Die deutsche Sozialpartnerschaft heute (3)
Apropos Zalando – Drangsale und Fortschritte in Sachen Personalführung

Im November letzten Jahres führt der Online-Versandhändler Zalando die betriebsinterne Bewertungsplattform „Zonar“ ein. Die Öffentlichkeit klagt das Vorzeigeunternehmen der deutschen Digitalwirtschaft daraufhin an, in die deutsche Arbeitswelt Methoden totalitärer Überwachung chinesischer Sozialkontrolle einzuführen, die Mitarbeiter zu Denunzianten zu erniedrigen und ein Klima allseitigen Misstrauens zu stiften, mit dem die Mitarbeiter sich wechselseitig unter Druck setzen und gesetzt werden.

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Deutsche Sozialpartnerschaft heute (3)
Apropos Zalando – Drangsale und Fortschritte in Sachen Personalführung

Im November letzten Jahres führt der Online-Versandhändler Zalando die betriebsinterne Bewertungsplattform „Zonar“ ein. Mit der neuen Technik ist jeder Mitarbeiter oben wie unten aufgefordert, sich und seine Kollegen positiv wie negativ zu bewerten, und wird mit dem Feedback der anderen versorgt. Auf Basis der Eingaben erstellt ein Algorithmus individuelle „Beschäftigten-Scores“, die Zalando dazu nutzt, Mitarbeitergespräche zu strukturieren, Beförderungen zu verteilen und gruppenspezifische Lohnsteigerungen zu gewähren bzw. zu versagen. (Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung, 20.11.19) Die Öffentlichkeit klagt das Vorzeigeunternehmen der deutschen Digitalwirtschaft daraufhin an, in die deutsche Arbeitswelt Methoden totalitärer Überwachung chinesischer Sozialkontrolle einzuführen, die Mitarbeiter zu Denunzianten zu erniedrigen und ein Klima allseitigen Misstrauens zu stiften, mit dem die Mitarbeiter sich wechselseitig unter Druck setzen und gesetzt werden.

Der hohe Ton der Beschwerden im Namen der freiheitlichen Moral stellt sich dabei ignorant gegen die altbekannten Aufgaben, mit denen sich Personalchefs moderner Unternehmen herumschlagen – und die den Kritikern mit ihrem feinen Sensorium für die Unterdrückung mündiger Mitarbeiter überhaupt nicht fremd sind. Mit seinen interessanten Arbeitsbereichen, Aufstiegschancen und spannenden persönlichen Herausforderungen im Angebot hat das Unternehmen für gutes Geld Arbeitskräfte gekauft. Als solchen verlangt es seinen ‚Mitarbeitern‘ mit gutem Recht Leistung ab, die in der bunten Arbeitswelt in sämtlichen Abteilungen überhaupt nur ein Erfolgskriterium kennt, das ihnen kein Anwalt menschlicher Arbeitsverhältnisse je würde bestreiten wollen: Ein Überschuss in Geldgestalt muss her. Und vom Standpunkt des Käufers einer solchen Dienstleistung ist und bleibt das Unternehmen zu Recht misstrauisch, ob der fällige Einsatz auch im Sinne der Firma erbracht wird, weil noch in der besten Betriebsfamilie kein Zweifel daran besteht, dass die Mitglieder der Belegschaft ihren Dienst letztlich doch ganz eigennützig antreten. Ihr Interesse an ihrer Arbeit zielt aufs zu verdienende Geld und fällt mit den Leistungsansprüchen des Betriebs allemal nicht zusammen. Nur gerecht, dass das Unternehmen entsprechende Vorgaben macht, Arbeitsplätze für einen möglichst hohen „Output“ einrichtet und darüber, dass der zustande kommt, möglichst wirksam Kontrolle ausübt – damit die Zeit, die die Angestellten im Betrieb antreten, nicht dessen Zeit verschwendet, die schließlich Geld ist und kostet. Diesen Herausforderungen einer solide wirtschaftenden Unternehmensführung stellt sich ein innovatives Unternehmen wie Zalando natürlich mit der fortschrittlichsten digitalen Technik, die seine Spezialisten fürs Programmierwesen zustande bringen.

An den Logistikstandorten sorgt Zalando zwar einerseits sehr traditionell mit anspruchsvollen Leistungsvorgaben, wie viele Pakete pro Stunde von jedem Mitarbeiter zu bearbeiten sind, grundsätzlich schon für eine unternehmensfreundliche Arbeitsdichte. Mit den nachzählbaren Stückzahlen am Ende des Arbeitstages ist die Sache aber noch lange nicht erledigt. Damit die Beschäftigten im optimierten Rhythmus der ausgehenden Bestellungen und eingehenden Lieferungen und Retouren auf Hochtouren funktionieren, sind sie mit „mobilen Datenspeichern“ ausgestattet, die vollautomatisch eingehende Bestellungen und Lieferungen mit dem nächsten Mitarbeiter zusammenschalten, damit die Laufwege verkürzt, die Arbeitszeit pro Stück vermindert und jede Standzeit außerhalb der Pausen vermieden wird. Mit dem Gerät wird obendrein das Pensum jedes Einzelnen in jedem Arbeitsschritt genauestens erfasst, gemessen, protokolliert, verglichen und bewertet. Das liefert die unbestechliche Basis für die mit gutem Grund allseits gefürchteten „Mitarbeitergespräche“, zu denen die Beschäftigten im Vierwochentakt, nach krankheitsbedingter Ausfallzeit oder bei sonstigem „Bedarf“ von ihren Vorgesetzten herbeizitiert werden, um die Leistungsbereitschaft wachzuhalten.

In den Büros der Firmenzentrale steht das Unternehmen mit seinem Anspruch auf geldwerte Leistung seiner Belegschaft allerdings vor ganz eigenen Herausforderungen. Der umfassende Aufgabenkatalog marktwirtschaftlicher Planung für sichere Erfolge in der Konkurrenz, der in den Abteilungen für Personal- und Buchführung, Kundenpflege und Liquiditätsmanagement abgewickelt wird, ist bei allen Fortschritten der Technik einfach nicht in derselben Weise in den vorgegebenen Takt maschineller, womöglich algorithmengesteuerter Arbeitsabläufe einzuspannen oder in nachzählbaren Stückzahlen zu bemessen wie in der Logistik. Die Aufsicht über die frist- wie pflichtgemäße Erledigung der täglich anfallenden Aufgaben – Engagement und Arbeitsmoral, Pünktlichkeit und Höflichkeit gegenüber Mitarbeitern, Vorgesetzten und Kunden – ist von daher so dringlich wie der Sache nach kompliziert. Die Arbeit der Angestellten in den Büros wird also bei allen technischen Fortschritten, die es auch auf diesem Feld heutzutage gibt, im Wesentlichen ganz antiquiert von den je übergeordneten Abteilungen in der Lohnhierarchie kontrolliert.

Die Sicherstellung betrieblicher Leistungsvorgaben per Kontrolle durch die interne Hierarchie von Vorgesetzten hat jedoch so ihre Nachteile. Die Abteilungs- oder Teamleitung kann ihre Augen „nicht überall“ haben. Obendrein sind die Vorgesetzten allemal verdächtig, ungerechtfertigte Vorteile zu gewähren, wo sich Angestellte mit der passenden Mischung aus demonstrativem Engagement und Arschkriecherei bei ihnen beliebt machen. Darunter leidet im Zweifel das Betriebsklima, und die allgegenwärtige Unzufriedenheit der Belegschaft artet im schlechtesten Fall ganz kontraproduktiv in „Mobbing“ aus. Das wirft notwendigerweise die Frage auf, wie sehr den Vorgesetzten als Adressen des allgegenwärtigen Opportunismus der Untergebenen mit ihren Leistungsberichten und Empfehlungen überhaupt zu trauen ist – für die Belegschaft unten sowieso, ganz entscheidend aber für die zuständigen Aufpasser über die Tauglichkeit der Unterchefs.

Leistungskontrolle, garantiert objektiv, transparent und überparteilich ist insofern nicht bloß das immanente Ideal, sondern laufendes Bestreben jeder ordentlichen Betriebsführung und im Zeitalter der Digitalisierung eine Herausforderung für die Programmierkunst der entsprechenden Fachleute. Zalandos digitale Bewertungsplattform für die Belegschaft, in die umfassend aufgenommen wird, was Kollegen, firmeninterne Kunden und Führungskräfte über einen denken, verspricht hier definitiv Fortschritte. Die liebe Gewohnheit anständiger Mitarbeiter, mit ihrem immer wachen Konkurrenzgeist das eigene Abschneiden unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit in gediegene Meinungen darüber zu überführen, ob die Kollegen überhaupt etwas und was die im Vergleich zu ihnen so taugen, wird durch die Plattform im Sinne der Firma produktiv gemacht. Dabei sichert eine smarte Betriebsführung mit dem Gebot, jedem Lob ergänzend einen Tadel an die Seite zu stellen, zu jeder Schwäche eine Stärke einzufüttern, die Befragungsergebnisse sowohl gegen falsch verstandene Kollegialität wie gegen womögliche Missgunst ab. Für Objektivität ist also gesorgt. Und weil jeder auf jeden immer und überall aufpasst, mit seinen Eingaben einen ebenso wertvollen Beitrag zur Beurteilung der Kollegen leistet wie alle anderen und sich auch von denen bewerten lassen muss, ist die Veranstaltung außerdem unschlagbar fair. Sogar die Vorgesetzten sind in beide Richtungen eingebaut in die Vereinnahmung der Belegschaft als allpräsentes Kontrollorgan der Chefetage, sodass es garantiert egalitär und demokratisch zugeht, wenn die Angestellten angestachelt werden, ihren Teamleitern zu helfen, die Leistungsansprüche der Firma noch effektiver gegen jeden Schlendrian der Mitarbeiter geltend zu machen.

Was da im Jargon modernen Managements als 360-Grad-Feedbackkultur angepriesen wird, ist der Sache nach die zeitgemäße unternehmerische Ausnutzung des Willens lohnabhängiger Menschen, sich den Vergleich, den das Kapital mit ihnen anstellt, als permanente Bewährungsprobe auf redlich erworbenen Erfolg zurechtzulegen, an dem sie sich selbst und einander unablässig vergleichen. Die Vereinnahmung der Belegschaft als allpräsentes Kontrollorgan der Chefetage ist insofern konsequent und die entscheidende Verbesserung in Sachen Personalführung.

Kritisch dagegen äußert sich Walter-Borjans, ausweislich seines Parteibuchs ein aufrechter Freund guter und immer ‚besserer Arbeit‘, über diese fortschrittliche Anwendung moderner IT: So macht Digitalisierung, die enorme Chancen für bessere Arbeit bietet, den Menschen Angst. (SZ, 21.11.19) Was muss das deutsche IT-Vorzeigeunternehmen eigentlich noch tun, um Anerkennung zu finden für den erfolgreichen Beweis, dass eine Digitalisierung, die den Menschen Angst macht, enorme Chancen für bessere Arbeit bietet?