Die deutsche Sozialpartnerschaft heute (1)
Arbeiterbewegung in nationaler Mission: Wie Deutschlands Industriegewerkschaften sich um den Geschäftserfolg der nationalen Unternehmerschaft kümmern

Der erste Artikel einer Reihe über den Stand der Auseinandersetzungen, die die Gewerkschaften ganz ohne Krankheit & Krise offensichtlich immerzu gegen das Kapital führen müssen, damit ihre Leute im gewöhnlichen Getriebe überhaupt zurechtkommen mit Lohn und Leistung. Das gehört nämlich nicht zu den Selbstverständlichkeiten marktwirtschaftlicher Normalität, ist darum immerzu Gegenstand des Kampfes – und es ist darum umso verrückter, dass Deutschlands große Industriegewerkschaften den vom Standpunkt schwarz-rot-goldener Sozialpartnerschaft führen.

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Die deutsche Sozialpartnerschaft heute

Das muss man in Deutschland glatt in Erinnerung bringen:

Gewerkschaften gibt es, weil Lohnarbeit im System namens Marktwirtschaft eine ohnmächtig abhängige Existenzweise ist; abhängig von einem machtvollen, nämlich mit der Kommandomacht des Geldes versehenen Unternehmerinteresse an Hilfskräften für anspruchsvoll kalkulierten Geschäftserfolg, das dem Existenzinteresse der Abhängigen entgegensteht. Deren Notlage, die in der ewigen Sorge um den Arbeitsplatz dauernd präsent ist, nutzt das Unternehmen in einer Weise aus, die das Leben der lohnabhängigen Hilfskräfte umfassend, von Anfang bis Ende und bis ins Detail, bestimmt: als einen Widerspruch zwischen verdientem Geld, das nie wirklich langt, und freier Zeit, die auch nie langt.

Gewerkschaft ist der Zusammenschluss von Betroffenen, die Rücksichtnahme auf ihre Interessen erstreiten, indem sie im Kollektiv den Spieß umdrehen und per angedrohter, notfalls mit wirklicher Arbeitsverweigerung die Abhängigkeit der Geschäftserfolge der Unternehmer von ihrer Dienstbereitschaft geltend machen. Ihre Schranken findet diese Gegenwehr nicht nur in der Notwendigkeit, wieder für Geld arbeiten zu müssen, die durch vorweg angesparte Streikgelder nur sehr kurzfristig außer Kraft zu setzen ist. Diese Notwendigkeit selbst wird gar nicht in Frage gestellt. Gewerkschaftliche Gegenwehr zielt auf Korrekturen an den Ergebnissen abhängiger Arbeit für die, die sie leisten, reproduziert also ihren Ausgangspunkt, ihre eigene Notwendigkeit.

In Deutschland muss man das in Erinnerung bringen – wegen dem, wozu Deutschlands mächtigste Gewerkschaften diesen Widerspruch proletarischer Gegenwehr inzwischen fortentwickelt haben. Davon legen gerade die letzten Tarifrunden der Vor-Corona-Zeit Zeugnis ab.

Arbeiterbewegung in nationaler Mission: Wie Deutschlands Industriegewerkschaften sich um den Geschäftserfolg der nationalen Unternehmerschaft kümmern

1. Die Chemie-Runde: „Qualitative Fortschritte“ für das Proletariat einer deutschen Edelindustrie – oder : Was sich mit dem Widerspruch von Zeit und Geld alles anstellen lässt

Der unternehmerische Standpunkt, mit dem die Gewerkschaft sich dieses Jahr einmal mehr konfrontiert sieht: Nullrunde. Mehr lässt der Gewinnausblick nun einmal nicht zu; der ist nach den unternehmerischen Fürsprechern im Handelsblatt nämlich alles andere als rosig. Zu den Handelskonflikten auf dem Weltmarkt gesellt sich ein Nachfragerückgang aus der Industrie, vor allem aus der Autobranche; deren ‚Transformation‘, gerade erst in Gang gekommen, verspricht nachhaltige Unsicherheit für die Chemie-Bilanzen. Forderungen nach mehr Geld haben daher ihr Recht verloren; die bedeuteten ein noch größeres Minus in der Bilanz; Verbesserungen der Lage der Arbeitskräfte wären ein noch weiterer Abzug von dem, worauf es einem Unternehmen ankommt – und wovon auch die Arbeitskräfte selbst leben... Klar, so reden Unternehmen immer, erst recht, wenn Tarifverhandlungen anstehen. Sie übersetzen ihr Interesse in einen Sachzwang, der ihnen viel abverlangt; was sie ihren Dienstkräften an Opfern abverlangen, ist daher ein Gebot der Vernunft, alternativlos und unwidersprechlich. Das alles kann man den Arbeitgebern Deutschlands glauben oder auch nicht, auf die Überzeugungskraft solcher Rechtfertigungen kommt es ohnehin nicht an. Sie haben schließlich die Macht ihres Geldes und die abhängige Ohnmacht ihres Gegenübers auf ihrer Seite. Aber deswegen haben Chemiearbeiter ja auch eine Gewerkschaft.

Die geht dieses Jahr – einmal mehr neue Wege. Nämlich zunächst ganz ohne konkrete Lohnforderung und ohne bezifferte Laufzeit in die Tarifrunde. Die Abhängigkeit ihrer Mitglieder vom Gewinninteresse ihrer Arbeitgeber anerkennt sie so sehr, dass sie es nicht nur als maßgebliche Größe ihrer eigenen Forderungen übernimmt, sondern sich auch die Sprachregelungen zu eigen macht, mit denen es zu einer Sachlage verklärt wird, an der niemand, auch nicht die Kollektivmacht einer Gewerkschaft vorbeikommt. Auch die IG BCE schwafelt von einem enger gewordenen tarifpolitischen Spielraum, von wirtschaftlich herausfordernden Zeiten, und meint dabei nicht die Herausforderungen, die ihre Mitglieder in solchen Zeiten zu bewältigen haben, sondern die, für deren Bewältigung sie in Anspruch genommen werden: Uns ist klar, dass die Branche nicht mehr so rosig dasteht wie vor einem Jahr. (Ralf Sikorski, IG BCE) Was an der Lohnfront herauskommt, ist danach: ein Abschluss, dessen Belastung für das Unternehmensbudget zur Zufriedenheit des Chemie-Arbeitgeberverbands BAVC historisch sehr niedrig ausfällt. Die Tarifpartner einigen sich auf eine rekordverdächtige Laufzeit von 29 Monaten mit einer Einmalzahlung und jährlichen Erhöhungen von 1,5 % in 2020 und 1,3 % in 2021, aller Erwartung nach also auf Reallohnverluste.

Aber das ist keineswegs das letzte Wort in dieser Tarifrunde, sondern eher die Nebensache. Die IG BCE hat es dieses Jahr auf den Beweis angelegt, dass sich auch in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten tarifpolitische Innovationen für die Beschäftigten durchsetzen lassen. Sie macht von Anfang an deutlich, dass ihr qualitative Tarifforderungen ... besonders wichtig sind. Und sie erzielt tarifpolitische Innovationen in zwei Angelegenheiten, die – so heißt es – den Beschäftigten viel mehr Sorgen bereiten als der Geldmangel: Arbeitsverdichtung und Sicherheit im Alter.

Ein persönliches Zukunftskonto

Gegen die Arbeitsverdichtung, den beklagten Umstand, dass die Belastung im Job seit Jahren wächst, wird ein ‚Zukunftskonto‘ geschaffen, das mit zusätzlichen freien Tagen zur individuellen Verfügung der Beschäftigten bestückt wird. Im ersten Jahr zwei, dann drei und schließlich im dritten Jahr fünf zusätzliche freie Tage im Jahr sollen die zunehmende Belastung verkraftbar und mehr Zeit für die Familie oder pflegebedürftige Angehörige ermöglichen.

Die Gewerkschaft versieht diese Errungenschaft mit dem Motto: Zeit ist das neue Geld. Den Unternehmen jedenfalls ist daran gar nichts neu. Sie praktizieren diese Gleichung schon immer – die beklagte Arbeitsverdichtung zeugt davon, die Arbeitszeitkonten mit ihren Millionen Überstunden auch. Sie können nicht lang genug arbeiten lassen und nicht genug Arbeit in jede dafür vorgesehene Stunde packen, sobald und sofern sich die Sache lohnt. Der Lohn ist für sie eine lohnende Kost – lohnend zu machen durch eine möglichst intensive Arbeitsleistung, die wiederum durch möglichst wenig Geld umso lohnender wird. Indem ein Unternehmen seine Gleichung von Zeit und Geld an seinen abhängigen Bediensteten vollstreckt, lässt es sie ihren Widerspruch zwischen Zeit und Geld, den Widerspruch ihrer Einkommensquelle spüren: Je mehr Zeit sie im Betrieb verbringen, desto mehr Zeit brauchen sie, um sich davon und dafür zu erholen; sie haben dann zwar mehr Geld, dafür aber weniger Zeit, mit ihm etwas anzufangen. Und umgekehrt: Je mehr Freizeit, desto weniger Geld, um mit ihr etwas anzufangen. Diesen Widerspruch müssen Lohnarbeiter bewältigen, sich in ihm entscheiden. Die Erfahrung lehrt: Die Entscheidung fällt in aller Regel nicht so aus, dass zwar das eine reicht, das andere aber nicht; es bleibt bei einer Abwägung zwischen zwei defizitären Posten. Und die Entscheidung selbst wird ihnen praktisch ohnehin großteils abgenommen; die Lohnarbeiter richten sich nach dem, was ihr Arbeitsplatz erfordert und hergibt, und sie schauen, wie sie damit zurechtkommen. Eines steht dabei jedenfalls fest: Den proletarischen Widerspruch zwischen Zeit und Geld bekommen sie definitiv nicht so zu spüren, dass ihr Bedarf nach mehr Geld mit ihrem Bedarf nach mehr Zeit irgendwie austauschbar, das eine durch das andere irgendwie zu ersetzen wäre.

Ihre Gewerkschaft sieht das aber offenbar so. Und ihren Standpunkt einmal eingenommen, lässt sich bei der Bewältigung dieses Widerspruchs eine Menge Freiheit erobern: Das neue Zeitguthaben für einen aktuellen Bedarf nach Freizeit zu nutzen, ist nämlich nur die erste von insgesamt acht Optionen, die die ausgehandelte Regelung vorsieht. Die Beschäftigten können die freie Zeit auch auf einem Langzeitkonto parken – schließlich wird die weiter zunehmende Belastung im Job mit dem ebenfalls zunehmenden Alter nicht leichter auszuhalten. Wenn es gut läuft, verschafft eine sparsame Bewirtschaftung des Zeitkontos den Vielbelasteten sogar das Luxusgut einer Extraportion Zeit außer der Reihe. Man kann das Zeitguthaben auch für Weiterbildung benutzen – das ist sogar ziemlich notwendig, weil damit zu rechnen ist, dass der belastungsreiche Job nicht immer, nicht einmal sehr lange der ihre bleiben wird. Da tun sie gut daran, sich schon jetzt für die zukünftigen Ansprüche des Unternehmens an ihre Leistung zu qualifizieren. Welche, erfahren sie allerdings erst später – das haben sie also zwar nicht in der Hand, aber umso mehr Grund, aktuelle Zeit für die Chance auf zukünftiges Geld zu opfern. Mehr Geld, das sie nun in der Form von mehr Zeit haben, brauchen sie freilich auch noch. Beides können sie nicht haben, aber sie können sich auch entscheiden, ihre Zeit in mehr Geld rückzuverwandeln, es sich auszahlen zu lassen und ihre kostbaren freien Tage lieber im Betrieb zu verbringen, um mehr davon zu verdienen, da es jetzt schon nicht reicht. Das Geld können sie alternativ für die Altersvorsorge aufsparen – im Alter werden sie mal tatsächlich die Zeit haben; und wenn sie später auch das Geld haben wollen, um mit ihr etwas anzufangen, dann sollten sie sich die freie Zeit lieber nicht jetzt leisten. Vorsorge braucht natürlich auch die Gesundheit – die kostet schließlich auch Geld, und dass man die behält, ist gerade bei der dichter werdenden Arbeitszeit nicht ausgemacht. Bedacht sein will ja auch, dass die Belastung in eine Berufsunfähigkeit ausarten könnte, in der man dann gar nicht mehr Geld verdienen kann – noch so ein Wechselfall des Arbeitslebens, für den vorzusorgen ebenso vernünftig wie kostspielig ist. Zusammen mit der Vorsorge für den Pflegefall, von der noch die Rede sein wird, bieten die Alternativen des Zukunftskontos eine lockere Übersicht über den aktuellen Stand der verschiedenen Drangsale eines deutschen Edelproletariers. Verlangt ist von ihm die Auswahl einer Option zu Lasten aller anderen, also die Entscheidung, an welcher Front Entlastung am dringendsten ist. Und damit genau das, was die moderne Armut auch von Elitearbeitnehmern überhaupt ausmacht: das permanente Sich-Einteilen mit den beschränkten Ressourcen in Sachen Geld und Zeit.

Welche der acht Optionen dem Beschäftigten überhaupt zur Auswahl stehen, entscheidet sich daran, welche Vorauswahl von mindestens zwei Optionen die Betriebsparteien treffen. Das hängt davon ab, ob die Optionen mit den aktuellen Notwendigkeiten des jeweiligen Unternehmens verträglich sind. Dessen Bedarfslage hat Vorrang vor den Kompensationsbedürfnissen der Beschäftigten, die die betriebliche Kalkulation mit ihrer Leistung und Entlohnung erzeugt. Das gilt insbesondere für die neue Währung ‚Zeit‘: Voraussetzung für zusätzliche freie Tage ist, dass das betrieblich notwendige Arbeitsvolumen sichergestellt ist. Dieser Sicherstellungsbedarf der Arbeitgeber ist dann auch der Motor weiterer Fortschritte der Tarifparteien in Sachen Arbeitszeit: Im Gegenzug können die Unternehmen individuell längere Arbeitszeiten vereinbaren, es wird mobiles Arbeiten erleichtert, indem die vorgeschriebene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen von elf auf neun Stunden verkürzt werden kann. Und wenn die Tarifparteien schon dabei sind, das für die Betriebe notwendige Arbeitsvolumen zu sichern, vereinbaren sie gleich noch, die geltende Regelung für Altersfreizeiten zu überprüfen. Die sieht bislang noch eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit für Beschäftigte ab 57 und für Schichtarbeiter ab 55 um 2,5 resp. 3,5 Stunden vor und passt einfach nicht in die Zeit, i.e. zum Bedarf der Unternehmen nach Arbeit: Aus Sicht der Arbeitgeber ist eine Neujustierung dringend geboten, da die Regelung aufgrund des demographischen Wandels zunehmend zu Engpässen führt. So gehört beides auf ewig zusammen: Die Fortschritte des arbeitshungrigen Regimes über Jung und Alt im Betrieb und die gewerkschaftlich errungenen Instrumente, um damit klarzukommen.

Eine tarifliche Pflegezusatzversicherung

Eine Sorge liegt der IG BCE unter der Rubrik Sicherheit im Alter besonders am Herzen: die Frage der Pflegebedürftigkeit. Kein Wunder: Ob es den Arbeitnehmer selbst oder seine Angehörigen trifft, das ‚Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit‘ ist für Mitglieder der besonderen Spezies der Lohnabhängigen nicht privat zu bewältigen – so etwas gibt ein Lohn nicht her, der sich mit der Gewinnrechnung vertragen muss, für die er überhaupt gezahlt wird. Auch nicht mit Hilfe der gesetzlichen Pflegeversicherung, die einen Bestandteil desselben Lohns für die Bezahlung der fälligen Leistungen ein- und heranzieht; die hinterlässt vielmehr die berühmte ‚Pflegelücke‘. Deren Schließung durch eine zusätzliche private Versicherung verträgt der verbleibende Lohn auch nicht, siehe Ausgangspunkt. Und was den Fall zu pflegender Angehöriger betrifft – da scheidet in Zukunft die bislang übliche kostensparende Umgangsweise des Chemieproletariats immer eindeutiger aus:

„In der Vergangenheit ist bei uns hier in Deutschland sehr viel über Familienpflege zu Hause gelaufen, das wird so nicht mehr überall funktionieren. Die Lebensentwürfe und die gesellschaftlichen Strukturen haben sich verändert.“ (Lutz Mühl vom BAVC)

Der muss es wissen, repräsentiert er doch die Figuren, die die maßgeblichen Strukturen vorgeben: mit der Zahlung von Löhnen, von denen ein einziger kein Familieneinkommen abwirft, sodass der Lebensentwurf namens ‚Doppelverdienst‘ Familienpflege zu Hause unmöglich und die Pflegelücke der Angehörigen zum Problem macht. Dieser Unterfall proletarischer Armut ist anno 2020 gesellschaftliche Normalität.

Die geht die Chemiegewerkschaft auf tatsächlich kreative Weise an: durch die Schaffung einer arbeitgeberfinanzierten Pflegezusatzversicherung inklusive der Option, auf eigene Kosten die Betroffenheit durch einen Pflegefall in der Verwandtschaft abzusichern. Da hat sich die kollektive Macht der gewerkschaftlich organisierten Chemiearbeiterschaft mal wirklich bewährt – zwar nicht als eine Macht in dem Sinne, die Rücksicht auf ihre Notwendigkeiten erzwingt, aber durch ihre kollektive Masse immerhin als eine respektable Geschäftsgelegenheit für Versicherungsunternehmen, was ihnen Konditionen beschert, die sie als Einzelne nie erreicht hätten: Den Individuen erspart die Kollektivlösung eine individuelle Gesundheitsprüfung, die womöglich den Zugang zu einer Versicherung ganz versperrt hätte. Und bei der Vielzahl von Versicherten, die ganz ohne Vermittlungsgebühr dem privaten Versicherungsgeschäft zugeführt werden, lässt sich mit geringem finanziellen Aufwand von monatlich 33,65 Euro immerhin eine Versicherungsleistung von 300 Euro im Falle ambulanter und 1000 Euro bei stationärer Pflege abdecken. Behoben ist das Problem damit zwar auch nicht, aber dafür gibt es ja die Möglichkeit, den Zukunftsbetrag zur Aufstockung zu verwenden.

So innovativ, nämlich als Lückenbüßer des Sozialstaats und als Organisator einer attraktiven Kundenmasse für die Versicherungsindustrie, bewährt sich die Chemiegewerkschaft als Vertretung des Chemieproletariats. Und sie hat dafür sogar ihren Tarifpartner gewonnen, den die Schwierigkeiten bei der Einteilung des Lohns, den er seinen Arbeitern zahlt, in der Regel nichts angehen: Er zahlt Löhne, okkupiert Arbeitszeit und Kaufkraft, beteiligt sich aber nicht am privaten Zurechtkommen mit alledem:

„Intern war beim BAVC lange umstritten, warum Arbeitgeber sich überhaupt um dieses Thema kümmern sollen. Am Ende setzte sich aber die Ansicht durch, dass man als Tarifpartner so gesellschaftliche Verantwortung übernehmen kann.“ (Handelsblatt, 22.11.19)

Bei den Arbeitgebern hat sich offenbar die Ansicht durchgesetzt, dass sie selbst ein Problem mit dem Pflegerisiko haben, zu dem sie mit ihren Leistungsansprüchen und ihrer Bezahlpraxis einen stattlichen Beitrag leisten – ein Problem, das sich auf die Art gut, nämlich kostengünstig angehen lässt: Wenn die Bewältigung der ganz privaten Notwendigkeiten ihrer Beschäftigten mit knappen Mitteln und knapper Zeit auf Kosten ihrer Verfügbarkeit als Arbeitskräfte zu gehen droht, dann sichern sie sich ihre Verfügung über „Menschen im arbeitsfähigen Alter“. Das betrifft einerseits ganz direkt die Menschen, die sie als Fachkräfte in den Unternehmen angestellt haben und die dank der rechtzeitig gezogenen Familien-Aufstockungs-Option ihrer tariflichen Pflegezusatzversicherung möglichst auch im Falle pflegebedürftiger Angehöriger weiterarbeiten können sollen. Andererseits und überhaupt sichern sie in Zeiten eines allgemeinen Fachkräftemangels mit einem weiteren sozialen Baustein den Arbeitskräftenachschub der Branche in Konkurrenz zu anderen Arbeitgebern: Genau wie die Altersvorsorge, genau wie sehr gute Möglichkeiten zur Weiterbildung oder die hervorragende Bezahlung in unserer Branche kann auch eine betriebliche oder tarifliche Pflegeversicherung ein positives Argument zur Gewinnung von Fachkräften sein.

So sehen sie aus, die tarifpolitischen Innovationen, mit denen wir die Arbeitsplätze in der Branche attraktiver machen wollen. Wir übernehmen gewissermaßen den Job der Arbeitgeber. Darüber sollten sie froh sein, anstatt zu klagen. (IG BCE-Chef Michael Vassiliadis, Tagesspiegel, 28.10.19)

2. Die abgekürzte Metall-Runde in Zeiten der ‚Transformation‘: Einsatz für den Erhalt von Arbeitsplätzen, also für die Zukunft der Ausbeutung

Die andere große Industriegewerkschaft Metall widmet sich ebenfalls herausfordernden Zeiten. Die bereiten den Metallarbeitern derzeit eine Existenzsorge der fundamentaleren Art, weil zur Existenz eines Lohnarbeiters auch das gehört: Zwar wird ihre Arbeit als Produktionsfaktor geschätzt, aber weil ihr Lebensunterhalt eine Kost darstellt, sind Unternehmen ständig damit befasst, sie zu reduzieren, im Idealfall ganz zu beseitigen. Dass sie zu diesem Zweck eine technische Revolution nach der anderen veranstalten, um mit der Steigerung der Produktivität der Arbeit jede Menge Arbeiter und damit deren Lebensunterhalt zu einem überflüssigen Posten in ihrer Bilanz zu machen – damit haben die deutschen Arbeitergenerationen gerade in dieser Branche reichlich Erfahrung gemacht.

Diesmal wird die Revolution ‚Digitalisierung‘ getauft, die ‚E-Mobilität‘ gleichzeitig als Zukunft entdeckt. Da haben die Metallarbeiter es mit einer ambitionierten Geschäftsoffensive der vielen großen und kleinen Champions der deutschen Leitbranche zu tun – mit der automobilen Schlüsselindustrie vorneweg. Damit die Champions von heute auch auf den Geschäftsfeldern der Zukunft den Ton angeben, greifen sie zu Maßnahmen, für die es keine neuen Termini gebraucht hat: zur ‚Rationalisierung‘ ihrer Produktion durch Stellenabbau und Standortschließungen, also durch eine massenhafte, nach allgemeiner Auskunft allerdings noch im Anfangsstadium befindliche Überflüssigmachung von Arbeitern. Und damit sich niemand darüber täuscht, wie notwendig diese Geschäftsoffensive und ihre Konsequenzen für das Elektro- und Metallproletariat sind, werden sie in bewährter Tradition zu einer Lage verklärt, die die engagierten Unternehmen nicht etwa schaffen, in der sie vielmehr stecken. Dafür hätte es zwar auch keinen neuen Terminus gebraucht, aber heute nennt man den ‚Strukturwandel‘ lieber ‚Transformation‘.

Auch in diesem Bereich haben die ohnmächtig Abhängigen allerdings eine Gewerkschaft, sogar die weltgrößte. Die vermeldet:

„Es sind tausende Arbeitsplätze und viele Standorte gefährdet, wenn wir jetzt nicht für einen sozialen Wandel eintreten. Die Metall- und Elektroindustrie befindet sich in einer besonderen Situation: Die Transformation – sprich die Veränderungen von Produkten und Produktion aufgrund der Digitalisierung, der E-Mobilität, der CO2-Reduzierung, der Klimagesetzgebung und der Energiewende – führt in den meisten Betrieben zu großen Veränderungen. Trotz der dringenden Notwendigkeit gibt es aber für viele Betriebe immer noch kein Konzept, wie die Arbeitsplätze gesichert und zukunftsfest gemacht werden können. Leider nutzen einige Unternehmen, Hersteller und Zulieferer die aktuelle Lage zum Stellenabbau. So wollen zum Beispiel in der Automobilindustrie fast 50 Prozent der Betriebe in den nächsten zwei bis drei Jahren mehr als fünf Prozent Personal abbauen. Unter dem Deckmäntelchen notwendiger Veränderungen greifen sie zu Maßnahmen der Kostenreduzierung: Standortschließungen und Arbeitsplatzabbau.“ (igmetall.de, 29.1.20)

Die deutsche Metallgewerkschaft hält es wie ihre Kollegen in der Chemieindustrie: Sie anerkennt die geschäftliche Rechnung, mit deren Konsequenzen sie konfrontiert wird, gleich in der Form, in der die Unternehmen selbst ihr Gewinninteresse ideologisch überhöhen: als eine Situation, in der sich die Unternehmen gemeinsam mit ihren lohnabhängigen Dienstkräften befinden, in der sie an Letzteren nicht etwa große Veränderungen vollstrecken, ihnen vielmehr selbst ausgesetzt sind. Die gemeinsame Betroffenheit bedeutet freilich überhaupt nicht, dass nun Harmonie angesagt wäre – wie auch, wenn in dieser Situation der Nutzen des Unternehmens unübersehbar auf Kosten der Arbeiter gesichert wird? Doch deren Gewerkschaft übersetzt diese Praktizierung des Gegensatzes zwischen Unternehmer- und Arbeiterinteresse, also ausgerechnet das unternehmerische Konkurrenzkonzept schlechthin, in eine Konzeptlosigkeit bei der Verfolgung eines gemeinsamen Anliegens. Dabei lassen die Unternehmen mit ihren Maßnahmen eigentlich keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Sicherung von Arbeitsplätzen ihr Anliegen jedenfalls nicht ist. Für sie ist der Nutzen des Arbeitsplatzes keinesfalls schon damit gegeben, dass es ihn gibt; der muss sich schon an dem Zweck messen lassen, für den er eingerichtet wurde. Doch ausgerechnet diesen Gebrauch der Macht des Unternehmens über sein Mittel erklärt die Gewerkschaft zu einem Missbrauch seiner Entscheidungsmacht über die gemeinsame Sache Arbeitsplatz.

Dabei ist es auch für die gewerkschaftliche Klientel nicht wahr, dass der Nutzen ihres Arbeitsplatzes schon damit gegeben wäre, dass es ihn gibt – auch für die kommt es sehr wohl darauf an, was er an Geld und Zeit abwirft. Aus dem Grund und aus keinem anderen schließen sie sich zu einer Gewerkschaft zusammen. Wenn die den Erhalt der Arbeitsplätze zum Programm erklärt, dann gesteht sie praktisch ein, dass sie angesichts des Interesses der Gegenseite, von dem ihre Mitglieder abhängen, nichts zu fordern hat, ohnmächtig ist. Deswegen ist es nur konsequent, wenn sie sich dazu vorarbeitet, das preiszugeben, was ihre Mitglieder von ihren Arbeitsplätzen haben, damit sie überhaupt welche haben. Damit ist das, was eine Gewerkschaft vom Grundsatz her ausmacht, eigentlich am Ende. Was sie dann betreibt, ist eine Negation des gewerkschaftlichen Kampfs – und zugleich die Offenbarung von dessen Ausgangspunkt: Lohnarbeit ist nichts weiter als Unterwerfung ohnmächtig abhängiger Dienstkräfte unter das gegensätzliche Unternehmensinteresse, unter die Verfügungsmacht der Unternehmer über die Einrichtung von Arbeitsplätzen überhaupt.

Den Schritt zum Kampf um die Sicherung von Arbeitsplätzen hat die deutsche Metallgewerkschaft lange hinter sich – und ist insofern sichtlich noch lange nicht am Ende. Sie dementiert das, was sie praktisch eingesteht; sie nimmt diese Ohnmachtserklärung als Einstieg in ein Forderungswesen anderer Art. Sie stellt ihre Tätigkeit in den Dienst eines höheren Ziels, das von dem Gegensatz ihrer Klientel zum Interesse der anderen Seite endgültig nichts übrig lässt:

„Es geht um die Zukunft des Industriestandorts Deutschland. Vor allem geht es um die Zukunft vieler Zehntausend Beschäftigter. Die Uhr tickt. Das bedeutet auch: Die anstehende Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie ist keine Tarifrunde wie jede andere. Die IG Metall will dem Rechnung tragen.“ (Jahrespressekonferenz 2020 der IG Metall)

Die Konkurrenzfähigkeit des Vaterlands, dafür setzt sich die Metallgewerkschaft ein. Sie macht also nicht bloß den Widerspruch wahr, Arbeitsplätze zu fordern, sondern stellt sich gleich auf den Standpunkt der Gegenseite und kümmert sich um deren Geschäft – im Einzelnen und als Klasse. Zu diesem Zweck, unter dessen Gelingen die Gewerkschaft das Interesse ihrer Mitglieder subsumiert und für dessen Gelingen sie an ihren Sozialpartner ohnmächtig appelliert, bietet die Gewerkschaft ein Moratorium für einen fairen Wandel an – ein Stillhalteabkommen mit folgendem do ut des:

„Die Arbeitgeber erklären sich bereit, keine einseitigen Maßnahmen zum Personalabbau, zur Verlagerung von Produkten und zur Schließung von Standorten zu ergreifen. Die IG Metall erklärt ihre Bereitschaft, in allen Tarifbezirken unmittelbar ab morgen in die Verhandlungen zu einem Zukunftspaket und die weiteren Themen der Tarifrunde 2020 einzusteigen. Ziel ist, vor Ende der Friedenspflicht zu Ergebnissen zu kommen... Ziel ist die Festlegung konkreter Investitions- und Produktperspektiven für Standorte und Beschäftigte, Vereinbarungen über Maßnahmen zur Personalentwicklung und entsprechende Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung und zum Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen.“

Die Gewerkschaft ist also bereit, den Unternehmen den gewerkschaftlichen Lohnkampf zu ersparen, freilich nicht das gewerkschaftliche Ideal der Vereinbarkeit, das sie in die nationalistische Verantwortung für die gemeinsame deutsche Konkurrenzsache überführt. Unter dem Gesichtspunkt bekommen die Forderungen nach Ansicht der Gewerkschaft sicherlich ein viel höheres Gewicht; auf jeden Fall steht fest, dass die Erfüllung der deutschen Konkurrenzambition damit zum gesamtgesellschaftlichen Auftrag wird: neue Produkte, Investitionen, die deren Herstellung an deutschen Standorten lukrativ machen, und was sonst alles dazugehört. Die Gewerkschaft hat hier viel zu fordern, und auch einiges zu bieten, damit deutsche Unternehmen weiterhin und besser denn je mit der Arbeit ihrer Mitglieder reüssieren.

Das Angebot der IG Metall

Dafür kann die IG Metall an vergangene Erfolge der Sozialpartnerschaft anknüpfen:

„Bei Unterauslastung einzelner Beschäftigtengruppen soll vorrangig eine Reduzierung des Arbeitsvolumens ohne Entgeltabsenkung erfolgen. Etwa durch die Nutzung von Arbeitszeitkonten, Kurzarbeit mit Aufzahlung und Arbeitszeitabsenkung mit Teillohnausgleich. Die Tarifvertragsparteien verständigen sich auf eine Überarbeitung und Ergänzung der hierfür notwendigen tariflichen Regelungen.“

Auf den Arbeitszeitkonten hat sich inzwischen reichlich unbezahlte Überarbeit angehäuft, ein zinsloser Vorschuss an Arbeitszeit, die nun als abschmelzbare Verfügungsmasse der Unternehmen fungieren könnte. Per gewerkschaftlich abgesegneter Arbeitszeitsenkung lässt sich die entscheidende Leistung der Einsparung von Arbeit, die Senkung der Arbeitskosten, ohne den Nachteil erzielen, dass dem Betrieb seine eingespielte, leistungsbereite Belegschaft verloren geht – ein Vorteil, der vielleicht sogar einen Teillohnausgleich rechtfertigt. Es gäbe auch die Alternative eines gemeinsamen Eintretens für die Ausweitung von Kurzarbeit: die bewährte Methode, die Sozialkassen, also den Gesamtlohn der Klasse in Anspruch zu nehmen, um den Unternehmen Arbeitskosten zu sparen, ohne dass der Lebensunterhalt der Kurzarbeiter ganz wegbricht – auch ein Vorteil, der eine Extra-Aufstockung von Unternehmerseite rechtfertigt. Und falls es doch unumgänglich sein soll, die Belegschaft zu reduzieren, womit auch realistischerweise zu rechnen ist, bietet die Gewerkschaft zwecks Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen attraktive Alternativen: Mit dem Angebot der Ausweitung der Altersteilzeit und anderer Modelle des flexiblen Übergangs in die Rente bietet sich die IG Metall als Helfershelfer für das richtige Sortieren beim Entlassen an. So umfassend macht die Gewerkschaft die Verfügung des Betriebs über die Belegschaft zu ihrer Sache – mit dem alles entscheidenden Unterschied, dass dabei aber wirklich nur die wirklich notwendigen Entlassungen stattfinden. Das sind die mit der gewerkschaftlichen Unterschrift.

Weil Transformation für die verbleibenden Beschäftigten heißt, dass in der Organisation des Produktionsprozesses kein Stein auf dem anderen bleibt, gilt es in Sachen Qualifizierung dafür vorzusorgen: Jeder Beschäftigte hat analog der Regeln zur Bildungsteilzeit Anspruch auf eine geförderte berufliche Qualifizierung im Rahmen des Qualifizierungschancengesetzes. Die Tarifvertragsparteien verständigen sich über das genaue Prozedere. So wird den Beschäftigten geholfen, sich für die Jobs der Zukunft attraktiv zu machen – also für die Ansprüche, die die Betriebe in Zukunft an sie stellen. Insofern fällt der Anspruch auf Qualifizierung mit dem Dienst an den Unternehmen zusammen; den gilt es noch besser umzusetzen. Zugleich erinnert der Bezug auf ein staatliches Gesetz an die Grenzen dieses gedeihlichen Verhältnisses: Der Rechtsanspruch hilft einer Betriebsrechnung auf die Sprünge, in der die Qualifikation bei aller Nützlichkeit als Kostenfaktor vorkommt. Mit einer Kofinanzierung aus verstaatlichtem Lohn wird der Rechtsanspruch der Beschäftigten zwar schon ziemlich gut zu einem Angebot an die Betriebe ausgestaltet, aber es gibt immer noch bürokratische Hemmnisse, die der ausgiebigen Nutzung der bestehenden Chancen entgegenstehen. Und damit für die IG Metall genug zu tun, sich bei der Politik für deren Einreißen starkzumachen.

Schließlich stellt sich noch die Entgeltfrage:

„Die IG Metall verfolgt weiterhin das Ziel, dass die Kaufkraft der Beschäftigten gestärkt wird. Dies muss sich in den Entgelttabellen wiederfinden. Die IG Metall sieht für diese nun anstehenden Verhandlungen von einer bezifferten Forderung zur Erhöhung der Entgelte ab.“

Auch die Lohnhöhe bringt die IG Metall also in der Hinsicht ins Spiel, in der sie für die Unternehmen interessant ist: Inklusive jeder etwaigen Erhöhung ist der Lohn als Kaufkraft dafür verplant, die Gewinne der nationalen Unternehmerschaft zu realisieren. Weil aber jedes einzelne Unternehmen in seinem Zukunftsplan diese Kaufkraft zwar okkupieren, aber nicht stiften will, sieht man aber einstweilen von einer genaueren Festlegung ab und lässt durchblicken, dass ein Inflationsausgleich ein passender Kompromiss für diesen Widerspruch wäre.

Die Beschäftigungssicherung mittels Zukunftstarifverträgen hat bei der IG Metall Tradition. Und auch in letzter Zeit hat sie zahlreiche Erfolge vorzuweisen.[1] Denen ist ihre Attraktivität für die Unternehmen klar anzusehen: Größere und kleinere Arbeitgeber tätigen die Investitionen, von denen sie sich die Eroberung neuer Märkte und Segmente versprechen; die Vereinbarungen legen das Ausmaß und die Form der Entlassungen fest, die diese Investitionen lohnend machen; die Unternehmen qualifizieren die Beschäftigten genau so, wie sie in Zukunft gebraucht werden. Und als ihren Beitrag zu diesen Musterfällen von Beschäftigungssicherung organisiert die IG Metall die Rentabilität der gesicherten Arbeitsplätze: Mit dem Verzicht auf Lohn, mit der Umwandlung aufgehäufter Überstunden in Freizeit und der Zustimmung zu Unterarbeit macht sich die Gewerkschaft zum Agenten der Billigkeit der Belegschaften als Instrument der Unternehmen in ihrer Konkurrenz um Märkte. Solche Maßnahmen in Sachen Kostenreduzierung und Arbeitsplatzabbau sind dann wirklich notwendige Veränderungen, die kein Deckmäntelchen mehr nötig haben, weil sie nun die Unterschrift der Gewerkschaft tragen. Deren sozialpartnerschaftliche Mitwirkung ist dann auch der ganze Unterschied zwischen dem Missbrauch einer ‚Lage‘, den sie verhindert hat, und einer gemeinsam verantwortungsvoll gestalteten ‚Transformation‘ für die Arbeitsplätze der Zukunft.

Alles in allem kein Wunder, dass die Antwort der Arbeitgeber auf den gewerkschaftlichen Antrag, derartige Vereinbarungen tarifpolitisch zu verallgemeinern, ziemlich wohlwollend ausfällt.

Die Antwort der Arbeitgeber: Ja, aber …

„vbm und Südwestmetall stimmen mit der IG Metall überein, dass angesichts der aktuellen Herausforderungen für die M+E-Industrie – Transformation und Konjunktur – der Fokus auf der Zukunftssicherung der Unternehmen und der betrieblichen Beschäftigungssicherung liegen muss. Wir begrüßen auch die Bereitschaft der IG Metall, zu diesem Zwecke die ausgetrampelten Pfade zu verlassen und auf die üblichen Rituale in Tarifauseinandersetzungen zu verzichten... Auch wir haben unsererseits Anliegen: 1. vbm und Südwestmetall sagen Ja zu einem echten Belastungs-Moratorium (Stillhalteabkommen) als langfristigem Commitment zwischen den Metall- und Elektroarbeitgeberverbänden und der IG Metall mit einer Laufzeit von mindestens fünf Jahren. 2. vbm und Südwestmetall sagen Ja zu betrieblichen Möglichkeiten der Beschäftigungssicherung, eine Unternehmenssicherung ist jedoch Grundvoraussetzung für wettbewerbssichere und zukunftsfähige M+E-Unternehmen in Deutschland. 3. Es ist und bleibt unternehmerische Aufgabe, den Wandel und damit Innovationen und zukünftige Geschäftsmodelle zu gestalten. Dabei werden wir die Arbeitnehmervertreter im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen selbstverständlich mitnehmen. 4. vbm und Südwestmetall setzen mit einem fixen Gesamtprozentsatz möglicher Entgeltbestandteile in einem fünfjährigen Moratorium darauf, die konjunkturell schwierige Lage betriebsindividuell zu meistern und den laufenden Transformationsprozess vor Ort zu gestalten. 5. Die schwierige Gesamtsituation der M+E-Industrie in Deutschland mit unterschiedlichen Ursachen und Ausprägungen fordert geradezu dazu auf, nicht auf einheitliche Detail-Regelungen zu setzen, sondern betriebsindividuelle Lösungsansätze vor Ort zu ermöglichen. 6. Wichtig ist und bleibt es, alle Mitarbeiter in einem Unternehmen fair und gerecht zu behandeln und nicht durch Extrazuwendungen für Gewerkschaftsmitglieder zu verunsichern und damit den Betriebsfrieden zu gefährden.“

Gesamtmetall nimmt also erfreut zur Kenntnis, dass der Tarifpartner die Gleichung von Beschäftigungssicherung und Unternehmenssicherung unterschreibt, die genau die Beschäftigung sichert, mit der die Unternehmen wettbewerbsfähig sind. Wie das genau zu gehen hat, muss zwar letztlich allein Sache der unternehmerischen Freiheit bleiben, aber wenn sich die Gewerkschaft alle Maßstäbe zu eigen macht, an deren Erfüllung die Beschäftigung hängt, dann ist die konstruktive Bereitschaft der Gewerkschaft auch eine nützliche Vorlage dafür, sie auf mehr Konsequenz festzulegen: auf fünf Jahre gewerkschaftliches Stillhalten ohne tabellenwirksame Lohnerhöhungen und auf eine Blankounterschrift unter die Freiheit betriebsindividueller Lösungsansätze als Zukunftspakt, also darauf, sich konsequent als Branchengewerkschaft aus dem Spiel zu nehmen und sich dem Betriebsegoismus zu widmen. Eine klare Absage ergeht allein an die Randforderung der IG Metall nach einem Nachhaltigkeitsbonus – z.B. einem Zuschuss zum Monatsticket – für Gewerkschaftsmitglieder. So viel Kleinlichkeit muss sein, denn im Betrieb tragen nun einmal nur diejenigen Boni zum Frieden bei und untergraben ihn nicht, die Umsatz und Ertrag voranbringen.

Der Aufnahme von konstruktiven Gesprächen Anfang Februar steht damit nichts mehr im Weg. Es ist das Virus, das dazwischen kommt. Im Angesicht der wirtschaftlichen Unsicherheiten durch die Coronakrise, im Besonderen der Verunsicherung bei vielen Beschäftigten, im Klartext also der Sicherheit, dass die Arbeitgeber sich angesichts des Geschäftseinbruchs nach Kräften an den Lohnzahlungen schadlos halten, muss die Tarifrunde sofort zu Ende gebracht werden: Millionen von Beschäftigten wird mit diesem Abschluss die Angst vor massiven Einkommensverlusten durch Kurzarbeit genommen (IG Metall-Chef Hofmann). Die Gewerkschaft organisiert ein Tauschgeschäft: Die Einkommensverluste werden, sozial gestaffelt, durch einen Topf abgefedert, in den die Arbeitgeber pro Beschäftigten bis zu 350 Euro einzahlen. Außerdem bekommen die Beschäftigten mit kleinen Kindern, die mangels Verwahrungsgelegenheit zu Hause bleiben müssen, ein paar zusätzliche freie Tage, die sie deswegen brauchen. Lohnerhöhungen werden im Gegenzug bis Jahresende gänzlich vertagt. Wenn der bis dahin verlängerte alte Tarifvertrag dann ausläuft, bietet sich der Gewerkschaft eine neue Chance für zukunftsweisende Beiträge zur Transformation nach Corona.

Doch auch wenn das Virus der Gewerkschaft in die Parade gefahren ist – in einer entscheidenden Hinsicht sieht sie sich in der Corona-Zeit schon am Ziel. Sie sieht sich nämlich gerade durch den Schaden, den das Virus bzw. dessen staatliche Bekämpfung auf beiden Seiten ihrer konfliktreichen Partnerschaft anrichtet, in ihrem Standpunkt bestätigt, dass sie mit ihrem Sozialpartner tatsächlich in dem einen gemeinsamen nationalen Boot sitzt. Und sie bekommt von Unternehmen und Staat glatt Recht – mit einem gemeinsamen sozialpartnerschaftlichen Plädoyer für die Ausweitung der Kurzarbeit und mit der staatlichen Zustimmung dazu.

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So haben Deutschlands mächtige Industriegewerkschaften also den Widerspruch proletarischer Gegenwehr weiterentwickelt: zur prinzipiellen Parteinahme für die Unternehmerseite, nämlich für das allgemeine Gelingen der Geschäfte, für deren erfolgreichen Fortgang die Existenznot der Lohnabhängigen ausgenutzt und reproduziert wird. Als gereifte und anerkannte Lobby-Organisationen ‚der Arbeit‘ verfechten sie das Interesse an Gelderwerb durch Dienst an fremden Geschäftserfolgen in der Weise, dass sie sich für maximalen Erfolg der Geschäftswelt einsetzen, von der ihre Basis abhängt. Ihr Standpunkt ist dabei der der nationalen Verantwortung. In dem lassen sie den Interessengegensatz aufgehen, der zwar nach wie vor der Grund, aber in keiner Weise mehr das Weiß-Warum ihrer Existenz ist. Sie handeln zwar im Namen der Lohnabhängigen, aber im Interesse eines gemeinen Wohls, das mit dem Gesamterfolg der nationalen Unternehmerschaft zusammenfällt. Dafür funktionalisieren sie das Erwerbsinteresse ihrer Mitglieder: gesamtnational, branchenspezifisch und bis herunter auf die Betriebsebene.

Das gilt jedenfalls für Deutschlands machtvolle Industriegewerkschaften. So partnerschaftlich geht es in anderen Bereichen nicht zu.

[1] „Zukunftsvereinbarungen gelingen Betriebsräten und IG Metall auch bei Autozulieferern, die besonders vom Umstieg auf Elektroautos betroffen sind. Etwa bei Bosch. In den Entwicklungszentren in Stuttgart-Feuerbach und Schwieberdingen wollte Bosch ursprünglich 1600 der 9 600 Arbeitsplätze streichen. Nun jedoch sind betriebsbedingte Kündigungen bis Ende 2022 ausgeschlossen. Maximal 300 Stellen dürfen im Jahr 2020 über Abfindungen abgebaut werden... Bosch sagt zudem konkrete Investitionen zu: Wichtige Entwicklungsprojekte in den Bereichen Brennstoffzelle und Elektromobilität werden in Feuerbach und Schwieberdingen umgesetzt. Im Gegenzug wird die Arbeitszeit von allen Beschäftigten, die mehr als 35 Stunden in der Woche arbeiten, abgesenkt, befristet bis Ende 2021. Alle Beschäftigten nutzen darüber hinaus die T-ZUG-Option und nehmen zusätzlich acht Tage frei im Jahr...

Bei KS Gleitlager im niedersächsischen Papenburg bleiben trotz erheblichem Auftragseinbruch alle Beschäftigten an Bord. Die 470 Beschäftigten fertigen hier vor allem Lagerschalen für Verbrennungsmotoren. Doch künftig sollen hier neue Produkte für unterschiedliche Bereiche, etwa für die Industrie hergestellt werden. IG Metall und Betriebsrat haben sich mit dem Unternehmen darauf geeinigt, dass KS Gleitlager 5,5 Millionen Euro in den Standort investiert. Alle Beschäftigten, die im Transformationsprozess versetzt werden müssen, werden für ihre neuen Aufgaben umfassend qualifiziert. Über die Verteilung der Investitionen und die Qualifizierungen entscheidet der Betriebsrat unter Beteiligung der IG Metall in einem Steuerungskreis mit. Um Standort und Beschäftigung bis 2025 zukunftssicher zu machen, leisten die Beschäftigten einen Beitrag: Künftige Tariferhöhungen werden um 12 Monate verschoben. Zusätzlich bringen die Beschäftigten 25 Stunden aus ihrem Arbeitszeitkonto mit ein. Dabei ist es IG Metall und Betriebsrat gelungen, einen Bonus für IG Metall-Mitglieder auszuhandeln: 10 Plus-Stunden im Jahr. Außerdem haben fast alle Beschäftigten von der im IG Metall-Tarifvertrag zum tariflichen Zusatzgeld (T-ZUG) verankerten Option Gebrauch gemacht und zusätzliche freie Tage statt Geld gewählt.“ (metallzeitung, Ausgabe Januar/Februar 2020)