Die Weltmacht Nr. l

In der Welt des Imperialismus werden Staaten ausschließlich am Kriterium ihres Erfolges gemessen. Sie erhalten ihren Platz auf der Rangliste internationalen Ansehens im Maße dessen, was sie sich im Umgang mit dem Rest der Welt leisten können. Gelegentlich werden Zweifel an der Angemessenheit des Kriteriums laut, doch erweisen sich diese meist als das Lamento der Nationen, die sich selbst gerne weiter oben plaziert sähen. Neuerdings gibt es neben den wirklichen auch "heimliche" Großmächte, so benannt von interessierten Beobachtern der internationalen Szene, die der ökonomischen Potenz besagter Staaten die entsprechende politische Anerkennung in der Welt zukommen lassen wollen. Solchen Politikern und Ideologen wird praktisch beschieden, daß die geglückte Zurichtung des nationalen Arbeitermaterials durch Kapital und Staat allein noch nicht imperialistische Größe ausmacht; als Vorbedingung ist so etwas unerläßlich, aber einige Atomsprengköpfe in eigener Verfügung müssen auch her. Umgekehrt ist ein Atombombenversuch in der australischen Wüste nur ein matter Ausgleich für ein verlorenes Empire. Peinlich wird die Erinnerung an einstige Größe, wenn sie sich mit dem Argument vorträgt, Nationen bestünden in mehr denn Geld und Militär. Imperialistische Größe ist halt etwas anderes als grandeur oder Grandezza.

Aus dem Buch
1979, 2024 | 104 Seiten | 10 €  Zum Warenkorb
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Länder und Abkommen
Gliederung

Die Weltmacht Nr. l

I. Die Berufung des Wilden Westens zur Weltmacht

In der Welt des Imperialismus werden Staaten ausschließlich am Kriterium ihres Erfolges gemessen. Sie erhalten ihren Platz auf der Rangliste internationalen Ansehens im Maße dessen, was sie sich im Umgang mit dem Rest der Welt leisten können. Gelegentlich werden Zweifel an der Angemessenheit des Kriteriums laut, doch erweisen sich diese meist als das Lamento der Nationen, die sich selbst gerne weiter oben plaziert sähen. Neuerdings gibt es neben den wirklichen auch "heimliche" Großmächte, so benannt von interessierten Beobachtern der internationalen Szene, die der ökonomischen Potenz besagter Staaten die entsprechende politische Anerkennung in der Welt zukommen lassen wollen. Solchen Politikern und Ideologen wird praktisch beschieden, daß die geglückte Zurichtung des nationalen Arbeitermaterials durch Kapital und Staat allein noch nicht imperialistische Größe ausmacht; als Vorbedingung ist so etwas unerläßlich, aber einige Atomsprengköpfe in eigener Verfügung müssen auch her. Umgekehrt ist ein Atombombenversuch in der australischen Wüste nur ein matter Ausgleich für ein verlorenes Empire. Peinlich wird die Erinnerung an einstige Größe, wenn sie sich mit dem Argument vorträgt, Nationen bestünden in mehr denn Geld und Militär. Imperialistische Größe ist halt etwas anderes als grandeur oder Grandezza.

Einig ist man sich nach den Kriterien des Erfolgs darin, daß einzig die USA es zur vollen imperialistischen Größe gebracht haben. Offenbar will aber niemand diese Feststellung als objektives Urteil verstanden wissen. Stattdessen liefert sie Material für eine muntere Vergleicherei, wobei der Abstand anderer Nationen zur Nr. l ebenso gemessen wird wie die Frage gewälzt, ob und wie lange Nr. l noch an der Spitze sein wird. Kurz: mit allem Ernst beschäftigt sich die Menschheit mit der Rangziffer, die die USA verdient haben, in nobler Abstraktion davon, daß hier kein Schlager, sondern das höchste politische Subjekt der Welt ausgezeichnet wird. Was immer aber das Ergebnis des Vergleichs sein mag, den Respekt vor dem, was sie waren und sind, will den Amis keiner versagen.

Die weltweite Diskussion über die Rangfolge in der Welt bringt so zwar keine Erkenntnis über die USA zutage, sie birgt in sich aber immerhin den Hinweis darauf, daß die Größe der USA, mithin das Spezifikum des amerikanischen Reichtums, in etwas anderem zu suchen ist als in der bloß quantitativen Überlegenheit vor dem Rest der Welt. Irgendein Umschlag von Quantität in Qualität — oder umgekehrt — muß da stattgefunden haben. Die theoretische Vergleicherei der Staaten in Ost und West mit den USA hat nämlich einen Haken. Jeder, der die USA an den Kriterien des imperialistischen Erfolgs mißt, merkt über kurz oder lang, daß eben diese Kriterien das Werk der USA sind. Folglich handelt es sich dabei auch nicht um Denkkategorien, sondern um Fakten, mit denen die USA regeln, was die Länder der Erde sich im internationalen Rahmen leisten können und was nicht, ökonomisch, politisch und moralisch. Neid und Ärger beim Rest der Welt bleiben nicht aus, wenn die Politiker an ihren amerikanischen Kollegen eine Bequemlichkeit imperialistischen Agierens bemerken, die sie der obersten Weltmacht als Schwäche ankreiden. Die Verwandlung des Kursverfalls der amerikanischen Währung in eine Schwäche des/Dollars oder gar eine der amerikanischen Nation ist eine Erfindung der imperialistischen Juniorpartner, die sich bald als Lüge entpuppt. Sorge bereitet die "Dollarschwäche" zuerst und zuallermeist denen, die die grünen Zettel milliardenfach in ihren Devisenschränken liegen haben; mehr noch ärgert sie die hartnäckige Bequemlichkeit, mit der die Amis sich weigern, sich die Probleme der restlichen Welt als die ihrigen aufdrängen zu lassen. So merkt mancher westliche Politiker, daß eine stabile Währung und ausgeglichene Bilanzen eine Sache sind; über eine Währung zu verfügen, die — Kursverfall hin oder her — die Daten des internationalen Geld- und Kreditgeschäfts setzt, ist eine andere Sache — und letzteres "makes the difference".

Wenn die imperialistischen Partner die USA vorwurfsvoll daran erinnern, welche Verantwortung für die Welt die Nr. l zu tragen habe, dann beklagen sie die Souveränität der Führungsmacht, die sie zu spüren bekommen; und die Antwort auf die Belehrung des großen Vorbilds besteht allemal in der Wahrnehmung dieser Verantwortung. Niemand weiß besser, wie diese auszusehen hat, als die USA: ganz oben zu stehen als Souverän heißt eben, aussuchen zu können, wo, wann und wie man seine Stärke einsetzt.

Wer könnte demnach kompetenter über Ausmaß und Gültigkeit der imperialistischen Rangordnung richten als die Amerikaner selbst? Die Selbstbetrachtung im Lichte der internationalen Größe hat Tradition, seit die amerikanische Nation die Bühne der Weltpolitik betreten hat — und kein Zweifel herrschte von Anfang an, daß kein anderer Spiegel gelten sollte als der eigene. Die Maßstäbe des Erfolgs sind home-made: die moralischen von Anfang an, die ökonomischen und politischen spätestens am Ende zweier Kriege.

Die einzigartige Stellung des amerikanischen Imperialismus in der Welt, die Nr. l eben, hat ihren Grund in der eigentümlichen Entwicklung des Kapitalismus auf amerikanischem Boden. Das ist eigentlich eine Banalität, und doch findet sich auch hier kaum einer, der das Urteil teilt. Daß die Entwicklung des Kapitalismus diesseits und jenseits des Atlantik Unterschiede aufweist, hat noch jeder gemerkt. Daß es sich dabei jedesmal um die Entwicklung des Kapitalismus handelt, will keiner so recht sagen. Die drüben, weil sie der Idylle anhängen, auf ihrem Boden sei der amerikanische Traum aufgegangen; die hüben, weil sie bei den kapitalistischen Brüdern in Übersee einige ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile sehen und ihre Bewunderung für den geradlinigen amerikanischen Weg in die Überlegung kleiden, wozu man es in Europa nicht hätte bringen können, wenn ... Schließlich haben die Amis nie einen Faschismus gehabt!

Auch die materialistischen Betrachter der Weltgeschichte, die's besser wissen müßten, wollen das Urteil nicht teilen, daß drüben sich die bürgerliche Gesellschaft lupenrein etabliert hat, weil ihr einige kostspielige Umwege erspart blieben; daß folglich der Imperialismus im eigenen Land den Grundstein gelegt hat für die mächtigste Macht der Welt. Ihnen gilt Amerika noch immer als Prototypus des faulenden Kapitalismus — und ausgerechnet an den USA werden sie nicht müde zu zeigen, daß die Schwäche seiner Akkumulation das Kapital in die weite Welt getrieben habe.

l. Der Schlüssel zur Erklärung des amerikanischen Reichtums, auf dem die Weltmacht Nr. l beruht, liegt im 'bequemen' amerikanischen Weg zum Kapitalismus. Bequemlichkeit hat nichts zu tun mit mangelnder ökonomischer Aktivität — wer wollte das ausgerechnet von den Amerikanern behaupten?

Gemeint ist vielmehr die Tatsache, daß die amerikanische Nation alle notwendigen Mittel zu beschaffen und rationell einzusetzen vermochte, die zur gedeihlichen Entwicklung des Kapitalismus beitrugen, und sich dennoch fast alle die Mühen und Kosten ersparen konnte, die die Entwicklung der modernen Gesellschaft aus der feudalen Produktionsweise mit sich brachte. Frei von feudaler Hierarchie und kolonialer "Bindung" konnte sich auf dem Boden der USA das bourgeoise Prinzip ökonomischen Treibens rein durchsetzen. Nicht alles war reichlicher und größer in den USA als anderswo (Erz, Kohle und andere Rohstoffe wurden erst in nennenswertem Umfang gefördert, als in England längst ein Geschäft damit gemacht worden war); doch war drüben der Einsatz der Mittel von vornherein radikaler. Das Diktum des amerikanischen Präsidenten Coolidge, "that the business of America ist business", gesprochen zu einem Zeitpunkt, da der US-Reichtum längst die Welt beglückte, kann auch als Motto der Geburtsphase des amerikanischen Kapitalismus gelten. Daß sich alles, was getan wird, lohnen müsse, war das Prinzip der Konstituierung der amerikanischen Nation; die USA waren der erste bürgerliche Staat, der unter Beweis stellte, daß sich nur in der modernen Produktionsweise die faux frais politischer Herrschaft wirklich rentieren.

Die Menschen, die Amerika besiedelten, waren moderne, am europäischen Kapitalismus geschulte Menschen; sie kamen mit dem festen Willen, es im neuen Land mit ihrer Arbeit zu einem materiellen Erfolg zu bringen, der sie der Arbeit enthebt. Die Gleichung, daß die Arbeit eines Mannes sein Kapital sei, war ihnen keine Illusion. Das egalitäre Ideal des Kapitalismus — jeder soll nach seiner Leistung gelten — traf auf dem Subkontinent auf keinen Widerstand. So konnte mit der Forderung: dem Erfolg gebührt das Recht, konsequent Ernst gemacht werden. Zwar mußte mancher Einwanderer erleben, daß die Freiheit, sein Glück zu machen, keine Erfolgsgarantie war (zumal im Süden, wo die Newcomers auf die Konkurrenz der gewaltsam herbeigeschafften Arbeitskraft stießen, gegen die sie nicht ankamen, geschweige denn, daß sie sie für sich hätten ausnutzen können). Doch bot die .frontier' die Möglichkeit, mit eigener Arbeit zu etwas zu kommen. Im Verlauf der ständigen territorialen Expansion vollzog sich nämlich die Scheidung von Lohnarbeit und Kapital allein durch die Konkurrenz. So wurde hier der Grundstein für die ursprüngliche Akkumulation gelegt: in der Agrikultur, die von Anfang an über bloße Subsistenz hinaus — es sollte sich lohnen'. — betrieben wurde, ebenso wie im Gefolge der Besiedlung. Den Trecks der Siedler folgten nicht nur die Huren, Pfaffen und Lehrerinnen, sondern auch die Handwerker und Krämerseelen.

Die ideologische Version der ursprünglichen Akkumulation in den USA kann jeder Amerikaner herbeten. Die Männer, die die Nation in Gang gesetzt haben, gelten als Pioniere und sind darin ewige Vorbilder (weswegen heute, da die ,frontier' nicht nur bis zum Pazifik, sondern in den hintersten Winkel der Welt reicht, amerikanische Präsidenten ihre Bürger an die ,new frontier' rufen). Die Pioniere, so die amerikanische Legende, kamen ohne Habe, aber voll unbändiger Tatkraft und mit dem Willen zur Freiheit; sie besiedelten das Land, das ihnen unbegrenzt zur Verfügung stand, machten sich die Natur Untertan, lebten rauh, aber kamen durch entsagungsvolles Leben auf ihre Kosten: ursprüngliche Akkumulation durch guten Willen.

Auch im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten erwächst das Kapital nicht aus der Abstinenz. Die ursprüngliche Akkumulation jenseits des Atlantik ist nicht weniger mit Feuer und Eisen geschrieben als dort, wo sie ihren Ausgang nahm. Doch auch der Einsatz von Gewalt in der Geburtsstunde des Kapitalismus gestaltete sich drüben, wie alles, rationeller; es mußte sich eben auch die Gewalt lohnen. So findet man schon am Anfang des amerikanischen Kapitalismus das Prinzip, das bis heute den Weg der amerikanischen Nation begleitet: die Amis wollen alles und kriegen alles — und können dabei noch wählerisch sein. That's the difference: souveräner Umgang mit der Notwendigkeit.

Den Wunsch, alles zu haben, was zum kapitalistischen Glück gehört, brachten die modernen Menschen, die Amerika schufen, in ihrem Reisegepäck mit. Ihr Exportartikel war nicht Optimismus, sondern die Freiheit des Privateigentums. Der Export mußte sich auszahlen, und nicht erst die Verfassungsväter wußten, daß das Glück des Menschen gemacht sein will; da es sich um das kapitalistische Glück handelt, eben dadurch, daß man durch die Arbeit anderer die Früchte des Privateigentums genießen kann. Gut amerikanisch daher der Gedanke, sich dafür das Material zu holen, das man braucht — und sich derer zu entledigen, die weder als Material noch zu sonst was taugen. Die Rede ist von Schwarzen und Roten. Folgerichtig war, daß ein Volk von Sammlern und Jägern, dem modernen Eigentum gänzlich unaufgeschlossen, daran glauben mußte. Der erste Klassenkampf auf amerikanischem Boden fiel entsprechend radikal aus: nicht Expropriation, sondern Vertreibung und Vernichtung war das Programm für die Indianer. Die Umwälzung der indianischen Lebensweise, um die sich die Siedler, vor allem aber die amerikanische Armee, gut ein Jahrhundert lang verdient machten, hinterließ keine freigesetzten Lohnarbeiter (derer gab es in USA genug!), sondern Tote und einige Mumien. Ein innerer Markt eröffnete sich bei dieser Sorte Umwälzung nur den Schnaps- und Waffenhändlern (immerhin auch hier ein business) und den Männern mit der Bibel. In den amerikanischen Geschichtsbüchern wird die Ausrottung der Indianer unter das Kapitel ,,Tugend und Laster der Frontier" rubriziert. Daß die Vernichtung der Ureinwohner zum "american way of life" dazugehört, will heute niemand so offen sagen, aber, wenn's hart auf hart kommt, wird sich doch kein Ami um das Urteil drücken, daß die Roten damals irgendwie im Wege waren. Heute dürfen sich die Nachkommen der überlebenden Indianer, allesamt Bürger der USA, durch die Brille des aufgeklärten Rassismus beglotzen lassen: sie werden in ihrer uralten kulturellen Eigenständigkeit anerkannt. Ihre Reservate dienen als Museen der amerikanischen Vergangenheit; Tradition steckt nicht nur in Barockkirchen. Auch an dieser Front ist der amerikanische Imperialismus seinen Kontrahenten um einiges voraus; wo hat schon der Imperialismus Gelegenheit, seiner Opfer auf eigenem Grund und Boden zu gedenken?

Zwar hat die afrikanischen Neger auch keiner gefragt, wie sie zur Freiheit des Eigentums stehen, doch was sie anlangte, so war dem radikalen Geist, in Boston wie in Charleston, klar, daß ohne herbeigeschafftes Arbeitsvieh in der Agrikultur des Südens kein lohnendes Geschäft zu machen sei. Dies umso mehr, als die Plantagenbesitzer im Süden ihr Produkt, die Baumwolle, von vornherein für den einträglichen Absatzmarkt im englischen Mutterland vorgesehen hatten. So gab

"die Baumwollindustrie zugleich den Anstoß zur Verwandlung der früher mehr oder minder patriarchalischen Sklavenherrschaft der Vereinigten Staaten in ein kommerzielles Exploitationssystem, überhaupt bedurfte die verhüllte Sklaverei der Lohnarbeit in Europa zum Piedestal die Sklaverei sans phrase in der neuen Welt." (MEW 23/787)

King Cotton war der einzige Monarch, dem die amerikanische Nation jemals ihre Reverenz erwiesen hat, auch dies in gewohnt radikaler amerikanischer Weise. Konsequent, eben als kommerzielles System der Ausbeutung, war nicht nur der Einsatz der Negersklaven, radikal war auch die Art der Beschaffung. Unbelastet von jeglichem eigenen Kolonialismus und den damit verbundenen Kosten kauften die USA die Produkte fremder Kolonialherrschaft auf — was angesichts der Eigenschaften dieser Ware nicht ohne Staat abging — und bewiesen so schon in frühen Jahren, daß eine Nation es auch ohne koloniale Vorgeschichte zu einem ordentlichen Imperialismus bringen kann. Raub- und Handelskriege haben die USA in ihrer Geschichte niemals zu führen brauchen, ...can buy everything, die staatliche Gewalt im Rücken.

Die amerikanische Gesellschaft stellte die Weichen für die Akkumulation ihres Reichtums ohne die lästigen Kosten kolonialer Herrschaft, ohne aufreibende Klassenkämpfe, ohne nennenswerten Krieg. Die Sache hat sich gelohnt. Die USA waren und sind das einzige Land, das es zu einem rationellen Betreiben der Agrikultur gebracht hat, im formellen (weil auf der Sklavenarbeit beruhenden) Kapitalismus der südlichen Pflanzer ebenso wie in der Farm-Agrikultur, die die Grundlage abgab für die erste Lebensmittelindustrie der Welt. Sie verhalf den USA nicht nur zu einem dauerhaften Markt in der Alten Welt (Weizen und Fleisch), sie ersparte der Nation auch Hungersnöte, selbst in den Tagen des Bürgerkrieges. Agrikoles Kapital legte den Grundstein für die Entwicklung des industriellen Kapitals: noch bis vor den Bürgerkrieg waren die USA ein überwiegend agrikoles Land, und die Jacksonian Democracy der 30er und 40er Jahre— Inbegriff des amerikanischen laissez-faire — war die politische Herrschaftsform des Kapitals, noch bevor industrielles Kapital nach einer ihm gemäßen Herrschaft verlangte. Ein innerer Markt brauchte weder für die Manufakturen des Ostens noch für die Farmer des Nordwestens gewaltsam geschaffen zu werden (die Baumwolle ging ohnehin größtenteils nach Liverpool). Geld und freie Menschen waren vorhanden und letztere strömten beständig nach.

Auch auf dem Felde der Technologie demonstrierten die Amis der Welt, was business ist. Sie importierten das know-how des kapitalistischen Mutterlandes und setzten es radikal um. Die cotton-ginny (technische Grundlage einer rationellen Baumwollproduktion) war eine Erfindung amerikanischen Geistes. Was der klassische Kapitalismus bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts den USA quantitativ an natürlichen Rohstoffen voraus hatte (Wasser und nicht Kohle war lange Zeit die amerikanische Energie), machten die modernen Kapitalisten durch rationellen Einsatz wieder quitt. Der Imperialismus der Amerikaner im eigenen Land läßt sich schließlich schön an den Karten ablesen, die die Ausdehnung amerikanischen Wesens auf dem Subkontinent dokumentieren: Landnahme, Annexion, Kauf, auch mal ein Gemetzel. Auch hier zeigt sich, daß die amerikanische Nation wählerisch sein kann, ohne je zimperlich sein zu müssen. Was die Eigeninitiative der Siedler nicht schaffte, was nicht gleich mit Geld zu erwerben war, besorgte die Armee: "manifest destiny" nennt man so etwas.

2. Die amerikanische Nation hat keine Revolution erlebt, wohl aber einen Bürgerkrieg. Er ist der Abschluß der ursprünglichen Akkumulation in den USA und zugleich die wirkliche Geburt der Nation. Der Krieg hat der kapitalistischen Produktionsweise nicht zum Durchbruch verholfen, sondern die radikale Durchsetzung ihres Prinzips gesichert. Es galt nicht, den "pursuit of happiness" einer überholten Herrschaft abzutrotzen; die Sorte Glück, der sich alle Amerikaner verpflichtet fühlen, machte es nötig, den eigenen Reichtum zu vernichten, von den Bürgern gewollt und durch die Gewalt des Staates vollzogen. Der Krieg im eigenen Lande hat nicht nur die Legende vom friedlichen Gang der amerikanischen Geschäfte widerlegt (sie ist trotzalledem recht lebendig), er hat auch zugleich gezeigt, daß die Logik des amerikanischen Weges zum Glück nicht einfach business ist, sondern kapitalistisches business. Die Pflanzer im Süden, weiß Gott dem Nutzendenken aufgeschlossen, bekamen zu spüren, daß Nutzen immer noch bedeutet Nutzen des Kapitals. So steht am Ende des amerikanischen Bürgerkrieges durchaus die Expropriation, aber auch hier einmal wieder anders als sonstwo auf der Welt. Einheit hat der Krieg geschaffen und dies in doppeltem Sinn: ökonomisch durch die endgültige Schaffung der Bedingungen, die Produktivität der Agrikultur und der Industrie zu nutzen (in beiden Sphären also Expropriation der Expropriateure), politisch durch die endgültige Schaffung eines Staates, dessen Zweck die ungehinderte Sicherung der Entfaltung der Konkurrenz ist. Es hat sich wieder einmal gelohnt.

An der Sklavenfrage entzündete sich der Krieg, in dem sich Amerikaner, allesamt der festen Überzeugung, daß das Leben sich auszahlen müsse, gegenseitig vernichteten. Klar war von Anfang an, daß diese Frage nicht hieß, ob es auf amerikanischem Territorium Sklaven geben dürfe. Den Yankees war in den Jahrzehnten nach der Gründung des amerikanischen Staates nicht eingefallen, daß sie eigentlich als freie Menschen gegen die Sklaverei und ihre Landsleute im Süden ganz und gar unamerikanischer Aktivitäten verdächtig seien. Was sie bemerkten, war vielmehr, daß unter dem gemeinsamen Dach einer amerikanischen Nation, ihren abstrakten Prinzipien fest verpflichtet, zwei unterschiedliche Formen des ,american way of life', zwei gegensätzliche Weisen der Ausbeutung sich entwickelt hatten. Von der Sklaverei im Süden hatte der Norden nichts — das war das Unamerikanische.

Der Mehrwert, den die Plantagenaristokraten im Süden aus ihrem Sklavenvieh preßten, blieb den Farmern, Handwerkern, Arbeitern und Manufakteuren des Nordens in jeder Hinsicht vorenthalten. An eine direkte Nutznießung des herbeigeschafften Arbeitsviehs war im Norden nicht zu denken — aus ökonomischen Gründen. Sklavenhaltung war eine einträgliche Einnahmequelle nur auf den Plantagen des Süden, auf fruchtbaren Böden, die einfache Arbeit erheischten. Auch mit indirekter Beteiligung am Reichtum des Südens war nicht viel. Sklaven bildeten keinen Markt für die Produkte des Nordens; sie brauchten schließlich nur, was sie hatten. Das Produkt, dem sich der gewaltige südliche Reichtum verdankte, fand seinen Weg in die Manufakturen des alten und nicht des neuen England, und überhaupt war für den Süden die Handelsachse Charleston-Liverpool weitaus bedeutsamer als die Handelsverbindungen mit dem Norden. Der Streit um die vorteilhafteste Handelspolitik war so ein ständiger Bestandteil der Auseinandersetzungen der beiden Amerika: Freihandel stand auf dem Programm des Südens, Schutz der eigenen Manufakturen war die Parole des Nordens. Doch war diese Kollision nicht der Grund für den Bürgerkrieg. Bis in die ersten Kriegstage hinein war der freie Handel das Prinzip der gesamt-amerikanischen Politik — darin lag folglich nicht der Beweggrund für die Sezession des Südens. Umgekehrt: der Ausbruch des Krieges ermöglichte es dem Norden, seine Schutzzoll-Gesetze durchzusetzen — gültig bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts.

Die entscheidende Frage, die zwischen Nord und Süd zunächst diskutiert und verhandelt, schließlich mit Waffengewalt beantwortet wurde, war die nach den Grenzen der Sklavenwirtschaft. Die Ökonomie des Südens ist ihrer Logik nach expansiv, sie braucht die ständige territoriale Ausdehnung.

»Die durch Sklaven betriebene Kultur der südlichen Ausfuhrartikel, Baumwolle, Tabak, Zucker usw. ist nur ergiebig, solange sie mit großen Gängen von Sklaven, auf massenhafter Stufenleiter und auf weiter Fläche eines natürlichen fruchtbaren Bodens, der nur einfache Arbeit erheischt, ausgeführt wird. Intensive Kultur, die weniger von der Fruchtbarkeit des Bodens als von Kapitalsanlagen, Intelligenz und Energie der Arbeit abhängt, widerspricht dem Wesen der Sklaverei. Daher die rasche Verwandlung von Staaten wie Maryland und Virginia, die früher Sklaven zur Produktion von Exportartikeln verwendeten, in Staaten, die Sklaven züchten, um sie dann selbst in die weiter gelegenen südlichen Länder zu exportieren," (MEW 15/335 f.)

Es gab also in den USA von Anfang an zwei ,frontiers'; und je deutlicher wurde, daß die Prinzipien der beiden Sorten "Besiedlung" kollidierten, desto wichtiger wurde die politische Frage, ob ein neugeschaffener Bundesstaat der USA, erobert oder -gekauft, sich für das System der Sklavenwirtschaft oder für die Konkurrenz von Farmern aussprechen würde. Die Vorgeschichte des Bürgerkriegs ist voll von Kompromissen und Grenzmarkierungen in Fragen Ausdehnung des Sklavensystems. Die politische Frage, wer das Recht habe, die Entscheidung über den Weg zum ökonomischen Glück zu fällen, die Einzelstaaten oder die Zentralgewalt, löste sich auf in die Frage, ob die Sklavenhalterwirtschaft in ihr ursprüngliches Territorium gebannt werden konnte, was ihre Auflösung bedeutet hätte, oder ob die Ausdehnung der Sklavenhaltung nach dem Belieben der Staaten fortschreiten könne — unmittelbare Bedrohung des Prinzips des Nordens. Die Sezession des Südens war so nicht nur Hochverrat, sondern ökonomische Kampfansage; der Sieg des Nordens nicht nur die Wiederherstellung der nationalen Einheit, sondern die gewaltsame Sicherstellung, daß sich in den USA der Kapitalismus zu lohnen hat. Die Wucht des Bürgerkrieges liegt also in beidem: Abschluß der ursprünglichen Akkumulation und endgültige Schaffung eines Staates, der mit seiner Gewalt die ökonomische Stärke des Teiles seiner Bürger absichert, die es zu etwas gebracht haben. Insofern hat sich auch diese amerikanische Sache gelohnt.

Bleibt in Sachen Sklavenfrage und Bürgerkrieg noch nachzutragen, daß der nicht unbedeutende ideologische Überbau des Ganzen sich ausschließlich der Frage widmete, ob auch Neger Amerikaner seien. In der Menschenrechtsfrage waren die Amis schon immer recht eigen.

Abraham Lincoln wird nicht nur für seinen Beitrag zur Sklavenfrage gelobt. Ebenso groß wird seine Leistung geschrieben, in kürzester Zeit eine Kriegsmaschinerie aus dem Boden gestampft und erfolgreich eingesetzt zu haben. Das Lob zeigt, was von "the birth of a nation" zu halten ist, die die Amis auf das Jahr 1865 datieren. An dem Doppelgeburtstag läßt sich sehen, wofür den Amerikanern — und darin gibt's kein Nord-Süd-Gefälle — ihr Staat mit all seiner Gewalt gut ist. Wenn eine bestimmte Sorte Bürger die amerikanische Lebensart ganz auf sich gestellt durchsetzt, dann brauchen sie gerade dafür den Staat: er muß die Sicherheit bieten, daß sie es alleine machen können; um so mehr ist sein gewaltsamer Einsatz vonnöten, wenn der Vorteil des Kapitals gefährdet ist. Daß im Bürgerkrieg diese Sorte staatlichen Zuschlagens gegen einen Teil der eigenen Bürger ging, war zwar in seiner amerikanischen Radikalität durchaus konsequent, deshalb aber auch einmalig. Den Pflanzern im Süden wurde mit Waffen eingebleut, wie Nutzen zu buchstabieren sei. Das war der Abschluß der amerikanischen Vor-Geschichte. Die Logik der Sache gebot im weiteren Gang, der Welt einzubleuen, daß Nutzen sich buchstabiert als Nutzen Amerikas. In diesem Staat ist die amerikanische Nation also wirklich geboren, und jetzt erst sind sie eigentlich alle Amerikaner, auch wenn sie ihre Geschäfte auf italienisch abwickeln und auch in der dritten Generation noch kein "th" hinkriegen.

Das Ende des Bürgerkriegs markierte auch das Ende der .frontier'. Territorial sicher nicht, der Pazifik war noch nicht ganz erreicht, auch war noch hie und da einiges Gold zu finden. Der Strom der Menschen aus Europa riß ebenfalls nicht ab; allein im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kamen 30 Millionen Einwanderer. Auch gab es noch genügend Land, jungfräulich oder durch staatliche Verteilung bereitgestellt.

Die »frontier' war von Anfang an mehr als das alles. Ihr Ende bedeutet, daß die amerikanische Grundgleichung: meine Arbeit ist mein Kapital, endlich gelöst war. Der Bürgerkrieg hatte jedermann belehrt, man dürfe das konstitutive Prinzip der USA nicht zu abstrakt verstehen; nicht Nutzen schlechthin gilt, sondern Nutzen des Kapitals. Die ,frontier' hatte alles für die Industrie bereitgestellt, gerade weil die Landwirtschaft der USA funktionierte; freie Lohnarbeiter gab es ohnedies zuhauf. Der Bürgerkrieg hat dem Kapital des Ostens neue Anlagesphären gewonnen (wofür er freilich nicht veranstaltet wurde), hat die Landwirtschaft des Südens so geordnet, daß sie keinen Widerspruch zur Akkumulation in der Industrie abgab; er hat schließlich auch das Elend der Lohnarbeiter besiegelt. Die Grenzen der Agrargesellschaft für die kapitalistische Akkumulation wurden dabei ebenso deutlich aufgezeigt wie eine Phase gesellschaftlicher Expansion eingeleitet, die zwar nicht auf die Vorarbeit der Pioniere, wohl aber auf die meisten von ihnen verzichten kann. Die Parole dieser amerikanischen Expropriation lautet: es muß sich aus allem ein Geschäft für das Kapital machen lassen — ergo neue Anlagesphären, Exploitation der Rohstoffe, ganz andere Quantität des Kapitalvorschusses, Kredit, Börse und Spekulation.

"Einerseits läßt der ungeheure und kontinuierliche Menschenstrom, jahraus, jahrein nach Amerika getrieben, stockende Niederschläge im Osten der Vereinigten Staaten zurück, indem die Emigrationswelle von Europa die Menschen rascher dorthin auf den Arbeitsmarkt wirft, als die Emigrationswelle nach dem Westen sie abspülen kann. Andererseits hat der Amerikanische Bürgerkrieg eine kolossale Nationalschuld in seinem Gefolge gehabt und mit ihr Steuerdruck, Erzeugung der allgemeinsten Finanzaristokratie, Verschenkung eines ungeheuren Teils der öffentlichen Ländereien an Spekulanten-Gesellschaften zur Ausbeutung von Eisenbahnen, Bergwerken etc. — kurz die rascheste Zentralisation des Kapitals. Die große Republik hat also aufgehört, das gelobte Land für auswandernde Arbeiter zu sein." (MEW 23/801)

So verrät der Krieg der USA im eigenen Lande letztlich auch das simple Prinzip des US-Kapitalismus und -Imperialismus: es reicht nicht, den Kapitalismus zu machen; es kommt sehr darauf an, wie.

II. Demokratisches Innenleben

Mord und Totschlag kennzeichnen den Weg, den Amerika gegangen ist bis zur Vollendung seiner Macht über den Erdball. Dieser Weg hat die Nation nach außen wie nach innen den Segen der Freiheit genießen lassen. Die Freiheit besteht darin, über jedes Mittel für die Akkumulation von Reichtum entscheiden zu können. Und das gilt nicht nur für den Präsidenten der USA, der freimütig mit Bedrohung und Vernichtung anderer Nationen kalkuliert und dabei auch Zwischenlösungen zu präsentieren weiß. Auch die amerikanischen Bürger sind wandelnde Dokumente demokratischer Freiheit, wie sie diesseits des Atlantik nur in den Wahnvorstellungen von Biertischfaschisten existiert. Während die europäischen Demokratien einige Anstrengungen unternehmen, um ihre Bürger von der Begeisterung für die Todesstrafe, faschistische Auslese und Spielzeugwaffen abzubringen, lassen sich die amerikanischen Bürger ihr Recht auf Lynchjustiz, einen ganz unideologischen Rassismus und die Knarre im Schrank nicht nehmen — und ihr Staat läßt sie auch. Das hat schon manche europäische Demokratenseele erschreckt — zu Unrecht. Und während den demokratisierten Bürgern europäischer Nationen im Angesicht der Staatsgewalt ihre Pflichten einfallen und das Opfer zur ersten Tugend wird, verlangt die amerikanische Verfassung von ihren Untertanen ganz ohne Heuchelei, sie sollten ihr Glück schmieden. Das hat schon manchen europäischen Untertanen begeistert — ebenfalls zu Unrecht. Das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern in einer modernen, also kapitalistischen Gesellschaft gestattet durchaus Nuancen in der Ausgestaltung von Recht und Pflicht. Was ein Staat seinen Bürgern an Pflichten auferlegt, hängt eben davon ab, ob deren Konkurrenz für die Pflichterfüllung ausreicht, gebremst oder gelenkt sein will. Was umgekehrt pflichtbewußte Bürger von ihrem Staat an Rechten erwarten, hängt davon ab, welche Voraussetzungen sie für die Verwirklichung ihrer Konkurrenzvorhaben zur Verfügung gestellt bekommen, über sowas entscheidet die Geschichte — was nicht heißt, daß diese ominöse Figur das Subjekt von irgendetwas wäre.

Was ein demokratischer Staat seinen Bürgern gestattet und umgekehrt, hat tatsächlich auch etwas mit den Mitteln zu tun, die für eine ausgewogene Verteilung von Armut und Reichtum zur Verfügung stehen: Natur, Produktionsweise (alte, zu überwindende oder bloß neue, einzuführende). Die amerikanische Demokratie entspricht dem amerikanischen Menschen ganz genau so, wie die europäische Demokratie dem europäischen Menschen entspricht: Siehe Resultate Nr. 3, Der bürgerliche Staat, § l. Sie ist eben eine Demokratie, wie sie im Buche steht — nur in allen Belangen etwas anders. Am Menschen liegt das jedenfalls nicht.

l. Kein Volk der Erde ist sich so unbefangen klar darüber wie das der US-Bürger, daß die Freiheit, die sie von ihrem Staat verlangen und die er ihnen gewährt, die gewaltsame Seite und damit die Bedingung der Konkurrenz ist, die sie sich als Weg zu ihrem Lebensglück erkoren haben; keinem Volk der Erde ist daher auch so selbstverständlich wie den Untertanen des George Washington und seiner Nachfolger, daß der Nutzen eines die Freiheit schützenden Gewaltmonopols in der Unterstützung der in der Konkurrenz Erfolgreichen besteht. In der Praxis heißt diese Klarheit — eben seit den Tagen der ,frontier' —: Die Bürger schaffen sich mit aller dazu nötigen Brutalität im Privateigentum, also gegeneinander, ihre Existenzgrundlage, und zwar in der Gewißheit, daß allein ihr Erfolg ein allgemeines Interesse weckt, ausgerechnet ihren "pursuit of happiness" zu unterstützen; die allgemeine Gewalt wiederum erzwingt jedes Opfer ihrer Untertanen für den privaten Erfolg der Erfolgreichsten in der Gewißheit, daß sich nur solche Opfer, diese aber ganz sicher auch für Amerika lohnen. Es war eben nie ein temporäres Bündnis und das Gegeneinander von Bourgeoisie und Proletariat, das einer gegebenen Herrschaft deren Funktionalität für die Nutznießer wie für die Opfer kapitalistischer Konkurrenz abgerungen hätte, also ein politisch geführter Klassenkampf, was den politischen Überbau der amerikanischen Gesellschaft bestimmt hat. Dieser Staat wurde vielmehr geschaffen von Menschen, die mit ihrer europäischen Heimat auch ihre Klassenzugehörigkeit hinter sich gelassen hatten, um sich eine neue zu erarbeiten, und fortan kein anderes Kriterium zwischen sich gelten lassen wollten als die Tüchtigkeit in der Konkurrenz. Weil keine staatliche Gewalt zu überwinden war, trugen sie der Gewaltsamkeit dieses Kriteriums Rechnung, indem sie nicht nur sich selbst bewaffneten — eine bis heute beibehaltene Tradition —, sondern überdies eine gewählte Obrigkeit mit der Aufgabe betrauten, mit ihren überlegenen Waffen jede Verfälschung der Konkurrenz durch Widerstand seitens der "Untüchtigen", mochten sie nun Rothäute oder Blaumänner sein, zu unterbinden.

Die souveräne Gewalt, die sich diesem Willen verdankt, erschöpft ihre Souveränität demgemäß darin, ihren Bürgern diesen Willen als Befehl zurückzugeben. Entweder sie vermehren Macht und Reichtum der Nation, indem sie sich durchsetzen — dann können sie für ihre Vorhaben auf jede staatliche Hilfe zählen. Oder sie versagen — und werden dementsprechend vom Staat als seinem Nutzen abträgliche Versager behandelt. Souveränität heißt in diesem Fall Souveränität gegenüber dem Elend: dieses zählt erstens gar nicht und deswegen zweitens unbedingt negativ, wo immer es sich als Störfaktor bemerkbar macht — in Sachen staatlicher Terror gegen revoltierende "Randgruppen" kennt die freieste Demokratie der Welt kein Pardon, und auf die Idee, bei "Ghettounruhen" statt der Nationalgarde Sozialprogramme einzusetzen, kommen höchstens ein paar fromme Philanthropen. Umgekehrt vergibt die Souveränität dieser Staatsgewalt sich nichts, wenn sie mit dem Reichtum so intim wird, daß sie sich für alle ihre Maßnahmen von dessen Managern Rat einholt und dies offiziell als .Hearing zelebriert: der staatliche Wille zum Wachstum des privaten Reichtums braucht sich nie in das Ideal eines Gemeinwohls zu übersetzen. Daß die Unterscheidung nur formell stattfindet und keine Seite sich deswegen zur Heuchelei veranlaßt sieht (höchstens zu einer jedermann kenntlichen, die bis zur Frömmigkeit ausgebaut werden kann!), wird gebilligt: ein käuflicher Senator ist kein schlechter Senator, und ein registrierter Lobbyist ist ein ehrenwerter Ratgeber.

2. Diese Souveränität prägt den Umgang der Staatsgewalt mit ihren Untertanen schon in seiner rechtlichen Form. Die von ihm erlassenen Verfahrensregeln der Konkurrenz, das bürgerliche Recht, behandelt der US-Staat nicht allzu dogmatisch und bürokratisch-restriktiv, sondern eher als Angebot an seine Bürger, sich für ihre Streitigkeiten seiner Gewalt zu bedienen — je nach persönlichem Einfluß auf Wahl und Wiederwahl von Richtern und Staatsanwälten und vor allem je nach dem Geschick des eigenen Anwalts, aus was auch immer der Gegenseite einen Strick zu drehen. Die Bürger, die es sich mit Aussicht auf Erfolg leisten können, nehmen dieses Angebot gern in Anspruch. Für sie ist das Recht von vornherein mehr als bloß Schutz gegen Übergriffe: Sie nutzen es offensiv als Mittel der Durchsetzung gegen andere, wenn's geht bis hin zur rechtsförmlichen Ruinierung ihres Konkurrenten: daß nicht nur verlorene Gliedmaßen, sondern auch allerlei "seelische" Schmerzen, angefangen von den bösen Streichen des Ehegatten bis hin zu den rechtlich sonst nicht anfechtbaren Machenschaften von Geschäftspartnern und -gegnern, in Dollars zu beziffern sind und sich, gesetzt man findet den richtigen Richter, auch hoch bezahlt machen können, das haben nicht zufällig die Amis in ihrem Umgang mit dem angelsächsischen ,case law' entdeckt. In den USA ist die Zweideutigkeit des Satzes: ,Wer den Prozeß gewinnt, hat recht' zur Perfektion gebracht worden. Jeder Prozeß ist ein Test auf die Brauchbarkeit des Rechts.

Was dem Zivilrecht recht ist, ist dem Strafrecht billig. Ein Staat, dessen Souveränität zuallererst in dem Befehl an seine Bürger besteht, als Konkurrenten rücksichtslos aufeinander loszugehen, behandelt auch den konsequent folgenden Übergang zum Verbrechen pragmatisch: mit ausgesuchter Härte dort, wo ihn die Frechheit der Armut stört; ohne übertriebenen Gesetzesidealismus in den Fällen, da die Größe des Erfolgs der Rechtswidrigkeit Recht gegeben hat — es kann schließlich kein Zufall sein, daß die Mafia außer in Süditalien am genau entgegengesetzten Pol im Spektrum rechtsstaatlicher Lebensart, in New York, ebenso zu Hause ist. Dem Anwaltsstand ist die pflichtbewußte Mitwirkung an der Urteilsfindung noch nicht einmal als denkbares Ideal bekannt; und staatliche Ankläger und Richter wollen immer mal wieder gewählt sein...

Was das öffentliche Recht betrifft, so sind zwar die Zeiten der — nicht umsonst so genannten — ,,Golden Twenties" vorbei, als mit dem Ausgang der jeweiligen Bandenkriege ganze Städte ihren Besitzer wechselten und in dem Zusammenhang auch alle Polizeistellen ihr Personal. Eine Sphäre bürokratischer Selbstherrlichkeit ist die öffentliche Verwaltung deswegen aber noch lange nicht: Was irgendwo im Lande passiert, trägt unweigerlich den Stempel derjenigen Firma, von deren Erfolg die jeweilige Gegend lebt. Die Bundesstaaten pflegen einen freien, pragmatischen Umgang mit dem Recht: sie lassen sich sogar zur Konkurrenz mit ihren Bürgern ums Recht herbei, eine extra Abteilung Verwaltungsgerichtsbarkeit wäre der erfolgreichen Verwendung des Rechts nur abträglich.

3. Wo der Staat seine souveräne Gewalt schon im Rechtswesen als Mittel der konkurrierenden Individuen, und zwar zielstrebig nach Maßgabe ihres Konkurrenzerfolgs, handhabt, da gestaltet sich konsequenterweise auch seine regelnde, helfende und heilende Politik für die Klassen problemloser als in Staaten, denen die demokratischen Freiheiten vom Proletariat abgekämpft werden mußten und deswegen den Anschein einer Verheißung für den glücklichen Ausgang seines Klassenkampfes immerzu nicht loswerden.

Dem Idealbild vom ideellen Gesamtkapitalisten hat der amerikanische Staat von Anfang an insofern entsprochen, als er sich nie etwas anderes zu seinem Anliegen gemacht hat als die gewaltsame Erfolgsgarantie für die kapitalistische Entwicklung. Was immer nötig war, um die Einheit des Landes im richtigen Sinne herzustellen, die Expansion voranzutreiben, das zuende gewachsene und fertig geeinte Land bis in seinen letzten Winkel hinein für eine gründliche Inbesitznahme durchs Kapital zu erschließen, die Konzentration des Kapitals bis an die Schwelle eines regelrechten inneren Wirtschaftskrieges zu befördern, den Zuzug geeigneter Arbeitskräfte richtig zu dosieren und Kampfaktionen der Arbeiter zu unterbinden, das hat dieser Staat ohne Zögern und ohne Pingeligkeit ins Werk gesetzt. Dabei hat er, was den Aufbau der Infrastruktur sowie den Bereich öffentlicher Dienstleistungen angeht, stets sorgfältig darauf geachtet, wo sich hier privater Geschäftssinn tummeln könnte. Spekulativen Großunternehmen wie den Eisenbahnbauten quer durch den Kontinent hat er stets mit Krediten und Konzessionen für die erforderliche Landnahme zur Seite gestanden, ohne auf einen anderen volkswirtschaftlichen Nutzen zu reflektieren als den, den die Konkurrenz der Spekulanten ja schon verwirklichte; und wo der ziemlich folgerichtige Konkurs eben z.B. des Eisenbahnwesens auf ihn zurückfällt und nun doch aus volkswirtschaftlichen Gründen Sanierung verlangt ist, da gründet er keineswegs eine Bundesbahn, sondern setzt neue Aktiengesellschaften ins Leben, auf deren Gewinne das Publikum wenigstens in kleinem Maßstab wieder spekulieren kann. Dinge wie das nationale Telefonnetz oder die Ausrichtung der Olympischen Spiele hat der Staat nie als seine natürliche Domäne betrachtet; und am liebsten würde er noch aus der Stadt New York ein Privatunternehmen machen, wenn es nur Interessenten dafür gäbe.

Daß er andererseits seinem nationalen Kapital, speziell dessen gigantischsten Zusammenballungen, bisweilen mit rigideren Gesetzen begegnet, als sie in europäischen Demokratien üblich sind, widerspricht seiner Sorge ums Gelingen der privaten Geschäfte keineswegs. Selbst wo sie nicht so gemeint sein sollten, haben seine restriktiven Auflagen, Produkte betreffend, ökonomisch einzig die Funktion, dem großen Kapital zu der Chance zu verhelfen, seine Größe gegen die Konkurrenz — vor allem die ausländische — wirksam auszuspielen. Die Antitrustgesetzgebung, die konsequenterweise neben den Kreditgarantien traditionell den bedeutendsten Staatseingriff ins freie Wirtschaftsleben darstellt, bekräftigt das Ideal lebhafter Konkurrenz, ohne der Konzentration des Reichtums in wenigen Händen, dem Resultat und der wichtigsten Bedingung weiteren Konkurrenzerfolgs und beschleunigten Wachstums, Grenzen zu setzen:

Praktisch hat sie die Großunternehmen auf den im Vergleich zum Monopol in nur einer Branche noch viel aussichtsreicheren Wachstumspfad der Diversifizierung gewiesen und so die heutigen Kapitalkolosse mit hervorbringen helfen. Auch ist es kein Zufall, daß etwa der hier einschlägige Sherman-Act, einst erlassen gegen die erdrückende Übermacht der Rockefellerschen Standard Oil, zuerst wirklich angewandt wurde gegen den "monopolistischen Mißbrauch wirtschaftlicher Macht" — durch eine G e w e r k s c h a f t. Die Durchsetzung gesetzlicher Auflagen obliegt generell einer Sorte Behörden, die ihre Überwachungsaufgabe, wohl korrekt, als Auftrag verstehen, mit ihren "Kunden" ein gutes partnerschaftliches Verhältnis herzustellen — jüngstes Beispiel die wirklich hervorragende Zusammenarbeit der Atomenergiebehörde mit den Betreibern des Harrisburger Atomkraftwerks. Der Einfachheit halber wird da nicht selten vom Mittel der Personalunion zwischen beiden "Parteien" Gebrauch gemacht; die Bundesbank der USA, das Federal Reserve System, ist so ein Fall. Der Föderalismus mit seiner Regelung, daß die Ausgestaltung bundesstaatlicher Wirtschaftsgesetze den Einzelstaaten obliegt, sorgt überdies dafür, daß staatliche Restriktionen sorgfältig auf die besonderen regionalen Bedürfnisse des Kapitals abgestimmt werden — und daß umgekehrt anlagewilliges US-Kapital im eigenen Land eine muntere Konkurrenz der Einzelstaaten um die für eine Anlage günstigsten Konditionen und entsprechend schöne Vergleichsmöglichkeiten vorfindet.

Roosevelts "New Deal" — um noch diese zu ihrer Zeit als revolutionär beurteilte Konzeption zur Bewältigung der Folgen der Weltwirtschaftskrise zu erwähnen, die noch heute recht frei als Abschied vom Liberalismus interpretiert wird, obwohl sie schon in ihrem Namen ihr Ideal verrät: »Neuverteilung der Karten', auf daß das Spiel, ja welches wohl?, wieder angehe! — hat der Sphäre der Konkurrenz keineswegs einen staatlich verwalteten Wirtschaftssektor entgegen- oder zur Seite gestellt. Hier wurde sehr .vorübergehend, nämlich projektbezogen, als Sozialmaßnahme für Arbeitslose ein Arbeitsdienst organisiert und mit diesem — bis der Krieg anging und Sozialmaßnahmen erübrigte — allerlei Infrastruktur in Bereichen erstellt, wo wirklich nichts mehr spekulativ auszunutzen war — zu Recht berühmt die damals gegründete Tennessee Valley Authority, die sehr preiswert ein durch Raubbau an Waldbeständen verwüstetes Flußtal so wiederherstellte, daß die dort ansässige Aluminium Company of America heute über einen schönen Schiffahrtsweg und die nötigen Kraftwerke verfügt, und die sich dafür schärfsten Angriffen des Big Business gegen einen derart kommunistischen Anschlag auf die unternehmerischen Freiheiten ausgesetzt sah. Und Präsident Nixons Einfall, der "Stagflation" im Gefolge des Vietnamkriegs mit Lohn- und Preiskontrollen beizukommen — ein administrativer Eingriff in die Resultate der Konkurrenz, der sich jeder Einflußnahme auf deren Verlauf enthielt und auch ausdrücklich enthalten wollte —, ist am amerikanischen Wirtschaftsleben ziemlich spurlos vorübergegangen, weil sich niemand daran gehalten hat. Die überwachungsbehörde war eben von der geschilderten Art. überhaupt ist ,regulation' die Todsünde des Staates, die er auch regelmäßig — wenn er sie schon einmal hat begehen müssen — in ,deregulation bills' beichtet und büßt.

4. Sozialpolitik findet in den USA so statt, wie es sich für einen idealen ideellen Gesamtkapitalisten gehört: gar nicht weiter. Hier macht nicht der Staat sein Geschäft mit Zwangsabgaben seiner Bürger, sondern private Firmen machen mit ganz freiwilligen Beiträgen, mit denen die Versicherungsnehmer selbst ihr Existenzminimum im Bedarfsfall festlegen, Gewinn. Was seit Roosevelt als zwangsweise Sozialversicherung existiert, das sind zum einen einzelstaatliche Fonds für den Unterhalt von Arbeitslosen, deren Verwaltungen sich mehr auf Nachsicht gegenüber den nominell einzahlungspflichtigen Firmen verpflichtet wissen als auf Vorsorge für eventuell Entlassene, ganz zu schweigen von der Masse derer, die nie eine Arbeit gefunden haben. Zum ändern gibt es seither ein allgemeines Zwangssparen aufs Alter, das dem Staat zwar einen Überblick über seine Untertanen verschafft, die tragen seither nämlich alle eine Versicherungsnummer, den Untertanen aber kein Auskommen, wenn sie alt sind, weshalb Pensionsfonds der Betriebe und Versicherungsfirmen nach wie vor ganz anders im Geschäft sind als im Mutterland der Bismarckschen Sozialgesetze. Die unausbleiblichen Opfer des Arbeitslebens fallen der Sozialhilfe der Gemeinden zur Last, die es mit ihrer Caritas auch nicht gerade übertreiben, sowie der privaten Mildtätigkeit, die zur Konkurrenzgeierei sehr schön als moralische Verzierung paßt. Rückständig — wie europäische Sozialstaatsfritzen gerne behaupten — sind derlei Rückgriffe auf urtümliche Formen des Pauperismus und seiner Abwicklung keineswegs: Schließlich handelt es sich nicht um ein Entwicklungsland, das sich derart "luxuriöse" faux frais seiner Herrschaft weder leisten kann noch will, sondern um die entwickeltste Demokratie auf Erden, die ihre Bürger eben für reif genug erachtet, die sie betreffenden Wechselfälle der kapitalistischen Konkurrenz auf eigene Faust zu finanzieren, auch wenn sie es gar nicht können.

Der mit Arbeit gesegnete Bürger bekommt demnach eine vergleichsweise dickere Lohntüte in die Hand — auch der kostensparende Lohnsteuerabzug ,an der Quelle' ist im Land der freien, gleichen Bürger unbekannt —, ohne daß er groß Gelegenheit bekäme, ihres Inhalts froh zu werden — auch ohne die Hilfsdienste der Lohnbuchhaltung fürs Finanzamt will die Einkommenssteuer schließlich bezahlt sein, und nicht nur sie. Aus solcher staatlichen Regelung seiner privaten Finanzen hört ein richtiger Amerikaner genau heraus, wie sie gemeint ist: als Befehl, die Risiken, Lasten und Beschädigungen der eigenen Existenz durch um so intensiveren individuellen Einsatz zu bewältigen. Und diesem Befehl ist der Gehorsam der Massen sicher — auch wenn von einer Existenzsicherung durch die Konkurrenz beim amerikanischen Proleten so wenig wie bei jedem anderen die Rede sein kann. Die US-Gewerkschaften jedenfalls ergänzen die Konkurrenz der Lohnarbeiter nicht, wie früher die europäischen, um einen Zusammenschluß, der neben der Konkurrenz auf Ausgleich der Schäden dringt, die dem Lohnarbeiter aus seinem Konkurrieren erwachsen, und so das Ideal eines gesicherten Proletendaseins verfolgt. Sie ergänzen die Konkurrenz der einzelnen um eine kollektive Konkurrenz unterschiedlich definierter Fraktionen von Beschäftigten, dringen also darauf, daß die Lohnarbeit — so als wäre das durch die Lohnformen nicht ohnehin sichergestellt! — ordentlich als Konkurrenz ausgetragen wird und den eigenen Mitgliedern ein Erfolg winkt, der wenigstens vergleichsweise ein Erfolg ist—im Vergleich mit anderen Gewerkschaften, anderen Belegschaften, anderen Berufsgruppen, den Hilfsarbeitern vor allem und den Farbigen sowieso. Und wie es sich für Amerika gehört, ist dieser Vergleich für eine Minderheit tatsächlich mehr als eine Hoffnung. Die Ideologie des Aufstiegs innerhalb der Klasse hat dort eben ihre Realität.

Diejenigen, gegen die dieser Vergleich ausschlägt, haben dann weder eine Gewerkschaft noch rosige Aussichten. Als Arbeiter sind sie allemal aus dem Arbeitslosenheer zu ersetzen; Übergänge zur Gewalt, in früheren Zeiten von radikalen Minderheitsgewerkschaften, in jüngerer Vergangenheit durch militante Farbigenorganisationen unternommen, werden von der Staatsgewalt mit derselben Sorte Brutalität zerschlagen wie einst der Widerstand der Indianer — irgendwie handelt es sich ja auch um dieselbe Sorte Hindernis für die Durchsetzung der amerikanischen Gleichung von Recht, Erfolg und Gewalt. Im übrigen hat das organisierte Verbrechen als Nebenpfad zum ausgebliebenen individuellen Erfolg in dieser Gesellschaft gnadenloser Konkurrenz eine genauso ehrwürdige Geschichte wie der Alkoholismus, seit der Prohibition sogar so ziemlich dieselbe; und nachdem die Studenten die leichten Drogen als Sphäre eingebildeten Genusses populär gemacht haben, weil sie — ganz amerikanisch — ihr Bewußtsein für etwas ziemlich überflüssiges halten, hat sich unter den Paupers der wirkliche Rausch durch harte Gifte als Sterbehilfe für Menschen etabliert, die den Erfolg sowieso nicht mehr erleben. — Natürlich können die "Problemgruppen" auch wählen gehen, Farbige in den Südstaaten mittlerweise sogar ohne unmittelbare Lebensgefahr — wenn sie es der Mühe wert finden, sich von den paar mageren sozialstaatlichen Idealen überzeugen zu lassen, die irgendeiner der allesamt durch Industrie und Gewerkschaften gesponserten Wahlkandidaten ihnen mit Sicherheit auch und stets von neuem unterbreiten wird.

5. Daß Wahlkämpfe, und zwar bis hinauf zur Präsidentenwahl, nichts anderes sind und auch gar nichts anderen sein sollen als Werbekampagnen für bestimmte Figuren, von deren Wahlsieg irgendwelche hinreichend finanzkräftige Interessengruppen sich einen Vorteil ausrechnen, das ist in der führenden Demokratie der freien Welt seit jeher eine allgemein akzeptierte Selbstverständlichkeit. Eine Staatsgewalt, deren Souveränität sich darin betätigt, dem in der Konkurrenz Erfolgreichen alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, verträgt keine Konkurrenz von Ideologien und ideologisch festgelegten Programmen um ihre optimale Handhabung, und sie bedarf auch nicht der spezifisch europäischen Heuchelei, alle höchsten Werte der Nation hingen von deren leitenden Charaktermasken ab; sie will ganz pragmatisch den jeweils stärksten Koalitionen von Nutzen sein und deswegen von Menschen ausgeübt werden, die in ihrer Person für entsprechende Erfolge gewisse Garantien bieten. Was liegt da näher, als Wahlen zu reinen Tests des persönlichen Durchsetzungsvermögens des Kandidaten in der "politischen Arena" auszugestalten? Wahrhaft genial ist da die Verdoppelung des Wahlvorgangs bei der Vergabe des höchsten Staatsamts zu nennen: Wer Präsident werden will, muß sich erst in den ,primaries' als Virtuose in der demokratischen Kunst bewähren. Zutrauen zu seiner Eignung als Oberhäuptling der Staatsgewalt zu erwerben und — wie auch immer — Financiers und Wähler hinter sich zu versammeln, also seinen Konkurrenten abspenstig zu machen, wobei das Gelingen des letzteren wiederum nicht etwa der schamhaft verschwiegene Weg zur Macht, sondern der werbewirksamste Beweis für wirkliche Eignung auch zum höchsten Amte ist; und nur wer sich hier durchsetzt, der wird, entsprechend glaubwürdig, für den entscheidenden Wahlgang dem Volk als der Erfolgsmensch angeboten, der dem Kriterium des politischen Lebens, dem des Erfolgs, auch in Zukunft und im höchsten Staatsamt am vollkommensten gerecht zu werden verspricht. Andere Argumente kommen in den Wahlkämpfen nur vor, um dieses Argument zu unterstreichen; und die Parteien gibt es überhaupt nur als Wahlkampfmaschinen — als bundesweit agierende politische Organisationen daher auch nur einmal alle vier Jahre. Für sich als Organe der Macht werben die Parteien nicht, schon gar nicht mit einer Reflexion auf ideologisch paraphrasierte Klasseninteressen, wie es die Parteien in klassischen, also minder entwickelten Demokratien mit ihren .Grundwertdebatten' nicht lassen wollen; vielmehr suchen sie alle möglichen konkurrierenden Interessengruppen, die jedesmal neu beredet sein wollen, dazu zu bringen, daß sie einen gewissen Einsatz auf den Erfolg ihres jeweiligen Kandidaten wagen.

Wer dann den Wahlerfolg erringt, der hat ihn auch ganz und gar: Der Beamtenapparat steht ihm weitgehend zur Disposition, um die Aktivisten seines Wahlkampfes zu entschädigen; die Staatsfinanzen natürlich auch, damit die kaufmännische Rechnung seiner Sponsoren aufgeht; überhaupt gehen die Vollmachten des US-Präsidenten über die sonstiger demokratischer Führer weit hinaus. Die wirkliche Souveränität des Staatsoberhaupts, also die in ihm personifizierte Emanzipation der Staatsgewalt vom Bürgerinteresse, ist hier gerade dadurch noch weiter gediehen als in anderen Demokratien, daß er an nichts weiter gebunden ist als an seinen eigenen Erfolg — was natürlich auch seine Kehrseite hat: Einem Mißverständnis präsidentieller Souveränität, so als berechtigte sie zu Maßnahmen auch gegen die Interessen des Kapitals und seiner Bourgeoisie, ist von vornherein dadurch vorgebeugt, daß die Konkurrenten um seine Macht — allem voran die potentiellen Präsidentschaftskandidaten aus der eigenen Partei! — nie ruhen und auf einen auch nur scheinbaren Verstoß des Präsidenten gegen die elementare Gleichung ,Erfolg des Präsidenten = Erfolg der Nation = Erfolg des nationalen Business' nur lauern, um sofort ihre eigene Wahlpropagandamaschinerie anrollen zu lassen.

6. Von den Bürgern der USA geht traditionell ungefähr die Hälfte zur Wahl, wenn ein Präsident oder sonst was Besonderes ansteht, die andere Hälfte läßt es bleiben, und beide Hälften zeigen damit, wie die Politisierung des amerikanischen Bürgers aussieht.

Aus einer Wahlbeteiligung, deren jeder andere demokratische Staat sich schämen würde, macht in den USA sich niemand ein Problem: niemand entdeckt hier ein ,,politisches Vakuum", in das man mit einer neuen Partei erfolgreich hineinstoßen könnte, und erst recht befürchtet niemand eine Schwäche oder gar Gefährdung der amerikanischen Demokratie. Tatsächlich hat es hier auch mit der geringen Wahlbeteiligung durchaus seine demokratische Richtigkeit. Eben weil in dieser realen Musterdemokratie die Staatsgewalt sich so rein als Helfer der Konkurrenz betätigt, das Gemeinwohl so unmittelbar und ohne jedes schlechte Gewissen mit dem Erfolg der "Tüchtigen" in eins fällt, stellt keineswegs der Bürger höchste demokratische Reife unter Beweis, der beim Konkurrieren immerzu auf den Staat reflektiert, womöglich gar kritisch unter dem Gesichtspunkt, inwieweit die Staatsgewalt die Schäden und Gefahren der Konkurrenz von ihm selbst zu wenig und von allen anderen viel zu großzügig abwendet; der dann am Ende parteipolitische Alternativen ersinnt und sich auf jeden Fall bei seiner Stimmabgabe irgendwie so vorkommt, als würde da entschieden, was der Staat überhaupt treibt. Richtig politisiert ist vielmehr, wer im Konkurrieren aufgeht, seine Bemühungen um einigen Erfolg für sich als die beste Form staatsbürgerlicher P f l i c h t -erfüllung versteht und in der Gewißheit, daß sein höchstes Gut, die Freiheit, grundsätzlich bei jeder Regierung in den besten Händen ist, die Parteien gar nicht und das Wählen nicht gar so wichtig findet. Ein guter Amerikaner hat es nicht nötig, im Wahlakt den Schein der Abhängigkeit der Staatsgewalt von seinen Interessen zu feiern, weil er den allgemeinen ,,pursuit of happiness" ohnehin nur dadurch aushält, daß er seinen Materialismus ohne den kleinsten Rest in den Fanatismus der Konkurrenz übersetzt und damit schon, ganz aus freien Stücken, dem Befehl seiner höchsten Gewalten willfährt. Als Privatmann steht der gute US-Bürger für die brutale Gleichung gerade, daß seine materiellen Interessen unbedingt anerkannt sind = aber nur in der Gestalt des unbedingten Willens, die Gesetze des Privateigentums für sich auszunutzen, also in der Konkurrenz mit der eigenen Nützlichkeit das eigene Recht auf ein bißchen Wohlergehen zu beweisen. Eine Schamgrenze kennt er dabei nicht: Noch die Intimitäten des Familienlebens werden unter diesem Gesichtspunkt nachbarlicher Begutachtung ausgeliefert — und das in Freiheit, ohne spionierenden Blockwart.

Der Nationalismus des guten Amerikaners zeichnet sich also aus durch seinen eigentümlich privaten Charakter: Wo der ,,pursuit of happiness" als staatlicher Befehl auftritt und seine Befolgung, nämlich der Wille zum Konkurrenzerfolg, dem Bürger zur zweiten, wenn nicht überhaupt schon zur ersten Natur geworden ist, da fehlt jede Schranke zwischen dem individuellen und der staatsbürgerlichen Teilnahme am nationalen Egoismus. Man geht vielleicht nicht wählen, den "thanksgiving-day" feiert man aber schon, auch wenn man, als Individuum betrachtet, eigentlich nichts und niemanden hat, dem und wofür man "danke" sagen könnte. Geht man wählen, dann vergnügt man sich nur mit einer Frage: Welcher Kandidat verkörpert am gelungensten als Privatmensch jenen höchsten Egoismus, in dem alle konkurrierenden Bürger sich einig sind und wissen, den unbedingten, durch keinerlei höheren Gesichtspunkt getrübten, daher auch stets frommen Egoismus der Nation? Und wenn irgendwo auf der Welt der amerikanischen Größe etwas zuleide getan wird, dann verläßt ein guter Ami sich nicht nur darauf, daß seine Regierung das schon richten wird — stark genug hat er sie dafür ja gemacht —: Zusätzlich geht er selbst auf die Straße — nicht so wie der "fanatisierte islamische Mob" in Teheran, versteht sich, der einige Dutzend US-Bürger in ihrer Botschaft festsetzt, um die Auslieferung des Schah an die heimische Gerechtigkeit zu erpressen, sondern ganz demokratisch nimmt er sich den nächstbesten demonstrierenden Perser vor und prügelt ihm die Erkenntnis ein, daß ein Ami seine Nation liebt. Die Liebe des guten US-Bürgers zu seiner Nation ist insoweit notwendigerweise glücklich, als sie nicht vom Trotz der Schwäche getragen (und angekränkelt), sondern von der Arroganz des imperialistischen Erfolgs beseelt ist. In ihr macht ein solcher Mensch sich die Weltmacht seines Staates ganz wirklich zu seinem ureigensten Privat anliegen — die Erfüllung der kühnsten Wunschträume des Faschismus, den es deswegen als Herrschaftsform dortzulande nie braucht.

III. Amerikanische Souveränität

Nichts von dem, was wir in § l unserer Ableitung hingeschrieben haben, wird durch den US-Imperialismus widerlegt. Wie die USA den dort beschriebenen Notwendigkeiten nachgekommen, wie sie die auftretenden Schranken überwunden haben, ist der Witz. Natürlich sind die USA nicht als Weltmacht Nr. l auf die Bühne der Weltpolitik getreten; um so weit zu kommen, bedurfte es immerhin zweier Weltkriege. Aber von Anfang an zeichnete sich der US-Imperialismus dadurch aus, sich einiges mehr leisten, heißt immer auch, auf einiges mehr verzichten zu können, als seine imperialistischen Rivalen.

l. Auffällig ist zuerst, daß die USA niemals in ihrer Geschichte eine Außenhandelsnation gewesen sind, sich folglich für die Vergrößerung ihres nationalen Reichtums nie davon abhängig machen mußten, ob die ganzen Feinheiten einer internationalen Handelspolitik zu ihren Gunsten aufgehen. Daß die USA im 19. Jahrhundert sich ganz auf ihre eigenen Angelegenheiten beschränkt hätten, um dann in die Welt hinauszugehen, ist eine Legende. Außenhandel zu treiben, also für den Weltmarkt zu produzieren, war den Amis von vornherein eine selbstverständliche Aufgabe, nur so lohnte sich die Sache. Schon im 19. Jahrhundert bekamen die europäischen Staaten zu spüren, was Amerika heißt: wenn die Baumwolle und der Weizen aus den USA ausblieben, gab's in England Krisen. Es war also gerade die radikale Nutzung des Exports als Mittel der nationalen Reichtumsmehrung, die es den Amis ermöglichte, sich von den Zwängen des Außenhandels freizumachen. Eins hatten die Amerikaner, freiwillig oder mit gewaltsamer Nachhilfe des Krieges im eigenen Lande begriffen: ihr Reichtum war nicht einfach das Vieh, die Baumwolle oder auch die Maschinen, ihr Reichtum war ihr Kapital. An ihrer Handelsbilanz haben die Amerikaner nie abzulesen brauchen, wie es um sie steht in der Welt; Exportland Nr. l waren sie sehr schnell. Ihr Exportartikel war ziemlich klein und zeigte die Porträts amerikanischer Präsidenten. Und wenn auch niemand in Lateinamerika oder auch in Europa wußte, daß es sich dabei um Lincoln oder Jefferson handelte, wofür die Dinger gut waren, wußte er schon.

2. Von daher ist auch einsichtig, daß die USA nicht deswegen auf den Rang einer Kolonialmacht verzichtet haben, weil sie als ehemalige Kolonie Skrupel beim Geschäft der Unterwerfung fremder Völker gehabt hätten oder weil die alten Kolonialmächte ihnen nichts mehr übriggelassen hätten. Das Kolonialreich der USA blieb deshalb so lächerlich klein, weil sie die koloniale Aneignung fremden Reichtums, Raub und Ausplünderung, für ihren eigenen Reichtum nicht nötig hatten. Auch darin hatte ihre eigene Geschichte sie einiges gelehrt; in Sachen Kaufen ebenso wie in Sachen Zuschlagen. Der Vorwurf, den sich die Amis von Anfang an gefallen lassen mußten, sie seien die eigentlichen Kolonialherren, geht an der Sache vorbei. Der amerikanische Weg war eben von Anfang an radikaler; ihr Reichtum war das Mittel, sich überall in der Welt, angefangen vor der Haustür, das zu beschaffen, was sich lohnte — die Gewalt kam immer m i t dem Dollar. Liest man die Geschichte Mittel-und Südamerikas im späten 19. und im 20. Jahrhundert, so ergeben sich unterschiedliche Nuancen immer nur hinsichtlich der Frage, wieviel Reichtum der Dollar schon aufgesogen hatte, ehe die Marines kamen oder ein Präsident gestürzt wurde.

Kein Präsident der USA hat es sich nach 1900 nehmen lassen, seiner Außenpolitik ein eigenes Etikett zu geben: »Dollar Diplomacy', .Open-Door-Policy', .Good-Neighbour-Policy' oder ganz einfach .demokratische Außenpolitik' — und mit jeder dieser Abteilungen hat einer die Präsidentenwahl gewonnen und auch wieder verloren. Auch hier sind die Nuancen recht einfach; es sind Varianten über den Zynismus der Souveränität, sich auszusuchen, wie man ein Land zum Mittel des eigenen Reichtums macht, und dann eben dies Land —jetzt ein "guter Nachbar" — im Namen der Demokratie, die die Amerikaner immer mit drei Buchstaben schreiben, zu missionieren. Amerikanisch einfach gestaltet sich denn auch die bis heute nicht abgeschlossene Debatte in den USA selbst zwischen Kolonialisten und Anti-Kolonialisten, zwischen Expansionisten und Isolationisten usw. usw. Daß Amerika stark sein und die restliche Welt sich an Amerikas Stärke messen lassen solle, war und ist consensus omnium Americanorum. Welche Mittel dabei einzusetzen seien (die Amis wissen, daß auch Moral eine Waffe ist), inwieweit man sich die Probleme der restlichen Welt aufdrängen lassen sollte, darüber ließ sich streiten, und manchmal kam auch schon ein Präsident zu Fall.

Der Ausgang des ersten dieser Dauerstreits — Kolonialisten und Antis einigten sich darauf, daß die USA ein .Informal Empire' zu schaffen haben — zeigt, was die Emanzipation der Yankees von den kolonialen Formen der Herrschaft bedeutet. Das Empire der USA ist von ganz anderem Kaliber, überall in der Welt schaffen und verteidigen sie Einflußsphären: wohin sie Dollars exportieren, führen sie auch Waffen aus. Die Monroe-Doktrin, damals noch durchaus ein anti-koloniales Dokument, liest sich jetzt anders. "Amerika den Amerikanern!" ist jetzt die unüberhörbare Drohung an die Welt, die Souveränität der USA nicht zu verletzen.

Der Reichtum der USA ist seine Stärke nach außen, und die Stärke der USA ist überall in der Welt. Wann sie tangiert ist, liegt im Ermessen der USA. Mit dieser einfachen Botschaft haben die USA eine Errungenschaft des Mittelalters auf imperialistische Füße gestellt: die Ehre einer Nation gilt wieder etwas, aber jetzt erklärt nicht ein gekränkter Ritter die Fehde, sondern eine Nation, deren Feindschaft sich niemand leisten kann. Kein Anlaß ist zu banal, um nicht als Verletzung der Souveränität zu gelten — vorausgesetzt, es lohnt sich; und die Wiederherstellung der Ehre ist die rücksichtslose Gewalt. So hat schließlich auch der Krieg durch die USA eine neue Bedeutung gewonnen.

3. Zur Weltmacht sind die USA in zwei Kriegen geworden, die sie beide nicht angefangen, aber beide zum siegreichen Ende gebracht haben. Auch an den beiden Weltkriegen zeigt sich, daß die Amis sich ihren imperialistischen Weg aussuchen können. Welche Macht der Welt hätte sich sonst die Verrücktheit erlauben können, mitten in einem Krieg rein geschäftliche Interessen 2U verfolgen (wie die USA im Weltkrieg I). Die Amis haben nicht deshalb in den ersten Weltkrieg eingegriffen, weil die Monopole den Staat zur Rüstungsproduktion gezwungen hätten; auch nicht deshalb, weil der amerikanische Reichtum in Europa (Verschuldung der Entente) gefährdet gewesen wäre. Entgegen allen revisionistischen Vermutungen war es gerade umgekehrt; das Ausmaß des amerikanischen Reichtums erlaubte es den Amis, sich lange Zeit aus der Geschichte rauszuhalten, also sich die Freiheit der Entscheidung herauszunehmen. Der Angriff auf die Einflußsphäre und die Souveränität der USA, durch einen recht unbedeutenden Anlaß wie die Versenkung der Lusitania indiziert, gab den Grund für den Kriegseintritt ab und nicht nur das: jetzt hieß es "aufs Ganze gehen". Derlei Kriege werden zu einem radikalen Ende gebracht. Es ist denn auch kein Widerspruch, wenn der amerikanische Präsident Wilson 1916 den Wahlkampf mit dem Motto "He kept us out of war" gewann, 1917 den totalen Krieg erklärte ("Force, force, without stint or limit"), um die Welt , »sicher für die Demokratie" zu machen, und sich dann nach gewonnenem Krieg zu Hause die Kritik gefallen lassen mußte, sich mit Völkerbund und anderem zu sehr um die Ordnung der Welt zu bekümmern. Es gibt auch eine amerikanische Radikalität darin, der Welt nahezulegen, daß die amerikanische Verantwortung für sie nicht als Gefälligkeit anzusehen ist. Kein Wunder, daß nicht erst heute Undank der Welt Lohn für die USA ist. Als Idealismus mag nur der die Erklärung schelten, die USA seien um ihrer nationalen Ehre willen in beide Kriege eingetreten, der nicht begriffen hat, daß die Inkorporation des nationalen Reichtums in der Macht des Staates nach außen der Imperialismus ist — nirgends mehr als in den USA.

Am zweiten Weltkrieg läßt sich noch einmal zusammenfassend studieren, was den Unterschied ausmacht: ökonomisch so souverän zu sein, daß man es sich leisten kann, die Kriegswirtschaft als einen Teil der nationalen Industrie zu betreiben (gerade nicht alle nationalen Ressourcen dem einen und einzigen Zweck unterwerfen zu müssen \); politisch so souverän zu sein, daß man auch hier sich den Zeitpunkt des Eintritts selbst bestimmen kann (es war Pearl Harbor!); militärisch so souverän zu sein, daß man den Krieg nicht nur zu einem totalen Ende bringen, sondern auch die souveräne Willkür einer ganz neuen Sorte Sieger praktizieren kann: Dresden und Hiroshima; moralisch so souverän zu sein, den Krieg als Demokratisierung der Welt zu propagieren. Kurz: es sich leisten zu können, inmitten im Krieg die Verantwortung für die Welt nach dem Frieden zu übernehmen.

"To the American people the war brought such responsibility äs neither t'hey nor any other people had known before. Upon them came to rest, in large measure, the task of rehabilitating the war-ravaged worid, rebuilding the civilization of westem Christendom, strengthening democracy and sustaining free peoples everywhere on earth, and constructing an international organization strong enough to guarantee peace." (Nevins/Commager, A Pocket History of the United States)