich mit ihrer Ablehnung solcherart Politik die Hoffnung auf neue, bessere Führer genährt.

Der vom heimischen Kapital benutzte Teil der Volksmannschaft ist in den Zeiten des Aufschwungs unter den PT-Regierungen um einige Millionen vorher kapitalistisch überflüssiger Brasilianer gewachsen: Dieses Regime hat Arbeiter, die sich im privilegierten Stand proletarischer Armut durchschlagen, in ihrem Recht auf Lohn bestärkt, wenn auch dessen Durchsetzung stets durch das Heer der Arbeitslosen vor den Fabriktoren wachstumsfreundlich gebremst wurde. Die Arbeitslosigkeit ist dann aber in der Krise enorm gestiegen, seit Corona noch mehr; Gesundheits- und Bildungsmaßnahmen, Arbeitsschutzrechte und Sozialpolitik sind zu großen Teilen kassiert und die Gewerkschaften durch neue Gesetzgebung aus den Betrieben verdrängt. Und viele von denen, die Jobs haben, von denen sie halbwegs leben können, lassen sich inzwischen Bolsonaros Sicht der Dinge einleuchten, wonach es extrem ungerecht wäre, wenn diejenigen, die arbeiten, mit ihren Steuern und Abgaben denen, die zum Lager der nutzlosen Loser gehören, das Bier finanzieren sollten.

2. Ein anständiges Leben in der Konkurrenzgesellschaft – für jeden und für Brasilien

Bolsonaro bietet sich den Massen als tatkräftiger Vertreter all dieser populären und durch seine Agitation populär gemachten Kritik an. Er kämpft dafür, in allen Abteilungen seines Volkes die Absage an die alte PT-Regierung zur Mehrheitsmeinung zu machen und dem Anspruch auf – endlich wieder – gutes, das heißt durchgreifendes Regieren durch seine Präsidentschaft recht zu geben. Auf allen Kanälen bestätigt er Tag und Nacht den berechtigten, aber missachteten Wunsch des Volkes nach einer radikal Ordnung stiftenden Führung; und ist der erst einmal durch ihn erfüllt, dann kommt die materielle Besserstellung der Massen im Wiederaufschwung des Kapitalismus für all die, die sie sich durch ihren Willen zu Arbeit und Ordnung verdienen, ganz von selbst.

Von dem historisch in Brasilien immer wieder in Krisen und Aufschwüngen durchexerzierten Zusammenhang, dass die kapitalistische Nutzung der brasilianischen Volksmassen und damit ihre mehr oder weniger gewährleistete Ernährung vom Lohn stets eine Variable der abhängigen Einbeziehung Brasiliens in den Weltmarkt war und ist, mag Bolsonaro nichts wissen, wenn es um die fundamentalen Erfolgsbedingungen der Nation geht. Den sozialdemokratischen, für ihn kommunistischen, also staatszerstörerischen Irrwegen, die den Leistungswillen des guten brasilianischen Volkes mit Sozialleistungen korrumpieren, ungebührliche Ansprüche an den Staat nähren, Sozialschmarotzertum fördern, den Respekt vor den selbst erarbeiteten Erfolgen der tüchtigen Brasilianer untergraben oder ihnen gleich – wie im Fall der geforderten Anti-Corona-Maßnahmen – die Möglichkeit eines selbstverdienten Lebensunterhalts nehmen, hat er etwas entgegenzusetzen: seinen Fundamentalismus einer freien brasilianischen Konkurrenzgesellschaft für alle, in der sich jeder und auf eigene Faust – ganz nach US-amerikanischem Vorbild – seinem persönlichen lateinamerikanischen pursuit of happiness widmen kann und soll. Dass ein jeder in diesem Streben sich mit allen anderen guten Brasilianern zusammenschließt und so das Ideal einer sittlichen Volksgemeinschaft, also eines einigen Brasilien durch seine private Lebensführung wahr macht, ist gleichsam eine Gratisgabe seines selbstverantwortlichen und allein dadurch schon moralisch anerkennenswerten Bemühens. Wenn Bolsonaro die Rudimente des PT-Sozialstaates beseitigt, befreit er seine Landsleute aus der unwürdigen Lage, unproduktive Anhängsel der öffentlichen Hand zu sein, statt ihr eigenes Leben arbeitsam und ehrbar in die eigene Hand nehmen zu dürfen. Und wenn er mit viel Kredit die Ansiedlung von Auslandskapital betreibt und Staatsfirmen verkauft, den Urwald für die Ausweitung der Agrarindustrie abbrennt und die Gewerkschaften entmachtet, dann stellt er mit dem Einsatz seiner politischen Macht seinen freien Brasilianern die Bedingungen ihres privaten und höchstpersönlichen Konkurrenzerfolgs hin. Wenn Bolsonaro gegen ihre Bevormundung durch Gouverneure und andere Instanzen kämpft, die zur Seuchenbekämpfung einen Lockdown verhängen, dann verteidigt er nur das Recht seines tapferen Volkes auf seinen Lebensunterhalt, auch wenn es sich dabei ein Grippchen holt. [14] Und mit dem Versprechen neuer Ordnung und Wiederherstellung der sozialen Hierarchien, die von einem wichtigen Teil der Gesellschaft als verloren empfunden werden, sowie mit ultrakonservativen Sicherheitsvorschlägen sorgt der Präsident dafür, dass die Guten auch in den gefährlichsten Städten der Welt (Folha de São Paulo, 3.3.18) sich auf ihr ehrbares privates Streben konzentrieren können, ohne von Verbrechern, Lesben und Schwulen belästigt zu werden, auch wenn sie den Ordnungsdienst des Staates massenhaft nur als Betroffene staatlicher Ordnungsgewalt zu spüren bekommen. [15] Wenn er ihnen aufgibt, dass sie ihren Erfolg dann natürlich schon selber hinbringen müssen, stellt er sich auf den Standpunkt, dass das denen, die es wirklich wollen, auch gelingt, unbekümmert darum, dass die meisten seiner dergestalt animierten Landsleute gar nicht von sich aus in der Lage sind, einfach loszuziehen und ihr Glück zu schmieden – schon mangels Schmiede und eigenem Hammer, die auch im kapitalistischen Brasilien nur als privates Eigentum anderer Leute herumstehen. Dass es im Land für eine flächendeckende Volksernährung vermittels einer erfolgreichen Konkurrenzgesellschaft angesichts des notorisch beschränkten Bedarfs an heimischer Arbeitskraft und der elenden Bedingungen ihrer Benutzung an jeder Grundlage fehlt, hindert den Volksführer Bolsonaro nicht daran, seine Leute damit anzumachen, dass alles letzten Endes nur daran läge, ob man sich ausreichend am Riemen reißt. Für ihn geht nämlich die Reihenfolge genau andersherum: Ein moralisch ertüchtigtes, beharrlich und mit Anstand und ohne Scheu vor gerechter Gewalt um sein Leben kämpfendes Volk stellt unweigerlich irgendwann auch die Umstände her, die ihm eine würdevolle Existenz in einem großartigen Land sichern. [16] Das kann schon deshalb nicht ausbleiben, weil man sich mit einer solchen Haltung zu den Herausforderungen des Lebens den allerhöchsten Beistand sichert: Wer sich selbst hilft, dem hilft bekanntlich Gott!

3. Die ertragreiche Symbiose mit den evangelikalen Kirchen

Das predigen die evangelikalen Kirchen seit Adam und Eva. Die vom Präsidenten vertretene erzreaktionäre Konkurrenzmoral zur sittlichen Volksertüchtigung findet jedenfalls starke Unterstützung durch die einschlägigen Kreise, die seit geraumer Zeit dem altehrwürdigen römisch-katholischen Monopolverein mit seiner Kernkompetenz auf dem Gebiet des jenseitsorientierten Trostes und der karitativen Betreuung jeder Sorte Elend einen erfolgreichen Wettbewerb um die Seelen der Brasilianer liefern und dabei, wie die Rechten im Land, auf eine religiös gefärbte Erneuerung von Moral und Sittlichkeit der brasilianischen Massen hinarbeiten. Ihre Erfolge bei der Erziehung der Volksmassen begleiten und ergänzen die von Bolsonaro: Er setzt zur Erledigung gesellschaftlicher Unzufriedenheit, die sich an den Extremen privaten Reichtums auf der einen und verbreiteter Massenarmut auf der anderen Seite entzündet, auf seine Agitation für einen neuen Anstandsnationalismus und auf die Demonstration und Anwendung gerechter staatlicher Gewalt. Die Evangelikalen bieten ihren Gläubigen den beachtlichen und schon in ihrer nordamerikanischen Herkunftsregion millionenfach erfolgreichen spirituellen Deal, den auch Bolsonaro in seinem Zuständigkeitsbereich propagiert, sich durch ein sittenstrenges und gottgefälliges Leben und das Abdrücken des obligatorischen Zehnten an die kirchliche Gemeinschaft göttlichen Beistands für ihren Erfolg schon im Diesseits zu versichern. Irdischen Wohlstand lassen sie als untrüglichen Beweis der Gottgefälligkeit des Lebens gelten und werden damit zu einem gern genommenen Sinnstiftungsangebot an jene Teile des brasilianischen Volkes, die sich ihren persönlichen Konkurrenzerfolg und ihre selbstgerechte Verachtung gegenüber den Verlierern der Konkurrenz als Resultat göttlicher Gerechtigkeit und Moment himmlisch begleiteter Selbstoptimierung veredeln lassen. Aber auch da, wo das Versprechen auf Erfolg in der Konkurrenz eher einem Hauptgewinn in der göttlichen Lotterie gleichkommt, liefern evangelikale Sektenprediger klassenspezifisch aufbereitete Erweckungserlebnisse. Ihren Gläubigen der ärmeren Schichten, die bewundernd auf den göttlich gerechtfertigten Reichtum der Erfolgreichen blicken, von dem sie sich ausgeschlossen wissen, bieten sie kämpferische Ermunterung zum Durchhalten in der Verzweiflung als die nötige moralische Begleitung zum Zurechtkommen in Gewalt und Armut – mit Tempelgaragen oder den Palästen der erfolgreichen Superkirchen als neuer sozialer Heimat. Und verschaffen ihnen das auch nicht leicht erreichbare Erfolgserlebnis, das eigene Elend ganz sauber, ohne Drogen, Alkohol und Verbrechen, als Aktivisten des eigenen anständigen Lebens zu ertragen.

Als in den Lebenskämpfen anständig Gebliebene finden auch die niederen Gesellschaftsmitglieder so in ihrer jeweiligen Kirchengemeinde eine eigene sittliche Gemeinschaft, in der sie als anerkannte Mitglieder unter Gleichgesinnten und Gleichgestellten ihr persönliches moralisches Streben ausleben können.

Dass die Evangelikalen ihre Schäfchen dazu erziehen, sich in ihren gottgegebenen, durch persönlichen Einsatz aber immer verbesserbaren Rang in der brasilianischen Konkurrenzgesellschaft zu fügen, sich von hässlichen sozialen Streitigkeiten oder gar Anspruchsdenken an den Staat fernzuhalten und ihren persönlichen Erfolg oder Misserfolg selbstkritisch mit sich und dem lieben Gott auszumachen, begreifen die militanten Schmiede der nationalen Einheit um Bolsonaro zu Recht als gelungenen Beitrag zu ihrem Volkserziehungs- und Ordnungsprogramm. Derart sittlich eingebettet wird der Brasilianer resistent gegen linke Versprechungen und lebt ein anständiges Leben in Harmonie mit seiner religiösen Gemeinschaft und seinem nationalen Gemeinwesen. In einer ertragreichen politischen Symbiose sorgen die evangelikalen Kirchen mit der Reichweite ihrer Medienimperien dafür, dass ihre Gläubigen die Wahl Bolsonaros als religiöse Pflicht erkennen, wofür diese Vereine im Gegenzug in ihrem Streben nach Macht und Einfluss im Staat anerkannt und für ihre konstruktiven Beiträge zur sittlichen Ertüchtigung des guten Volkes nicht nur mit Ministerposten belohnt werden. Der wachsende Erfolg dieser freikirchlichen Gemeinden als machtvolle Instanzen der öffentlichen Moral im Leben des Volks ist ein Dokument gelungener Politisierung – die erfolgreiche rechte Alternative zur sozial gefärbten Moral einer nationalen Volksgemeinschaft.

III. Eine offene Beziehung – das Militär und sein unbequemer Präsident

Die große politische Offensive Bolsonaros zur Gewinnung einer souveränen Herrschaft nach innen, gegen die Hindernisse und Beschränkungen durch die nationale Interessenwirtschaft und zur moralischen Aktivierung seines Volkes stößt allerdings an die Grenzen der Macht seines Amtes, die ihm die vorderhand weiter geltenden Funktionsprinzipien der brasilianischen Herrschaft setzen. Bei dem Versuch, sein nationales Programm zur unumstrittenen Staatsräson zu erheben, greift Bolsonaro selbst wieder, wie zuvor die Regierungen des PT, zu den etablierten Techniken der Mehrheitsfindung im Parlament, die Leistungen zugunsten noch widerspenstiger Gegner erfordern und, wo die nicht als ausreichend erachtet werden und Einigung ausbleibt, das Risiko von parlamentarischen Niederlagen einschließen. [17] Dazu fehlt es wie stets auch angesichts des neuen Regierungsprogramms nicht an einflussreichen Kapitalfraktionen und gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich als Opfer der nun staatlichen Krisenbewältigungspolitik sehen, in der staatliche Kreditförderung und lukrative Aufträge einer neuen fiskalischen Sparsamkeit zum Opfer fallen und an anderer Stelle Konjunkturanreize und Investitionsförderung neu sortiert und großzügig verteilt werden. Es melden sich gewichtige Stimmen, die angesichts staatlicher Privatisierungspolitik und neuer Freiheiten für umworbene kapitalmächtige internationale Investoren den Ausverkauf eigener und nationaler Interessen anprangern. Die Vertreter der verschiedenen Institutionen der Macht – in den Regierungen der Bundesstaaten, der Justiz, den Ordnungsbehörden etc. – konkurrieren erbittert gegeneinander und gegen den Präsidenten um die Bestimmung der vom Präsidenten beanspruchten Macht und untergraben so seine Autorität; von der in einen gnadenlosen Abwehrkampf verstrickten Linken ganz zu schweigen, die ihre ganze verbliebene Macht in den staatlichen Institutionen mobilisiert, um Bolsonaros Politik zu bekämpfen. [18]

Unübersehbar ist im Verlauf seiner Präsidentschaft, dass Bolsonaro an beiden Fronten seiner politischen Mission nicht ohne Weiteres durchdringt, sich selbst zur Sicherung seiner Regierung in vielerlei Korruptionsverhältnisse verstrickt, ohne die Widerstände in der Politik vonseiten der Gouverneure, der Institutionen, vor allem auch der Gerichte einfach wegräumen zu können; und dass er trotz viel Beifalls seiner treuen Anhänger für seinen Umgang mit der Pandemie die großen Restbestände der alten Lula-Freunde im Volk nicht vollständig abwerben, aber auch nicht marginalisieren oder ächten kann. So gerät sein politischer Kampf um die souveräne Führung seines geeinten Volkes in der Praxis seiner Regierungsführung vor allem zu einem großen, auch brutal gewalttätigen Aufräum-, Spaltungs- und Sortierungsprogramm gegen seine politischen Gegner und alle anderen unliebsamen Elemente, ergänzt um die sozialpolitische Verarmung der von ihm so intensiv bearbeiteten Volksmassen. Der Streit um den katastrophischen Zustand des Landes infolge der großen Seuche, die Insubordination wichtiger Amtsträger und die Gegnerschaft in Teilen des Volkes wird in erbitterten Zerwürfnissen innerhalb der politischen Klasse und der ganzen Gesellschaft ausgefochten und nimmt nach und nach Formen eines partiellen Staatszerfalls an.

Der Präsident begreift und behandelt diese Konsequenzen seiner Politik getreu seinem missionarischen Verständnis der Einheit von Staat, Volk und Führung als untragbaren Angriff auf diese heilige nationale Dreifaltigkeit, die in seiner Person haust, und reagiert dementsprechend. Einerseits greift er angesichts des innenpolitischen Streits über seine Corona-Politik, der Reibereien mit den Militärs in und außerhalb des Kabinetts und einer ganzen Serie schwebender Impeachment-Verfahren wegen Korruptionsvorwürfen und seiner Seuchenpolitik zu den bewährten landesüblichen Methoden demokratischer Konsensbildung. Er nähert sich einer ideologisch flexiblen Mitte-Rechts-Parteienmannschaft – centrão – an, die parlamentarische Mehrheiten, mehr Unabhängigkeit vom Militär und eine gewisse Absicherung gegen Amtsenthebungsverfahren zu bezahlbaren Preisen zu verkaufen hat. Andererseits stellt er klar, dass er sich als Präsident die Korruptionsvorwürfe gegen sich und seine Familie nicht bieten lässt und verweist drohend auf seine Durchgriffsmacht auf die polizeilichen Exekutivkräfte. [19] Die Widerstände, die er mit dem Kampf gegen die nationale Krisenlage und mit seinem Umgang mit der Pandemie in der brasilianischen Politik aufrührt und die sein machtvolles Durchregieren laufend behindern, bestärken ihn darin, das Volk nicht als bloße demokratische Wählerschaft, sondern als Manövriermasse für den Kampf um die Macht im Staat zu mobilisieren. [20] Vor allem aber fordert er unter Berufung auf seine formelle Stellung als Oberbefehlshaber der Streitkräfte die Unterstützung des Militärs ein. [21]

Allerdings mit uneindeutigem Erfolg. Dessen Chefs nehmen zu Teilen nach und nach zur Kenntnis, dass das, was ihr Mann im Präsidentenamt liefert, nicht gerade in vollem Umfang dem ähnelt, was sie bestellt haben: die Nation mittels guter Regierung, ökonomischer Entwicklung und Volkseinheit in schwieriger werdender Weltlage und in einer dann doch irgendwann besorgniserregenden ökonomischen und volksgesundheitlichen Lage als solide Basis brasilianischer Souveränität herzurichten. Der Antrag Bolsonaros an die Armee auf gewaltsame Durchsetzung seines Programms gegen die Widerstände in der Gesellschaft und im Staatsapparat wirft zumindest für nicht unerhebliche Teile der militärischen Führung die Frage auf, ob sie sich, wenn sie dem Wunsch des Präsidenten folgen, damit möglicherweise weniger für das Vorankommen der nationalen Basis der staatlichen Souveränität starkmachen als vielmehr für die politischen und persönlichen Konkurrenzaffären eines machtgeilen Politikers, der sie dafür funktionalisiert und die Nation spaltet, anstatt sie zu einen und voranzubringen.

Die Eskalation des politischen Machtkampfs konterkariert jedenfalls den Wunsch des Militärs nach Geschlossenheit und Einheit zwischen Volk und Führung und nährt die Unzufriedenheit mit den Leistungen des Präsidenten; der aber besteht darauf, dass der nationale Zusammenhalt gegen seine Feinde durchgesetzt sein will, mit harter Politik und Staatsgewalt; und wenn es sein muss, eben auch mit der Gewalt der bewaffneten Garantiemacht der Nation. Diese Indienstnahme nach den Kriterien ihres Präsidenten will sich, ausweislich der eingangs erwähnten Streitigkeiten, die Militärführung lieber zweimal überlegen und vor allem selbst entscheiden, ob sie es der brasilianischen Demokratie und dem Präsidenten noch zutraut, das Land für die kommenden imperialistischen Herausforderungen und Chancen, die die Chefs der Streitkräfte ausgemacht haben wollen, nach den Ansprüchen und Bedürfnissen einer verschärften Staatenkonkurrenz herzurichten. Andere Militärs teilen dagegen anscheinend die präsidiale Lesart des Staatsnotstands und halten an Bolsonaro fest. So sorgt der Präsident für Zerwürfnisse auch noch in den Reihen des Militärs, das bislang so sehr auf die Einheit der Staatsgewalt bedacht war. Die linke Opposition kreidet das umfassende Corona-Elend im Land sowieso dem Präsidenten als sein persönliches Versagen und als letzten Beweis dafür an, dass er an seinen eigenen patriotischen Maßstäben und denen der politischen Militärs scheitert, die souveräne Macht Brasiliens wiederherzustellen, für die Zukunft zu sichern und zu stärken. [22] Die Sozialdemokraten biedern sich heute schon mit Blick auf die nächsten Wahlen sowohl dem bloß wahlberechtigten als auch dem bewaffneten Souverän der brasilianischen Demokratie als die wahre patriotische Kraft an, mit dem Versprechen, baldmöglichst die großartigen alten Lula-Zeiten der Nation zu restaurieren. Wähler und Generäle – oder auch nur eine der beiden Instanzen – werden zu gegebener Zeit darüber entscheiden.

[1] Alle Zitate zusammengestellt aus dem Weißbuch 2020 ‚Livro Branco de Defesa Nacional‘, www.gov.br, und den Papieren zur nationalen Verteidigungsstrategie ‚Política Nacional de Defesa‘ und ‚Estratégia Nacional de Defesa‘ von 2020, www.nodal.am (übersetzt aus dem Portugiesischen).

[2] Das Militär fungiert nicht nur in der Verfassung als Wächter über den inneren Staatszusammenhalt. Es ist auch – seit jeher, unter Bolsonaros Präsidentschaft mehr denn je – im politischen und gesellschaftlichen Getriebe der Nation aktiv: Es stellt Minister; derzeit leiten 92 Militäroffiziere große staatliche Wirtschaftsunternehmen, u.a. das staatliche Ölunternehmen Petrobras; mehr als 6 000 haben wichtige Posten in der Bundesexekutive; das Militär ist engagiert in Landerschließung und Ausbau der Infrastruktur und bewirtschaftet eine eigene Rüstungsindustrie.

[3] Für Bolsonaro sind die Vereinten Nationen ein kommunistischer Treffpunkt... Der Präsident sieht in den multilateralen Organisationen einen Weg zur Ausbreitung des Kulturmarxismus und im Antiglobalismus oder Antikosmopolitismus einen Weg, der Dekadenz des Westens zu begegnen... (La Nación, 15.11.18)

[4] Insbesondere die ‚Ruralisten‘, die parlamentarische Vertretung der Agrarunternehmer und Großgrundbesitzer – das sind zum Gutteil sie selbst –, kümmern sich darum, dass ihrem Landhunger und den brutalen Methoden der Landnahme keine staatlichen Schranken gesetzt, sondern möglichst umstandslos Gesetzeskraft verliehen wird. Die 235 (der insgesamt 513) Abgeordneten sowie die 27 (der 81) Senatoren aus dem Lager der Ruralisten sind voller Tatendrang. Sie haben bereits diverse Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht, die im Falle einer Zustimmung durch das Parlament wohl zu noch mehr Gewalt führen werden. Zu nennen wäre ein Gesetz, das Agrarproduzenten erlauben soll, Waffen zu tragen, oder der Vorschlag, die Landlosenbewegung und die Bewegung obdachloser Arbeiter auf die Liste terroristischer Vereinigungen zu setzen. (Le Monde diplomatique, 9.5.18)

[5] Zur materiellen Grundlage dieser allseitigen Unzufriedenheit und politischen Zerstrittenheit sowie dem regelmäßigen wirtschaftspolitischen Kurswechsel zwischen ‚nationaler Entwicklung‘ im und für Erfolge auf dem Weltmarkt und ‚neoliberaler‘ Ausrichtung an den Anforderungen des Weltmarkts und des internationalen Kapitals – also zu den Widersprüchen eines ‚Schwellenlandes‘ im kapitalistischen Weltmarkt – vgl. GegenStandpunkt 1-97: Brasilien – ein Fall von ‚Emerging Market‘.

[6] Unter dem Titel ‚Fome Zero‘ (null Hunger) mit dem Kernstück ‚Bolsa Família‘ wurde eine monatliche staatliche Überlebenshilfe in Form von Direktzahlungen an immerhin ca. ein Viertel der brasilianischen Bevölkerung eingeführt, die das offenbar dauerhaft bitter nötig hat, geknüpft an die Verpflichtung, den Nachwuchs in die Schule und zur Gesundheitsvorsorge zu schicken. Verfolgt wird damit das staatliche Ideal, dieser Masse absolut Armer die elementarsten Bedingungen eines ordentlichen Volksdaseins zu stiften. Weitere Programme wie „Minha casa minha vida“, „Luz para todos“ oder „Favela-Bairro“ sorgten für Wohnraum oder dessen Anschluss an die Strom- oder Abwasserversorgung für manche der vielen, für die dergleichen Grundbedürfnisse purer Luxus sind, und erschlossen mit Infrastruktur, Gesundheitsvorsorge und Ausbildung einige Vorzeige-Favelas.

[7] Bei steigenden Rohstoffpreisen, insbesondere infolge stark steigender chinesischer Nachfrage, rückten die brasilianischen Soja-, Zucker- und Fleischproduzenten ebenso wie nationale Bergbauunternehmen sowie die staatliche Ölfirma Petrobras in wenigen Jahren zu den größten der Welt auf. Die innere Entwicklung ihres Heimatstandortes wurde währenddessen mit viel Staatskredit gefördert und für Auslandsinvestitionen interessant gemacht.

 Wie die PT-Regierung diese Sonderkonjunktur für ein politisches Aufstiegsprogramm genutzt hat, wird ausführlich dargestellt in GegenStandpunkt 3-11: Brasiliens Aufstieg – eine imperialistische Erfolgsstory. Land und Volk im Dienst kapitalistischen Wachstums und nationaler Macht.

[8] Als sich die für Brasilien günstigen Bedingungen auf dem Weltmarkt ändern, das chinesische Wachstum 2012/13 nachlässt und die Preise für Rohstoffe 2014/15 fallen, macht sich die Abhängigkeit des brasilianischen Aufschwungs von den Konjunkturen der Weltwirtschaft negativ geltend. Der Einbruch der Weltkonjunktur und der Umschwung der finanzkapitalistischen Spekulation auf die ‚Schwellenländer‘, von der Brasilien profitiert hatte, löst im Land eine heftige Wirtschaftskrise aus: Die ehemalige nationale Wachstumslokomotive Petrobras ist schlagartig überschuldet; die Staatsschuldpapiere werden 2015 auf Ramschniveau geratet; der Wert der Landeswährung sinkt um fast 50 %; die Börse bricht um 40 % ein etc.

[9] Die zweite Amtszeit der PT-Präsidentin Rousseff gerät zu einem Kampf zwischen ihr und der konservativen Opposition im Verbund mit Vizepräsident Temer um die Macht im Staat und den politischen Ertrag des milliardenschweren Korruptionsskandals „Operación Lava Jato“ rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras, in dessen Folge gegen die Hälfte der brasilianischen Kongressmitglieder und linke wie rechte Spitzenpolitiker wegen Korruption ermittelt wurde. Temers Partei kündigt 2016 die Regierungskoalition und liefert so in Absprache mit der Opposition die parlamentarische Mehrheit für das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff wegen des allseitig als Vorwand durchschauten Vorwurfs der Haushaltsmanipulation. Nach einem zähen parlamentarisch-juristischen Ringen wird Rousseff aus dem Amt entfernt und die zweijährige Übergangspräsidentschaft von Temer – zwischenzeitlich seinerseits wegen Korruption inhaftiert – eingeleitet. Der unter dem Namen „Lava Jato“ bekannt gewordene Bestechungsskandal avanciert dank einer willfährigen Justiz zur Generalabrechnung mit dem PT; Lula landet als ‚Comandante Máximo‘ des Korruptionsnetzwerks hinter Gittern, was dessen aussichtsreiche Teilnahme an den ersten regulären Wahlen 2018 gegen Bolsonaro verhindert. Hohe Militärs führen dabei weitsichtig Regie: Bereits im Jahr 2014 beschlossen ranghohe Offiziere, einen eigenen Kandidaten ins Rennen um das Staatsoberhaupt zu schicken. Nach anfänglichen Zweifeln entschieden sich die Generäle für den früheren Hauptmann Bolsonaro... Ziel sei es, eine Art ‚neue Demokratie‘ anzustoßen, die durch das aktuelle System verhindert werde. Ihre Grundanschauungen seien der politische Konservatismus, der ökonomische Liberalismus, eine aktive Rolle der Militärs im politischen Geschehen und die Mission, die politische Linke mit der Wurzel auszureißen... Mitte Oktober verriet der Vier-Sterne-General Augusto Heleno gegenüber dem Magazin Época, dass sich eine Gruppe von Generälen der Reserve seit Langem mehrmals in der Woche treffe, um Tischvorlagen für eine Regierung unter Bolsonaro zu erarbeiten. ‚Wir arbeiten zu Themen, die zukünftig von möglichen Ministerien priorisiert werden sollen‘, so der General. Heleno spricht von mindestens sechs Ressorts, die an Militärs gehen werden... ‚Gegenüber dieser Situation [der Massenproteste von 2013] entschieden wir, eine Gruppe von Militärangehörigen höheren Ranges, dem Kommando der Streitkräfte den Abgeordneten [Bolsonaro] vorzustellen. Wir hatten dabei bereits die Wahlen in diesem Jahr vor Augen.‘ ... In der Folge führten die Militärs mit dem bis dahin bedeutungslosen Abgeordneten einige Gespräche. ‚Er akzeptierte unsere Vorschläge und änderte einige seiner Ansichten. Zum Beispiel ging er vom Wirtschaftsnationalismus zum Liberalismus über. Was man im Wahlkampf sah, war bereits Ergebnis des Dialogs mit der Armee‘. (amerika21.de, 27.10.18)

[10] Die gewerkschaftliche Interessenvertretung – ohnehin auf den engen Umkreis der ordentlich Beschäftigten beschränkt – wird im Rahmen der Arbeitsrechtsreform bekämpft, indem die Abführung der Gewerkschaftsbeiträge von Löhnen und Gehältern nicht mehr automatisch erfolgt – also keine Zwangsmitgliedschaft mehr besteht, wie über Jahrzehnte. Dadurch sind Gewerkschaften nun chronisch unterfinanziert und fürchten, dass sie bei einem Streik juristisch für die Ausfälle belangt werden könnten. (dw.com, 15.6.19)

[11] Wir werden diese roten Banditen aus unserem Heimatland verbannen. Das wird eine Säuberung, wie es sie noch nie in der brasilianischen Geschichte gegeben hat. (The Guardian, 22.10.18) Und sein Sohn sekundiert: ‚Wenn es notwendig ist, 100 000 Menschen zu inhaftieren, wo ist das Problem?‘, so Bolsonaro junior. Der Nachwuchspolitiker hatte zuvor von sich reden gemacht, weil er mehrfach öffentlich Folter befürwortete. (amerika21.de, 18.11.18)

[12] Die evangelikale Pastorin und Abtreibungsgegnerin Alves bekommt das Ministerium für Familie, Frauen und Menschenrechte, dem auch die Indigenenbehörde Funai unterstellt wird – zur Missionierung und Entwicklung der Indigenen zu wahren Brasilianern. Funai wird die Zuständigkeit für Landverteilungsfragen in den Indigenengebieten entzogen und dem Agrarministerium – unter Führung der Agrarlobbyistin Tereza Cristina – überantwortet. Mehr als 15 Prozent des nationalen Territoriums sind indigenes Land und Quilombos (dort wohnen die Nachkommen schwarzer Sklaven, Anm.). Weniger als eine Million Menschen leben an diesen Orten. Sie sind isoliert vom wahren Brasilien und werden von NGOs ausgebeutet und manipuliert. (Bolsonaro auf Twitter, Der Standard, 20.3.19) Eine „Verwaltungsreform“ des Umweltministeriums, dessen Budget um ca. 50 % gekürzt wurde, überträgt weitere wichtige Kompetenzen an das Agrarministerium. Der Umweltbehörde Ibama wird die Kontrolle von illegalem Holzabbau entzogen und der Militäroperation ‚Verde Brasil 2‘ überantwortet. Die Umweltpolizei, die im Amazonasgebiet gegen die illegale Landnahme kämpft, wird an die Kette gelegt, ausgedünnt und selbst kriminalisiert. Ganz im Sinne der Großgrundbesitzer wird der politische Kampf gegen das Krebsgeschwür der NGOs ergänzt um die Freisetzung der und Aufforderung zur privaten Gewalt gegen Landlose und sonstige Banditen: Der Kandidat Jair Bolsonaro (PSL) verkündete diesen Freitagmorgen in São José do Rio Preto, dass Landbesitzer Gewalt anwenden sollen, um Besetzungsversuche ihrer Besitztümer zu verhindern. Dafür würden sie nicht vor Gericht gebracht. Der Präsidentschaftsanwärter bestätigte, dass sein Vorschlag, Polizisten der Strafverfolgung zu entziehen – bekannt als ‚Lizenz zum Töten im Dienst‘ –, für landwirtschaftliche Erzeuger ausgeweitet würde. (globo.com, 24.8.18)

[13] Das Virus ist angekommen, wir kümmern uns darum, und es wird bald vorbei sein. Unser Leben muss weitergehen. Arbeitsplätze müssen erhalten bleiben. Die Lebensgrundlage der Familien muss erhalten bleiben. Wir müssen zur Normalität zurückkehren. Einige wenige staatliche und kommunale Behörden müssen das Konzept der verbrannten Erde, des Verbots des ÖPNV, der Schließung von Geschäften und der Masseneinsperrung aufgeben. (Fernsehansprache Bolsonaros im März 2020) Bolsonaro schlägt sich rigoros auf die eine Seite des für Brasilien unauflöslichen Widerspruchs zwischen dem Schutz der Gesundheit des Volkes – auch in Brasilien allemal die Bedingung für seinen Dienst an der nationalen Entwicklung – und der Ernährung des Volkes, das in seinen prekären Lebensbedingungen durch jeden Tag seuchenbedingter Isolation vom Hunger bedroht ist.

[14] Seit Beginn der Pandemie stellt sich der brasilianische Präsident hartnäckig gegen die von Gouverneuren und Bürgermeistern verhängten Isolationsmaßnahmen. Dennoch hat die Pandemie Brasilien hart getroffen: Fast fünf Millionen Infizierte und 150 000 Tote zählt das Land... Gleichzeitig haben wegen der Pandemie aber Millionen von Brasilianern ihre Jobs und Einkommen verloren. Die Verantwortlichen für die Vernichtung von Millionen Arbeitsplätzen schweigen nun, sagt Bolsonaro. (FAZ.net, 1.10.20)

[15] Dass der Anstand in der Gesellschaft die staatliche Gewalt nicht nur braucht, sondern mit ihr zusammenfällt, demonstriert Bolsonaro mit seinem volksnahen und politisch inkorrekten Auftreten mit der Fingerpistole als Markenzeichen, flotten Sprüchen zu Folter und Vergewaltigung und mit betontem Schwulenhass.

[16] Um dem Volk verlässlich den richtigen Weg zu weisen, arbeitet Bolsonaro an der Ausrichtung der Bildungs- und Kulturinstitutionen an rechten Moralrichtlinien und ihrer radikalen Säuberung von ‚zersetzendem kommunistischem‘ Gedankengut: Die ‚linke Indoktrinierung‘ werde ein Ende haben, sagte der angehende brasilianische Präsident Jair Bolsonaro schon im Wahlkampf und rief seine Anhänger dazu auf, Lehrer und Dozenten zu denunzieren. In den Augen Bolsonaros sind ‚kommunistische Lehrer‘ eine Gefahr für Schüler und Familien – einige wittern gar eine Verschwörung. Schlimmer noch, wenn diese Lehrer über die Politik hinaus auch Themen wie Sexualität und sexuelle Orientierung ansprechen... Das Auswahlverfahren für Lehrkräfte soll angepasst werden. Auf einer „Internetseite können Eltern die Lehrer ihrer Kinder denunzieren. Das hat zu einer regelrechten Hetzjagd geführt. Politiker – wie Bolsonaro selbst – halten die Schüler dazu an, ihre Lehrer während des Unterrichts zu filmen... Sexualkunde gehöre nicht in die Schule, finden Bolsonaro und seine Unterstützer, besonders jene aus den sozial-konservativen evangelikalen Freikirchen.“ (FAZ, 29.11.18) Die Botschaft kommt an: Anhänger des designierten Präsidenten von Brasilien, Jair Bolsonaro, haben eine Liste mit Namen von über 700 Schauspielern, Journalisten, Autoren, Theologen und Künstlern veröffentlicht, die sie zu ‚Feinden‘ erklären, da sie sich gegen den ultrarechten Politiker gestellt hatten... ‚Künstler, die sich gegen den Willen des Volkes stellen, aber öffentliche Gelder einstreichen! Wenn jemand fehlt, füge den Namen hinzu und mach’ weiter.‘ (amerika21.de, 5.11.18)

[17] Mitte März wurde bekannt, dass Bolsonaro Stimmen kauft und Posten an Parlamentarier für deren Zustimmung zur Rentenreform verteilt. (amerika21.de, 26.3.20) Nur so und durch die Wahrung der Rentenprivilegien des Militärs bringt Bolsonaro gegen den erbitterten Widerstand von Gewerkschaften und Opposition eine Rentenreform durchs Parlament, deren Anhebung des Rentenalters eine Höhe erreicht, die die durchschnittliche Lebenserwartung in manchen Regionen deutlich übersteigt.

[18] Sie bekommt Auftrieb durch eine Entscheidung in einem nationalen Obergericht im Korruptionsfall Lula zu dessen Gunsten, das Formfehler seiner Verurteilung und die Parteilichkeit des damaligen Richters rügt und vor dem Obersten Gerichtshof noch einmal nach hitzigen Wortgefechten zwischen den Höchstrichtern – direkt übertragen auf YouTube – mehrheitlich bestätigt wird.

[19] In der Sitzung vom 22. April schwor Bolsonaro seine Minister darauf ein, Loyalität ihm gegenüber zu demonstrieren. Die Presse, als deren Opfer sich Bolsonaro sieht, müsse boykottiert werden. Über die Möglichkeit eines Absetzungsverfahrens zeigte er sich besorgt. Es gebe nur eine Regierung. ‚Wenn ich falle, fallen alle.‘ (FAZ, 25.5.20) „ ‚Ich werde nicht darauf warten, dass meine Familie gefickt wird‘, sagt Bolsonaro in Bezug auf sein Begehren, an der Spitze der Polizei einen Wechsel zu vollziehen... ‚Wenn ich jemanden nicht austauschen kann, tausche ich seinen Chef aus. Und wenn ich seinen Chef nicht austauschen kann, tausche ich den Minister aus.‘ Bolsonaro ernannte einen engen Freund seiner Söhne zum neuen Polizeidirektor. Weil das Oberste Gericht dies nicht zuließ, ernannte er einen nahen Vertrauten von ebendiesem für den Posten. Dieser ersetzte wiederum als Erstes den Polizeichef von Rio, dessen Behörde gegen Flavio und Carlos [Bolsonaros Söhne] in den Korruptionsfällen ermittelt.“ (NZZ, 26.6.20) Überhaupt findet der Präsident, dass die Korruptionsverfolgung ihren Dienst geleistet hat: Es ist eine Ehre und Freude unserer wunderbaren Presse mitzuteilen, dass ich mit der Lava Jato fertig bin, weil es keine Korruption mehr in der Regierung gibt. (america21.de, 12.10.20)

[20] Demonstrativ reitet Bolsonaro hoch zu Ross an der Spitze von Anti-Lockdown-Demos seiner Anhänger und sichert ihren Forderungen nach einem Militärputsch seine präsidentielle Unterstützung zu: „Ihr könnt sicher sein: Mit mir als Oberbefehlshaber der Streitkräfte wird meine Armee niemals auf die Straßen gehen, um Euch zum Zuhausebleiben zu zwingen... Dies ist keine politische Demonstration, sondern eine der Liebe zum Vaterland, es ist eine Demonstration all derer, die Frieden, Ruhe und Freiheit über allem anderen wollen.“ (pagina12.com.ar, 10.5.21)

[21] Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro drohte damit, die Streitkräfte auf die Straße zu bringen, um für Ordnung zu sorgen, falls die von den Gouverneuren festgelegten Beschränkungen zur Eindämmung von COVID-19 das fördern, was der Präsident als ‚Chaos‘ bezeichnete... Der Präsident kritisierte erneut die restriktiven Maßnahmen der meisten Gouverneure Brasiliens, wo die Coronavirus-Pandemie außer Kontrolle geraten ist, und bezeichnete die Quarantänen und Ausgangssperren als ‚absurd‘ und ‚feige‘. ‚Wenn ich es anordne, wird es durchgesetzt. Unsere Streitkräfte können in der Tat eines Tages auf die Straße gehen.‘ (DW, 25.4.21) Vorsorglich droht er gleich für die nächste Wahl bei einem falschen Ausgang mit einem Eingreifen des Militärs wegen absehbaren Wahlbetrugs. Zusätzlich und daneben arbeitet Bolsonaro daran, die bewaffneten Polizeikräfte unter sein direktes Kommando zu stellen und sich deren Loyalität zu sichern – vorbei an den widerspenstigen Gouverneuren.

[22] Wir sind einer Regierung anvertraut, die das Leben geringschätzt und den Tod trivialisiert. Eine unsensible, unverantwortliche und inkompetente Regierung, die die Normen der Weltgesundheitsorganisation missachtet und das Coronavirus zu einer Massenvernichtungswaffe gemacht hat... Das Schlimmste von allem ist, dass Bolsonaro das kollektive Leid ausnutzt, um in aller Heimlichkeit das Verbrechen des Landesverrats zu begehen. Ein politisch unauslöschbares Verbrechen, das größte Verbrechen, das ein Regierender gegen sein Land und sein Volk begehen kann: die Aufgabe der nationalen Souveränität. (Rede Lulas zum Nationalfeiertag, 14.9.20)