Die Verlängerung des Vertrags über die Nicht-Verbreitung von Atomwaffen
Ein Beitrag zur Politik der USA für eine nukleare Weltordnung

Der Vertrag sicherte im kalten Krieg, dass atomare Bewaffnung ausschließlich den Großmächten vorbehalten war. Die USA wollen die weitere Fixierung der Anerkennung der fünf Atommächte, um das mit dem Vertrag gegebene Recht auf weltweite Rüstungskontrolle lauter neuer ‚Problemfälle‘ aktiv auszunutzen. Während sie von Russland und China Abrüstung verlangen, haben die geduldeten zivilen Atommächte Deutschland und Japan Hilfsdienste bei der Beaufsichtigung der Staatenwelt zu leisten.

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Die Verlängerung des Vertrags über die Nicht-Verbreitung von Atomwaffen
Ein Beitrag zur Politik der USA für eine nukleare Weltordnung

Aus der Zeit, zu der jeden Tag der Weltfrieden gesichert werden mußte, stammt der Vertrag über die Nicht-Verbreitung von Atomwaffen.[1] Der Kalender der Christenheit zeigt 1995 an, daß dieser Vertrag ausgerechnet jetzt, da die Schaffung einer neuen Weltordnung auf dem Programm der übriggebliebenen Supermacht steht, ausläuft. Und im Rahmen dieser Bemühung, zwischen den Staaten der Welt eine neue Ordnung zu stiften, halten die USA die unkonditionierte und unbefristete Verlängerung jener Übereinkunft für dringend erforderlich. So werden an die zweihundert Nationen vor die Entscheidung gestellt, ob ihre Interessen eher durch die Unterschrift unter das erneuerte Abkommen gewahrt werden – oder ob sie sich mehr davon versprechen, sich diesem Kunstwerk internationaler Diplomatie zu entziehen, es womöglich gar zu Fall zu bringen.

Die Beratungen, in denen benachbarte und verbündete Staaten, auch solche, die auf eine Tradition herzlich gepflegter Feindseligkeiten zurückblicken, ihre Stellung zur Fortschreibung des NPT klären, finden dann fristgerecht und ohne großen Streit zu dem aus Washington angemahnten Ergebnis. Vorher geben noch „die Blockfreien“, die es auch ohne „Blöcke“ in diesem Zusammenhang kurzfristig wieder gibt, ihre Unzufriedenheit mit den ungerechten Privilegien der Atomwaffenbesitzer und deren mangelndem Selbstabrüstungswillen zu Protokoll; die arabischen Staaten liefern die Drohung ab, ihr Einverständnis zu verweigern, wenn nicht Israel als atomwaffenloser Staat dem Abkommen beitritt. Dann mündet das ganze Hin und Her von Abwägungen, die immerhin den strategischen Status ganzer Nationen betreffen und auf die Festlegung einer Hierarchie bezüglich militärischer Fähigkeiten abzielen, in eine Akklamation zur Verlängerung des Vertrages, von dem sich manche so viel versprechen.

I. Der Vertrag und sein Beitrag zum ‚Kalten Krieg‘

1.

Der kontrahierte Gegenstand ist der Grad der Bewaffnung, den ansonsten souveräne Staaten einander zubilligen bzw. versagen. Allerdings versucht sich die Konstruktion namens Non-Proliferation-Treaty nicht an einer Quotenregelung bezüglich aller möglichen Sorten Gerät und Munition; sie beschränkt sich weise auf einen Posten des Arsenals, auf das alle Nationen im Ernstfall zurückgreifen wollen. Die Erfinder der Vereinbarung sind Realisten, die wissen, wie nötig die Politik das Mittel der Gewalt hat, wenn sie sich im konfliktreichen Dialog von Staat zu Staat behaupten will. Die ultima ratio des Krieges war und ist ihnen geläufig, weswegen ihre Aufmerksamkeit der ultima ratio der Kriegführung galt, den Kernwaffen.

Dieses „letzte Mittel“ des Krieges weist für dessen Planer aufgrund seiner vernichtenden Wirkung den Vorzug auf, daß es für eine eindeutige Entscheidung des militärischen Kräftemessens gut ist, auf das man sich einmal eingelassen hat. Seine Anwendung steht am Ende des Kontinuums der Gewalt an, mit der man einen feindlichen Staat wehrlos zu machen angetreten ist. Deswegen, weil es Schwierigkeiten bei der konventionellen Durchführung dieses Vorhabens überwindet, fehlendes Kriegsglück bzw. die sonstigen militärischen Leistungen des Gegners quasi ungeschehen macht, ist bereits die Drohung mit diesem letzten Mittel, seine Verwendung als verfügbare „Option“ eine äußerst nützliche Sache.[2] Jedoch nur unter der Voraussetzung, daß der wirkliche oder potentielle Kriegsgegner nicht über dieselben Mittel verfügt.[3]

Kein Wunder also, wenn mit dem Wissen zur Fertigung von Kernwaffen und der Technologie ihrer Anwendung auch das Bedürfnis in der Staatenwelt aufgekommen ist, sich dieses Kriegsmittel zu beschaffen. Wenig erstaunlich auch das entgegengesetzte Anliegen von Mächten, die über Atomwaffen geboten und sich darüber im Klaren waren, daß deren Brauchbarkeit mit der ausschließlichen Verfügung über sie steht und fällt. Daß die Reaktion auf den um sich greifenden Ehrgeiz nach atomarer Bewaffnung in einen Vertrag mündete, der die Nicht-Verbreitung von Kernwaffen zum Inhalt hatte, verrät freilich, daß von einem Monopol längst nicht mehr die Rede sein konnte. Eine Nation, die ein solches Monopol genießt, braucht nämlich keine Verpflichtung aufzusetzen und zu unterschreiben, durch die sie sich dazu anhält, Kernwaffen und unmittelbare oder mittelbare Verfügungsgewalt darüber an niemanden weiterzugeben (Art.I) – sie enthält sie anderen Souveränen vor. Und nach Kräften behindert sie andere Nationen bei dem Versuch, sich atomar zu rüsten.

Die „Lage“, an der die Architekten des Atomwaffensperrvertrags Maß nahmen, sah offenbar etwas anders aus.

2.

Besagte Verpflichtung sind mehrere Atommächte eingegangen. Sie haben damit einen neuen Typus Koalition in die Weltpolitik eingeführt. Denn sie sind ja nicht handelseinig geworden, weil sich ihre kurz-, mittel- und langfristigen Interessen – in ökonomischen und/oder militärischen Belangen – als deckungsgleich erwiesen hätten. Vielmehr haben sie jenseits des politischen Willens, getrennt von den mit ihrer Staatsraison verbundenen Interessen und Berechnungen, ein gemeinsames Anliegen entdeckt. Ohne Rücksicht auf ihre sonstigen Differenzen und Gegensätze ist ihnen der Ausschluß der übrigen Staaten von den ihnen verfügbaren militärischen Fähigkeiten einen Pakt wert gewesen. Der Vertrag erweiterte die überkommenen Unterschiede innerhalb der Staatenwelt um ein neues Hierarchiemerkmal; außer kommunistischen und freiheitlichen, armen und reichen, Hartwährungs- und unterentwickelten Ländern gibt es mit ihm die Einteilung in Nationen mit atomarer Rüstung und Nichtkernwaffenstaaten, welche letzteren verpflichtet sind, auf Herstellung oder Erwerb von Kernwaffen bzw. die Verfügungsgewalt darüber zu verzichten. (Art.II)

Das nicht gerade vom Geist der Chancengleichheit beseelte Abkommen wandte sich also erstens gegen die Versuchung der atomar gerüsteten Mächte, durch die Ausstattung von Verbündeten mit Kernwaffen am Kräfteverhältnis in der Welt zu drehen. Es nahm nichts zurück von der energisch betriebenen Konkurrenz zwischen den Staaten und erst recht nicht von der weltkriegsträchtigen Pflege der Feindschaft, die das Reich der Freiheit von Washington aus dem Sozialismus angetragen hatte; es bestand im Gegenteil darauf, daß dieser oberste Punkt auf der weltpolitischen Tagesordnung nicht durch strategische Manöver, die die Gefahr der „militärischen Emanzipation“ von dritten Staaten heraufbeschworen hätten, relativiert wurde. Zweitens bekämpfte der Vertrag den Versuch solcher Staaten, sich durch eigene atomare Bewaffnung „selbständig“ zu machen: Sie sollten sich der weltpolitischen Hauptsache nicht entziehen können, sich nicht zu eigenen regional- und weltpolitischen Kalkulationen befähigen, die denen der Großmächte in die Quere kommen konnten. Daher das Paradox, daß in der Sache des Atomwaffensperrvertrags die USA und die Sowjetunion wie Verbündete agierten, die auf Kosten ihrer Verbündeten zu Werke gingen.

Letztere waren vom Segen eines solchen Abkommens denn auch gar nicht so überzeugt. Kleine und große Mitglieder der Völkergemeinschaft, die längst unter dem Status ihrer militärischen Zweitrangigkeit litten, die deshalb eifrig um die Teilhabe am Fortschritt atomarer Bewaffnung bemüht waren, sollten nun ausgerechnet diesen Status unterschreiben!

3.

Wenn in der Rechtsform eines Vertrages die Zuteilung von bzw. der Verzicht auf Kernwaffen geregelt wird, dann geht es kaum um die Vermeidung von „bewaffneten Konflikten“. Eher schon haben die Gegner der „Proliferation“ die Unterscheidung zwischen zweckmäßigen Kriegen und unerwünschten im Auge gehabt, als sie das Maß der Kriegsfähigkeit, das der einen oder anderen Nation zusteht, völkerrechtlich verbindlich festlegen wollten. Aus der Sicht der Staaten, die mit dem Projekt der „Non-Proliferation“ konfrontiert wurden, war jedenfalls eines klar: Während einigen Souveränen eine militärische Option genehmigt wird, bleibt sie anderen vorenthalten. Dabei ist die Beschränkung der Sorte Handlungsfreiheit, von der die Selbstbehauptung der Nation gegen zu Feinden gewordene Konkurrenten abhängt, ein unverkennbarer Fall jener „Doktrin von der begrenzten Souveränität“, die in anderem Zusammenhang[4] unter gestandenen Demokraten für unerträglich gilt.

Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß die Auseinandersetzung mit dem Vertrag in mancher Hauptstadt nicht in die Bemühung ausartete, an seiner konstruktiven Ausgestaltung mitzuwirken, sondern zu dem Beschluß führte, daß die Nation gar nicht den Bedarf hat, sich die Macht, die aus den high-tech-Gewehrläufen und ihrem Export kommt, zu verbieten. Als 1970 die Vereinbarung in Kraft trat, hatten mit der VR China und Frankreich zwei prominente Mitglieder der beiden weltpolitischen Lager – bei aller Sympathie für die gute Absicht – auf ihren Beitritt lieber verzichtet. Andererseits konnten die eifrigen Atom-Mächte USA, UdSSR und Großbritannien unter den 40 beigetretenen Staaten auch Deutschland-West und Japan begrüßen, die sich allen Bedürfnissen von Weltkriegsverlierern zum Trotz – die Bedürfnisse zielen auf Wiederherstellung der vollen Souveränität und auf Gleichstellung mit Mächten derselben Größenordnung; sie gelten als „natürlich“ – auf eine Unterschrift eingelassen hatten. Und zwar als Nicht-Atommächte.

4.

Speziell an der BRD, deren politische Elite die Affäre durchaus in Terminis wie „Knebelung“ zu würdigen wußte – von F.J.Strauß ist die Prägung „Versailles kosmischen Ausmaßes“ überliefert –, wird deutlich, welche Berechnungen eine Nation dahin brachten, ihren vorläufigen Verzicht auf atomare Bewaffnung zu besiegeln, obgleich sie diese zu ihrer standesgemäßen Grundausstattung zählte.

Erstens galt es, den diplomatischen Vorstoß der Supermächte ernst zu nehmen. Immerhin gaben sie zu verstehen, welche Veränderung der Geschäftsgrundlage ihres weltweiten Wirkens sie unterbinden wollten. Das notorische Streben nach „mehr Gewicht“ sollte ausgerechnet in der Sicherheitspolitik den Regeln einer supranationalen (Selbst-)Kontrolle gehorchen. Diese Regeln waren also unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob sie wenigstens so etwas wie eine Kompensation böten für den verlangten Verzicht. Die anstehende Güterabwägung ergab zunächst einmal auf der einen Seite die Option, die eigenen Ressourcen zu mobilisieren, um dem Status der militärischen Zweitrangigkeit zu entrinnen, und auch die diplomatischen Unkosten nicht zu scheuen, die mit einem solchen Schritt verbunden wären, durch den man sich etwas außerhalb der amtierenden „Völkergemeinschaft“ stellte. Auf der anderen Seite winkte die Mitwirkung bei der Beschränkung anderer, von Konkurrenten und (potentiellen) Feinden; die Verzichtsbereitschaft wurde mit der Aussicht auf eine aktive Rolle in dem vorgesehenen Überwachungssystem „honoriert“, als dessen wichtigstes Organ die – schon 1957 gegründete – „Internationale Atomenergie-Organisation“ fungieren sollte (Art.III). Die Unterwerfung unter die Sache versprach also die anerkannte Beteiligung am Geschäft des „Weltordnens“.

Hinzu kam, daß der Atomwaffensperrvertrag den Bedürfnissen aufstrebender Nationen insofern Rechnung trug, als er die Rolle der Atomtechnologie für die ökonomischen Belange, die durchaus an zentrale Souveränitätsfragen rühren, nämlich die nationale Energiepolitik, berührte: Die Nutzung der Kernenergie für friedliche Zwecke soll durch den Kernwaffensperrvertrag nicht berührt werden. (Art.IV) Dieses Junktim, das den gedeihlichen Einstieg in die angesagte Geschäftssphäre der (inter-)nationalen Atomindustrie verhieß bzw. tendenziell zu versagen drohte, hat der diskriminierungsartigen Initiative sicher einiges an Überzeugungskraft verliehen. Wer sich unter Kontrolle stellte, dem wurde auch ein wesentlicher Hebel für das nationale Vorwärtskommen gewährt. Das Aufsichtswesen ist durch diese Konzession eine ziemlich spannende Angelegenheit geworden, weil es eine Klientel zu betreuen hat, die höchst vertragskonform dauernd mit der Fähigkeit zur atomaren Bewaffnung hantiert, so daß die Überwachung vor der Aufgabe steht, den technologischen Potenzen den Willen zur Vertragstreue abzulauschen.

Den Ausschlag für die Entscheidung zum Beitritt hat in Deutschland, das sich außenpolitisch wieder einmal einem großkalibrigen Nachkriegs-Revisionismus verschrieben hatte, letztlich die „Lage“ gegeben. Dieses Produkt aus den eigenen Vorhaben und ihrer freundschaftlichen bzw. feindseligen Würdigung seitens der Großmächte ließ es ratsam bis vorteilhaft erscheinen, sich mit dem Status einer Militärmacht abzufinden, die von ihrem Beitrag zum Bündnis lebt und in diesem mit gar nicht inferioren Aufgaben und Mitteln ausgestattet wird. In der Rolle des Frontstaates entdeckten die Verfechter der deutschen Einheit die eigentliche Kompensation für ihren Verzicht auf atomaren Eigenbau – ein „Schutzschirm“ sowie eine flotte Aufrüstung der Bundeswehr, die garantierte Mitsprache in allen strategischen Planungen der NATO, einschließlich Einsatz der „gemeinschaftlichen“ atomaren Werkzeuge: solche Sicherheitsgarantien ließ man sich in Bonn gefallen.[5]

5.

Andere Frontstaaten wie die Republik Südafrika und Israel konnten eine so weitgehende Kongruenz zwischen ihrer Sache und der „des Westens“ nicht ausmachen. Sie bestanden darauf, daß ihre Bewährung an ihrer Front die nationale Verfügung über eigene Atomwaffen nötig machte. Die Ächtung seitens der Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrags ist ihnen dennoch erspart geblieben, weil die Meinungen über die Brauchbarkeit der demonstrierten Kriegsbereitschaft im Oligopol der Atommächte erheblich auseinandergingen.

Die relative Bedeutung des Gesamtkunstwerks, das sich um „Non-Proliferation“ bemüht, wurde schließlich auch noch durch andere Völker unterstrichen. Indien und Pakistan halten bis heute – Naturkatastrophen hin, Hunger her – die atomare Bewaffnung für ein unverzichtbares Moment ihrer Souveränität; in anderen Fällen vertragen sich Unterschrift und Beschaffungseifer glänzend…

Unerreichtes Vorbild dabei sind stets die Initiatoren des Vertragswerks selber gewesen: Die atomar gerüsteten „Supermächte“ haben die vertragliche Selbstverpflichtung, „ernsthaft“ auf Bemühungen um atomare Abrüstung hinzuwirken, mit der Vervielfachung und ungeahnten Perfektionierung ihrer Arsenale eingelöst.

Das Interesse, daß jeweils alle anderen sich an Geist und Buchstaben des NPT halten sollen, hat dadurch freilich keinen Schaden genommen. Der US-Präsident hat es vor der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz, die nach dem ersten Vierteljahrhundert anstand, auch sprachlich treffend auf den Punkt gebracht:

„Ich bekräftige entschieden unsere Entschlossenheit zu universeller Mitgliedschaft beim NV-Vertrag.“ (Clinton am 9.1.95)

Amerika wurde erhört: Ohne neue Frist, ohne neue Bedingungen und ohne neue Ausnahmen gilt der Vertrag weiter. Was er gilt, ist eine andere Frage.

II. Die Vertragsverlängerung und ihr Stellenwert für die ‚neue Weltordnung‘ der USA

1.

Der NPT wird verlängert, nachdem die Sowjetunion sich selbst aufgelöst hat, ihre Nachfolgestaaten alle Momente von antiimperialistischer Entgegensetzung gegen den Weltmarkt und dessen sicherheitsstiftende Aufsichtsbehörden widerrufen haben und darüber auch auf westlicher Seite die gesamte bislang gültige Kriegsplanung einschließlich aller Festlegungen der Nuklearen Planungsgruppe der NATO hinfällig geworden ist. Die „Supermächte“ USA und – als Erbe der sowjetischen strategischen Macht – Rußland bauen ihre Atomwaffenarsenale nicht mehr bloß qualitativ um und aus, sondern quantitativ erheblich ab und planen fürs kommende Jahrzehnt ernstlich eine Reduzierung ihrer Bestände auf ein Drittel bis ein Viertel des ehemaligen Umfangs. Ein Moratorium für Atomwaffentests signalisiert ihre Bereitschaft, das jahrzehntelange „Wettrüsten“ zu beenden. Auch die zweitrangigen Atommächte Frankreich und Großbritannien halten manche nukleare Waffe aus ihrem Arsenal für entbehrlich. Deutschland mit seiner wiedervereinigten Verantwortung für die Unwetter der Geschichte reklamiert dennoch nicht mehr ständig sein nur unter Vorbehalt suspendiertes Recht auf atomare Rüstung, plädiert vielmehr weltöffentlich auf politische und militärische Überflüssigkeit dieses Instrumentariums[6] und für seine allmähliche Abschaffung. Über chinesische und französische Testexplosionen regt sich die Weltöffentlichkeit mit ungewohnter Heftigkeit auf. Und dann haben eben auch noch 170 souveräne Staaten der Nichtverbreitung von Atomwaffen akklamiert…

Aus solchen „positiven Entwicklungen“[7] und „hoffnungsvollen Ansätzen“ werden bisweilen weitreichende Schlußfolgerungen gezogen – bis hin zu der Vorstellung, die Atombombe hätte mit dem Ende der Konfrontation zwischen „Ost“ und „West“ tatsächlich ihren „Sinn“ verloren, und mit ein bißchen gutem Willen ließe sie sich vielleicht doch aus der Weltpolitik und am Ende sogar aus den militärischen Arsenalen eliminieren, zumindest weitgehend. Womöglich ist die Welt doch auf dem Weg, „atomwaffenfrei“ zu werden…? Dummerweise belegen die hoffnungspendenden „Anzeichen“ für einen „fundamentalen Bedeutungsverlust“ der Nuklearwaffen eher das Gegenteil:

Wenn die USA und Rußland in Erfüllung der START-Verträge, die noch das zur Weltraumrüstung entschlossene Amerika Reagans mit dem auf Abdankungskurs gebrachten Sowjetstaat des späten Gorbatschow geschlossen hat, größere Teile ihres Atomwaffenarsenals beseitigen – vor allem die landgestützte Raketenstreitmacht, die das Kernstück der sowjetischen Atomkriegsstrategie dargestellt hatte –, dann tragen sie damit dem Rückzug der östlichen Seite Rechnung, der die bisherige Konzeption eines atomaren Weltkriegs insgesamt obsolet gemacht hat. Der Umfang der Abrüstungsmaßnahmen führt erst einmal bloß den Umfang der getätigten Aufrüstung vor Augen und spiegelt insoweit die Zähigkeit wieder, mit der vor allem die militärischen Befehlsempfänger der freiheitlichen Demokratie sich an dem Problem abgearbeitet haben, aus ihrer „absoluten Waffe“ entgegen deren eigentlicher Leistungskraft ein Mittel für das auf dem globalen Schlachtfeld auszutragende Kräftemessen zu machen. Die Widersprüchlichkeit der Aufgabenstellung und die unbefriedigende Vorläufigkeit aller entwickelten Lösungen hat nämlich zur Erfindung immer neuer Eskalationsstufen und Szenarios geführt und die Redundanz der Vernichtungssysteme geradezu zum Prinzip gemacht. Dabei ging es nicht um „atomaren Wahnsinn“, sondern um das edle Anliegen, aus dem unseligen „atomaren Patt“ herauszukommen und dem Westen eine zweifelsfrei vollziehbare, erfolgversprechende Offensivdrohung an die Hand zu geben, die seiner „Abschreckungspolitik“ die letzte „Glaubwürdigkeit“ verschafft, also der demokratischen Weltherrschaft ihre Freiheit zurückgegeben hätte. Wenn sich jetzt so große Teile des dafür aufgehäuften Arsenals als überflüssig darstellen, dann eben deswegen, weil die atomare „Gegenabschreckung“ hinfällig geworden ist, die militärisch so schlecht in den Griff zu kriegen und nur mit aberwitzigen Mitteln zu neutralisieren war. Und das ist etwas ganz anderes als eine „Entwicklung“, die Atomwaffen überflüssig gemacht hätte. Im Gegenteil: Ohne gleichartige Gegendrohung wirken sie erst wieder richtig, kann die Drohung damit wunschgemäß verfangen, kehrt also die Freiheit der Entscheidung über ihren Einsatz – und damit die „letzte“ Freiheit zum Gebrauch aller übrigen Kriegsmittel – zurück, die die USA nur so kurze Zeit besessen haben. Überwunden sind die kaum handhabbaren Schwierigkeiten einer „atomaren Abschreckung“, die mangels Einseitigkeit gar keine war – wirkliche, wirksame „Abschreckung“ als Grundfigur imperialistischer Machtentfaltung, der friedliche Gebrauch des Krieges, ist damit nicht bloß nicht obsolet, sondern erst wieder voll in Kraft gesetzt.

Natürlich stellen sich den imperialistischen Militärfachleuten nun neue Aufgaben; insbesondere die, neue Strategien des Atomwaffengebrauchs, die genau das gewünschte Maß an Vernichtung eines Feindes auf Abruf gewährleisten, an die Stelle der alten Weltkriegsstrategie zu setzen, die mit dem militärischen Unsinn eines „Abtauschs“ von Vernichtungsschlägen fertigwerden wollte. Verglichen mit den Versuchen, so etwas durchzukalkulieren, sind das schöne Probleme. Und wie wenig sie um Lösungen verlegen sind, gerade wenn der Feind nicht festliegt, sondern eventuelle Bedrohungen aus aller Welt einzukalkulieren sind, beweisen Amerikas Militärs praktisch mit der Zielstrebigkeit, mit der sie ihre alten Arsenale nach dem Buchstaben der START-Abkommen und im Geiste des neuen Abschreckungsbedarfs durchsortieren und zugleich die Waffenentwicklung vorantreiben. Bekanntgeworden ist vor allem das Bemühen um die Minimierung der atomaren Sprengwirkung; passende Geräte sollen offenbar alle denkbaren Lücken im Kontinuum militärischer Gewaltmittel vom Sturmgewehr bis zur ballistischen Rakete mit einzeln lenkbaren Atomsprengköpfen schließen und neuartige Abwehrmöglichkeiten gegen feindliche Raketen hergeben, mit denen die USA ihre alte, in zwei Weltkriegen bewährte strategische Unverwundbarkeit wiedergewinnen könnten. Das angestrebte Abkommen über die Einstellung aller Versuche mit nuklearen Sprengkörpern, oberhalb einer gewissen sehr geringen Stärke nämlich, offenbart in dem Zusammenhang seinen Sinn: Es soll den Vorsprung der USA in der Atomwaffentechnologie wahren, ohne ihre Freiheit zu weiteren Fortschritten zu schmälern, also die bestehende Hierarchie in der Waffenkonkurrenz ausbauen helfen. Daß derweil alle Welt sich über die Bemühungen Chinas und Frankreichs erregt, ein Stückchen des atomwaffentechnischen Vorsprungs der Amerikaner aufzuholen, kann denen nur recht sein.

Das Eine hat sich also überhaupt nicht geändert: Wenn der NPT seit Sommer 95 unbefristet weiter gültig ist, dann bahnt er sowenig wie 25 Jahre zuvor den Weg in eine „atomwaffenfreie Welt“. Wie damals bestätigt er vielmehr die militärische Hierarchie zwischen nuklear gerüsteten und den anderen Staaten, von der er ausgeht. An der hat sich mit der Selbstauflösung der Sowjetmacht allerdings etwas Wesentliches geändert: Für die imperialistische Weltmacht des Westens ist die eine große Schranke entfallen, die sie daran gehindert hat, ihre „letzte“ militärische Überlegenheit für ein universelles Abschreckungs-Regime nutzbar zu machen. Hergestellt ist dieses Regime damit freilich noch lange nicht. In ihrem Bemühen darum haben die USA den Vertrag gegen die Verallgemeinerung des Atomwaffenbesitzes als einen diplomatischen Hebel neu entdeckt.

2.

Wenn die USA so nachdrücklich auf eine „Verewigung“ des NPT gedrängt und die Völkerfamilie schließlich zur Akklamation gewonnen oder erpreßt haben, dann also gewiß nicht wegen einer ohnehin geminderten Bedeutung der Atomwaffe. Ihr privilegierter Zugriff auf dieses Gerät, der Ausschluß möglichst aller anderen von jeder Verfügung darüber ist im Gegenteil ein Eckpfeiler der „neuen Ordnung“, die sie der Welt verpassen wollen. Denn deren Gelingen hängt von ihrer militärischen Unwiderstehlichkeit entscheidend ab; und die wird durch jeden Staat tangiert, der sich Atomwaffen beschafft.[8]

Nun ist sie tangiert; das Atomwaffenmonopol, um das es Amerika eigentlich geht, ist und bleibt gebrochen und ist durch die „universelle Mitgliedschaft“ im NPT auch nicht wieder herzukriegen. Erreichbar ist auf diesem Weg nach wie vor nicht mehr als die vertragliche Fixierung des existierenden Oligopols von 5 offiziellen Atomwaffenmächten und 3 geduldeten Abweichlern, die mit ihrem halboffiziellen Nuklearrüstungsprogramm dem Vertrag fernbleiben. Der praktische Nutzen eines solchen Abkommens erscheint um so fraglicher, als mit der „neuen Weltlage“ auch noch der bestimmte, politisch handfeste Ertrag gegenstandslos geworden ist, über den sich ein Vierteljahrhundert zuvor die beiden großen Atomwaffen-„Duopolisten“ USA und UdSSR handelseinig geworden sind und auf den es ihnen im Rahmen ihrer Feindschaft auch hauptsächlich ankam: Nachdem es den alles bestimmenden Gegensatz zwischen Freier Welt und Sozialistischem Lager nicht mehr gibt, ist die wechselseitige Versicherung der jeweils führenden Mächte, ihr strategisches Kräfteverhältnis nicht durch die Befähigung ihrer Schützlinge und Vasallen zu – womöglich nicht mehr kontrollierbarem – eigenständigem Atomwaffeneinsatz zu verändern, obsolet.

Dennoch, den USA liegt an dem Vertrag, gerade im Blick auf die Herrichtung einer „nicht mehr geteilten“ Staatenwelt mit einer mehr monopolistischen „Ordnung“. Die Verabredung zwischen mehreren Atommächten, Dritte vom Besitz und Gebrauch atomarer Waffen fernzuhalten, ist zwar ein für allemal kein Alleinbesitz nuklearer Abschreckungsmacht und auch kein Äquivalent dafür – im pragmatischen Urteil amerikanischer Weltordner aber offenbar eine Art Annäherung daran, ein Beitrag zur Erledigung zumindest einer wichtigen Unteraufgabe ihrer Politik der globalen Rüstungskontrolle, und jedenfalls allemal besser als freie Konkurrenz beim Aufrüsten. Und gewiß konstituiert ein Abkommen wie der NPT formell nicht mehr als eine stets widerrufbare Selbstverpflichtung souveräner Staaten, also alles andere als eine materielle Garantie für die Verewigung eines militärischen Status quo – immerhin aber einen Rechtstitel, den die westliche Führungsmacht schätzt, weil sie ihn hernehmen kann, um ihn inhaltlich mit der Drohung zu füllen, gegen Störungen des von ihr gewünschten Status quo in Rüstungsfragen einzuschreiten, und um möglichen Konkurrenten und Opponenten Beihilfe oder zumindest das Zugeständnis abzuverlangen, daß sie nichts dagegen unternehmen.

Genau so jedenfalls nutzen die USA den NPT: Seine Unterscheidung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Atomwaffenbesitz und Atomenergiegebrauch, sein Kontrollwesen – und die Unterwerfungserklärungen aller Mitglieder unter sein „Regime“ bauen sie in die Abteilung ihrer Weltpolitik ein, die der Überwachung und möglichst weitgehenden Beschränkung militärischer Gewalt in falschen Händen – nämlich dort, wo sie amerikanische Interessen stören könnte – gewidmet ist. Unter dem Gesichtspunkt und dem Rechtstitel der „Non-Proliferation“ definiert Amerika imperialistische Problemfälle und geht sie an.

3.

Rußland hat das Arsenal geerbt, mit dem die Sowjetunion den Amerikanern das vielbeklagte „atomare Patt“ aufgezwungen hat. Dem Willen, damit etwas Antiimperialistisches anzufangen, womöglich bis zu der letzten Konsequenz, in die Durchführung des strategischen Atomkriegs einzusteigen, hat das postkommunistische Staatsgebilde abgeschworen: Ein respektabler Feind will es nicht mehr sein und ist es auch nicht mehr. Ein ernstzunehmender imperialistischer Konkurrent, der seinerseits materielle Interessen von globaler Reichweite verfolgt, der das Programm und die Mittel hat, die Staatenwelt in seinem Sinn auszurichten, und der dafür eine universelle Kontrollmacht beansprucht – was eine Gegnerschaft neuer Art zur westlichen Weltmacht begründen würde –, ist die Moskauer Republik andererseits auch nicht. Die große Nuklearmacht im Osten hat damit auch aufgehört, in Konkurrenz zu und Einverständnis mit den USA der andere große Aktivist der Atomwaffensperre gegen dritte Staaten zu sein: Rußland muß nicht mehr, wie die UdSSR, die Rüstung aller westlichen und pro-westlichen Staaten auf sich und seine Sicherheitslage beziehen; es muß sich aber auch nicht, so wie wirkliche Imperialisten, aus weiträumigem Eigeninteresse in die Rüstung sämtlicher Nationen einmischen. Seine Rolle ist mehr passiver Art: Mit seinem Atomwaffenarsenal, dem weder ein böser anti- noch ein kongenialer imperialistischer Sinn innewohnt, stört es. Und das doppelt: Es relativiert die ansonsten einzigartige nuklearstrategische Überlegenheit der USA, und es paßt nicht unter den eurostrategischen Ordnungswillen der EU-Mächte. Vom Standpunkt der amerikanischen wie der europäischen Sicherheitspolitik ist der Moskauer Staat im Grunde ein Fall für „Non-Proliferation“.

Er ist dies um so mehr, weil er sich in einer Lage befindet, in der die imperialistische Lebenserfahrung ihm einige Kriegsgründe und viel Kriegsbereitschaft zutraut. Er ist nämlich noch mit seiner räumlichen und ethnischen Selbstdefinition als neuer Nationalstaat befaßt, also mit elementaren Gewaltfragen. Damit konstituiert Rußland für den westlichen Weltordnungswillen die nach dem Verschwinden des sowjetischen Feindes größte anzunehmende Gefahr, nämlich die eines Krieges um Gebiete und Volksteile, der von außen nicht unter Kontrolle zu bringen ist, weil die eine Partei allein schon durch den Besitz von Nuklearwaffen ihre Aktionen gegen machtvolle Eingriffe abschirmt. Daß Rußland zudem auch nach innen alles andere als ein gefestigtes Herrschaftsgebilde ist, gefällt den imperialistischen Aufsehern zwar insoweit, wie sie darin noch immer den Untergang des sowjetischen Feindes erkennen und eine Garantie gegen dessen Wiederkehr wie auch gegen einen machtvollen Nationalismus erblicken; deswegen tun sie auch mehr gegen als für eine „Stabilisierung“ der inneren Machtverhältnisse. Andererseits beunruhigt sie durchaus die Unmöglichkeit, ein Land von außen zu kontrollieren, das nicht einmal die zuständige Regierung durchgängig im Griff hat. Es spricht also alles dafür, den Moskauer Staat von jedem Atomwaffenbesitz auszusperren.

Wegen der sowjetischen Hinterlassenschaft ist das allerdings nicht zu haben. Die einseitige atomare Entwaffnung Rußlands ist und bleibt absehbarerweise ein imperialistischer Wunsch. Zu dessen Verwirklichung trägt der NPT schon gar nichts bei. Er erkennt dem Land im Gegenteil den Status der atomwaffenbesitzenden Macht offiziell zu und erlaubt den Amerikanern bestenfalls das dialektische Kalkül, die ausgesprochene Anerkennung möchte den unsicheren Kandidaten im Osten gewissen kontrollierenden Einwirkungen unter dem Firmenschild der IAEO zugänglich machen. In diesem Sinn tun auch die Europäer ihr Bestes, treten nämlich, gleich schon wieder in Konkurrenz zu den USA, als Freunde und Förderer der russischen Atomenergieindustrie auf: als Kunden für spaltbares Material, durchaus auch aus abgerüsteten Atombomben, wie als Anbieter neuer Sicherheitsausrüstungen für ex-sowjetische Atommeiler, und fordern Kontrollbefugnisse.[9] Alle weiterreichenden Schritte, die die USA zur allmählichen atomaren Abrüstung des großen Sowjet-Nachfolgers unternehmen, finden im Zusammenhang mit der Erfüllung der START-Abkommen statt.

4.

Anders, nämlich deutlich besser steht es um die drei weiteren neuen souveränen Nationalstaaten, die die Selbstzerstörung der Sowjetunion im Besitz strategischer Atomwaffen hinterlassen hat. Für Kasachstan, Ukraine und Weißrußland haben die USA sich die vollständige nukleare Entwaffnung vorgenommen, um die ansonsten dem russischen Problemfall entsprechende Gefahrenlage dort zu entschärfen. Die diplomatische Zielvorgabe lautete, diese drei Nachfolgestaaten dazu zu bringen, daß sie als Nicht-Atommächte dem entfristeten NPT beiträten. Mit welchen Anreizen und Druckmitteln auch immer haben die USA es tatsächlich geschafft, daß das Beitrittsverfahren sogar in Kiew mittlerweile irgendwo zwischen Unterschrift und Ratifizierung angelangt ist. Der für beide Seiten ärgerlichste Preis, der dafür zu zahlen ist, besteht in der Erhebung Rußlands zum Alleinerben der sowjetischen Nuklearstreitmacht und somit zum Primus unter Ungleichen in der GUS nicht bloß aus eigener Anmaßung, sondern eben auch kraft westlicher Entscheidung. Andererseits mischt sich die westliche Führungsmacht auch wieder gar nicht ungern auf dieser Grundlage mit dem Versprechen, Moskaus Nachbarn in ihrem Streben nach nationaler Unabhängigkeit zu unterstützen und aus russischer Vormundschaft zu erlösen, in die internen Beziehungen der GUS ein…

5.

Ein sehr viel größeres Problem haben die Anwälte der „Non-Proliferation“ mit der einzigen Drittwelt-Nation, die anerkanntermaßen über Atomwaffen verfügt, der VR China. Einen Kontrahenten ihrer Einflußnahme auf die Staatenwelt haben sie da zwar auch nicht mehr vor sich. Die Zeiten sind vorbei, als Maos KP alles für die chinesische Atombombe tat, um der – von ihr überhaupt erst als politische Größe eigener Art erfundenen – „3. Welt“ unterhalb der „Welten“ der „Supermächte“ zu einer eigenen Führungsmacht mit in Washington wie Moskau Respekt gebietendem Waffenarsenal zu verhelfen. Das in der wüstesten Weise marktwirtschaftlich reformierte, auf Anerkennung durch die Weltmächte des internationalen Handels bauende neue China stört den Weltfrieden dennoch; schon durch den bloßen Besitz und ehrgeizigen Ausbau seines Arsenals und erst recht durch den nationalen Eigennutz, den es in seiner Umgebung entfaltet. Dabei sind Chinas große Waffen nicht einmal so direkt auf einen feindlichen Nachbarn gerichtet wie die „inoffiziellen“ Atombomben Indiens und Pakistans – die darin freilich auch ihre eindeutige, begrenzte abschreckende Funktion haben und wohl deswegen Amerikas ausgreifend definierte nationale Sicherheit nicht so arg bedrohen, daß man nicht mehr über Waffen und sonstiges Gerät miteinander im Geschäft bleiben könnte. Daß Taiwan getroffen werden könnte und Chinas südliche Nachbarn Pekings Ansprüche fürchten, ist für die imperialistische Weltordnungsmacht Grund genug, sich als Schutzmacht einzuschalten. Wenn die chinesischen Atomwaffenbesitzer dann in ihrem Dementi böser Absichten so weit gehen, offiziell auf den Ersteinsatz atomarer Waffen zu verzichten, dies aber auch den anderen Atomwaffenmächten abverlangen, dann erkennen deren Führer darin sofort einen nicht ganz leicht zu nehmenden Einspruch gegen ihre fernöstliche Abschreckungspolitik.

Unter dem Rechtstitel des NPT ist dagegen jedoch genausowenig zu unternehmen wie gegen die unselige „Überrüstung“ Rußlands. Der Vertrag läßt sich allenfalls hernehmen, um mit der Initiative gegen Nordkoreas Atomprogramm, die immerhin mit einer ernsten Kriegsdrohung untermauert war, Chinas Kooperationsbereitschaft in einer pur imperialistischen Kontrollfrage auf die Probe zu stellen. Das Ergebnis war nicht ganz negativ; erledigt ist damit überhaupt nichts.

6.

In der übrigen „3. Welt“ hat die IAEO nicht viel zu beaufsichtigen; bis dorthin ist der Gebrauch der Atomenergie keineswegs flächendeckend durchgedrungen. Für die USA liegen dort aber die wichtigsten Fälle für die vertragsgemäße Sperrung des Zugangs zu Atomwaffen; denn dort hat sich die strategische Lage durch die Abdankung des sozialistischen Feindes keineswegs nur zum Guten verändert.

Erledigt hat sich der Verdacht, den die großen Kontrahenten im NPT einander gegenüber dementiert haben: Der jeweils andere könnte dazu übergehen, die Kriege, die beide Seiten dort unterstützt oder überhaupt initiiert haben, nicht bloß konventionell, sondern auch atomar zu munitionieren, und auf diesem Wege versuchen, das Kräfteverhältnis auf dem Globus zu kippen. Hinfällig geworden ist überhaupt die Subsumtion aller nennenswerten bewaffneten Konflikte unter die Weltkriegskonfrontation, ihre Qualität als „Stellvertreterkriege“, die unter Rücksicht auf den Atomkriegsvorbehalt der „Supermächte“ geführt wurden – die also bis unterhalb der letzten Entscheidung freigesetzt, genau insoweit aber auch unter Kontrolle waren.

Damit hat einerseits die amerikanische Weltordnungsmacht die Freiheit zurückgewonnen, aufs Ganze zu gehen, wo sie es für nötig hält, also selber Krieg zu führen und auf bedingungsloser Kapitulation eines Friedensstörers zu bestehen. Und sie hat diese Freiheit auch ohne Zögern wahrgenommen, schon als die Sowjetunion formell noch existierte, ein Test auf ihre schrankenlose Bereitschaft zum strategischen Rückzug aber bereits ziemlich risikolos erschien, nämlich mit dem Feldzug gegen Saddam Husseins Irak.[10] Die Kehrseite ist an demselben „Fall“ deutlich geworden: Aufstrebende Mächte, die ihre historische Chance allein in einer gewaltsamen Veränderung ihrer staatlichen Umgebung sehen und suchen, sind nicht mehr eingebunden in ein durchkalkuliertes globales Kräftemessen – und das bedeutet für „Klienten“ der ehemaligen Sowjetunion vor allem, daß sie die Beschränkung ihres nationalen Ehrgeizes durch den Zusammenprall mit der antisowjetischen Strategie des Westens sowie ihre Disziplinierung durch die sehr vorsichtigen Berechnungen ihrer Schutzmacht losgeworden sind. Nun unternehmen sie alles, um sich auf eigene Rechnung in ihrer Umgebung durchzusetzen und den angestrebten Gewinn abzusichern – durch die Zustimmung höherer Instanzen, aber auch gegen deren Einsprüche. Ihre Sicherheitsbedürfnisse wachsen entsprechend, darin eingeschlossen der Bedarf an nuklearer Rüstung, die sogar Imperialisten Respekt abnötigt.

Heikel wird dieses Verlangen dadurch, daß ihm ein Angebot entspricht. Erstens schon wieder infolge der Selbstauflösung der Sowjetunion: Dort zerfällt die größte Atomwaffenindustrie der Welt einschließlich Fachpersonal in lauter käufliche Bestandteile. Außerdem hat sich aber ohnehin längst ein Weltmarkt für Nukleartechnik gebildet, an dem sich die Vorstellung gründlich blamiert, die Exklusivität des Atomwaffenbesitzes ließe sich dadurch sichern, daß die offiziellen Atommächte ihr Gerät nicht weitergeben.

7.

Die gigantisch dimensionierten Szenarios eines atomaren Weltkriegs mit x-fachem „Overkill“ mögen die Maßstäbe ein wenig verschoben haben; jedenfalls macht ihre Außerkraftsetzung deutlicher als zuvor erkennbar, daß 25 Jahre „Non-Proliferation“ unterhalb der atomkriegsstrategischen Waffenentwicklung, -anhäufung und -(nicht)verteilung – und neben den weltbekannten Ausnahmen – 25 Jahre der „Proliferation“ waren: der Vertiefung und der Ausbreitung des Vermögens von Nationen, nukleares Spaltmaterial zu beschaffen und zu handhaben; nämlich unter dem Signum des „Zivilen“.

Das gilt vor allem für zwei imperialistisch ambitionierte und befähigte, aber offiziell von nationaler Verfügung über Atomwaffen ausgeschlossene Unterzeichner des NPT: Japan und die BRD haben sich eine nationale Atomenergieindustrie aufgebaut, die nicht bloß über spaltbares Material und Know-how, sondern außerdem über alle industriellen Mittel zur Herstellung nukleartechnischer Anlagen sowie über die modernste Forschung zu deren Weiterentwicklung verfügt. Mit dem einzigen Vorbehalt, daß sie aktuell keine Atombomben in nationaler Verantwortung horten, sind diese beiden Staaten zu vollgültigen Atommächten geworden, die besser als gewisse Atomwaffenproduzenten anderen Nationen – ganz locker also vor allem sich selbst zur Ausstattung für eine Atomwaffenproduktion verhelfen könnten. Tatsächlich verdienen sie – nicht anders als die Staaten, die eine zivile Atomenergieindustrie um ihre nationalen Waffenprogramme herum aufgebaut haben – an der im gleichen Vierteljahrhundert herangewachsenen kreditwürdigen Nachfrage „dritter“ Staaten nach Nukleartechnik. Selbstverständlich wird bloß ziviler Bedarf gedeckt; dazu gehören aber ebenso selbstverständlich Fähigkeiten und Mittel zur Handhabung spaltbaren Materials, die der Natur der Sache nach auch für militärische Zwecke einsetzbar sind.

Das alles steht mit dem NPT in völliger Übereinstimmung; die Herstellung eines Weltmarkts für Atomindustrielles verwirklicht das vertraglich fixierte Versprechen, die zivilen Segnungen der Atomkraft allen – zahlungsfähigen – Interessenten zugute kommen zu lassen – und untergräbt damit zugleich die Atomwaffensperrwirkung des Abkommens. Die USA, die, wenn es nur ginge, keinem anderen Staat Zugriff auf „die Bombe“ zugestehen würden und in diesem Sinne mit dem NPT Politik machen, folgern aus dieser Wirkung dennoch nicht die Untauglichkeit ihres „Non-Proliferation“-Regimes. Für sie stellt sich mit dem vertragseigenen Widerspruch, den militärischen Gebrauch der Atomenergie monopolisieren und ihre geschäftliche Ausnutzung weltweit verbreiten zu wollen, bloß ein verschärftes Kontrollproblem: Zwischen ziviler und militärischer Verwendung soll, je unhaltbarer diese Unterscheidung in der Sache ist, ein um so genaueres und tatkräftigeres Aufsichtswesen wirksam scheiden.

Mit den Regelungen, die der Nichtverbreitungs-Vertrag kodifiziert, ist es da freilich nicht getan;[11] deswegen haben die Amerikaner selbst ihn vor der Verlängerungskonferenz auch revisionsbedürftig gefunden. Um des Erfolgs seiner frist- und bedingungslosen Verlängerung willen haben sie auf Nachbesserungen in ihrem Sinn aber nicht weiter bestanden – zu Recht. Denn was sie jeweils an Kontrolle und gegebenenfalls an Eingriffen brauchen, das gibt ein internationaler Vertrag mit seinen allgemein formulierten, in der Anwendung also stets uneindeutigen Festlegungen, und schon gleich bei freiwilliger Unterwerfung unter das festgelegte „Regime“, ohnehin nicht her – bzw. nur darüber, daß sie ihn „mit Leben füllen“. Und das tun sie dann auch; gegenüber den gleichgesinnten Konkurrenten am atomaren Weltmarkt und gegenüber der buntscheckigen Kundschaft in sachgerecht differenzierter Weise.

8.

Das Kontroll-„Regime“ des NPT mit seiner Wiener Behörde und deren Fachleuten ist eine Sache; und schon die ist nicht ohne Belang: Wo immer Atomenergie zivil genutzt wird,[12] sind Überwachungsgeräte installiert, Kontrollbeamte in internationalem Auftrag unterwegs, genaue Nachweise über Lieferungen, Verbrauch und Verbleib spaltbaren Materials verlangt; eine Art erlaubter Industriespionage ist fest institutionalisiert;[13] und die will erst umgangen sein, wenn eine Nation mit nuklearer Energie weniger zivile Zwecke als das Wasserkochen zur Stromerzeugung oder Materialprüfung durch Neutronenstrahlen verfolgen will. Eben deswegen liegt den Verfechtern eines wirksamen „Non-Proliferation“-Regimes soviel daran, daß möglichst alle Nationen sich der IAEO-Kontrolle unterwerfen.

Die Entscheidung, auf die es ankommt, nämlich wann und wo ein Verstoß gegen den Vertrag zu unterbinden ist und vor allem wie, ist dennoch eine ganz andere Affäre. Daß sie sich diese Entscheidung vorbehalten und nach eigenem politischem Ermessen fällen, stellen die USA nach beiden Seiten hin klar: sowohl, wenn sie Israel gegen das arabische Ansinnen in Schutz nehmen, atomar abzurüsten und als Nicht-Atomwaffenstaat dem Sperrabkommen beizutreten, als auch in den drei entgegengesetzten Fällen: an Nordkorea, dem die Erfüllung aller Auflagen des Vertrages nicht geglaubt und ein Ausscheiden nicht gestattet wird; am Irak, der unter dem Verdacht noch nicht völlig offengelegter und beendeter oder heimlich neu begonnener Rüstung mit atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen ins weltpolitische Abseits gestellt und mit Krieg bedroht wird, nicht bis die Internationale Kontrollbehörde Entwarnung gibt, sondern erklärtermaßen bis zur Ersetzung Saddam Husseins durch Washington genehme Kreaturen; schließlich am Iran, dem Rußland keine Reaktoren von der Bauart verkaufen soll, die im Fall Nordkorea das Ende der Plutoniumgewinnung für militärische Zwecke verbürgen soll.

Ungerecht, nicht sachgerecht oder gar vertragswidrig kann dieses „Messen mit zweierlei Maß“ nur finden, wer die Lächerlichkeit nicht scheut und die Vertragsform für die politische Sache nimmt, die im NPT immerhin so rechtsförmlich wie nur möglich kodifiziert wird. Vom Zweck des Vertragswerks her gesehen ist die Sache nämlich die, daß die atomaren Fähigkeiten eines Staates und deren Zulässigkeit nach der Tauglichkeit und Zuverlässigkeit der Nation für die Geschäfts- und Sicherheitsbelange der Imperialisten beurteilt werden; also von den USA nach dem Kriterium, inwieweit nicht bloß eine Regierung, sondern über den jeweils amtierenden Souverän hinaus das gesamte Staatswesen prinzipiell die Funktion erfüllt, die ihm zugedacht ist, oder eben dagegen verstößt. Grundlage eines sachlichen Urteils darüber sind imperialistische Ordnungsinteressen, Notenbankbilanzen, Wahlergebnisse, Erfahrungen mit der Erpreßbarkeit des jeweiligen Partners, Geheimdiensterkenntnisse; und weil es um eine so unsichere Sache wie Sicherheiten für die Zukunft geht, kommt auch ein rassistischer Blick auf den „Nationalcharakter“ zu seinem Recht, bevor die Kontrollberichte der IAEO ausgewertet werden.

Die notwendige Reaktion auf Verstöße gegen den Atomwaffenbann, die sie diagnostizieren, können die USA erst recht nicht irgendwelchen machtlosen inter- oder supranationalen Kontrollbehörden überlassen. Das machen sie schon selber:

–  Im Fall des Irak haben sie die Welt mit ihrer Kriegsbereitschaft konfrontiert. Zwar aus einem anderen Anlaß als dem eines atomaren Rüstungsprogramms; auf ein solches verweisen sie aber im Nachhinein und bei jeder Verschärfung ihres harten Zugriffs als guten Grund für ihren seinerzeitigen Feldzug und dessen bedarfsweise Fortführung. Exemplarisch setzen sie so die ganze – durch keine sowjetische Gegendrohung mehr relativierte – Wucht ihrer militärischen Abschreckungspotenz hinter ihr Nuklearrüstungsverbot.

– An Nordkorea entwickeln sie – auch dies exemplarisch für jeden, den es angehen mag – ihr Konzept der „coercive diplomacy“, der Kombination abschreckender Kriegsdrohungen mit diplomatischen Angeboten; im gegebenen Fall bemühen sie sich um die Einbindung des Außenseiters in politisch ausnutzbare Weltmarktbeziehungen.[14]

– Im Vorgehen gegen das Nuklearprogramm des Iran schließlich fassen die USA nicht in erster Linie den hoffnungslos widerspenstigen islamischen Gottesstaat erpresserisch an, sondern nehmen – noch entschiedener als bereits im irakischen Fall – den Lieferanten ins Visier und erproben die Reichweite ihrer Mittel, Rußland auf die von ihnen diktierte Linie der „Non-Proliferation“ festzulegen. Auch das hat seine exemplarische Seite: Deutschland wird zwar nicht öffentlich offiziell angegangen; als hemmungsloser Handelspartner der Mullahs ist es aber mitgemeint und mitbetroffen – wie schon von der amerikanischen Kampagne gegen die „Händler des Todes“, die Saddam Hussein mit Produktionsmitteln für Giftgas ausgestattet haben.

Die Ordnungsmacht geht also keineswegs nur „auf die Kleinen“ los. Sie stellt sich auch der anderen, noch komplizierteren Seite ihrer globalen Kontrollaufgabe: der Überwachung der Konkurrenten.

9.

Ein Aufsichtsfall für den NPT bzw. für die USA als dessen maßgeblichen Interpreten ist Deutschland einerseits schon auch: 40 Jahre NATO-Partnerschaft haben Amerika darüber belehrt, wie sehr es den westdeutschen Frontstaat nach Atomwaffen drängt; sie haben zugleich erwiesen, wie solide der „Tausch“ einer nationalen deutschen Atomwaffenoption gegen Mitspracherechte beim Einsatz amerikanischer Nuklearwaffen im europäischen NATO-Krieg deutsche Bündnistreue begründet. Für dieses NATO-interne „Tauschgeschäft“ ist mit der Auflösung des Kontrahenten für einen europäischen Atomkrieg zwar die Grundlage entfallen, damit aber noch längst nicht das Interesse der USA, Deutschland als atomwaffenlose Großmacht über gewisse Beteiligungsangebote an sich als nuklear gerüstete Schutzmacht zu binden. Eine auf dieses Ziel gerichtete amerikanische Politik setzt die fortdauernde – im „2+4-Vertrag“ erst wieder neu beurkundete – Bereitschaft der BRD zum Atomwaffenverzicht voraus; sie schließt daher das Bedürfnis ein, die umfängliche Atomindustrie des Landes von Amerika aus zu überwachen. Deutsche Vorstöße, die nationale Atomwirtschaft um einen Forschungsreaktor zu erweitern, der in größeren Kilogramm-Mengen hochangereichertes, also unmittelbar bombentaugliches Uran verwendet,[15] sowie über die „eigenen“, nämlich europäischen Aufsichtsbehörden spezielle amerikanische Kontrollrechte loszuwerden und sich notfalls auch von Uranlieferungen aus Amerika zu emanzipieren,[16] können dieses Überwachungsbedürfnis nur schärfen.

Als Objekt ihres „Non-Proliferation“-Regimes, womöglich samt „coercive diplomacy“, behandeln die USA ihren „partner in leadership“ dennoch nicht. Grundsätzlich respektieren sie Deutschland als Nation mit gleichartigen und gleichgerichteten imperialistischen Interessen, Mitteln und Sicherheitsbedürfnissen; und ihre Aufsicht zielt im Wesentlichen darauf ab, Deutschland gerade in der Kontrollfrage in einen Konsens einzubinden. Dies schon allein aus dem negativen Grund, weil es sich dem amerikanischen Monopolanspruch nicht bloß entziehen, sondern ihn konterkarieren könnte – dasselbe positiv gewendet: weil erst die Unterstützung der deutschen wie der anderen Atommächte die Entschlossenheit der USA, die Exklusivität der höchsten Sorte Kriegsmittel durchzusetzen, weltweit wirksam macht.[17]

Unterstellt ist dabei, daß Deutschland – genauso wie Japan und ebenso wie Frankreich und Großbritannien als Atomwaffenbesitzer – das US-Interesse grundsätzlich teilt, den Rest der Staatenwelt im Status der nuklearen Ohnmacht zu halten, auch wenn das für die Nation den Verzicht auf eigene Atomwaffen einschließt. Und das zu Recht; denn so selbstverständlich die BRD davon ausgeht, daß ihr ein unbezweifelbares Recht auf Kernwaffen zusteht, wenn sie nur wollte, so fest bleibt sie bis auf weiteres dabei, daß sie besser fährt, wenn sie ihre NPT-Mitgliedschaft als „Have-not“ nicht aufkündigt. Schließlich ist sie unter diesem Vertrag zur erstklassigen Atommacht aufgestiegen, mit einem bedeutenden Anteil am internationalen Geschäft mit atomindustrieller Ware, den sie durch Nicht-Anerkennung des NPT verspielen würde. Im Bewußtsein der Größe und maßstabsetzenden Leistungsfähigkeit ihrer Atomindustrie tritt sie zudem auch ohne Nuklearwaffen als Aufsichtsmacht auf, die ein naturwüchsiges Recht auf aktive Mitwirkung in allen „Non-Proliferation“-Affären besitzt;[18] auch das wäre ohne Verzicht auf einen nationalen Vorrat an Atomwaffen nicht zu haben.

Was diesen Verzicht selber betrifft, so ist es zwar verlogen, wenn deutsche Weltpolitiker so tun und ihr Außenminister so redet, als käme es in der Welt von heute auf die Verfügung oder Nicht-Verfügung über ein Atomwaffenarsenal militärisch und weltpolitisch schon gar nicht mehr an; gerade für eine Macht wie Deutschland steht fest, daß Weltordnung ohne Abschreckungspotenz nicht zu machen ist und Atomwaffen dafür letztlich unentbehrlich sind. Die BRD hat aber erstens eine ganze Reihe von guten Gründen dafür, ihren entsprechenden Bedarf gelassen zu kalkulieren. So ist vor allem die akute Dramatik aus der Kernwaffenfrage heraus: Mit der allmählichen Einstellung der westlichen Weltkriegsvorbereitungen und der Beendigung ihres Frontstaat-Status ist für die deutsche NATO-Republik die „Lage“, also die Kombination aus strategischen Zwängen und Bedürfnissen entfallen, die sie zuvor eine eigene nationale Atomrüstung so schmerzlich hat vermissen lassen; insofern hat sich für sie die einstige Wichtigkeit atomarer Rüstung tatsächlich entscheidend relativiert. Die Umstellung auf neue militärische Einsatznotwendigkeiten ist in Gang, die zeitgemäße Definition von Krisenfällen und Eingriffstatbeständen fürs deutsche Militär in Arbeit; manche durchaus akute Lücke im Arsenal der Bundeswehr ist da zu registrieren und wird gefüllt; Kernwaffen stehen einstweilen aber nicht auf dem Bedarfsplan. Im Hinblick auf einen derartigen Bedarfsfall, an den natürlich durchaus gedacht wird, ist es deutsche Politik, sich genügend Einfluß auf die bzw. bei den altgedienten Partnerstaaten mit Atomrüstung zu sichern, um an deren letztlicher Abschreckungsmacht zu partizipieren; sogar das Programm einer Europäisierung der französischen Atomwaffen wird ernstlich betrieben. Im übrigen wäre im Ernstfall die Bereitstellung nuklearer Sprengkörper, NPT hin oder her, von der nationalen Atomindustrie aus dem Stand zu erledigen.

Wenn die BRD mit dieser Gewißheit im Rücken und in dieser Lage so tut, als wäre sie von dem hierarchischen Gefälle zwischen Atomwaffenbesitzern und „Have-nots“ gar nicht weiter betroffen, so erhebt sie zweitens damit einen massiven weltpolitischen Anspruch, nämlich den, auch ohne aktuellen Atomwaffenbesitz als Atommacht für voll genommen zu werden; und dieser Anspruch weiß sich Respekt zu verschaffen.[19] Auf dieser Grundlage agiert die BRD als gleichberechtigtes Subjekt der „Non-Proliferation“-Politik, die von Washington ausgeht, und teilt den Konsens der Atomwaffenmächte, daß allen übrigen Nationen der Zugriff auf die Mittel der totalen Kriegführung zu versagen sei.

10.

Allerdings begründet die Gleichartigkeit der imperialistischen Interessen, die die westlichen Atommächte in der Befürwortung des NPT und seiner Verewigung zusammengeführt hat, zugleich eine Konkurrenz zwischen ihnen, die noch nicht einmal in dem punktuellen Konsens über die Wahrung des bestehenden Atomwaffen-Oligopols aufgehoben ist. Denn es liegt in der Natur der vereinbarten Kontrolle, und die USA führen es praktisch vor, daß sie nur soviel wert ist, wie die Imperialisten daraus machen; und damit steht zwischen denen, eben weil sie grundsätzlich Gleichrangigkeit für ihre globalen Interessen beanspruchen, automatisch die Streitfrage, welche Nation die Bestimmenden Fakten setzt und wie sich die anderen dazu stellen. Die amerikanische Offensive in der Frage des iranischen AKW-Programms; die nachdrücklichen Aufforderungen Washingtons an die Verbündeten in Europa und Fernost, das Vorgehen gegen Nordkorea mitzutragen; die scharfe Kritik an den hemmungslosen Handelspartnern des Irak und der erpresserische Druck, bei dessen Niederhaltung Solidarität zu üben; umgekehrt die kritischen Stimmen aus den anderen Hauptstädten sowohl zur amerikanischen Härte in diesen Fällen als auch zur Protektion der USA für Israel – das alles zeugt von dem nur allzu natürlichen Gegensatz der Atomwaffenpartner über die verbindliche Definition und die gerechte Exekution des Willens zur Rüstungskontrolle über problematische Drittstaaten.

Zugleich wird daran die eigentümliche „Front“ und Problemstellung deutlich, an der dieser Gegensatz – derzeit – praktisch aufbricht. Bis zu einem zielstrebigen Gegeneinander haben es Amerikaner, Großeuropäer und Japaner in dieser strategisch-weltordnungspolitischen Angelegenheit nämlich einstweilen gar nicht gebracht. Zur ersten Streitfrage machen sie – hier wie in anderen Affären – die Einigkeit untereinander, die bis neulich noch, unter der Weltkriegskonfrontation zwischen Freiheit und Sozialismus, unbestrittenes amerikanisches Werk war, bzw. das Regime darüber: die Frage der nationalen Federführung im unterstellten supranationalen Konsens. Das Gegeneinander der imperialistischen Konkurrenten bricht an ihrem höchst anspruchsvollen, über Jahrzehnte elaborierten Miteinander in den letzten Weltordnungsdingen auf: im unausbleiblichen Streit um die Frage, durch wen und wie die feste strategische Waffenbrüderschaft am besten fortzuführen sei. Wie sollte sich auch sonst unter solchen Verbündeten jemals Konkurrenz zu Feindschaft entwicklen können!

11.

Einstweilen handelt Amerika in der globalen nuklearen Rüstungskontrolle als letztlich konkurrenzlose „Supermacht“ – in der Sicherheit, allein entscheiden zu können, wie weit es gehen und mit welchem Ergebnis es sich zufriedengeben will; ohne rücksichtsvolle Anfragen weder bei den betroffenen Nationen noch bei den anderen Mächten, die ihre imperialistische Kompetenz mit atomarer Macht unterfüttern. Das Druckmittel gegen die ausgewählten Objekte des „Non-Proliferation“-Regimes ist die am Irak praktisch bewiesene, daher glaubwürdig abschreckende Bereitschaft, jederzeit den Übergang von der „coercive diplomacy“ zur militärischen Intervention zu vollziehen. Die direkte Drohung mit ihren Atomwaffen haben die USA dafür bislang nicht gebraucht; im Spiel sind sie sowieso – und sei es „nur“ als die letzte Garantie der Position fragloser Überlegenheit, von der aus sie den jeweils zum Problemfall erklärten Staat unter Druck setzen.[20]

Den Konsens der Verbündeten verbürgen gleichfalls Amerikas Nuklearwaffen; freilich nicht per Abschreckung, als Mittel politischer Erpressung, sondern als das einzige Arsenal, dessen abschreckende Wirkung der Größe der anstehenden Kontrollaufgaben entspricht – der Aufgabe nämlich, nicht bloß sämtliche womöglich ambitionierten Staaten dauerhaft an nuklearer Aufrüstung zu hindern, sondern vor allem die beiden Hauptproblemfälle zu neutralisieren, auf die sich der Kontrollanspruch des NPT gar nicht erstreckt, das Sicherheitsbedürfnis der imperialistischen Weltordnungsmächte dafür um so mehr: China und Rußland. Speziell das überdimensionale ehemals sowjetische Arsenal sorgt hier noch immer für eine gewisse Einsicht in die Notwendigkeit amerikanischer „Führung“.

Den USA erspart das allerdings nicht die Notwendigkeit, ihrerseits darauf zu achten, daß die Verbündeten ihnen auch folgen; was nach amerikanischen Maßstäben immerhin nichts geringeres heißt, als daß sie die ihnen zugewiesenen Hilfsfunktionen bei der Beaufsichtigung der Völkerfamilie so solide erfüllen, wie sie das in 40 Jahren „Kaltem Krieg“ im Großen und Ganzen getan haben; denn auf eigene Rechnung für ordentliche Verhältnisse zu sorgen, von denen die Partner am Ende viel stärker profitieren, ohne zu zahlen, ist schließlich nicht das Programm. Die Europäer und Japaner sind zur Wahrnehmung der nötigen Kontrolle auch bereit; allerdings gemäß ihren Kalkulationen mit den unruhigen Teilen der Staatenwelt und keineswegs als passive Erfüllungsgehilfen, die sich lohnende und dazu noch Einfluß versprechende Geschäfte auf dem Atomenergiesektor verbieten ließen. Daß sie dennoch amerikanischer Führung unterliegen, führen sie übrigens selbst auf die nach wie vor enorme Differenz der militärischen Fähigkeiten zurück und haben daraus auch schon den Schluß gezogen, auf den Abbau der Rüstungshierarchie zwischen sich und ihrem großen Partner hinzuwirken: Der Wunsch nach immer weiter fortschreitender Abrüstung der beiden Großen ergänzt diplomatisch die praktischen Bemühungen um qualitative Rüstungsfortschritte im strategischen Arsenal – wobei die deutsche Republik mit der französischen längst, z.B. bekanntermaßen in der Satellitenentwicklung, gemeinsame Sache macht. Umgekehrt achten die USA bei allen Abrüstungsschritten, die sie den Russen aufnötigen und deswegen in irgendeiner Form auch selber tun müssen, durchaus auf Wahrung und Ausbau ihres Vorsprungs vor den Verbündeten; ihren entsprechenden Bemühungen stellen sie auf dem Feld der Diplomatie das Drängen auf ein Teststopp-Abkommen an die Seite, das alle anderen Atommächte behindert und sie nicht.

12.

Das diplomatische Hin und Her vor, während und in Zusammenhang mit der Konferenz zur Verlängerung des NPT hat – irgendwie – alle Gegensätze und Streitfragen berührt, die der imperialistische Wille zu einem wirksamen Atomwaffenmonopol in die Welt setzt. Thema geworden sind sie nicht. Und nichts davon hat die Akklamation zur immerwährenden Atomwaffensperre erledigt.

[1] Non-Proliferation-Treaty, vom englischen Wort für ‚wuchern‘, ‚(durch Zellteilung) wachsen‘; im Folgenden meistens: NPT.

[2] Die Wirkung, die von atomaren Sprengkörpern ausgeht – die Druckwelle, die Hitze und die Strahlung –, vernichtet mit einem Schlag fast beliebig großflächig Stadt und Land, Mensch und Industrie, Rüstung und Streitkräfte des Feindes: Der Zweck des Krieges ist in einem Akt erreicht. Rationeller als durch die Anwendung dieses Mittels, das seinen Zweck unmittelbar hergibt, läßt sich ein Krieg nicht führen. Dementsprechend begeistert waren die Amerikaner von ihrer Erfindung; sie begrüßten die „absolute Waffe“ freudig als Garantie ihrer Unverwundbarkeit und entdeckten in ihr die Leistung des Krieges auch ohne Krieg: die perfekte Abschreckung. Selbstverständlich ersetzt die Atomwaffe nicht das übrige Arsenal an Gewaltmitteln, das die abendländische Zivilisation hervorgebracht hat. Es gibt nämlich – das haben die USA als Erfinder und Meister atomarer Rüstung immer gewußt und beherzigt – eine Menge Kriegsziele, für die totale Verwüstung gar nicht zweckmäßig, die Atombombe also gar nicht das passende Mittel ist: Bei einer Polizeiaktion gegen eine nicht-atomare Macht geringer Größe oder bei einem Bürgerkrieg, in dem die Bevölkerung gewonnen werden muß, kann der Gebrauch von Atomwaffen aus politischen oder psychologischen Gründen unnötig oder unklug sein. (H.Kissinger, Kernwaffen und auswärtige Politik, 1957) Der Besitz nuklearer Waffen schafft umgekehrt – wie die zitierte Abwägung des nachmaligen US-Außenministers gleichfalls zeigt – die höchste Freiheit der Kalkulation mit allen Arten der Kriegführung auf minderen Niveaus und den dafür jeweils passenden Waffen. Die Sicherheit des „letzten“ Mittels garantiert die Kontrollierbarkeit des konventionellen Krieges, also dessen jederzeit zweckmäßige Verwendung als Mittel der Politik.

[3] Damit ist nämlich die „klassische“ Kriegslage wiederhergestellt, in der der Verlauf des Kampfes, das sich entwickelnde militärische Kräftemessen, über Sieg und Niederlage entscheidet. Mit dem Unterschied allerdings, daß die Atombombe eben wegen ihrer „absoluten“, quantitativ beliebig zu steigernden Wirkung für eine ordentlich abgewickelte „Konkurrenz der Waffen“ zu wuchtig ist: Auf den passenden Trägersystemen ins Ziel gebracht, löscht sie den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ziemlich gründlich aus. Jahrzehntelang haben amerikanische Strategen daran gearbeitet, den Atomkrieg gegen den gleichfalls atomar gerüsteten sowjetischen Gegner aus dieser „Sackgasse“ militärischer Irrationalität herauszuführen und die normale Kriegslogik von lohnender Offensive und wirksamer Defensive hineinzubringen. Nach der noch ganz unbefriedigenden Unterscheidung von „Erst-“ und „Zweitschlag“ versprachen sie sich am Ende den Durchbruch von der Nutzung des erdnahen Weltraums für eine Kombination aus „Enthauptungsschlag“ und „strategischer Defensive“ gegen feindliche „Zweitschlags“-Waffen. Vor der Probe aufs Exempel, ob dadurch die Wirkung einseitiger Abschreckung gegen die Sowjetunion wiederzugewinnen wäre, hat der Feind, der bis dahin alle amerikanischen Fortschritte bei der Elaboration zweckmäßiger Szenarios für den Atomkrieg mitgemacht hatte, aufgegeben…

[4] Daß die Sowjetunion sich seinerzeit das Recht herausnahm, schon den Anfang eines Frontwechsels der Tschechoslowakei im großen ost-westlichen Gegeneinander zu unterbinden, wurde ihrem Chef als „Breshnew-Doktrin“, nämlich eben von der „begrenzten Souveränität“ der sozialistischen Partner, übel angekreidet. Daran muß wohl erinnert werden in einer Zeit, in der sich jede öffentliche Stimme bezüglich auswärtiger Affären locker auf die Unterscheidung zwischen illegitimen, weil „selbsternannten“ politischen Größen und den Ausgeburten eines unanfechtbaren „Selbstbestimmungsrechts“ versteht.

[5] Außerdem bestand man in Bonn auf dem Recht, im Falle der Europäisierung alliierter Atomwaffen darüber mitzuverfügen: Die Ratifizierung des NPT ergänzte die seinerzeitige sozialliberale Regierung durch die Erklärung, daß nach ihrer, für Westdeutschlands Unterwerfung unter den Vertrag ausschlaggebenden Meinung keine Bestimmung des Vertrags so ausgelegt werden kann, als behindere sie die weitere Entwicklung der europäischen Einigung, insbesondere die Schaffung einer Europäischen Union mit entsprechenden (!) Kompetenzen. (Bulletin der Bundesregierung, 5.5.1975)

[6] A.Dregger z.B., der übertriebener Friedenshoffnungen gewiß unverdächtige Ehrenvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, untermauert die Forderung nach mehr „Selbstbeschränkung“ der Atomwaffenmächte mit seiner – nicht weiter begründeten – Überzeugung: Wenn den Atomwaffenbesitzern bewußt würde, daß der Besitz von Atomwaffen zwar eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden begründet, aber keine Privilegien mehr und keinerlei politische Vorteile einbringt, würden sie möglicherweise eher zu einer solchen Selbstbeschränkung bereit sein. (Für eine wirksamere atomare Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu Das Parlament, 3.2.95) So ganz wörtlich ist dieser Tip an die großen Verbündeten, zur Besinnung zu kommen, zwar nicht zu nehmen – zum politischen Zweck und ideologischen Grund derartiger deutscher Einlassungen später –; aber offiziell läßt Deutschland sich fast nur so vernehmen.

[7] Zu denen zählt sich auch die Republik Südafrika, weil sie sich freiwillig ihrer schon weit gediehenen „nuklearen Option“ entschlagen hat. Die Freude darüber sieht allerdings ein wenig davon ab, daß die Apartheid-Militärs, die sich mit der Atombombe die Rückendeckung für ihr antikommunistisches Regime über Schwarzafrika verschafft hatten – gemeinsam mit den Israelis, die am anderen Ende des Kontinents eine ähnliche Rolle gespielt haben –, ihre Gründe dafür gehabt haben werden – und außerdem den Auftrag aus Washington –, auf keinen Fall ihren farbig befehligten Nachfolgern ein solches Gewaltmittel zu hinterlassen.

[8] Praktikern wie Theoretikern imperialistischer Macht fällt es nicht schwer, den grundsätzlichen nationalen Nutzen und imperialistischen Schaden einer autonomen Verfügungsgewalt dritter Staaten über Atomwaffen wahrzunehmen: „…der politische Nutzen nuklearer Macht (ist) alles andere als unerheblich…, auch wenn dies gegenwärtig nicht unmittelbar einsichtig erscheint. Als ‚ultima ratio‘ zum Schutze existentieller Interessen ist er jedoch weiterhin wirksam. Nukleare Macht verleiht Staaten einen besonderen Status in internationalen Beziehungen. Er zwingt Nichtnuklearmächten, aber auch Nuklearmächten eine deutliche Zurückhaltung im Umgang mit einer Nuklearmacht auf und beeinflußt das Risikokalkül von Staaten im Hinblick auf die Herausforderung vitaler Interessen eines Kernwaffenstaates.“ (H. H. Mey u.a., ‚Counterproliferation‘, Institut für Strategische Analysen, 1994, S.30) Dasselbe in umgekehrter Blickrichtung: Kann die Proliferation nicht verhindert oder eingedämmt werden, besteht die Gefahr, daß der westliche Handlungsspielraum im Rahmen von Krisen und Konflikten angesichts massiver Drohungen gegen seine Städte drastisch reduziert würde. Einem regionalen Aggressor könnte es durch entsprechende Drohungen gelingen, die Weltgemeinschaft von einem Eingreifen zum Schutze des Opfers der Aggression abzuschrecken. (ebd. S.39f) Die moralische Einkleidung beiseitegelassen, macht das fachmännische Kalkül das Problem deutlich, das jede imperialistische Weltaufsicht mit fremder Nuklearrüstung hat: Mit der Verfügung über Atomwaffen kann ein Staat aus eigener Kraft die Autonomie seiner Politik garantieren; und das ist eine einzige Herausforderung an die Weltordnungskompetenz „des Westens“. So sehen es auch dessen Führer; nicht von ihnen lizenzierter fremder Atomwaffenbesitz zählt zu den elementaren Gefahren, die notfalls mit Gewalt abgewehrt werden müssen: „A threat falls into the first category of vital interests if it threatens the survival of the United States or key allies, if it threatens critical U.S. economic interests, or if it poses the danger of a future (!) nuclear threat. If we determine (!) that we face such a threat, we must be prepared to use military force to end this threat. The recent confrontations with Iraq and North Korea involved our vital interests, since they involved all three treats – a threat to key allies, to critical economic interests, and a future nuclear danger.“ (US-Verteidigungsminister Perry im November 1994)

[9] Einen besonderen Anspruch auf Beteiligung an der Aufsicht über russisches Plutonium haben die Deutschen aus dem Scheingeschäft abgeleitet, das ihr Geheimdienst im Sommer 94 erfolgreich eingefädelt, abgefangen und publik gemacht hat; vgl. GegenStandpunkt 3-94, S.188: Die ‚Unordnungsmacht‘. Mittlerweile ist der Plan im Gespräch, in der ehemaligen Hanauer Brennelemente-Fabrik russisches Waffenplutonium umweltfreundlich in Mischoxid-Brennelemente einzuarbeiten.

[10] Im Sommer 81 hatten die USA es noch ihrem souveränen Vorposten Israel überlassen, mit einem Luftschlag auf Bagdad dem von Frankreich unterstützten Atomprogramm des Irak ein Ende zu machen.

[11] Mit der Einführung der Kategorie der „dual use“-Güter ist die Unmöglichkeit, überhaupt am fraglichen Gerät sauber zwischen ziviler und militärischer Verwendung zu scheiden, halb eingestanden – aber nur, um die Unterscheidung zu perfektionieren. Es bleibt der grundsätzliche Widerspruch des ganzen Kontrollwesens, am Handelsartikel die Absicht des Käufers dingfest machen zu wollen. Ein praktisches Problem wäre das allerdings nur, wenn es wirklich um allgemeinverbindliche Kriterien und neutrale Kontrolle ginge. Tatsächlich geht es der wirklichen Kontrollmacht Amerika darum, bestimmte unsichere Kandidaten zu überwachen und mit dem Verweis auf verletzte Regeln unter Druck zu setzen und ansonsten vom nuklearen Weltgeschäft zu profitieren. Dafür taugen die Regeln.

[12] Unkontrolliert bleibt, was die offiziellen Atomwaffenbesitzer offiziell als Militäranlage deklarieren. Zwischen den bedeutenden Atomkraftbenutzern und der IAEO bestehen außerdem Vereinbarungen über die Umsetzung der zugestandenen Kontrollrechte, die mehr oder weniger auf eine Selbstkontrolle hinauslaufen; so inspizieren die EU-Europäer ihre Atomwirtschaft durch Organe ihrer eigenen Atomgemeinschaft EURATOM. Auch so unterscheiden sich also die Subjekte des Regimes von den Aufsichtsfällen.

[13] Umgekehrt haben die USA die Ermächtigung der IAEO durchgesetzt, mit Sonderkontrollen gegen ein NPT-Mitglied vorzugehen, wenn „zugängliche“ Geheimdienstinformationen über „Unregelmäßigkeiten“ vorliegen. Echte Spionage wird also keineswegs überflüssig; wer sie gegen wen üben darf, steht für die Überwacher der Atomwaffensperre von vornherein außer Frage.

[14] Vgl. hierzu GegenStandpunkt 3-94, S.169: Der Kampf um die ‚Normalisierung‘ Nordkoreas.

[15] Schon 1978 haben die USA im Rahmen ihrer „Non-Proliferation“-Politik die Kampagne „Reduced Enrichment for Research and Test Reactors (RERTR)“ gestartet, um die zivile Verwendung von Uran 235 in bombentauglicher Konzentration – über 90% – zu unterbinden. Tatsächlich haben sie erreicht, daß seit 1980 weltweit kein mit „High Enriched Uranium (HEU)“ betriebener Reaktor mehr gebaut wurde und vorhandene Forschungsreaktoren auf die Verwendung von niedrig angereichertem Uran umgestellt wurden und werden; eine neue Technik zur Verdichtung des Urankerns gleicht den Nachteil eines verringerten Neutronenflusses aus. Sogar vom schon beschlossenen Bau einer mit HEU betriebenen zivilen „Advanced Neutron Source (ANS)“ im eigenen Land ist die amerikanische Regierung abgerückt. Nun schert Deutschland, vertreten durch sein Bundesland Bayern, die Technische Universität München und die Firma Siemens, mit dem Projekt eines neuen Garchinger Forschungsreaktors – FRM II –, der die Vorteile des „dense pack“ mit denen des HEU verbinden und jährlich ca 40 kg HEU verbrauchen soll, aus dieser Linie aus. Die USA verdächtigen die BRD zwar nicht – zumindest nicht offiziell – der Absicht, stillschweigend Kapazitäten für den Atombombenbau zu schaffen, kritisieren das Projekt aber um so schärfer als negativen Präzedenzfall und lehnen Kompromisse ab – so Präsident Clinton im September 1993 immerhin vor der UNO-Vollversammlung. Die deutsche Seite läßt sich nicht beeindrucken und verwahrt sich beleidigt gegen jeden Vergleich mit anderen Staaten, die sich in unlauterer Absicht auf das Münchner Projekt berufen könnten. Alternativen werden abgelehnt: Die Anlage müsse „das Beste und Leistungsfähigste sein, was man sich nach derzeitigem Stand denken kann“, so Ministerpräsident Stoiber; eine Beschränkung auf die ohnehin mitbenutzte Anlage in Grenoble scheide zudem deswegen aus, weil die deutsche Forschung sich auf keinen Fall weiter in Abhängigkeit vom Ausland begeben dürfe; Deutschland sei sich autonome Kapazitäten schuldig. Außerdem schütze der NPT friedliche Atomforschung. (Das Argument, die USA bereiteten in ihrer ANS selber die Verwendung von HEU vor, und nichts anderes wolle man in München, ist mit der Aufgabe dieses Projekts geplatzt; seither betonen die Betreiber die Unähnlichkeit ihres Vorhabens mit dem amerikanischen.) Die Klarstellung der USA im Mai 94, die Lieferung von HEU aus amerikanischen Beständen bzw. Anreicherungsanlagen komme nicht in Frage, weil damit „eine der höchsten Prioritäten der Nation“ untergraben würde, beantwortet die BRD mit der Entsendung eines Münchner Physikers und zweier EURATOM-Vertreter nach Moskau mit dem Auftrag, mit dem dortigen Atomministerium ins Geschäft zu kommen. Sie hatten angeblich Pech, da die Russen kurz vorher von den Amerikanern erfolgreich darum „gebeten“ worden waren, an keinen Dritten HEU zu veräußern. Daraufhin wandte man sich an England, das noch 600 bis 800 kg HEU amerikanischen Ursprungs besitzen soll; gleichfalls ohne Erfolg. Aufgegeben ist das Projekt dennoch nicht; US-Interventionen bei EURATOM, dessen Kontrolle und Genehmigungen Deutschland unterliegt – und in dem es andererseits eine führende Rolle spielt –, wurden zurückgewiesen.

[16] Zufällig läuft im Jahr der Verlängerung des NPT auch das 1958 geschlossene Abkommen zwischen den USA und der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM aus, in dem die Amerikaner die Unterstützung europäischer Projekte zugesagt, gleichzeitig ihr Recht auf „Vorabgenehmigung“ der Verwendung der von ihnen gelieferten Materialien, Anlagen und Geräte verbrieft haben. Die USA wünschen eine Neuregelung, die auf eine Verschärfung ihrer bisherigen Überwachungsrechte hinausliefe, nämlich die Anwendung ihres nationalen „Nuclear Non-Proliferation-Act“ von 1978 auf Europa. Sie berufen sich dafür auf den Präzedenzfall Japan, das sich wegen seiner Abhängigkeit von amerikanischen Brennstäben für seine AKWs dem entsprechenden Ansinnen 1988 gebeugt hat. EURATOM weist das als nicht hinnehmbare Einmischung in Angelegenheiten innereuropäischer Industriepolitik zurück und erklärt auch die bisherigen amerikanischen Kontroll- und Genehmigungsrechte für hinfällig, und zwar explizit mit dem Hinweis auf die mittlerweile erreichte Gleichrangigkeit der europäischen mit der amerikanischen Technologie und Europas Unerpreßbarkeit: Die europäische Technologie ist der amerikanischen mindestens äquivalent; eine Abhängigkeit der Gemeinschaft von Drittländern … ist auf allen wesentlichen Gebieten … bis auf weiteres nicht erkennbar. (Dominioni/Gmelin, Mitglieder der EU-Verhandlungsdelegation, in: EURATOM und USA, Probleme und Perspektiven der Zusammenarbeit, Arbeitspapiere… Nr. 83) Die durchaus nicht unzutreffende Feststellung der US-Unterhändler, die Vereinbarungen zwischen EURATOM und der IAEO hätten mittlerweile zu einer ziemlichen Selbstinspektion geführt, kontern die EU-Leute mit der Behauptung, die Nuklearindustrie in Europa sei den schärfsten Kontrollen unterworfen, wohingegen Amerika diesbezüglich noch Nachholbedarf habe (ebd.) Die EU kalkuliert inzwischen mit dem Scheitern der Verhandlungen und ist sogar gewillt, die von den USA angedrohte Einstellung der immer noch umfangreichen Lieferung von – wegen ihrer Qualität von den AKW-Betreibern geschätzten – Brennstäben in Kauf zu nehmen. So freundlich geht es zu in der abendländischen Wertegemeinschaft…

[17] Deswegen drängen die USA z.B. auch auf Abkommen mit den im „Londoner Club“ versammelten wichtigsten Lieferländern des atomindustriellen Weltmarkts über eine verschärfte Verbotsliste für den Handel mit „dual use“-Gütern.

[18] Das leuchtet selbst den grünen Kernkraftgegnern ein: Für einen deutschen Beitrag zur demokratischen Übernahme und Beseitigung abgerüsteten russischen Waffenplutoniums würden sie sogar ihre Gegnerschaft gegen die Hanauer MOX-Brennstäbefabrik wohlwollend überprüfen – ein schönes Beispiel mehr für den immer flotteren Übergang von der Umweltschutzmoral zur imperialistischen Anspruchshaltung.

[19] Einen bemerkenswerten zusätzlichen Akzent hat die deutsche Öffentlichkeit mit ihrem kritischen Rückblick nach 50 Jahren auf die amerikanischen Atombombenwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gesetzt: Die herkömmliche Rechtfertigung, es wäre um die Beschleunigung des Kriegsendes und somit um die Rettung von – amerikanischem – Menschenleben gegangen, wurde allgemein nicht mehr geglaubt, stattdessen sogar auf ein paar ungewohnte historische Wahrheiten verwiesen wie die, Truman habe vor allem gegen Stalin ein Signal zur Klarstellung der militärischen Kräfteverhältnisse setzen wollen. Feinfühlig wie immer nahm die öffentliche Meinung so den Verdacht auf – den die BRD in 40 Jahren NATO-verbürgter Waffenbrüderschaft mit der „Supermacht“ immer gehegt hat und nur mit der Einräumung von Mitspracherechten und Transportpflichten beim Atombombeneinsatz hat beschwichtigen lassen –, den USA sei es bei ihrer Nuklearrüstung womöglich doch immer „bloß“ um einseitig nationale Interessen gegangen statt ums gemeinsame Wohl der Verbündeten, wie die Ideologie zur Führungsrolle Amerikas es haben will. Von gleichem Geist beseelt ist der Vorwurf an den EU-Partner Frankreich, er treibe seine Atomrüstung nur aus antiquiertem Nationalismus voran, für die „gloire“ der „grande nation“ statt für eine vernünftige Euro-Strategie. So bestehen die Deutschen ideologisch darauf, daß Atomwaffen für die Hierarchie der Nationen keine Rolle spielen dürfen – solange sie selber darauf verzichten.

[20] Deswegen wäre es auch völlig paradox, wenn die USA dem Drängen zahlreicher „blockfreier“ Staaten im Vorfeld der NPT-Verlängerungskonferenz nachgegeben und in aller Form auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichtet hätten. Eine Beistandsgarantie für atomwaffenlose Staaten gegen Aggressionen mit Nuklearwaffen ist von der „Supermacht“ ebensowenig zu haben: Glaubwürdige Abschreckung braucht die unbedingte Freiheit der abschreckenden Macht, über den Einsatz ihrer Mittel zu entscheiden. Die Nationen, die als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur eigenen „immerwährenden“ Atomwaffenlosigkeit eine solche Hilfszusage verlangt hatten, wurden mit dem Versprechen abgespeist, die UNO und ihre führenden Mitglieder würden im Fall des Falles mit entsprechenden Experten bei der Bewältigung der Folgen nuklearer Explosionen helfen…