Die Ukraine in der Gegenoffensive – die Helden der antirussischen Front

Die Berichte über die Lage der Ukraine zeichnen ein verheerendes Bild: Sie hat im Zuge der russischen Offensiven ca. 20 Prozent ihres Staatsgebiets verloren, umkämpfte Gebiete sind in unbewohnbare Landstriche verwandelt, die Infrastruktur steht in vielen Regionen vor dem Zusammenbruch, mehr als zwanzig Millionen Menschen – die Hälfte der Bevölkerung – sind innerhalb des Landes oder gleich aus ihm geflohen, die Verbliebenen sind mit der Bewältigung der Folgen des Krieges beschäftigt und die nationale Verteidigungsarmee ringt trotz eines Überschusses an patriotischem Heldentum, trotz Generalmobilmachung und Zwangsrekrutierungen angesichts des Verschleißes an der Front mit Nachschubproblemen und kommt nach Auskunft der Militärexperten aus dem verlustreichen Stellungskrieg, den das Land immer schlechter aushält, bisher nicht recht heraus. Der ukrainische Präsident lässt sich durch diese desolate Lage nicht beirren: Er bekräftigt seinen unerschütterlichen Willen, von den weitreichenden Kriegszielen nicht abzurücken und den Krieg unbeschadet aller Opfer und Verwüstungen weiterzuführen bis zum Sieg über Russland.

Aus der Zeitschrift
Siehe auch
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Die Ukraine in der Gegenoffensive – die Helden der antirussischen Front

Die Berichte über die Lage der Ukraine zeichnen ein verheerendes Bild: Sie hat im Zuge der russischen Offensiven ca. 20 Prozent ihres Staatsgebiets verloren, umkämpfte Gebiete sind durch die Schlachten in zerbombte, eigentlich unbewohnbare Landstriche verwandelt, die Infrastruktur steht in vielen Regionen vor dem Zusammenbruch, der Krieg hat bisher zigtausende ukrainische Opfer gefordert, mehr als zwanzig Millionen Menschen – die Hälfte der Bevölkerung – sind innerhalb des Landes oder gleich aus ihm geflohen, die Verbliebenen sind an oder hinter der Front mit der Bewältigung der Folgen des Krieges beschäftigt und die nationale Verteidigungsarmee ringt trotz eines Überschusses an patriotischem Heldentum, trotz Generalmobilmachung und Zwangsrekrutierungen angesichts des Verschleißes an der Front mit Nachschubproblemen und kommt nach Auskunft der Militärexperten aus dem verlustreichen Stellungskrieg, den das Land immer schlechter aushält, bisher nicht recht heraus.

Der ukrainische Präsident lässt sich durch diese desolate Lage nicht beirren: Er bekräftigt seinen unerschütterlichen Willen, von den weitreichenden Kriegszielen nicht abzurücken und den Krieg unbeschadet aller Opfer und Verwüstungen weiterzuführen bis zum Sieg über Russland:

„Die Ukraine wird niemals aufhören sich zu verteidigen.“ – „Wir werden nicht ruhen, bis wir den russischen Aggressor aus der Ukraine vertrieben haben.“ – „Wir werden um jeden Meter unseres Territoriums kämpfen und nicht aufgeben, bis wir die besetzten Gebiete und die Krim zurückerobert haben.“ – „Für unsere Schritte einer De-Okkupation gibt es keine Alternative und wird es keine geben.“ „Die Ukraine wird siegen.“ (Selenskyj so und so ähnlich bei zahllosen Gelegenheiten)

Unterhalb des anspruchsvollen Ziels der Rückeroberung aller von Russland annektierten Gebiete, also einer Umkehr bisheriger Kriegsergebnisse ist er auf jeden Fall nicht bereit, über Frieden zu verhandeln. Dafür beschließt er nach Monaten des Stellungskriegs eine neue Gegenoffensive, die Russland zurückdrängen und strategisch in die Defensive zwingen soll.

Dieser kompromisslose und gegen die eigene Basis rücksichtslose Kriegswille hat seine Grundlage einerseits darin, worum diese Nation kämpft – um ihr Gewaltmonopol über das von ihr beanspruchte nationale Territorium und lebendige Inventar, das Russland ihm streitig macht. In und über den Krieg soll die Ukraine ihre Autonomie nicht nur zurück-, sondern erst verlässlich erobern, im erfolgreichen Kampf gegen Russland zu einer eigenständigen, mächtigen und respektierten, also souveränen Staatsgewalt nach innen wie nach außen aufsteigen. Als von Russland angegriffene, zur nationalen Gegenwehr mobilisierte und zur patriotischen Opferbereitschaft genötigte Manövriermasse schweißt der Krieg nach dem Willen der ukrainischen Führung die Bevölkerung erst zu einem richtigen, dem staatlichen Gewaltmonopol bedingungslos subsumierten ukrainischen Volk zusammen. Nach außen kämpft die in ihrer Autonomie von Russland angegriffene Nation darum, mit dem Krieg um ihre heiligen Grenzen den Status eines anerkannten Subjekts in der Staatenwelt zu erringen, das sein Recht auf Verteidigung gegen den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg durchsetzt und dafür Unterstützung von der internationalen Staatengemeinschaft einfordert. Dieses Ziel ist der ukrainischen Führung offenkundig die unbedingte Fortsetzung des Kriegs mit all seiner Zerstörung ihrer menschlichen und ökonomischen Ressourcen wert.

Dass die Entschlossenheit der ukrainischen Führung, für ihren Anspruch auf Souveränität gegen eine russische Übermacht Land und Volk zu opfern, nicht im Fanatismus des nationalen Kriegsherren aufgeht, liegt andererseits daran, dass dieser Fanatismus eine materielle Grundlage hat, der unbedingte ukrainische Kriegswille nämlich auf ein Interesse des Westens an diesem Krieg trifft und auf dessen finanzkräftige wie militärische Unterstützung bauen kann. Diese Unterstützung reicht ja so weit, dass es die Ukraine – dies das andere, militärisch entscheidende Resultat des bisherigen Kriegsverlaufs – zu einem militärischen Arsenal gebracht hat, das den russischen Angriffen standhalten kann; dass die ukrainische Führung mittlerweile auf eine schlagkräftige militärische Infrastruktur inklusive einer nationalen Rüstungsindustrie setzen kann und sich durchaus realistisch sogar zutraut und vornimmt, gegen die konventionelle russische Militärmacht in die Offensive zu gehen.

Für ihre beschlossene Eskalation des Kriegsgeschehens erhält sie denn auch die Rückendeckung der NATO-Verantwortlichen. Die stellen sich politisch hinter den Anspruch auf eine souveräne Ukraine und erklären deren Durchsetzung gegen Russland zu ihrem eigenen, für die Sicherheit der westlichen Welt unverzichtbaren Anliegen, also zu einem entscheidenden Fall ihres strategischen Interesses, die russische Macht als Bedrohung der, also ihrer ‚Weltordnung‘ zu bekämpfen:

„Die Ukraine muss sich durchsetzen, und die Ukraine wird sich durchsetzen. Eine starke, stabile und unabhängige Ukraine ist für die euro-atlantische Sicherheit unerlässlich... Wir werden der Ukraine so lange beistehen, wie es nötig ist.“ (NATO-Generalsekretär Stoltenberg, 24.8.22)

Der NATO-Generalsekretär bekräftigt in diesem Sinne ausdrücklich das NATO-Interesse an einer erfolgreichen Gegenoffensive, er sieht darin

„die Grundlage für eine starke Verhandlungsposition mit Russland. ‚Je mehr Land die Ukrainer in der Lage sind zu befreien, desto stärker werden sie dann am Verhandlungstisch sein können‘, sagte Stoltenberg heute in Berlin bei einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er sagte: ‚Wir wollen alle, dass dieser Krieg endet. Aber ein gerechter Frieden kann nicht dazu führen, dass der Konflikt eingefroren wird und ein Diktatfriede Russlands akzeptiert wird.‘“ (tagesschau.de, 19.6.23)

Stoltenberg gibt Selenskyj in dem Programm, den Krieg gegen Russland offensiv voranzutreiben, also recht und bekräftigt, dass die Ukraine als antirussisches Subjekt erhalten und entsprechend unterstützt werden muss. Sie soll erklärtermaßen mit Unterstützung der NATO mit ihrem Krieg der russischen Militärmacht auf konventioneller Ebene derart erfolgreich zusetzen, dass diese ihren politischen Willen zur Behauptung ihrer Sicherheitsinteressen relativiert und so der Weg für einen „gerechten Frieden“ gemäß den weltpolitischen Ansprüchen des Westens frei wird. Zu diesem Zweck hat der Westen schließlich die Ukraine seit nun mehr anderthalb Jahren zu einem veritablen antirussischen Kriegssubjekt aufgerüstet, das auf dem ukrainischen Schlachtfeld den Krieg führt, zu dem die NATO es mit seiner Ausstattung ermächtigt. Diesen Krieg soll die Ukraine mit ihrer Gegenoffensive vorantreiben..

Die ukrainische Führung nimmt diese Rolle ihres Landes in der strategischen Auseinandersetzung des Westens mit Russland ihrerseits als Chance, das westliche Interesse an einem antirussischen Vorposten und NATO-Aufmarschgebiet für ihre Machtfortschritte zu funktionalisieren und ihre Nation als dessen souveräner Repräsentant an der Front aufzubauen. Selenskyj tritt unentwegt den NATO-Mächten als selbstbewusster Partner und Vorkämpfer im gemeinsamen Krieg gegen Russland gegenüber:

„Heute sind wir zuversichtlich, dass Russland diesen Krieg verlieren wird. Aber das ist nicht die einzige wichtige Sache. Wichtig ist das, was wir mit unserem Sieg und unserer Zusammenarbeit beweisen... Gemeinsam beweisen wir, dass das Leben einen Wert hat. Dass Menschen zählen. Freiheit zählt. Europa zählt“. (Selenskyj, diesmal in Kopenhagen, de.euronews.com, 21.8.23)

Die gefeierte Einigkeit zwischen der Ukraine und ihren westlichen Verbündeten hat nicht bloß moralische Qualität. Wenn Selenskyj als oberster Repräsentant einer Nation auftritt, die so aufopferungsvoll, aber auch siegessicher für die gemeinsame Sache kämpft und das Leid des Krieges erträgt, beglaubigt er nicht nur die guten Gründe westlicher Waffenlieferungen; er verpflichtet damit die angesprochenen Mächte auch darauf, im Sinne ihrer Waffenbrüderschaft die Ukraine mit allen Gewaltmitteln auszustatten, die sie jetzt für ihre Offensive benötigt und auf die sie ein Anrecht reklamieren kann. Dafür ist Selenskyj unentwegt diplomatisch unterwegs, wird auch allerorts empfangen, darf bei keinem Gipfeltreffen fehlen und kann sich der Bestätigung der herausragenden Rolle seiner Ukraine im Westen durch dessen Staatsoberhäupter sicher sein. So versichern sich beide Seiten: Eine um ihre Freiheit und Souveränität kämpfende Ukraine und eine dem Kampf um die Freiheit und Souveränität der Ukraine und einer gesicherten Weltordnung verpflichtete NATO stehen kämpfend und unterstützend fest zusammen im gemeinsamen Kampf gegen Russland.

Ja, was denn nun? Funktionalisiert die ukrainische Regierung die NATO für ihr Programm der Staatsgründung durch einen antirussischen Befreiungskrieg? Oder benutzt der Westen die Ukraine für sein Programm der Entmachtung des russischen Feindes seiner Weltordnung? Der Kriegsverlauf, derzeit die ukrainische Gegenoffensive des Kriegsjahres 2 gibt eine eindeutige Antwort: Irgendwie beides. Nämlich so:

Die ukrainische Armee ist keine Söldnertruppe, der ukrainische Staat nicht die Gesamtfremdenlegion der NATO. Das Kiewer Machtgebilde lebt und handelt in seinem Verteidigungs- und Befreiungskrieg zwar von Beginn an über seine Verhältnisse; seine Kriegsmacht ist ein Machwerk des Westens und bleibt das bis auf Weiteres auch. Aber der Machtwille, der ihm damit eingeblasen wird, ist der einer Staatsmacht im Werden. Der geht es um ihre Souveränität, ihre Autonomie als anerkanntes Machtmonopol in der Staatenwelt, autonom auch gegenüber ihren Sponsoren.

Der Westen agiert nicht als Kolonialmacht, die sich ein weiteres Herrschaftsgebiet einverleibt; so funktioniert sein Imperialismus nicht. Er braucht und will, erzeugt in dem Fall, einen Partnerstaat, der aus souverän definiertem Eigeninteresse nichts anderes will und unter Einsatz aller ihm verfügbaren Mittel nichts anderes betreibt als das, was der Westen von ihm haben will. Der schafft sich in der Ukraine nicht nur eine Hilfstruppe, sondern bläst dieser den Standpunkt ehrgeiziger nationaler Selbständigkeit ein. Und wahrt damit seine Freiheit, den gesponserten Souverän für alles haftbar zu machen, was er von dem will und nicht haben will.

Das Resultat: Die Ukraine tut alles, um die NATO in ihren Krieg hineinzuziehen. Und die NATO gibt ihrem Geschöpf Mittel und die Freiheit, sich für das aufzureiben, was sie gegen Russland haben will.

Die Gegenoffensive kommt in Gang

Für die ukrainische Führung steht fest, dass als nächster qualitativer Fortschritt eine großangelegte Gegenoffensive fällig ist, mit der sie sich aus dem festgefahrenen Stellungskrieg befreit, Russland in die Defensive bringt, Stück um Stück ihr angestammtes Territorium zurückerobert. Und aus ihrer Sicht hat sie sich die dafür nötige militärische Aufrüstung durch die NATO durch den bisherigen Kriegsverlauf und ihr Standhalten entlang der über 1 000 km Frontlinie mehr als verdient. Im Gestus der Mittel- und Wehrlosigkeit – „Wir haben keine Waffen, uns zu verteidigen.“„Unser Militär kann nicht mal daran denken, Angriffe zu starten, weil es nicht über die entsprechenden Waffen verfügt.“ – beruft sie sich auf die Funktion ihres Verteidigungskrieges für den Westen und leitet daraus ein Anrecht auf vollwertige Kriegsausstattung nach ihrem offensiven Bedarf ab. Die Milliarden-Rüstungspakete, mit denen der Westen sie bisher zur Fortsetzung des Abnutzungskrieges gegen Russland befähigt hat, [1] steigern die Ansprüche der Ukraine auf ein Kriegsmaterial, das ihrer Armee eine neue militärische Potenz und Schlagkraft verleiht und sie zu einem der russischen konventionellen Militärmacht ebenbürtigen Gewaltsubjekt heranreifen lässt:

„Je schneller die Ukraine starke Langstreckenwaffen erhält ... desto schneller wird die russische Aggression enden und wir werden den Frieden nach Europa zurückbringen.“ (Selenskyj in Paris, 8.2.23)

In der Vorbereitung der Gegenoffensive macht Selenskyj allerdings die für ihn nicht neue Erfahrung, dass die Zusicherung, dass „die Ukraine alles bekommt, was sie zu ihrer Verteidigung braucht“, nicht heißt, dass die Ukraine bestimmt, was sie zu ihrer Verteidigung braucht. Nach Monaten der Vorbereitung verkündet der amerikanische Hauptausstatter:

„Wir haben alles getan, was wir kollektiv, aber auch individuell die USA, konnten, um sie darauf vorzubereiten und zu unterstützen, dass es weitergeht. Wir sind sehr optimistisch, was die Entwicklung der Situation angeht.“ (Pressekonferenz Biden und Sunak, 8.6.23)

So schlicht erteilt der Oberchef der NATO-Mächte weitreichenderen Forderungen der Ukraine den Bescheid, dass sie sich mit der Ausstattung zufriedengeben muss, die ihr zugemessen wurde. Unter Berücksichtigung militärischer Potenzen, sonstiger Ansprüche des NATO-Bündnisses auf dem Globus sowie ihrer eigenen strategischen Berechnung, im konventionellen Krieg gegen die russische Atommacht weiterhin selbst keine aktive Kriegspartei sein und auch nicht werden zu wollen, teilt sich die westliche Führungsmacht sehr frei ein, in welchem Ausmaß sie ihren Stellvertreter mit Mitteln für die laufende Offensive ausstattet. So behält sie sich unter anderem die Lieferung von Langstreckenwaffen weiterhin vor und definiert damit die Reichweite ukrainischer Kriegführung gemäß ihrem Bedarf. Von Beschränkung in dem Sinne kann allerdings nur bedingt bzw. im Verhältnis zu viel weiterreichenden Kiewer Ansprüchen die Rede sein, kommen doch so einige neue Kampfbrigaden, ausgestattet mit modernem westlichen Kriegsgerät und NATO-geschultem Personal, mitsamt der nötigen militärischen Infrastruktur für Nachschub und Instandhaltung der ukrainischen Armee zustande.

Dass er nicht die ganze Ausstattung bekommt, die er schon ewig und jetzt als unerlässlich für eine erfolgreiche Gegenoffensive fordert, hält Selenskyj nicht davon ab, loszuschlagen:

„Wir hätten gerne bestimmte Dinge, aber wir können nicht monatelang warten. Wir glauben fest daran, dass wir Erfolg haben werden. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird... Jeder weiß ganz genau, dass jede Gegenoffensive ohne Luftüberlegenheit sehr gefährlich ist.“ (Selenskyj im Interview mit dem Wall Street Journal, 3.6.23)

Was vor Beginn der Offensive von Militärstrategen als „militärischer Irrsinn“ betitelt wurde, definiert er herunter zu einer Frage von Ausdauer, einzukalkulierenden Risiken und eines erhöhten Preises, der für den Erfolg seiner Nation eben zu erbringen ist. Die Diskrepanz von militärischer Ausstattung und selbst gesteckten Kriegszielen bezeichnet der politische Führer der Ukraine als „Hindernisse“, die es im Vollzug des Marschbefehls in die Minenfelder der russischen Verteidigungslinien unbedingt zu bewältigen gilt. Der patriotische Kampfeswille der ukrainischen Nation darf sich nicht an begrenzten Waffenlieferungen und unfertiger Ausbildung an den Waffen relativieren. Umgekehrt: Mit dem wagemutigen Einsatz aller verfügbaren Kräfte muss die Ukraine den Westen nötigen und überzeugen, dass eine erfolgreiche Offensive die Waffen braucht und verdient, die die NATO-Mächte ihr immer noch vorenthalten. Dafür mobilisiert und strapaziert der politische Oberbefehlshaber die Kriegspotenz, über die er tatsächlich frei und souverän verfügt: sein Volk, das als das nötige Menschenmaterial mit seiner Opferbereitschaft den erhöhten „Preis des Erfolges“ zu zahlen hat. Die extremen Verluste an Mensch und Material sind der einkalkulierte Einsatz im Versuch, die russischen Verteidigungslinien zu überwinden und damit die materiellen Ausstatter in Washington und Europa davon zu überzeugen, dass eine qualitativ durchschlagendere Ausrüstung der Ukraine unbedingt notwendig und lohnend ist. [2]

Mit ihren Offensivaktionen entlang der verschiedenen Frontabschnitte macht sich die Ukraine daran, ihr Territorium Dorf um Dorf zurückzuerobern. Dabei unterliegt sie allerdings der kritischen Prüfung durch ihre Ausstatter, ob diese verlustreichen Kämpfe, in denen sie in den ersten zwei Wochen ihrer Offensive gut 20 % des eingesetzten NATO-Materials einbüßt, überhaupt Erfolg versprechen. Kampf- und Opferbereitschaft von Führung und Volk reichen da nicht. In der kritischen Beurteilung der US-Militärstrategen, die die ukrainische Offensive mit ihrer Kriegslogistik begleiten, [3] kommt der Anspruch der westlichen Führungsmächte zur Sprache, dass die Ukraine bei ihrer Offensive gegen Russland erfolgreicher vorankommt – und zwar schnell, bevor der Herbst mit seinem Regen dem massenhaften Sterben und Töten womöglich eine Pause aufzwingt oder die ukrainische Armee gar mit unproduktivem Verschleiß ihre Brauchbarkeit gefährdet.

Diese Kritik gibt die ukrainische Führung offensiv zurück:

„‚Die bei der Überzeugung der Partner verlorene Zeit, die notwendigen Waffen zu liefern, spiegelt sich im konkreten Ausbau russischer Befestigungen wider‘, schrieb der Berater im Präsidentenbüro, Mychajlo Podoljak, am Freitag beim Kurznachrichtendienst Twitter... Der reale Krieg sei kein Blockbuster aus Hollywood. Die Militärführung würde sich daher bei ihrem Vorgehen nicht auf die ‚Fans auf den Tribünen‘ stützen, sondern auf die ‚Militärwissenschaft und den Verstand‘.“ (Zeit Online, 23.6.23)

Dafür, dass die Nation im gemeinsamen Krieg den Kopf hinhält, schuldet der Westen ihr nicht nur Waffen, die dann auch Erfolg garantieren, sondern auch Respekt vor ihrem Dienst. Zugleich darf sie dabei freilich wegen der totalen Abhängigkeit ihrer Kriegführung in Sachen Waffen, Ausbildung für ihren Einsatz, Planungen und Strategien moderner westlicher Gefechtsfeldführung und militärischer Aufklärung über feindliche Truppenzüge und Nachschubwege nicht als untauglich für die westlichen Sponsoren ukrainischer Souveränität befunden werden. Also ändert sie die Strategie ihrer Offensive, um mit verstärktem Einsatz, Umgruppierung der Truppen und einer weiteren Mobilmachung zu beweisen, dass sich eine qualitativ bessere Bewaffnung für die Ausstatter lohnt. So führt die Ukraine Krieg, um den Krieg in Gang zu halten und dadurch an Waffen zu kommen, mit denen sie den Krieg offensiv weiterführen kann.

Fällige Eskalationsschritte für einen Durchbruch in der Offensive

Dass die Ukraine für ihre Offensive nicht nur den Ersatz verschlissenen Materials braucht, sondern immer weiterreichende militärische Schlagkraft benötigt und verdient, dafür wirbt der ukrainische Kriegsherr auf seinen zahllosen Auslandsreisen unermüdlich bei den unterschiedlich gewichtigen Herren. Die kontroversen Debatten der Unterstützer Kiews über ihre sachgerechte Waffenhilfe, die die Ukraine voranbringen soll, ohne dass sie die Kontrolle über die ukrainische Kriegführung und damit auch über die eigene Konfrontation mit Russland aus der Hand geben, will Selenskyj in seinem Sinne beeinflussen. Und hat damit dank des NATO-Interesses an diesem Vorankommen des Kriegs auch Erfolg. In Bezug auf die kritische Frage nach ausreichend Munition entwickelt sich eine rege Debatte über Streubomben als passende Waffe für den geforderten Durchbruch in der Offensive: Mit westlicher Ausstattung zum anspruchsvollen Kriegssubjekt gereift, hält die ukrainische Führung deren völkerrechtliche Ächtung durch ihre europäischen NATO-Partner für „kein rechtliches Hindernis“, schließlich hat sie das Osloer Abkommen über deren Verbot nicht mit unterzeichnet; vor allem aber würde diese Art Munition für „Waffengleichheit“ mit Russland sorgen: „Warum können wir sie nicht nutzen? Es ist unser Staatsgebiet.“ (Ukrainischer Vizeregierungschef Oleksandr Kubrakow auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 18.2.23) Als müsste sie nach über einem Jahr Krieg noch extra demonstrieren, dass sich Rücksichtnahmen auf die Bewohnbarkeit ihres Territoriums und ihre Zivilbevölkerung – Streubomben sind wegen der hohen Blindgänger-Raten und der daraus resultierenden Gefahren für die Zivilbevölkerung international geächtet – im patriotischen Kampf für eine souveräne Nation schlicht verbieten, vertritt die ukrainische Führung vor den versammelten Staatenlenkern die Auffassung, dass hinter ihrem Kampf alle Kollateralschäden zurückzustehen haben – und völkerrechtliche Bedenken sowieso. Ihren Anspruch, hoheitlich über die Legitimität des Einsatzes von Kriegsgerät zu richten, bekommt sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz zwar von der deutschen Außenministerin noch mit höflicher Selbstgerechtigkeit zurückgewiesen: „Uns leitet dabei [in der Unterstützung der Ukraine] eben unsere europäische Friedensordnung, uns leitet die Charta der Vereinten Nationen, uns leitet das humanitäre Völkerrecht.“ Wenn aber die amerikanische Führungsmacht unzufrieden mit dem Verlauf der Gegenoffensive ist, gewinnen auch die völkerrechtlich verfemten Streubomben unbedingt an Effizienz für die gute Sache. [4] Das Schlachtfeld ist schließlich die Ukraine, bei ihr fallen die Opfer an, darüber sind sich NATO-Führungsmacht und ukrainischer Kriegsführer einig und entsprechend zu notwendiger Rücksichtslosigkeit bereit.

Außerdem kommt im Zuge der Gegenoffensive die ewig erhobene Forderung der Ukraine nach Unterstützung aus der Luft durch moderne F-16-Kampfjets und die kontroverse Beratschlagung der NATO-Mächte darüber entscheidend voran. Dänemark will im Verbund mit den Niederlanden bis Ende des Jahres die ersten F-16-Kampfjets liefern und feiert bei Selenskyjs Besuch in Kopenhagen in einem dänisch-ukrainischen Fahnenmeer euphorisch seinen gelungenen Coup, die Genehmigung der Führungsmacht erhalten zu haben, in der längst prinzipiell beschlossenen Kampfjet-Allianz mit einer Lieferzusage voranzueilen und sich als eher kleines NATO-Mitglied so mit Entschlossenheit hervorzutun. Für diesen Souveränitätsbeweis darf sich dann auch Selenskyj, der seit Beginn des Krieges eine ganze Flotte an Kampfjets fordert, die es mit der russischen Lufthoheit aufnehmen kann, vor versammelten Kameras ins Cockpit setzen und sich angesichts dieser „historischen Lieferung“ dankbar zeigen, bevor er weiterreist, um im nächsten Land weitere Flieger und neue Munition zu fordern und keinen Zweifel daran zu lassen, dass sechs Kampfjets gegen Ende des Jahres und ein paar weitere voraussichtlich irgendwann 2024 nie und nimmer alles sein können. Zufriedenheit ist trotzdem geboten, denn: „Die F-16 werden den Kämpfern und den einfachen Bürgern frisches Vertrauen und Motivation bringen.“ (DW, 21.8.23)

Wie bei allen anderen Waffenlieferungen setzen die Lieferanten allerdings Bedingungen für deren Einsatzgebiet und Reichweite:

„Die Regierung in Kopenhagen betonte, die Ukraine dürfe die angekündigten F-16-Kampfjets nur auf eigenem Territorium zum Einsatz bringen. ‚Wir spenden Waffen unter der Bedingung, dass sie eingesetzt werden, um den Feind aus dem Gebiet der Ukraine zu vertreiben. Und nicht darüber hinaus‘, sagt der dänische Verteidigungsminister Jakob Ellemann-Jensen. ‚Das sind die Bedingungen, egal ob es sich um Panzer, Kampfflugzeuge oder etwas anderes handelt.‘“ (Zeit, 21.8.23)

Der Widerspruch der Ausstatter, dass sie mit ihren Lieferungen von immer weitreichenderen Waffen ihrem Stellvertreter immer mehr Freiheiten und Möglichkeiten in der Kriegführung eröffnen und zugleich die Hoheit über ihn und seine Kriegführung behalten wollen, gipfelt in so absurden Debatten wie der um die Reichweiten-Kastration von deutschen Taurus-Marschflugkörpern, die die Ukraine gerade wegen ihrer größeren Reichweite vehement fordert.

So kommt auch an der Front der Waffenfortschritt voran – und im selben Maß die Unzufriedenheit der Ukraine, die sich durch jede beschlossene Lieferung in ihrem Anrecht auf immer mehr und qualitativ durchschlagskräftigeres Material bestätigt sieht. Sie muss die Konditionen freilich erst einmal hinnehmen, kündigt aber an, dass sie sich als souveräner Staat mit seinen Notwendigkeiten in Sachen Verteidigung der nationalen Integrität der Nation damit nicht zufriedengeben will und kann, und reklamiert die Ausweitung ihrer Angriffe auf russisches Territorium als „unvermeidlichen, natürlichen und absolut fairen Prozess“ (Selenskyj anlässlich eines geglückten Drohnenanschlags auf Moskau). Sie respektiert einerseits die Vorgaben ihrer Ausstatter, beansprucht zugleich als souveräne Macht, die westlichen Marschflugkörper gemäß ihren eigenen Kriegsnotwendigkeiten einzusetzen, und beschießt damit Nachschublinien des Feindes. Damit unterstreicht sie militärisch ihren Anspruch auf die von Russland eingenommenen Gebiete und demonstriert, dass sie sich von dem Atomschirm, den Russland ideell über seine neuen Provinzen im Donbass aufgespannt hat, nicht abschrecken lässt. Für alle darüber hinaus reichenden Angriffe tief ins russische Kernland hinein konzentriert sie sich auf ihre mittlerweile aufgebauten eigenen Produktionskapazitäten von Drohnen, über die sie ohne NATO-Vorbehalte frei verfügt. [5] Der Westen begleitet diese Eskalationsschritte seines Stellvertreters mit der gebotenen diplomatischen Distanz einer Nicht-Kriegspartei und als Unterstützer einer „souveränen Macht, die über ihre Kriegsziele eigenständig entscheidet“ – dafür hat sie schließlich diesen Stellvertreter.

NATO-Gipfel – Sachdienliche Klarstellungen zum Verhältnis von Stellvertreter und Ausstatter

Mit ihrem Kampf um eine souveräne Ukraine – mit westlicher Hilfe, also auch durch ihren Dienst am strategischen Interesse des Westens an der Schwächung der russischen Macht – fordert die ukrainische Führung die russische Atommacht immer mehr heraus. Für ihre tätige Risikobereitschaft bei dieser Herausforderung, zu der die NATO sie ermächtigt, fordert Selenskyj vom westlichen Militärbündnis formelle, also rechtlich verbindliche Sicherheitsgarantien. Mit drei weitreichenden Forderungen – weitere Waffenlieferungen, Einladung zum NATO-Beitritt und Sicherheitsgarantien auf dem Weg dahin – reist er zum NATO-Gipfel in Vilnius und verkündet unter dem Jubel der in ihrem antirussischen Revanchismus berauschten litauischen Bevölkerung: „Die NATO gibt der Ukraine Sicherheit. Die Ukraine macht die NATO stärker.“ Der Präsident besteht mit seinem Auftritt auf dem Ethos einer untrennbaren Partnerschaft zwischen seinem Land und den NATO-Mächten und eines gemeinsamen Kampfes gegen den russischen Aggressor, und er wirbt als strammer Patriot und Anhänger ukrainischer Größe für sich und seine Ukraine mit der Funktionalität des Landes für das Militärbündnis. In der Sache stellt er mit dieser Forderung das bisherige Stellvertreter-Verhältnis auf den Kopf: Er will, dass die NATO sein Land nicht bloß als Instrument für ihren Krieg gegen Russland benutzt, sondern will sie als machtvollen Garanten seiner nationalen Sicherheitsinteressen im antirussischen Staatsgründungskrieg auf sich verpflichten; er beansprucht also nicht weniger, als dass die NATO-Partner seinen Krieg endlich verbindlich zu dem ihren machen sollen – mit allen weltkriegsträchtigen Konsequenzen.

Auch wenn der ukrainische Präsident mit am Tisch sitzen darf, als wäre er ein Vertreter eines NATO-Staates – die maßgeblichen NATO-Mächte erteilen ihm offiziell ein weiteres Mal eine Absage. Sie setzen ein „deutliches und vereintes Signal“, das in der Sache darin besteht, den 2008 lancierten Anspruch, „die Zukunft der Ukraine liegt in der NATO“, zu erneuern, der der Ukraine einst die entschlossene Feindschaft Russlands eingebracht hat, verfügen aber zugleich: „Wir werden eine Einladung an die Ukraine in die Allianz aussprechen können, wenn die Verbündeten zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind.“ Zu diesen Bedingungen gehört erst einmal und vor allem ein erfolgreiches Ende des Krieges. So stellt die NATO gegenüber Selenskyj klar, dass sie, gerade weil sie ihn diesen Krieg vor Ort und auf die Ukraine begrenzt führen lässt, sich nicht zum Garanten seiner nationalen Sicherheitsinteressen machen lässt. Sie besteht auf dem Dasein der Ukraine als Werkzeug, das sie in aller gebotenen Freiheit unterstützt und ausstattet, von dem sie sich aber nicht umgekehrt in die Pflicht nehmen lässt.[6] Der britische Verteidigungsminister rückt in diesem Sinne mit einer Lektion in Sachen Benimmregeln das Verhältnis auf der diplomatischen Bühne gegenüber einem beschwerdeführenden Selenskyj zurecht:

„‚Ich habe den Ukrainern vergangenes Jahr, als ich elf Stunden gefahren bin, damit mir eine Liste gegeben wird, gesagt: Ich bin nicht Amazon‘, zitierte der Sender Sky News den Minister. Wallace sagte: ‚Ja, es ist ein edler Krieg, und ja, wir sehen darin einen Krieg, den Ihr nicht für Euch selbst, sondern auch für unsere Freiheiten führt.‘ Doch Kiew müsse daran denken, dass es andere Staaten bitte, ihre eigenen Waffenbestände zugunsten der Ukraine aufzugeben oder dass es darum gehe, ‚zweifelnde Politiker‘ etwa in den USA zu überzeugen. ‚Ob man es mag oder nicht, die Leute wollen etwas Dankbarkeit sehen‘, sagte Wallace.“ (SZ, 12.7.23)

Bei allen gewachsenen Ansprüchen dieses zunehmend potenter gemachten Kriegssubjekts bleibt Selenskyj für die westlichen Ausstatter ein Bittsteller und Präsident von ihren Gnaden. Einige Milliardenpakete an Rüstungslieferungen gibt es dann aber auch noch. Es gilt weiterhin: „‚Wir stellen sicher, dass die Ukrainer alles haben, was sie brauchen, um sich Russlands Aggression erfolgreich zu erwehren‘, sagte US-Außenminister Anthony Blinken. ‚Darauf liegt unser Fokus.‘“ (tagesspiegel.de, 11.7.23) Dafür ist diese Nation schließlich da, und was sie dafür braucht, Russland Paroli zu bieten und ihre Aufgabe als Frontstaat des Westens zu erfüllen, das entscheiden die wahren Machtsubjekte mit ihren strategischen Rechnungen.

*

Während Selenskyj auf diplomatischer Ebene unentwegt um die Anerkennung der Sicherheitsinteressen seines Landes und der daraus resultierenden Rechtsansprüche ringt, kämpft sein Militär weiter um einen Durchbruch durch die russischen Verteidigungslinien zum Asowschen Meer. So treibt die Ukraine in der Gegenoffensive den Widerspruch zwischen ihrem Dasein als Werkzeug der NATO im konventionellen Abnutzungskrieg gegen Russland und ihrer beanspruchten Autonomie bis hin zur Selbstzerstörung eines funktionierenden Staates mit bewohnbarem Territorium und überlebensfähigem Volk weiter voran – alles im Kampf um die Etablierung einer souveränen ukrainischen Staatsgewalt und im Dienst ihrer westlichen Auftraggeber.

[1] „Aus den Daten [des Ukraine-Trackers des Kieler Instituts für Weltwirtschaft] geht hervor, dass die Vereinigten Staaten mit 44,3 Milliarden Euro seit Januar 2022 eindeutig an der Spitze liegen. Aus den Daten geht hervor, dass Großbritannien im vergangenen Jahr Raketen, Verteidigungssysteme, gepanzerte Fahrzeuge, Waffen, Munition und Ausbildungsmaßnahmen im Wert von 2,5 Milliarden Euro an die Ukraine geliefert hat. Am 14. Januar 2023 war das Vereinigte Königreich das erste Land, das der Ukraine Challenger 2, den wichtigsten modernen westlichen Kampfpanzer, lieferte. Nach Angaben des Kieler Instituts hat Polen, das eine gemeinsame Ostgrenze mit der Ukraine hat, im vergangenen Jahr Militärhilfe in Höhe von 2,4 Milliarden Euro zugesagt. Auch Deutschland exportierte Rüstungsgüter im Wert von über 2,4 Milliarden Euro.“ (de.euronews.com, 5.3.23)

[2] „Die Gegenoffensive im Ukraine-Krieg erfordert einen hohen Blutzoll. Nachdem Russland die Abwehrlinie stark vermint hat, kommen die ukrainischen Truppen nur mühsam voran. Trotz häufig überlegener West-Waffen sind die Verluste enorm hoch, wie ukrainische Soldatinnen und Soldaten vermehrt beklagen. ‚Sobald es einen Angriff gibt, beginnt die russische Artillerie mit allen Kräften auf uns einzuwirken und beschießt unsere Stellungen von vorne bis hinten‘, sagte ein namentlich nicht genannter Infanterist jetzt der Kyiv Post und fügte hinzu: ‚Alle hundert Meter Land, die wir gewinnen, bedeuten, dass vier bis fünf Infanteristen die Reihen verlassen – das ist der durchschnittliche Verlust.‘ Ähnlich äußerten sich auch viele andere Frontkämpfer.“ (FR, 24.7.23)

[3] „Das Hauptziel der Gegenoffensive besteht darin, die russischen Nachschublinien in der Südukraine abzuschneiden, indem die sogenannte Landbrücke zwischen Russland und der besetzten Halbinsel Krim unterbrochen wird. Doch anstatt sich auf dieses Ziel zu konzentrieren, haben die ukrainischen Kommandeure ihre Truppen und Feuerkraft etwa gleichmäßig auf den Osten und den Süden verteilt, so die US-Beamten... Amerikanische Planer haben der Ukraine geraten, sich auf die Front in Richtung Melitopol zu konzentrieren, die für Kiew oberste Priorität hat, und die russischen Minenfelder und andere Verteidigungsanlagen zu durchbrechen, selbst wenn die Ukrainer dabei mehr Soldaten und Ausrüstung verlieren... Amerikanischen Beamten zufolge gibt es Anzeichen dafür, dass die Ukraine begonnen hat, einige ihrer erfahreneren Kampftruppen aus dem Osten in den Süden zu verlegen. Doch selbst die erfahrensten Einheiten wurden nach schweren Verlusten mehrfach neu aufgestellt. Diese Einheiten stützen sich auf einen schrumpfenden Kader von hochrangigen Kommandeuren. Einige Züge bestehen hauptsächlich aus Soldaten, die verwundet wurden und in den Kampf zurückgekehrt sind... Die Ukraine hat enorme Ressourcen in die Verteidigung der umliegenden Donbass-Region investiert, und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj möchte nicht den Eindruck erwecken, dass er den Versuch aufgibt, verlorenes Gebiet zurückzuerobern. US-Beamte sagen jedoch, dass die Politik zumindest vorübergehend hinter einer soliden Militärstrategie zurückstehen muss... Nach Angaben amerikanischer Beamter hat die Ukraine noch einen Monat bis sechs Wochen Zeit, bevor die Regenfälle eine Pause bei der Gegenoffensive erzwingen. Bereits im August hat die Ukraine mindestens eine Offensivaktion wegen des Regens verschoben. Wichtiger als das Wetter ist einigen Analysten zufolge die Tatsache, dass den ukrainischen Hauptangriffskräften Mitte bis Ende September die Luft ausgehen könnte. Vor etwa einem Monat verlegte die Ukraine eine zweite Welle von Truppen, um eine erste Truppe zu ersetzen, der es nicht gelungen war, die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen.“ (NYT, 22.8.23)

[4] Wer meint, Streubomben ließen sich endgültig nicht mehr moralisch als Dienst gegenüber der ukrainischen Bevölkerung rechtfertigen, der wird vom Sicherheitsberater der USA eines Besseren belehrt:

 „‚Wir sind uns bewusst, dass Streumunition das Risiko birgt, dass Zivilisten durch nicht explodierte Munition zu Schaden kommen‘, räumte Bidens Berater Sullivan ein. ‚Deshalb haben wir die Entscheidung so lange aufgeschoben, wie wir konnten.‘ Es bestehe jedoch auch ein großes Risiko für Zivilisten, ‚wenn russische Truppen und Panzer über ukrainische Positionen rollen und mehr ukrainisches Territorium einnehmen und mehr ukrainische Zivilisten unterwerfen, weil die Ukraine nicht genug Artillerie hat... Wir werden die Ukraine in dieser Konfliktphase zu keinem Zeitpunkt schutzlos zurücklassen. Punkt.‘“ (tagesschau.de, 5.9.23)

[5] „Die ukrainische Regierung hat umgerechnet eine Milliarde Euro für die heimische Produktion von Drohnen freigegeben... Die Produktion habe sich mehr als verzehnfacht... Drohnen spielen eine wichtige Rolle für beide Kriegsparteien, etwa bei der Ortung gegnerischer Artillerie oder dem Abwurf kleiner Sprengsätze über gegnerischen Schützengräben oder Panzerfahrzeugen. Die Ukraine setzt zudem beim Kampf gegen die russische Schwarzmeerflotte auf Marinedrohnen, die bei Angriffen auf Kriegsschiffe und den Heimathafen der Flotte in Sewastopol auf der Krim sowie auf die Brücke zwischen der besetzten Halbinsel und Russland genutzt worden sein sollen.“ (Zeit Online, 26.7.23)

[6] Wem der Unterschied von den verabschiedeten G 7-Sicherheitszusagen und einem NATO-Beitritt noch nicht ganz klar ist, dem erklärt Stoltenberg nochmal das NATO-Einmaleins: „Die NATO-Mitgliedschaft bedeutet, dass die Ukraine in vollem Umfang unter Artikel 5 fällt. Darin heißt es: Ein Angriff auf einen Verbündeten wird als Angriff auf alle betrachtet – und löst eine automatische Reaktion aller aus. Was die Sicherheitszusagen betrifft: Das ist Sache der G 7, die genauen Modalitäten zu erklären... Mit ihren Sicherheitszusagen sagen die Staaten nachhaltige Unterstützung zu. Das ist extrem wichtig. Aber das unterscheidet sich von der Sicherheitsgarantie der NATO – dass bei einem Angriff die gesamte Allianz da ist, ein Land zu verteidigen.“ (ZDF, 12.7.23)