Wir und die Russen
Von der berechnenden Freundschaft mit einem neuen Partner zur Kontrolle eines unberechenbaren Feindes

Es wird wieder mächtig an Legenden gestrickt: Der Dauer-Test, ob Russland dem ausgesprochen maßlosen Ideal des Westens nachkommt, sich für seine eigene Entmachtung her zu richten, führt zur Diagnose, dass ein großrussischer Imperialismus auferstanden und auf dem Vormarsch ist. Das stellt die Lage aber gründlich auf den Kopf, denn umgekehrt ist die Nato dabei, sich ost-zu-erweitern und sich diplomatisch darum zu kümmern, den Russen bei zu biegen, dass das Wegwerfen ihrer Atomwaffen, den letzten Mitteln staatlicher Souveränität, doch das Beste für sie sei.

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Wir und die Russen
Von der berechnenden Freundschaft mit einem neuen Partner zur Kontrolle eines unberechenbaren Feindes

1. Die Legende von der neuen russischen Gefahr, vor der die NATO uns schützen muß

Die anfängliche Freude über das Ende des Kommunismus in Rußland ist allgemeiner Skepsis gewichen. Die Loblieder auf Jelzin, den Repräsentanten des Systemwechsels, sind stiller geworden. Sorge statt Zuversicht beherrscht die Szenerie und das Image der Russen hat sich gründlich verschoben: Immer öfter ziehen maßgebliche Politiker aus Washington, Bonn oder Paris die Verläßlichkeit der russischen Führung in Zweifel und stellen öffentlich die Frage, ob die Erben der Sowjetmacht noch als „Partner“ oder mehr als „Gefahr“ zu behandeln seien. Die „alarmierenden Nachrichten“ häufen sich: Produktion in Rußland um 40% zurückgegangen. Ultra-Nationalist Schirinowski gewinnt Wahlen. Truppenabzug aus dem Baltikum verzögert sich. Jelzin: Neue Polen-Doktrin. Moskau lehnt NATO-Konzept zur Ost-Erweiterung ab. Freundschaftsvertrag Rußland – Georgien. Regierungsumbildung: Reformgegner und Falken bekommen mehr Einfluß. Moskau: Luftangriffe auf Serbien würden Lage verschärfen… Alarmierend inwiefern und für wen?

Mangel und Chaos sind eine schlimme Sache, alldieweil hungrige Menschen dazu neigen, die falschen Führer zu ermächtigen. Schirinowski ist ein „Schockerlebnis“ (Clinton), weil er ein so „unberechenbarer Machtpolitiker“ ist. Präsident Jelzin selbst verfällt zusehends dem Alkohol und der Großmannssucht, was nicht nur schlecht für seine Leber, sondern vor allem für die „internationale Lage“ ist. „Reformgegner“ sind, wie ihr Name schon sagt, gefährliche Leute, weil sie die „Unumkehrbarkeit“ der russischen Wende in Frage stellen. Vorbehalte Rußlands gegen Bomben auf Serben stimmen uns nachdenklich, weil schon wieder eine Block-Konfrontation das „notwendige und rasche Eingreifen“ zu stören droht. Tenor der Lagediagnose: Ein „(groß)russischer Nationalismus“, wahlweise: „Imperialismus“ ist auferstanden und schwer auf dem Vormarsch – das sieht mittlerweile kaum noch ein ernstzunehmender Kommentator anders.

Nur zu verständlich, daß „wir“ uns gegen diese „Bedrohung“, die aus dem neuen Kreml mit seinen alten Waffen kommt, zu wappnen haben. Nach einer kurzen Phase der Irritation, als die Nation mit der Aussicht auf „Friedensdividende“ und „deutsch-russische Freundschaft“ vollgeheuchelt wurde, sprechen die gleichen Leitartikler, die gestern noch an die „Sinnkrise der NATO“ glaubten, heute beinahe von Glück, daß der Wahlausgang in Rußland uns gerade rechtzeitig davor bewahrte, „die Bundeswehr einzumotten“. Denn es gibt viel zu tun: Nicht zuletzt müssen unsere nächsten Nachbarn Polen, Tschechien und Slowakei angesichts der räumlichen Enge in der Mitte Europas vor einem erneutem Würgegriff der früheren Vormacht gerettet werden. Die Ausdehnung der NATO nach Osten unter dem Titel „Partnerschaft für den Frieden“ wurde deshalb allseits begrüßt: Je nach Geschmack als „keinesfalls gegen Rußland gerichtete“, quasi naturwüchsige Ergänzung der nordatlantischen „Wertegemeinschaft“ um junge Demokratien im Osten oder als angemessener Konter auf den „erwachten Nationalismus“ der Ex-Supermacht.

Es wird also wieder mächtig an Legenden gestrickt. Denn die Wahrheit ist es nicht, daß die Ostpolitik der NATO nach ihrem Sieg im Kalten Krieg eine Mischung aus lauter unschuldigen Friedensangeboten und Reaktionen auf die Gefahr einer russischen „Gefahr“ wäre, vor der wir uns schützen müssen.

Von dem Tag an, als die Russen beschlossen, nicht mehr rot sein zu wollen, gab es im Westen eine eigentümliche Perspektive, unter der alle Moskauer Ereignisse – von der kleinsten Regierungsumbildung über jede Preisreform bis zu den diversen „Putsch“versuchen – interessiert beobachtet wurden. Zäh und unermüdlich stellten nicht nur die öffentlichen Freund- und Feindbildpfleger, sondern auch die verantwortlichen Politiker der freien Welt eine Frage: Ist das der Rückfall – in Sozialismus und Feindschaft? Die Fahndung nach dem „Rückfall“ – mit dem man also jederzeit rechnete – begann bei Gorbatschow (Perestroika: ernstgemeintes Wegwerfprogramm oder gigantischer Bluff?), pflanzte sich fort in der permanenten Prüfung der „Unumkehrbarkeit“ des regierenden Antikommunismus und hat ihr vorläufiges Ende in der besorgten Frage, ob Gorbis Nachfahren zwar Lenin, nicht aber dem Nationalimus abgeschworen haben. Die wenig hoffnungsfrohen Noten, die der Westen den jüngsten Vorgängen aus dem Russenland erteilt, entspringen deshalb keineswegs einem fundamentalen Standpunktwechsel postsowjetischer NATO-Politik. Genau andersherum verhält es sich: Weil die Gewinner des Kalten Krieges ihrer politischen Erwartung an die Erben des realsozialistischen Nachlasses – marktwirtschaftliche Reformen nach innen, nationale Enthaltsamkeit nach außen – treu bleiben, hat sich die Bewertung der neuen Machthaber binnen kurzer Zeit gewandelt. Die heute moderne Klage über die mangelnde „Berechenbarkeit“ der Russen speist sich aus dem gleichen Maßstab, der Jelzin, den „strahlenden Helden“ vom August ’91, zu „unserem Mann in Moskau“ qualifizierte – zur Beurteilung der östlichen Politik reichte von jeher das Kriterium ihrer West-Nützlichkeit.

Insofern verrät die neue Bedrohungs-Lüge – die Blitzkarriere der Jelzins, Tschernomyrdins und Kosyrews von systemmäßig geläuterten „Partnern“ zur potentiellen weltpolitischen „Gefahr“ – zwar nichts über die Absichten der Russen, dafür aber eine ganze Menge über die Sache, die sie rechtfertigt:

Die „Hilfe“-Bekundungen der siegreichen, kapitalistisch verfaßten Welt waren nie dazu gedacht, dem bekehrten Feindstaat zu einer erneuerten und erfolgreicheren wirtschaftlichen Basis seiner politischen Macht zu verhelfen; Zweck der Unterstützung der Bösewichter von gestern war vielmehr, die Zerfallsprodukte des ehemaligen Ostblocks unter die eigene Aufsicht zu nehmen und weitestgehend unschädlich zu machen. Ziel war die Etablierung und Betreuung einer den westlichen Ansprüchen verpflichteten „stabilen“ russischen Herrschaft, die die Umkrempelung der Staatsräson unter ihre und damit gleichzeitig unsere Kontrolle nimmt. Die Westorientierung des neuen Regimes sollte als Hebel benutzt werden, um sich mit der Anwendung der konventionellen Methoden imperialistischer Einflußnahme – diplomatische Verführung und ökonomische Erpressung von Abhängigen – auf das Staatsgründungsprojekt in Rußland die Garantie zu verschaffen (ideologisch: „Unumkehrbarkeit“), daß von russischem Boden nie wieder weltpolitische Konkurrenz ausgehen möge.

Der Dauer-Test, ob Zustand und Betragen des russischen Staates den hiesigen Vorstellungen genügen, hat darin seinen Gehalt: Ob Rußland dem ausgesprochen maßlosen Ideal nachkommt, sich für seine eigene Entmachtung herzurichten. Rücksichtslos gegen jede ökonomische Wirkung und nationale Handelsbilanz die Reformen voranzutreiben und Rußland auf den Status eines „Entwicklungslandes“ herunterzuwirtschaften; gleichgültig gegen das Machtpotential, das Atomwaffen in dieser schönen imperialistischen Welt bedeuten, der Verschrottung des exsowjetischen Arsenals zuzustimmen – ohne auf diesbezügliche Gegenleistungen in Form kapitalistischer Aufbauhilfe zu rechnen; kurzum: sich von der sozialistischen, atomaren Supermacht Nr. 2 zu einem Entwicklungsland ohne Atomraketen herunterzustufen – so hätte der Westen die neuen Russen gerne!

Als Realisten wissen sie natürlich, daß sich die Russen dem nie und nimmer anbequemen. Deshalb hieß die Position von Anfang an: Es ist zu prüfen und darauf einzuwirken, ob und daß die Russen sich in diesem Sinne benehmen. Wie hemmungslos sind sie beim Zersägen ihrer Macht? Wie anspruchslos bei der Definition ihrer weltpolitischen Interessen? Dafür kam Jelzin zu Beginn seiner Amtszeit in den Genuß einer gar nicht so verwunderlichen Freundschaft und „internationaler Rückendeckung“ – denn sie galt nicht ihm und seinen Berechnungen auf ein aufstrebendes reformiertes Rußland, sondern diente dem westlichen Kalkül, in ihm einen Statthalter unserer Absichten (ideologisch: „Partner“) zu stützen. Gemessen an diesem Anspruch ist es aber ebensowenig ein Wunder, wenn der Wahlsieg eines russischen Schönhubers und das Beharren Jelzins, in der Serbien-Frage Alternativen für den Umgang der UNO und gegen die Beschlüsse der NATO aufzumachen, bereits ausreichen, um diese Freundschaft wieder anzuzweifeln. Auf eine freiwillige Selbstkontrolle russischer Nationalisten haben sich die marktwirtschaftlichen Demokratien des Westens nämlich noch nie verlassen – deshalb legen sie in der Gangart der „Abwicklung“ (um einmal ein häßliches Wort aus dem Sprachschatz berufsmäßiger Systemveränderer zu gebrauchen) der Russen jetzt einen Zahn zu.

Die Verlagerung der Tonart von Dur auf Moll – prototypisch vorexerziert an der hiesigen „Erkenntnis“, in Freund Boris doch über keinen Statthalter vor Ort zu verfügen – hat ihren Nährboden demnach in dem Widerspruch des neuen West-Ost-Verhältnisses: Die gemeinsam bemühte „Partnerschafts“-Ideologie basierte darauf, daß beide Seiten einer – diametral entgegengesetzten – Lesart dieser Formel anhingen. Während die Russen auf Anerkennung des Westens zwecks Auf- und Ausbau ihrer (nun von den Fesseln des falschen Systems befreiten) Souveränität setzten[1], haben die westlichen Siegermächte ihre huldvolle Anerkennung dieser Souveränität immer schon als Grenze für deren Gebrauch verstanden.

Deshalb hat Rußland wieder die Ehre: Es ist abermals dabei, zu der weltpolitischen Herausforderung Nr. 1 des Westens zu avancieren, die es als sozialistische Vormacht ein Zeitalter lang fraglos war. Die alte Systemfrage erweist sich in diesem Zusammenhang als merkwürdig irrelevant: Der „neue Realismus“ des Westens hat sich vielmehr zu der „Einsicht“ vorgearbeitet, daß der unblutige Sieg im Krieg der Systeme die Hauptaufgabe sozusagen unerledigt ließ. – Am Ost-West-Tagebuch der letzten Monate läßt sich studieren, wie die übriggebliebene Supermacht und ihre assoziierten NATO-Partner diese Aufgabe in Angriff nehmen, ihr Monopol auf die Ausübung weltumspannender Macht zu sichern, auszudehnen und gleichzeitig um es zu konkurrieren.

2. „Partnership for peace“. Entgegen allen Gerüchten: Die Ost-Erweiterung der NATO hat bereits stattgefunden

Die Formel „Partnership for peace“, von den Amis schnöde „P4P“ getauft, wird in der westlichen Öffentlichkeit in etwa so buchstabiert: Der Beschluß vom Brüsseler NATO-Gipfel besage, die debattierte Ost-Erweiterung nicht zu vollziehen; der Antrag der sog. „Visegrad“-Staaten Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn auf sofortigen Beitritt sei auf unbestimmte Zeit verschoben und durch die eher unverbindliche Einladung zu einer „Partnerschaft für den Frieden“ verwässert; vermuteter Grund für diese „Halbherzigkeit“: „Rücksicht“ auf die Russen, die sich „provoziert, sogar eingekreist fühlen könnten“. An dieser Deutung stimmt so gut wie nichts.

Die entscheidende Frage wird nämlich schon gleich nicht gestellt: Warum eigentlich hat die NATO ein „Problem“ ausgerechnet in diese, die östliche Himmelsrichtung? Es gibt so viele Staaten auf der Welt, die sich freuen würden, in den Überlegungen dieses Clubs der bestbewaffneten Herren der Welt eine Rolle zu spielen: Warum nicht Ghana oder Uruguay, sondern Polen, Tschecho-Slowakei, Ungarn, die Ex-„Satelliten“ des Ostblocks? Die Antwort ist einfach.

Mit der Auflösung des Warschauer Pakts sortiert sich dessen Territorium samt der darauf befindlichen alten und neugegründeten Staaten, durch die Brille der NATO betrachtet, schlagartig neu: In die Russen – und den ganzen Rest, der in seiner Eigenschaft als ehemaliger „Schutzgürtel“ der Sowjetunion wie geschaffen dafür erscheint, dessen frühere „Puffer“-Funktion schlicht und ergreifend umzudrehen, sprich: sie in NATO-Revier zu verwandeln. Ins Visier der Strategen geraten diese Gebilde also in sehr eindeutiger Hinsicht: Mit der Herauslösung der früheren „Vasallen“ aus ihrer Abhängigkeit von der russischen Zentrale, mit ihrem guten Willen, ihr Land den Metropolen des demokratischen Kapitalismus zu „öffnen“, werden die Staaten, die zwischen der neuen deutschen Ostgrenze und der Westgrenze der Russen liegen, automatisch attraktiv: Zwecks Erweiterung der militärischen Hemisphäre des Westens gegen Rußland – ein Stück echter „Vorwärtsverteidigung“.

Für den Adressaten dieser Eingemeindung – den russischen Erbschleicher des sowjetischen Waffenarsenals – war im westlichen Gesamtkonzept der Neuordnung des Ostens demnach von Beginn an die andere Rolle vorgesehen: die der Gefahr, die er wegen seiner Atomsprengköpfe nach wie vor bildet. Den nach dem Ende der Block-Konfrontation von russischer Seite vorgetragenen und bis heute – unter Berufung auf die auch vom Westen geteilte Formel des „gemeinsamen Hauses Europa“ – immer wieder erneuerten Vorschlägen, die „Verantwortung“ für ein Europa vom Atlantik bis zum Ural einem gemeinsamen Kontrollgremium aus NATO und Russen zu übertragen, wurde damit eine Abfuhr erteilt: Zu deutlich erkannte man darin im Westen das Ansinnen, an der Macht der NATO im Rahmen der proklamierten „Neuen Weltordnung“ teilhaben, ihr womöglich reinreden und damit weltpolitisch weiter mitmischen zu wollen. Genau das aber – die souveräne Weiterverwendung der russischen Militärmaschinerie, die Umwidmung auf eine neue Staatsraison – soll verhindert werden; zur Herstellung eines nunmehr konkurrenzlosen Gewaltmonopols namens NATO gehört es im Gegenteil geradezu, die schrittweise Abrüstung des aus der alten Weltkriegsfront überlieferten russischen Atomwaffenlagers ins Auge zu fassen, das immerhin 40 Jahre für ein „atomares Patt“ gut war. Eine „Einbindung“ der ehedem Roten Armee in eine „europäische Sicherheitsstruktur“ kommt deshalb nicht in Frage – man will die Russen an der militärischen Oberaufsicht über Europa ja nicht beteiligen, sondern von ihr ausschließen. Sie sind schließlich selber der vordringlichste, weil bedrohlichste Fall für eine solche Aufsicht.

Darum geht es nämlich einem Staatenbündnis, das nichts für selbstverständlicher hält, als seine sicherheitspolitische Zuständigkeit gleich auf ein paar Staaten im Vorfeld des weltmachtsfähigen Rußlands auszuweiten. Die Expansion der NATO gen Osten entzieht die neuen Partner den wie immer auch gearteten Sicherheitsinteressen Rußlands. Deshalb ist es auch kein Wunder, daß der Beschluß des Westens in eine emsige Diplomatie ausartet, die beteuert, eine „neue containment policy“ wäre damit auf keinen Fall gemeint.

Dies ist Konsens aller NATO-Mitglieder. Offen dagegen war, in welcher Form die Ost-Erweiterung der Allianz vollzogen werden sollte. Die Diskussion wurde mit einer salomonischen, aber beileibe nicht inhaltsleeren Formel entschieden. Mit der Brüsseler „Einladung“ zu einer „partnership for peace“ beansprucht die NATO nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Zugriffsrecht auf Militär und Gelände der beitrittswilligen Oststaaten und damit deren Einordnung in die Hegemonie der führenden imperialistischen Nationen. Dieses Angebot „unverbindlich“ zu nennen, erfüllt den Tatbestand der Ignoranz. Immerhin gelobt die NATO in ihrem Grundsatzdokument feierlich, mit jedem aktiven Teilnehmer an der Partnerschaft in Konsultationen einzutreten, wenn dieser Partner eine direkte Bedrohung seiner territorialen Integrität, politischen Unabhängigkeit oder Sicherheit sieht.

Die Einkreisung Rußlands, die dessen Vertreter gar nicht umhin können als solche wahrzunehmen, ist damit eingeleitet und zieht das Bedürfnis nach einer ordentlichen Legitimation nach sich: Daher wird Schirinowski als drohende Alternative zum jetzigen versöhnlichen außenpolitischen Kurs der östlichen Großmacht ins Feld geführt, welche Alternative man sich auch als Werk eines „unter nationalistischen Druck geratenen“ Boris Jelzin vorstellen kann; dagegen gilt es sich zu schützen. Geplant ist eine je nach Bedarf zu gestaltende militärische Kooperation mit ehemaligen Mitgliedern und Spaltprodukten des Warschauer Pakts bis hin zu Albanien – man weiß eben, wen man als erweitertes „Bollwerk“ gegen die „Bedrohung“ aus dem Osten aufzubauen gedenkt. Das entsprechende Handwerkszeug steht auch schon parat: Der Katalog reicht von der Anpassung der Führungsstruktur und Reorganisation der Armeen über die „Kompatibilisierung“ der Bewaffnung bis zu gemeinsamem Training und Einsatz bei „Friedensmissionen“, schließt also jede Option ein.

Bis auf eine. Der Antrag der Havels, Walesas und Meciars auf Vollmitgliedschaft wurde nicht erfüllt. Das Bedürfnis, den osteuropäischen Staaten die nach Art. 5 des NATO-Vertrages mit diesem Status verbundenen Sicherheitsgarantien zu gewähren, die eine militärische Beistandspflicht einschließt, verspüren die Alt-Mitglieder bei aller neuen Freundschaft offenbar nicht. „Die amerikanische Bevölkerung“, so verlautbarte vor der Abreise Clintons nach Brüssel aus dem Weißen Haus, „würde es nicht verstehen, wenn US-Soldaten für den nationalen Ehrgeiz eines Staates wie beispielsweise die Slowakei eingesetzt werden“. Oder warum sollte ein amerikanischer Präsident, der seinem Volk bekanntlich aufs Wort gehorcht, Rußland einen Krieg antragen, nur weil etwa überzeugte estnische Nationalisten meinen, russische Generäle einsperren zu müssen? Den durch Sicherheitsversprechen womöglich noch angestachelten Ambitionen unzufriedener Nationalisten von Warschau bis Bukarest Rückendeckung zu geben, halten die westlichen Herrschaften für einen Mißbrauch ihres Militärs. Und wenn Walesa & Havel auf eine indirekte Schützenhilfe Schirinowskis spekuliert haben sollten, dann ging ihre Rechnung auf einen Sinneswandel der NATO-Führer nicht auf. Die sahen in der „Bedrohung durch einen neuen russischen Imperialismus“ höchstens ein zusätzliches Argument für ihre Kalkulation, daß die aufgeschreckten Osteuropäer ganz freiwillig all die Dienste anbieten, die man von ihnen will, ohne daß man ihnen die Rechte eines NATO-Vollmitgliedes zubilligen muß.

Das ist zumindest die Linie, die sich in der NATO durchgesetzt hat.Einen Streit um den Modus der Eingemeindung hatte es nämlich schon gegeben; allerdings hatte der nur bedingt etwas mit dem Antrag der anschlußwilligen Osteuropäer zu tun, sich vor Rußland zu schützen. Am Material der Frage ‚Beitritt – jetzt, später oder nie?‘ führten die Ober-Mitglieder der NATO eine Debatte darüber, welcher Nation das Recht gebührt, die Eingliederung Osteuropas zu betreiben.

Deutschland machte die Vorgabe. Diese Nation, die nach der Aufhebung der deutschen Teilung auch die Wiedervereinigung Europas unter seiner Führung und zu seinem Nutzen vollenden möchte, witterte in dem „Machtvakuum“, das der Fall des Eisernen Vorhangs aus ihrer Sicht ungefähr zwischen Frankfurt/Oder und Tiflis hinterlassen hat, die Chance, selbiges zu füllen. In diesem Interesse haben hiesige Politiker sich noch während des Rückzugs der Roten Armee zur neuen Schutzmacht der „mittelosteuropäischen Völker“ erklärt und unter Berufung auf deren „berechtigte Ungeduld“ immer nachdrücklicher die Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO gefordert. Mit dem deutschen Wort für Hegemonie (= „Mitte“) meldete Kanzler Kohl das Bedürfnis an, das Zentrum Europas zu werden. Eine Neubestimmung der politischen Landkarte schließt das wie selbstverständlich ein: Für Kohl ist es schlichtweg unvorstellbar, daß die deutsch-polnische Grenze auf Dauer die Ost-Grenze der Europäischen Union bleibt (Bilanz des NATO-Gipfels) – dies seine Tour, die NATO für die Ausdehnung des deutschen Hegemonieanspruch zu instrumentalisieren. Mit der Position ‚Wir führen Polen etc. an Europa heran‘ leitete Deutschland aus seiner Rolle als Wirtschaftsmacht Nr. 1 in Osteuropa den Bedarf her, dann auch die sicherheitspolitische Rolle dieser Staaten neu zu definieren. Die Verteilung der Kompetenzen in der NATO hätte sich ganz nebenbei dadurch auch verändert. Als designierter Treuhänder der osteuropäischen Sicherheit hätte der Partner Deutschland allemal ein ganz anderes Gewicht im Bündnis abgeleitet und erhalten.

(Vorläufig) gescheitert ist der „deutsche Stabilitätstransfer“ (Rühe) nach Warschau, Prag, Preßburg und Budapest am Unwillen der Amerikaner, dem Konkurrenzimperialismus des Juniorpartners dieses Feld zu überlassen und dies als Beschlußlage der Allianz abzusegnen. Nicht daß die USA etwas gegen den Anspruch der Ausweitung hätten, dieses Programm haben sie selbst; aber daß die Ost-Erweiterung der NATO unter deutscher Regie und damit als deren Sache vonstatten geht, das wollen sie nun doch nicht. Für ein deutsches Ost-Patronat gegen Rußland ist ihnen ihr Atomschirm über Europa zu schade. Per trockenem Verweis auf das existente militärische Kräfteverhältnis – wie bitte möchte Deutschland Polen schützen?! – erinnerten sie den NATO-Bruder in Bonn an die immer noch minderwertige Qualität seiner militärischen Macht und verpflichteten ihn stattdessen auf ihre eigene Erfindung „partnership for peace“.

Das letzte Wort ist damit noch nicht gesprochen. Schon die unterschiedlichen Interpretationen dieses Beschlusses im Gefolge des Gipfels dokumentieren die Fortexistenz der gegensätzlichen Interessen, die beide Seiten beim Versuch der Sicherstellung der Früchte des Kalten Krieges verfolgen. Dennoch: Daß der amerikanische Hinweis auf den internationalen Stand in Rüstungsdingen zieht und vorübergehende Gemeinsamkeit gestiftet hat, liegt letztlich an der Wucht des Vorhabens selbst. Es ist für Deutschland allein schon deshalb eine Nummer zu groß, weil die „Partnerschaft für den Frieden“ die Einschnürung eines Staates in Angriff nimmt, der immerhin Atommacht ist.

Gerade weil die NATO mit ihrem Freundschaftsangebot an die Ex-Pufferstaaten eine Etappe Containment gegen Rußland begonnen hat, kann es ihr nicht gleichgültig sein, wie der Adressat dieser Politik dazu steht. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Niemand im Westen hat die Russen vorher gefragt, was sie von der Umwandlung ihrer früheren Satelliten in NATO-Brückenköpfe halten; niemand zweifelt daran, daß sie die Stoßrichtung dieser Maßnahme erkennen; und niemand hat je daran gedacht, die Entscheidung von einem russischen „Njet!“ abhängig zu machen – aber eines möchte man schon gerne sicherstellen: daß Moskau trotzdem ruhig bleibt.

In diesem Sinne erlebt die Welt derzeit einen brandneuen NATO-„Doppelbeschluß“. Die eingeleitete Einkreisung wird ergänzt um eine Diplomatie der verlogensten Art, die den Russen ihre Umzinglung mit lauter NATO-Schützlingen als Verzicht auf Expansion verkauft. Die Führer des Westens haben in ihrer „Partnerschaft für den Frieden“ den Vorzug entdeckt, die faktische „Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten“ unter scheinbarer Berücksichtigung des russischen Einspruchs gegen eine NATO-Ausdehnung zu vollziehen. Schöne „Anerkennung russischer Sicherheitsinteressen“, die eine einzige Strategie ihrer effektiven Bestreitung ist; schöner „Verzicht auf Provokation“, der den Nutzeffekt der Eingemeindung einstreicht, ohne den Affront des formellen Beitritts ihres ehemaligen Schutzgürtels überhaupt riskieren zu müssen!

Soweit die klare Botschaft aus Brüssel. Dennoch: Die Rechtfertigungshülsen machen deutlich, daß den NATO-Staaten am Schein einer Gegenleistung ihrerseits schon gelegen ist. Wenn an der Redeweise von der „Rücksicht“ überhaupt etwas dran ist, dann also dies:

3. Die westliche Reisediplomatie nach Moskau bezeugt ein letztes Moment von Zwang zur Rücksichtnahme: Die russischen Atomwaffen

Dem NATO-Gipfel hat der Chef der westlichen Führungsmacht einen Gipfel der Diplomatie folgen lassen – und ging gleich ans Eingemachte. Auf seiner Reise nach Kiew und Moskau hat Clinton sofort die Frage der Atomwaffen angesprochen – der russischen und ukrainischen selbstverständlich, diesen dort im doppelten Sinne letzten Mitteln staatlicher Souveränität. Der Atomwaffendeal, an dem die USA im Rahmen des START-Vertrages sowie „flankierender Maßnahmen“ seit längerem mit Beharrlichkeit arbeiten – für das Wegwerfen des A- und C-Waffenpotentials steht ein Fonds zweckgebundener Dollar-Prämien inklusive technologischer Unterstützung und politischer Inspektion bereit –, stellt die Nachlaßverwalter der sowjetischen Wehrkraft vor eine echte Zwickmühle. Vertrauen und Anerkennung erhalten sie schon; allerdings wofür? Für die Bereitschaft, ihre Waffen abzugeben bzw. zu vernichten. An der demonstrativen Aufwartung gegenüber der Ukraine, der Clinton für ihre erneuerte Verschrottungs-Bereitschaft dankte, können die Russen ersehen, vor welch grundsätzliche Wahl die NATO sie stellt: Abwrackung gen Null oder Feindschaft ohne Ende.

Gerade, weil es mit den Russen über ihre Entwaffnung zu verhandeln gilt; gerade, weil dieser russische Rüstungspark, der so ziemlich das einzige ist, was dort noch halbwegs in Schuß ist, nicht einfach stillschweigend zu übergehen ist, hielt der amerikanische Präsident eine „Rücksichtnahme“ für dringend geboten. Um den Russen die Nachricht nahezubringen, daß die gerade vollzogene Übernahme der integrationsgeilen Polen und Tschechen in NATO-Zuständigkeit nicht als feindseliger Akt (miß)verstanden werden darf, hatte Realpolitiker Clinton die höchstförmliche Übersetzung seines Interesses an der Eindämmung der russischen Gefahr in einen einzigen Freundschaftsbeweis im Reisegepäck. „Verzicht auf Provokation“ nennt sich das. Getreu dem verlogenen Muster der Diplomatie – Staaten stellen ihre Ansprüche auf Dienstbarkeit fremder Hoheiten als in deren ureigenstem Interesse liegend dar – offeriert er Jelzin eine goldene Brücke:

„Rußland soll nicht das Gefühl bekommen, isoliert und gleichsam zurückversetzt zu sein in den Status eines potentiellen Feindes“

– ohne im Anliegen ein Jota zurückzuweichen. Schließlich war nicht zu übersehen, daß die ausgebreiteten Arme des Repräsentanten der obersten Weltaufsichtsbehörde dem Liquidator der Sowjetunion und Kaputtsanierer ihres Erbgutes galten. Boris Jelzin wurde damit die Frage vorgelegt, ob er bereit ist, auf diesem Wege weiterzumachen: Das Angebot auf Übernahme der westlichen Sprachregelung, die Erweiterung der NATO-„area“ bis an die Westgrenze der Russen sei gewiß nicht gegen sie gerichtet, gilt dem Test auf ihr „Gefühl“, also ihren Willen, diesen Anspruch zu schlucken. Nachdem die Erben der SU dem Antikapitalismus entsagt haben, muß Rußland nun beweisen, daß es auch kein Antiimperialismus, sprich: keine Schranke für den überlegenen Imperialismus des Westens, mehr sein will. Andernfalls hat es seine Feinde unwiderruflich wieder, und ein paar neue vor der Haustür dazu.

Daß das Ergebnis der Sondierung beiderseits „positiv“ bewertet wurde – streng nach dem absurden Motto moderner Diplomatie: Je kumpelhafter die Symbolik (Sauna, Wodka und so weiter), desto unversöhnlicher ihr Inhalt –, besagt nur soviel, daß dem Westen bzw. seiner Führungsmacht eine offizielle Feindschaftserklärung an Rußland bis auf weiteres erspart bleibt. Der Sache nach wurden die Standpunkte jedenfalls eher bekräftigt als relativiert. Den berechnenden Vorschlag der Russen, die Osteuropäer könnten schon, aber „nur im Paket“ mit ihnen, zu NATO-Mitgliedern aufsteigen, würdigt der Ami – als wäre der Dolmetscher ausgefallen! – mit dem Dank an Jelzin, „die Reformen voranzutreiben“ sowie „aktiv an der Partnerschaft für den Frieden teilzunehmen“ (Gemeinsame Erklärung). Die Geste eines feierlichen „Schlußstrichs unter den Kalten Krieg“ – die in Minutenschnelle revidierbare Deprogrammierung der bisher aufeinander zielenden Atomraketen – ist deshalb mit Sicherheit alles andere als das Ende einer Feindschaft.

Daß der bekundete Kooperationswille keine Rücknahme der gegensätzlichen Interessen bedeutet, machen die angekündigten „Felder wirtschaftlicher Zusammenarbeit“ nicht minder deutlich: Ob Freund Boris die „vielen Arbeitsplätze“, die das amerikanische dem russischen Volk im Rahmen eines „großen Energieprojekts“ zur lukrativen Ausbeutung sibirischer Rohstoffe schenken will, mit materieller Unterstützung verwechselt, sei dahingestellt. Ob er sich dazu versteht, das Versprechen Clintons, der Internationale Währungsfonds werde seine Kredite in Zukunft auch unter dem Gesichtspunkt „sozialer Abfederung“ der marktwirtschaftlichen Reformen zuteilen, damit die verelendeten Massen nicht Schirinowski an die Macht bringen, als Förderung souveräner russischer Wirtschaftspolitik mißzuverstehen, ist schon fraglicher. Die in ihm enthaltene Anweisung zum Vollzug der IWF-Direktiven hat auch Jelzin nicht überhört. Er bemängelte schließlich schon vor einiger Zeit, daß die Richtlinien und Auflagen dieses imperialistischen Kontrollorgans „auf die Situation in Rußland nicht anwendbar“ wären – bekundet in der Form eines Zweifels an der technischen Machbarkeit also seinen Willen, die heimische Wirtschafts- und Finanzpolitik keineswegs bedingungslos dieser Behörde zu übergeben.

Der Gipfel des Gipfels: Clintons doppeldeutige Versicherung, daß den Beziehungen zu Rußland nach wie vor „höchste Priorität“ zukomme – so oder so! Will sagen: Egal, wie die Russen sich verhalten – ob sie sich der westlichen Erwartung an sie akkomodieren oder sich sperren –, eines steht heute schon fest:

4. Der Respekt vor dem Waffenpotential Rußlands verträgt sich nicht mit einer Anerkennung seiner Weltmachtambitionen

Wozu die Hüter des russischen Staates sich entscheiden, ist gewiß noch nicht ausgemacht (der Auftrieb des dortigen Nationalismus belegt das): Die Alltagspolitik in den imperalistischen Demokratien macht sich davon allerdings nicht abhängig.

Kinkel verweigert Herrn Schirinowski die Einreise nach Deutschland. Kissinger hält den Erfindern der „Partnerschafts“-Formel Feigheit vor dem Iwan vor. Kohl fordert seinen Saunabruder Boris zu einer öffentlichen Abstandnahme von „Nationalismus und Imperialismus“ auf. Die NATO straft die Bedenken Rußlands gegen ihr Balkan-Ultimatum mit offensiver Nichtachtung. Alles in allem: Von mündlicher, schriftlicher oder praktischer Zurückhaltung, um den „großrussischen Chauvinismus“ nicht zu reizen, keine Spur.

Eine Bilanz der diesbezüglichen Fortschritte in den letzten Monaten:

Nach der Entscheidung von Brüssel häufen sich die Stimmen, die die „Partnerschaft für den Frieden“ als unnötige Schwäche kritisieren. Stellvertretend der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger:

„Wenn Rußland nun, in einer Phase großer wirtschaftlicher Schwäche, de facto über ein Vetorecht in der Frage der NATO-Erweiterung verfügt, in welchen Fragen wird es dann später ein Vetorecht geltend machen, wenn es durch Reformen und amerikanische Wirtschaftshilfe wieder zu Kräften gekommen ist?“

Mit einer Analyse der tatsächlichen Absichten Rußlands in der Weltpolitik hat diese rhetorische Frage nichts zu tun. Die Logik des Verdachts funktioniert anders: Die Russen brauchen sich überhaupt nur irgendwie zu rühren – schon registriert der überaus feinfühlige, weil anspruchsvolle westliche Verstand ein unerträgliches „Vetorecht“, das diese Nation sich einfach anmaßt. So gesehen erscheint die Form der NATO-Ausdehnung in der Tat wie ein einziges Zugeständnis an den Feind, der sich momentan hinter der Maske seiner wirtschaftliche Angeschlagenheit verbirgt, und wie ein Versagen des Westens, den fälligen Knockout zu landen.

Die Sichtweise, der jede außenpolitische Wortmeldung Rußlands schon zu viel ist – von Einsprüchen ganz zu schweigen! –, evoziert einen „Kampf zweier Linien“, in der demokratische Politiker des Westens sich wechselseitig zur Rücksichtslosigkeit ermahnen: Warum auf morgen (= Schirinowski) warten, statt heute die NATO-Grenze bis an die Eingangstüre Rußlands voranzutreiben, fragen Leute wie Kissinger und Brzezinski; warum die Russen heute unnötig provozieren, solange man morgen noch etwas von ihnen will, echot es aus der „gemäßigten“ Ecke. Schwer zu sagen, wer richtiger liegt. Schließlich betonen beide Positionen nur jeweils eine Seite des Widerspruchs westlicher Rußland-Politik: die eine deren Absicht, jede Anmeldung eigenständiger russischer Interessen am liebsten zu unterbinden, die andere den dabei gegebenen Zwang zur Rücksichtnahme.

Gerade in der deutschen Öffentlichkeit finden Kommentare wie der von „Welt-am-Sonntag“-Kolumnist Kissinger viel Applaus. Aus naheliegenden Motiven: „Partnerschaft für den Frieden“ gilt als Kompromiß, der unsere Interessen in Osteuropa zu wenig berücksichtigt, und deshalb keineswegs als Ende der Fahnenstange.

Rühe verkündet unverdrossen: „Partnership for peace“ (amerikanisch!) ist „kein Ersatz“ für die Aufnahme „unserer deutschen Nachbarn im Osten“. Augstein weiß: „Polen gehört zu uns, wird künftig zu einem wie immer gestalteten Europa gehören, und damit basta!(Spiegel 2/94). Stoiber will das „Fenster der Gelegenheit“ nicht vom Wind der Geschichte schließen lassen. Und Karl Lamers, außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, mahnt das „Ende der westlichen Vorleistungen“ und den Übergang zur unverhüllten Feindschaft gegen den „latenten Imperialismus“ Jelzins und Kosyrews an: „Der Westen habe bewiesen, daß er Partner Rußlands sein wolle. Jetzt scheint es an der Zeit zu sein, zu zeigen, daß er auch Widerpart sein kann(SZ 7.1.94)

Die Chancen stehen also nicht schlecht, daß der russische Präsident noch während seiner Amtszeit in den Genuß kommt, das Schicksal Gorbatschows – den Goebbels-Vergleich aus dem Munde seines späteren Helmut – in umgekehrter zeitlicher Abfolge zu teilen, also vom Sauna-Kumpan Boris zum Nazi Jelzin zu avancieren.

Zumal der Vorwurf eines „latenten russischen Imperialismus“ inzwischen nicht mehr bloß von ideologischen Vordenkern und den bekannten Wadenbeißern der Politik vertreten, sondern hochoffiziell auf diplomatischem Parkett gehandelt wird. Auf der NATO-Wehrkundetagung gewährte Helmut Kohl einen bemerkenswert tiefen Einblick in die deutsche Anspruchshaltung an Rußland:

„Kohl sagte, die Öffnung der europäischen Institutionen für seine östlichen Nachbarn sei ein vitales deutsches Interesse … Er vertraue der ‚derzeitigen‘ russischen Führung und ihrer Versicherung, keine imperialistische Außenpolitik treiben zu wollen. Jelzin habe dies in Briefen an Präsident Clinton und ihn erst vor wenigen Tagen nochmals bestätigt. Rußland müsse durch sein Handeln Vertrauen schaffen, vor allem bei seinen Nachbarn. Eine Politik, die auf die Schaffung von Interessenssphären ziele, sei damit nicht vereinbar.“ (FAZ 7.2.94)

Man mag sich den Tobsuchtsanfall Kohls kaum vorstellen, hätte er ein entsprechendes Schreiben Jelzins empfangen, in dem die förmliche Abstandnahme Deutschlands von imperialistischer Außenpolitik verlangt wird. Gäbe es einen deutlicheren Beweis für Größenwahn? Will der Russe sich neuerdings in unsere Angelegenheiten einmischen? Sei’s drum, wir lernen: „Interessenssphäre“ ist nicht gleich „Interessenssphäre“ – und die Entscheidungsbehörde, welches Interesse „vital“ = unabweisbar, welches dagegen „imperialistisch“, also totzumachen ist, ist das Bonner Kanzleramt. Lächerlich sollte das freilich niemand finden: Es handelt sich um die ernstgemeinte Absichtserklärung, alle Mittel aufzubringen, von deutschem Boden aus Rußland einzudämmen.

Außenminister Kinkel erläuterte die Grundsätze deutscher Weltpolitik nach Osten eine Woche später noch ein wenig näher:

„Wer in Rußland glaubt, er könne nach innen etwas gewinnen, indem er nach außen in überwunden geglaubte Verhaltensmuster aus sowjetischer Zeit zurückfällt, muß wissen, daß er damit erneut Isolation und Konfrontation riskiert. Im neuen Europa ist für sogenannte vitale Interessenssphären kein“ – also nur für einen – „Platz“.

Hintergrund dieser verschärften Töne war die Widerspenstigkeit Rußlands gegen das NATO-Ultimatum an die bosnischen Serben und damit der vorläufig letzte Fall, an dem die westlichen Nationen den Versuch unternommen haben, jede russische Regung sofort der Nichtigkeit und weltpolitischen Ungültigkeit zu überführen. Wie sie das taten, ist durchaus denkwürdig:

Die Entscheidung der selbsternannten westlichen Aufsichtsmächte über den Balkan, das westliche Militärbündnis und nicht, wie einmal früher im Gespräch, die „Völkergemeinschaft“ UNO mit ihrer Intervention zu betrauen, ist in ihrem Kern bereits antirussisch, nämlich darauf berechnet, einen denkbaren Vorbehalt Moskaus durch die Wahl des Dachverbandes NATO von vornherein zu unterlaufen. Als die Russen „dennoch“ Einspruch anmeldeten, also darauf bestanden, daß die Sache die Welt und damit auch sie etwas anginge, griff der Westen – in dieser Frage wirklich der Westen – zu durchsichtigen, aber wirksamen Hütchenspielertricks. Sofort wußten Amerikaner, Franzosen, Deutsche und Engländer, was bis gestern, auch untereinander, so klar nicht war: Die UNO-Resolution 836 „deckt Luftangriffe auf serbische Stellungen ab“, ist also „ausreichend“, eine Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates darum „überflüssig“ – und schon ist der russische Antrag als pures „Störmanöver“ entlarvt. Obwohl die Qualität des russischen Einspruchs eher im Düsteren verblieb – einerseits versicherten Jelzin und sein UN-Botschafter, den Ablauf des Ultimatums und die Vorbereitung des ersten heißen NATO-Krieges nicht behindern zu wollen („Wer redet denn davon, irgendetwas zu stoppen?“), andererseits beschworen sie „dunkle Schatten auf den west-östlichen Beziehungen“ und drohten: „Ein Schlag gegen Serbien kann sich in Wahrheit als ein Schlag gegen Rußland erweisen“ –, reichte die Tatsache der bloßen Abweichung bereits aus: Die russische Position wurde wie ein Veto genommen und als versuchte unzulässige Einmischung in die Belange der einzig befugten Weltpolizei abgeschmettert. Eine „offene Sitzung“ des Weltsicherheitsrats, auf der jeder Staat, der wollte, und daher eine eindeutige Mehrheit von Unterstützern des NATO-Ultimatums zu Wort kam, machte anschließend diesen westlichen Vorstoß zur allgemein akzeptierten Sache der „Völkergemeinschaft“, ohne daß irgendetwas daran von der russischen Zustimmung hätte abhängig gemacht werden müssen.

An einem freundlichen Angebot der NATO lag es jedenfalls nicht, daß die Russen mit ihren Mitzuständigkeitsbedürfnissen sich im Fall des Sarajewo-Ultimatums dann doch nicht haben ausbooten lassen. Sie haben sich zum Garanten des serbischen Waffenabzugs ernannt, den die NATO ultimativ verlangt hat, sind mit eigenen UNO-Kontingenten hingefahren, haben die fraglichen schweren Waffen unter Kontrolle nehmen helfen und so für die – von den zuständigen UNO-Diplomaten bestätigte – Erfüllung des Ultimatums gesorgt. Ein sehr dialektischer Schachzug: Genau da, wo die vereinigten Westmächte beweisen wollten, wieviel Einigkeit sie in den letzten Fragen doch noch hinkriegen, auch praktisch wirksam werden lassen können, also daß ihr exklusiver Zugriff auf auswärtige „Konfliktherde“, ihr Ordnungsmonopol in der Welt und vor allem in der postsowjetischen Zwischenwelt Europas durchaus funktioniert, genau da haben die Russen Gelegenheit gefunden, sich als mitordnende Macht einzuschalten. Daß sie sich dafür zum Helfershelfer der westlichen Rückzugsforderung an die Serben gemacht haben, dieses kleine „Entgegenkommen“ hat die Absicht glatt unterlaufen, die die NATO-Verbündeten damit verfolgt haben: Wo ihre Ausgrenzung beabsichtigt war, haben sie sich eingegrenzt.

Die offiziellen Reaktionen im Westen sind entsprechend säuerlich ausgefallen; der öffentlich bekundeten „Erleichterung“ darüber, daß nicht gebombt werden mußte, war nur zu deutlich die Verärgerung darüber anzumerken, daß wegen einer russischen Intervention die Sache, auf die es angekommen war, nämlich die Demonstration und praktische Beglaubigung gemeinsamer westlicher Stärke unterblieb. Ein gewisser Rückschlag für den Westen also und ein russischer diplomatischer Sieg – aus dem die Partner der westlichen Allianz, von Bonn bis Washington, erst wieder etwas machen müssen. Denn durch die Konfrontation, die sie gesucht haben, und ihr vorläufiges „versöhnliches“ Ende ist die Aufgabe dringlicher und ein bißchen schwieriger geworden, die sie sich gestellt haben: sich auf eine „neue Weltordnung“, vor allem in und für Europa, zu einigen und darin die Russen als Fall und nicht als mitspracheberechtigten Dritten unterzubringen.

[1] Siehe dazu den Artikel in dieser Nummer: „Rußlands Wahl und die Folgen. Statt Festigung der Nation eine neue Runde des Kampfs unter Nationalisten um die Behebung des Notstands“.