Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Bespitzelung bei Lidl – Ausbeutung menschen(un)würdig
Die Firma Lidl macht mit einer Praxis von sich reden, die die Gemüter der ganzen Nation erhitzt. Mit geheimen Überwachungsanlagen und verdeckt ermittelnden Detektiven spürt der Discounter seinem Personal hinterher, lässt umfangreiche Informationen sammeln über jeden Schritt bis in die Umkleidekabinen und Buch führen über Gespräche aller Art.
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Bespitzelung bei Lidl – Ausbeutung menschen(un)würdig
Firma Lidl macht mit einer Praxis von sich Reden, die die Gemüter der ganzen Nation erhitzt. Mit geheimen Überwachungsanlagen und verdeckt ermittelnden Detektiven spürt der Discounter seinem Personal hinterher, lässt umfangreiche Informationen sammeln über jeden Schritt bis in die Umkleidekabinen und Buch führen über Gespräche aller Art.
Nach Auffassung aller maßgeblichen Instanzen der
Gesellschaft geht der Konzern damit eindeutig zu weit.
Die Bespitzelung und das Ausschnüffeln der
Privatsphäre einiger Mitarbeiter bis hin zur Toilette
seien ein klarer Verstoß gegen die Menschenwürde und
verletzten darüber hinaus die im Grundgesetz festgelegten
Persönlichkeitsrechte.
(Seehofer, SZ, 31.3.) Im Namen des
allerhöchsten demokratischen Grundwertes wird Lidl
getadelt für seine systematische Bespitzelung von
ahnungslosen Mitarbeitern
, die an Methoden, die
man in Deutschland längst überwunden glaubte
,
erinnert (ders.). Den
‚Mitarbeitern‘ gilt umgekehrt die volle Solidarität –
so darf man sie auf keinen Fall behandeln:
Wie hier die Würde von Arbeitnehmern verletzt wurde,
ist widerlich. Mitarbeiter wurden wie Knechte
behandelt.
(SPD-Generalsekretär
Heil, SZ, 31.3.)
Aufschlussreich ist allerdings der Maßstab, der in dieser Verurteilung zur Anwendung kommt. Was einen ehrbaren Mitarbeiter zum „Knecht“ stempelt, ist offenbar nicht seine Indienstnahme fürs Unternehmen, sondern eine Verletzung des Refugiums, das ihm als „Privatsphäre“ innerhalb seines Tätigkeitsbereichs gerade noch zugestanden wird. Dass sich der Arbeitgeber dafür interessiert, welche Tattoos einer auf dem Klo entblößt oder welche Gespräche einer mit seinen Kollegen in den Pausen führt, überschreitet nach einhelliger Meinung die Grenze des Hinnehmbaren.
Zwar ist den Beschwerdeführern keineswegs unbekannt, wie insgesamt und überhaupt der Umgang der Discounter mit ihren Belegschaften aussieht; ziemlich empörend – wie sie in diesem Zusammenhang zu Protokoll geben:
„Allerdings passt der Bericht ins Bild. Wer sich ein wenig im Handel auskennt, weiß, dass gerade bei vielen Discountern raue Sitten herrschen. Von der Kassiererin bis hin zum Filialleiter wird die Leistung streng kontrolliert; wer nicht liefert, fliegt raus. Und wer einen Betriebsrat gründen will, dem kann Gleiches passieren. Gearbeitet wird mit knappem Personal. Kleinere Filialen, zum Beispiel beim Drogeriemarkt Schlecker, laufen auch schon mal im Ein-Frau-Betrieb. Die Angst vor Überfällen begleitet manche Kassiererin durch den Arbeitstag. Natürlich sind viele dieser Praktiken illegal – oder zumindest halb legal. Das Geschäftsmodell funktioniert aber, weil es immer wieder Nachschub an Mitarbeitern gibt. An den Kassen sitzen Mütter, die etwas dazuverdienen wollen, Studentinnen oder andere 400-Euro-Jobber. In die Leitungsfunktionen drängen junge Leute, die auf jene schnelle Karriere hoffen, die der Handel bei großem persönlichem Einsatz immer noch bietet.“ (SZ, 27.3.)
Man weiß also durchaus von „rauen Sitten“ zu berichten, von der Erpressungsmacht, die den Beschäftigten jede Leistungsanforderung gegen Billigstlohn abzwingt und ihnen ein Leben in Angst vor Entlassung bei Nichterfüllung beschert, von der Bequemlichkeit, mit der jeder leise Anflug von Gegenwehr durch Gründung eines Betriebsrats im Keim erstickt wird usw. Ja nicht einmal vor Polizeiwidrigkeit sollen Lidl & Co in ihren Geschäftspraktiken zurückschrecken. Aber dieses (Sitten-)“Bild“ der Arbeitswelt in den Einkaufsläden wird gar nicht als Normalität von Ausbeutung ins Visier genommen, sondern nur als besonders schäbige Abweichung von ordentlichen Arbeitsverhältnissen angeführt und dann mit einem: ‚Klar, unschön, nicht ganz legal, aber eben leider geschäftsförderlich, also heutzutage auch nicht verwunderlich bei den vielen Arbeitsplatzanwärtern und Aufstiegswilligen!‘ auch schon wieder halb verständnisvoll abgehakt. So unschön geht es leider zu und man muss doch zugeben, es ist auch nicht so verwunderlich: wo es doch für die Unternehmer so gut funktioniert. Umso mehr muss man unter diesen Umständen aber auch auf Grenzen des Zumutbaren pochen. Endgültig untragbar wird die Sache jedenfalls, wenn der Respekt vor der Privatsphäre vermisst wird. Die aufgeführten alltäglichen Ausbeutungsumstände dienen insofern bloß als Hintergrund und zur Bekräftigung des Urteils der Öffentlichkeit, dass hier ein geschäfts-‚gieriges‘ Unternehmen endgültig über die Stränge schlägt und gegen die guten betrieblichen Sitten verstößt, auf die Belegschaften ein Anrecht haben, wenn sie hergenommen werden.
An welcher Stelle die Grenze verläuft zwischen zwar unschönen, letztlich aber zum Geschäftsleben heutzutage leider auch dazugehörenden Zumutungen und einer eindeutigen, nicht hinnehmbaren Verletzung der großartigen Menschenwürde, dafür haben die Verfechter eines respektvollen Umgangs mit der Belegschaft ein verlässliches Kriterium: Ihr Verständnis hört auf, wenn sie keine Funktionalität mehr fürs Geschäft entdecken können, wenn sie Unternehmerwillkür ausmachen, die den Beschäftigten grundlos zu Leibe rückt. Deswegen geben sich empörte Gemüter dann auch wieder zufrieden mit einer öffentlich gemachten Entschuldigung und Lidls Versicherung, künftig vom Sammeln privater Daten Abstand zu nehmen; nichts billiger offenbar, als den Vorwurf, gegen die Menschenwürde verstoßen zu haben, aus der Welt zu schaffen. Und deswegen geht die öffentliche Besprechung der „Affäre“ auch bruchlos in die zweite Runde.
Nicht nur Anklage – auch öffentliches Verständnis für das
gescholtene Unternehmen ist angesagt. Sieht man nämlich
mal von den ‚Übertreibungen‘ des Discounters ab, muss man
einfach konzedieren, dass dessen Überwachungsregime so
grundlos gar nicht ist. Genau besehen gehören die
‚Einzelhändler‘ doch zu den Opfern, die sich
immerzu nicht nur der kriminellen Energie ihrer
Kundschaft erwehren müssen, welche sich notorisch nicht
an die marktwirtschaftliche Gepflogenheit halten will,
erst zu zahlen, bevor es ans konsumieren geht; es ist
viel schlimmer: Mitarbeiter, die stehlen, sind im
Einzelhandel ein altbekanntes Problem.
(Supermärkte verfügen offenbar über ihre eigene
Verelendungstheorie: je schlechter die Bezahlung, desto
krimineller das Personal!)
„‚Unter Kaufleuten gilt seit vielen Jahren die Faustregel: Etwa ein Drittel des sogenannten Inventurverlustes, also der fehlenden Waren am Jahresende, geht auf das Konto von kriminellem Personal‘, sagt Marco Atzberger, Geschäftsführer des Kölner Handelsforschungsinstituts EHI. Im vergangenen Jahr sei dem deutschen Einzelhandel so ein Schaden von rund 1,3 Milliarden Euro entstanden, schätzt das Institut.“ (SZ, 28.3.)
Dem „Mitarbeiterklau“ kommt man natürlich nicht mit den
üblichen, für den ‚Kundenklau‘ eingesetzten
Kontrolleinrichtungen auf die Schliche; dafür ist der
„Mitarbeiter“ viel zu gerissen: Warum aber heimliche
Videoüberwachung? ‚Weil die Angestellten die Abläufe und
die meisten Sicherheitseinrichtungen im Unternehmen
kennen, weil sie auch mal Absprachen untereinander
treffen und sich anschließend den Gewinn teilen.‘
(Wirtschaftsdetektiv im Gespräch mit
SZ, 28.3.) Deswegen kann auf heimliche Überwachung
selbstverständlich nicht verzichtet werden.
Die Durchführung ist allerdings – der Skandal beweist es
– eine heikle Angelegenheit. Da will sorgfältig abgewogen
sein zwischen dem berechtigten Firmeninteresse am Schutz
seines Eigentums und so hohen Rechtsgütern wie
beispielsweise der Vertraulichkeit des Wortes
.
Bespitzeln muss sein – aber bitte nur in begründeten
Fällen und ohne das prinzipiell gewünschte
Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitergeber und
Arbeitnehmer in Mitleidenschaft zu ziehen. Diese schier
unlösbare Aufgabe verlangt Verfahrensregeln, die beides
in Einklang bringen.
„Hinzu komme, dass seine Detektei nur aktiv werde, wenn es bereits konkrete Hinweise auf Mitarbeiterklau gebe. ‚Dann ist es auch kein Problem, mit dem Betriebsrat die Überwachungen abzustimmen, denn die Belegschaft hat meistens großes Interesse daran, dass schwarze Schafe nicht das Verhältnis zum Arbeitgeber belasten‘, sagt der Detektiv.“ (SZ, 28.3.)
Auch dafür ist ein Betriebsrat offenbar gut: Als Legitimationsinstanz zu fungieren für korrektes Ausschnüffeln unter Wahrung des Respekts vor den werten Angestellten. Dumm nur, wenn die Firma über keinen Betriebsrat verfügt. Damit dennoch das Spionieren nicht im ‚rechtsfreien Raum‘ erfolgt, wird dank des Anstoßes durch die aktuelle „Lidl-Affäre“ staatlich Vorsorge getroffen:
„Peter Schaar, Datenschutzbeauftragter des Bundes, sieht die heimliche Videoüberwachung trotz der Verluste durch kriminelles Personal ‚als das wirklich letzte Mittel, das ein Arbeitgeber gegen seine Mitarbeiter einsetzen sollte.‘ Die Rechtslage sei eindeutig: Auf jeden Fall müsse ein solcher Einsatz mit dem Betriebsrat abgestimmt werden. Da in Betrieben ohne ein solches Gremium, ‚diese wichtige Kontrollfunktion ausgehebelt ist, fordere ich auch im Zuge der aktuellen Diskussion einmal mehr ein Arbeitnehmer-Datenschutzgesetz, um solche Lücken zu schließen‘.“ (SZ, 28.3.)
So kommt der Angestellte auch noch in den Genuss eines eigens ihm gewidmeten „Schutzgesetzes“, damit das Überwachen auch wirklich nur datenschutzrechtlich kontrolliert und garantiert eingegrenzt auf das für das Betriebsinteresse unumgängliche Maß erfolgen kann.