Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Ein Blick in den Frühsommer des Superwahljahres
Völker tun das Richtige – geht doch!
Entgegen dem schlechten Ruf, unter dem Völker noch zu Beginn des Jahres angesichts von Trump, Brexit und eines durch Europa ziehenden rechten Ungeistes standen, weswegen es als mindestens prekär galt, ihnen die Schicksalsfrage ihrer Herrschaft zu überlassen, wird ihnen im Frühsommer überwiegend bescheinigt, das ‚Richtige‘ zu tun.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Ein Blick in den Frühsommer des
Superwahljahres
Völker tun das Richtige – geht
doch!
Entgegen dem schlechten Ruf, unter dem Völker noch zu Beginn des Jahres angesichts von Trump, Brexit und eines durch Europa ziehenden rechten Ungeistes standen, weswegen es als mindestens prekär galt, ihnen die Schicksalsfrage ihrer Herrschaft zu überlassen, wird ihnen im Frühsommer überwiegend bescheinigt, das ‚Richtige‘ zu tun.
1. People
In England, heißt es, lag das Volk goldrichtig
damit, in den Parlamentswahlen seiner Chefin May eine
dicke Enttäuschung zu bereiten. Die hatte ganz darauf
gesetzt, sich aus einer Position der Stärke heraus mit
dem Vorziehen der Wahlen mehr Luft
innerhalb ihrer
eigenen wie gegenüber den anderen Parteien zu
verschaffen; zur Orientierung des Wählers hatte sie ohne
jede Scham und Schönfärberei kundgetan, was sie von ihm
verlangt: eine Bestätigung bzw. Ausweitung ihrer Macht,
ein Bekenntnis, sich bedingungslos unter ihr Diktat zu
stellen, um im Vorfeld jedweden inner- und
außerparlamentarischen Einwand gegen ihren harten
Brexit-Kurs und die in diesem Zuge geplanten sozialen
Einschnitte mundtot zu machen und damit entschlossener
und härter durchregieren zu können. Ein Manöver
,
das für sich genommen einer politisch gebildeten
Öffentlichkeit als Kunststück demokratischen
Machtgebrauchs sehr vertraut ist – ein geschickter
Schachzug
eben, um die Gunst der Stunde
zu
nutzen. Mays Kalkulation geht jedoch nicht auf; sie
scheitert am Wählerwillen, der sich anders entscheidet.
Was in diesem Fall nicht im Namen des ehrenwerten
Anliegens gegen den Wähler, sondern gerade für ihn
spricht. Jedenfalls vom Standpunkt weltpolitischer
Vernunft aus, als deren Anwalt die deutsche
Öffentlichkeit die Wahl begutachtet. Die sieht sich
nämlich umgekehrt umso mehr bedient: Anstelle der
beanspruchten Stärkung bereitet der britische Wähler
unserer innereuropäischen Kontrahentin, die der
eigentlich unkündbaren Union mit ihrem harten Brexit so
schwer zusetzen will, eine Schwächung. Mays
Wahlschlappe wird mit einem Machtverlust des britischen
Widersachers gegenüber Deutschland und der EU
gleichgesetzt. Das ist der ganze Erfolg, um den sich der
englische Wähler verdient gemacht hat.
Aus demselben Grund gehört dann aber auch gleich noch ein
deutsches ‚Aber‘ mit dazu. Bei aller Schwächung,
die man ihr gönnt: So strong
und stable
soll May dann allemal noch bleiben, dass das, was man mit
ihr und gegen sie aushandelt, auch Verbindlichkeit hat
und in England verbindlich gemacht wird.
2. Peuple
Auch in Frankreich finden Parlamentswahlen statt, und die
Franzosen machen es mindestens ebenso richtig
;
allerdings indem sie genau das Umgekehrte leisten. Sie
stärken den Mann in Paris auf voller Linie. Das
französische Volk verleiht ihm eine breite Machtbasis.
Genau das war verlangt, ist er doch ‚unser‘ Mann. Die
deutsche Öffentlichkeit weiß nämlich, was ansteht: Der
französische Staatsapparat muss mit seiner ganzen
hoheitlichen Gewalt dafür in Anspruch genommen werden,
dass sich in dem Land einiges ändert. Die
Parlamentswahlen waren ein Votum für Reformen
,
d.h. das Land gehört nach innen endlich ordentlich
umgewälzt. Und wenn eine französische Wählerin meint:
Hauptsache er macht jetzt was, egal was
, so trifft
sie damit nur, wer etwas zu machen hat und
wem dabei die passive Rolle zukommt; das ‚Was‘
und ‚Wofür‘ allerdings ist alles andere als ‚egal‘. Das
‚Wofür‘ steht an erster Stelle: Damit aus dem
maroden Frankreich wieder der von Deutschland geforderte
zweite Stützpfeiler für eine starke europäische Union
wird! Das ‚Was‘ schließt sich nahtlos an: Mit
dem französischen Lebensstandard muss es ein Ende haben,
und Macron ist ganz auf dem richtigen Dampfer, wenn er
eine Umwälzung des Arbeitsrechts nach deutschem Vorbild
an die erste Stelle seiner Agenda setzt, um durch ein
Stück Volksverarmung der Grande Nation wieder zu neuer
Wettbewerbsfähigkeit zu verhelfen. Eine Jungmannschaft
steht dafür voller Tatendrang bereit. Der alte
Parteienklüngel hingegen muss ihr Platz machen. Dass ein
ganzes System umgeworfen wird, hat in diesem Fall also
sein Gutes: Erstens offenbart die Wahlniederlage des
alten Establishments, dass es längst überholt ist, im
Herrschaftsgefüge also auch nichts mehr verloren hat, hat
es doch die nötigen Reformen nicht angepackt. Deswegen
braucht es als Allererstes neue ‚unverbrauchte Kräfte‘ an
der Staatsspitze, die die gebotene Rücksichtslosigkeit
gegenüber Volk und Parteienklüngel walten lassen.
Ganz im Sinne der Glückwünsche zur erlangten Macht bleiben drei Bedenken:
– Erstens stellt sich bei aller bekundeten Entschlossenheit die Frage, ob die Zöglinge der neuen Elite auch können, was sie versprechen. Reife und Kompetenz in Sachen Handwerk der Machtausübung müssen sie erst noch unter Beweis stellen: In ihre neue Profession, die ganz darin aufgeht, sich als der effektive Sachwalter der Umsetzung von Macrons Reformen zu bewähren, müssen sie erst noch hineinwachsen.
– Ein zweiter Makel macht die Wahl zu einer unrunden Sache: Es sind einfach zu wenig hingegangen. Das ist schlecht, weil der demokratische Ermächtigungsakt gleichzeitig ein Unterwerfungsakt sein sollte: In der Wahl galt es mit der Wahlstimme auch das Versprechen mit abzugeben, alles mitzumachen und hinzunehmen, was an sozialen Härten für Frankreichs Aufstieg zur europäischen Stütze nottut. Das Verlangen richtet sich ans ganze französische Volk und nicht nur an 43 Prozent. Ein solches Bekenntnis zum Gehorsam hätte man hierzulande daher gerne von mehr Franzosen gesehen; schließlich weiß man, wie stur die sind, wenn es an ihr ‚savoir vivre‘ geht.
– Da die Glückwünsche zur Allmacht
ein klares
‚Um-zu‘ haben – Merkel hält große Stücke auf Macron –,
gibt es das dritte Bedenken, ob dem neuen President
jupitérien
seine Macht nicht allzu sehr zu Kopfe
steigen könnte. Seine Schwärmerei von einer
französischen, europäischen Renaissance
und einem
Europe qui protège
lassen rechts des Rheins prompt
Zweifel aufkommen, ob der Mann eigentlich so recht weiß,
wie weit die ihm zugedachten Kompetenzen reichen und wem
letztlich seine Reformen zu dienen haben. Ein großes
Missverständnis wäre es, wenn er Europa für ein starkes
Frankreich, statt ein starkes Frankreich für Europa
einzuspannen suchte. Am Ende bildet sich der Franzose
noch ein, er könne mit seinen Ideen eines europäischen
Budgets einen auf gemeinsame Kasse machen und so an
‚unser‘ Geld rankommen.
3. Народ
Derweil finden am russischen Nationalfeiertag
Demonstrationen in Russland statt. Mit den Parolen
Russland ohne Putin!
, Putin ist ein Dieb!
liegen die Demonstranten bereits vollständig richtig,
schließlich richten sie sich damit entschieden gegen den
Mann, den man auch hierzulande nur schwer leiden kann.
Wer dort auf die Straße gegangen ist, ist der hiesigen
Begutachtung sonnenklar: Demonstriert wurde in „mehreren“
Städten zu tausend
, also ‚landesweit massenhaft‘,
also war es das russische Volk, das sich zu Wort
gemeldet hat; in manchen Städten allerdings nur zu
zehnt
, also das unterdrückte russische
Volk. ‚Unser Mann vor Ort‘ ist in diesem Fall der
Oppositionspolitiker Nawalny, gerne auch mal als
Chauvinist
gebrandmarkt. Aber wenn es darum geht,
die deutsche Putin-Feindschaft im Namen des russischen
Volkes zu pflegen, darf man eben nicht wählerisch sein
und mit Maßstäben der ‚Political Correctness‘ hausieren
gehen: Der Mann hat – mit welchen Parolen auch immer –
Mobiliserungspotenzial
, um das Volk gegen den
Störenfried der Deutschen an der Staatsspitze
aufzuhetzen; und darauf kommt es an. Dass den
Demonstranten Hundertschaften an Polizisten
gegenüberstehen, die nicht lange zögern, hart
durchzugreifen – wofür „Ordnungskräften“ hierzulande in
einschlägigen Fällen viel Respekt gezollt wird, weil sie
sich um die Wahrung der Sicherheit „friedlichen“
Demonstrierens verdient machen –, ist in Russland ein
einziger Beleg dafür, dass die Demokratie mit Füßen
getreten wird. Putin hört seinem Volk, also uns, einfach
nicht zu. Dass der Mann sich so renitent an der Macht
hält, liegt in den Augen deutscher Beobachter
wahrscheinlich einzig daran, dass sein
Unterdrückungsregime derart erfolgreich ist, dass sich
das Volk nicht mal traut, seinem Unterdrücker in der Wahl
die Stimme zu verweigern.
4. Bloß ‚il popolo‘ tanzt mal wieder aus der Reihe
Die deutsche Brille guckt sogar in italienische Städte
hinein, in denen Bürgermeister gewählt werden. Selbst
hier kann nämlich ein Volk nach deutschen
Vernunftmaßstäben manches richtig oder falsch machen. In
der ersten Runde der Kommunalwahlen der 5-Sterne-Bewegung
eine Niederlage zu bescheren, bleibt jedenfalls von
deutscher Seite nicht ungewürdigt: Immerhin bekommt ihr
vorsitzender Clown für seinen gegen Europa und gegen das
deutsche Sparregime gerichteten Kurs seine verdiente
kalte Dusche
. Die Enttäuschung folgt jedoch prompt
in der zweiten Wahlrunde: Was nutzt es Deutschland, wenn
die „ehemaligen linken Hochburgen“ von Genua bis zum
ehemaligen „Stalingrado“ Sesto San Giovanni von einem
Mitte-Rechts-Bündnis „gestürmt“ werden, das sich selbst
nicht einig und mit seinen Hahnenkämpfen
zum
Regieren kaum geeignet ist, und der nächste Clown,
Berlusconi, wieder die Bühne betritt? Die Kommunalwahlen
sind somit ein schlechtes Omen für die anstehende große
Wahl: Es steht zu befürchten, dass die Italiener wieder
nicht liefern, worauf es bei einer ordentlichen Wahl doch
mindestens ankäme: eine Regierung, mit der Deutschland
kalkulieren kann. Wer ‚unser Mann in Italien‘ ist, bleibt
bis auf Weiteres eine große Leerstelle.