Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Tudjman tot, Jelzin zurückgetreten:
Demokraten applaudieren dem Abgang unbrauchbar gewordener Freiheitshelden

Zwei Musterbeispiele politmoralischer Urteilsbildung: Die Öffentlichkeit würdigt die Leistung zweier Politiker, die als nützliche Kreaturen zersetzender westlicher Ordnungsansprüche ihren Dienst getan haben und rechnen gleichzeitig mit deren „Verfehlungen“ ab, um den Nachfolgern mit auf den Weg zu geben, westliche Ansprüche als Schranke nationaler Selbstbehauptung anzuerkennen.

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Tudjman tot, Jelzin zurückgetreten:
Demokraten applaudieren dem Abgang unbrauchbar gewordener Freiheitshelden

Das sittliche Unterscheidungsvermögen unserer demokratischen Öffentlichkeit ist sehr fein ausgebildet. Nicht bloß an ein und derselben Figur, sogar an deren immer gleichen Taten vermag sie bei Bedarf Differenzierungen der grundsätzlichsten Art vorzunehmen und gelangt dabei unfehlbar zu den sachgerechtesten Beurteilungen.

Beispiel Nr. 1:

Nachrufe auf unsern Milosevic

Franjo Tudjman, Gründungspräsident des neuen kroatischen Kleinstaats, nützliche Kreatur zersetzender westlicher Ordnungsansprüche im und auf den Balkan, hat seinen abendländischen Freunden und Förderern spät, aber noch nicht zu spät einen letzten großen Gefallen getan und mit seinem Ableben das bedeutendste Hindernis für eine europareife Demokratie in Zagreb aus dem Weg geräumt – bis zum letzten Atemzug eine doppeldeutige Figur. Denn einerseits hatte der Mann eine unbestreitbar gute Seite von historischer Größe, an die wir gerne zurückdenken:

„Tudjmans größtes Verdienst ist die Unabhängigkeit Kroatiens“ (Überschrift der FAZ, 13.12.)

Die epochemachende Parole ‚Freiheit statt Sozialismus‘ hat er völlig sachgerecht auf das alte Tito-Jugoslawien angewandt – und ist nicht davor zurückgeschreckt, die komplementäre Alternative ‚Sozialismus oder Barbarei‘ gleich mit wahrzumachen: Er hat begriffen, dass ‚Freiheit‘ allemal die – vom freiheitsliebenden Westen zugebilligte – Freiheit eines stur patriotisch denkenden Volkes meint, sein – vom Westen zuerkanntes – Selbstbestimmungsrecht in der Unterwerfung unter eine – vom Westen genehmigte – völkische Obrigkeit zu betätigen; und mit entschlossenem Zugriff hat er die entsprechende Freiheitschance ergriffen, die sich mit der Selbstauflösung des ‚Ostblocks‘ auch für die Insassen des jugoslawischen ‚Vielvölkerstaats‘ bot. Dass dieser Staat seinen Zusammenhalt mit militärischer Gewalt verteidigt hat, ist Tudjman daher als tapferer Freiheits- und Abwehrkampf gegen unbefugte zentralistische Übergriffe Belgrads gutgeschrieben worden. Als politische Meisterleistung wurde gewürdigt, wie er es hingekriegt hat, die antiserbischen Ressentiments seiner Kroaten zu mobilisieren, die überkommene jugoslawische Staatsbürgerlichkeit verächtlich zu machen, die Massen auf Kroatien als verbindlichen Höchstwert und auf sich als dessen Retter und Erneuerer zu verpflichten. Wie er die Seinen – und nebenbei den neugeschaffenen Feind – dafür hat bluten lassen und dafür noch jede Menge Zustimmung geerntet hat, das verdient noch heute den Respekt unparteilicher Demokraten:

„In dieser Zeit der Not wurde Tudjman zur Vaterfigur der Kroaten. Sein Bild und seine Stimme waren omnipräsent, sein unbedingter Durchhaltewille gab der Nation Ziel und Richtung im Freiheitskampf. Er führte Kroatien zum Sieg. … Kroatien ist heute in Teilen entvölkert und weitgehend ‚ethnisch rein‘. Das wird von der Mehrheit der Bevölkerung auch so gewünscht“ – und das kann man nicht bloß in der Schweiz gut verstehen und schwerlich ablehnen! (NZZ, 13.12.)

So weit die gute Seite. Die hässliche Kehrseite lässt sich aber auch nicht verschweigen: Tudjmans völkischer Freiheitskampf steht – rückblickend und aus hanseatischer Sicht – für

„das unmenschliche Prinzip von ethnischer Vertreibung und gewaltsamer territorialer Völkertrennung – einer Blutspur, die bis in den Kosovo führen sollte.“ (Der Spiegel, 10.1.)

Und auch in Zürich macht man sich nichts vor:

„Im Umgang mit jeder Art von Kritik und Opposition erwies sich Tudjman während und nach dem Krieg als Antidemokrat. Er wähnte sich unfehlbar…“ (NZZ, 13.12.)

1 Mann, 2 Urteile; beide von unzweifelhaft kompetenter demokratischer Seite. Wie sie dennoch zusammenpassen, darüber klärt die NZZ in dankenswerter Offenheit auf:

„Bald kämpften kroatische Truppen nicht mehr nur gegen die Serben“ – man erinnert sich: „Als die USA 1995 für ihren bombenden Vorstoß zum bosnischen Friedensschluss Schläge der Kroaten … gegen den serbischen Aggressor gebrauchen konnten, eroberte Tudjman die Krajina zurück.“ (SZ, 13.12.) –, „sondern sie begannen auch einen Feldzug gegen die Bosniaken. Ihre Ziele und Methoden glichen denjenigen der Serben: Sie vertrieben die muslimische und serbische Bevölkerung… Kroatiens Präsident unterstützte diesen Angriffskrieg…; er war aber nichts anderes als eine ‚ethnische Säuberung‘, ein Verbrechen.“ (NZZ, 13.12.)

Die Scheidelinie zwischen gut und böse ist klar. In Tudjmans Politik sucht man sie vergebens: Für den tapferen Staatsgründer gab es zwischen der Unterwerfung Kroatiens unter sein ausschließliches Kommando und der Sammlung aller Volks-Kroaten unter seiner Herrschaft keinen sachlichen und schon gar keinen moralischen Unterschied; der Mann ist sich und seiner historischen Mission stets treu geblieben; dass er sich durchgreifend gewandelt hätte, möchte auch gar niemand behaupten; deswegen wird sie dort auch gar nicht erst gesucht. Sie ergibt sich schlicht und schlagend aus der Schranke, die der Westen dem Staatsgründungswillen des großen Kroaten gezogen hat: Solange er sich an die alten Republikgrenzen Jugoslawiens gehalten hat – von Titos Staat sollte nach westlichem Willen nämlich sonst gar nichts übrig bleiben, die interne Grenzziehung aber schon! –, handelt es sich bei Tudjman um den anerkannten und anerkennenswerten Führer eines „stolzen Balkanvolkes“ (FAZ, 3.1.), dem auch der ‚Spiegel‘ „Charisma“ attestiert und den man auch etwa in London „längerfristig als notwendig für die Etablierung des modernen Kroatien ansehen wird“ (The Guardian). Weil er diese Einschränkung seines an sich doch gebilligten Kroatien-Projekts nicht eingesehen, sondern weitergemacht und sogar die vom Westen diktierte „bosnische Verfassung auf der Grundlage des Friedensvertrags von Dayton in Frage“ gestellt hat (SZ), erkennt die demokratische Welt in Tudjman jedoch den „größenwahnsinnigen Despoten“, der „sich nur im eigenen Urteil für den Vater der Nation hielt“ (SZ, 13.12.).

Und je kompetenter an die Zukunft Kroatiens gedacht wird, um so eindeutiger stellt sich Tudjmans Vergangenheit als verwerflich dar. Im Grunde gehörte Genschers alter Kumpan, dem wir SZ-Leser die Zerlegung Jugoslawiens irgendwie doch verdanken und auch gedankt haben, zu dem Trio infernale, das uns eigentlich schon von Beginn an die Kontrolle über Jugoslawien so unendlich schwer gemacht hat, nämlich schon seit

„Anfang der neunziger Jahre, als die drei balkanischen Potentaten Franjo Tudjman aus Kroatien, Slobodan Milosevic aus Serbien und Alija Izetbegovic aus Bosnien die Welt (?) mit den jugoslawischen Sezessionskriegen plagten. Alle drei haben die Kriege überlebt und von den Kriegen gelebt. Sie haben, jeder auf seine Art und mit unterschiedlicher krimineller Energie, in ihren Ländern Systeme installiert, in denen alles dem Nationalismus untergeordnet war – die wirtschaftliche Entwicklung, die Vernunft und überhaupt die Zukunft.“

Im Lichte dieser dem kroatischen Nationalismus unendlich weit übergeordneten Vernunft und im Namen der wirtschaftlichen Entwicklung – wessen eigentlich?! – bleibt für den einstigen Schützling deutscher Balkanpolitik und Helfershelfer westlich-amerikanischer Befriedungsmacht nur noch ein Kompliment übrig: Als erster der bösen Drei ist er abgetreten.

„Doch nun, nach zehn verheerenden Jahren, sind in einem der drei Staaten die Mauern gefallen. Franjo Tudjman ist einem Krebsleiden erlegen, und die Kroaten haben nur drei Wochen später bei der Parlamentswahl beherzt die alles beherrschende Tudjman-Partei HDZ abgewählt.“

Und das berechtigt uns zu den schönsten Hoffnungen:

„Läutet die Wahlwende in Kroatien nun endlich die Despotendämmerung auf dem Balkan ein? Gewiss,“ wir machen uns da nichts vor, „Tudjman ist gestorben und nicht gestürzt worden.“ Aber trotzdem finden wir es „erstens bemerkenswert und zweitens ein Hoffnungszeichen für den ganzen Balkan, dass sich die Kroaten nun als Erste und auch aus eigener Kraft aus solchen Klauen“ – nämlich des „Völkerhasses“ – „befreit haben.“

In diesem Sinne gratuliert die SZ-Redaktion den Kroaten geradeheraus zum Tod ihres Präsidenten und lobt sie für die Hoffnungen, die man auf sie setzt, die sie nun allerdings auch erfüllen müssen, wenn man sie schon dafür gelobt hat:

„Was das für Kroatien selbst bedeutet, ist deutlich abzusehen. Auf die Staatsgründung durch Tudjman anno 1991 muss nun“ die Kleinigkeit einer gefälligen „Neugründung des Staatswesens im Jahre 2000 folgen. …müssen das Land im Inneren demokratisieren und im Äußeren aus der Isolation führen“ (SZ, 5.1.),

mit der der Westen Tudjmans abweichendes Verhalten in der Grenzziehungsfrage geahndet hat – darauf haben wir in Europa ein Recht. Ein Anrecht übrigens, das den Westen zu gar nichts verpflichtet, schon gar nicht zu so etwas wie materieller Unterstützung bei der eingeforderten Staats-Neugründung:

„Brüssel wird jetzt nicht, nur weil es eine andere Regierung in Zagreb gibt, das Füllhorn über Kroatien ausschütten. Schließlich hatte die Isolierung des Landes ihre Ursachen.“ (HB, 5.1.)

Dass die aufgehoben wird, das müssen die Kroaten sich erst einmal verdienen:

„…hier wird deutlich, dass alles, was der Westen vermag, nur Hilfe zur Selbsthilfe sein kann. Die Balkanier müssen sich selber ihrer nationalistischen Führungen entledigen. Doch immerhin haben die Kroaten nun unter günstigen Umständen vorgemacht, wie das zu schaffen ist.“ (SZ, 5.1.)

Darum geht es also: Der Westen will, dass die Kroaten ihren unhandlich gewordenen Nationalismus zum Nulltarif gegen pflegeleichte Europa-Hörigkeit austauschen. Deswegen gratuliert die freiheitliche Öffentlichkeit ihnen zum Tod ihres in Ungnade gefallenen Chefs und malt ihn in den grellsten Farben sittlicher Entrüstung aus, damit der Kroate weiß und sich nicht darin täuscht – dies wohl die versprochene „Hilfe zur Selbsthilfe“! –, was die Stunde geschlagen hat in Sachen Volksfreiheit und Selbstbestimmungsrecht. So sachgerecht, so konsequent und so unbestechlich ergibt sich das moralische Urteil einer freien demokratischen Öffentlichkeit, auch über tote Machthaber und Freunde von einst, aus den praktischen imperialistischen Anliegen, für die sie aktuell eintritt. In diesem Sinne auch

Beispiel Nr. 2:

Zapfenstreich für unsern Säufer im Kreml

Boris Jelzin, Gründungspräsident des neuen Russland, ist spät, aber andererseits noch vor dem regulären Neuwahltermin und insofern wieder verdächtig früh seinem deutschen Männerfreund in den Ruhestand nachgefolgt. Von seinem Rücktritt halten demokratische Kreml-Kenner also in aller Bestimmtheit zweierlei:

„Der Machtwechsel verlief zwar friedlich und demokratisch und bis jetzt im Rahmen der Verfassung…, dennoch haftet ihm der Makel einer aus ungebrochenem Machtinstinkt geborenen Inszenierung an, deren Ziel nicht ein unbedingt demokratisches ist.“ (NZZ, 3.1.)
„Jelzin hat die Macht selbst abgegeben – das hat vor ihm noch kein russischer Führer getan. Er hat das Volk um Verzeihung gebeten – auch das ist eine Neuigkeit. Doch war sein Coup nicht der Schritt eines repräsentativen Demokraten, sondern eines Monarchen, der dem von ihm gesalbten Nachfolger das Zepter in die Hände gab, damit er die Macht seiner Familie und der Günstlinge am Hof erhalten möge.“ (FAZ, 10.1.)

Zwar – aber. Und wie der Rücktritt, so die Lebensleistung, deren differenzierte Würdigung sich kein Organ der seriösen Weltpresse entgehen lässt:

„Unbestritten … hat er wichtige Marksteine gesetzt: Marktwirtschaft, Meinungs- und Pressefreiheit, Reisefreiheit, eine neue Verfassung, Hinwendung zu Privateigentum. Das sind die Basiselemente einer demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaft. Getrieben von den inneren Wirren des Landes und eigener Konzeptionslosigkeit, ist Jelzin häufig vom Weg abgewichen: ein raffinierter Taktierer, dessen Strategie nur in den Grundzügen erkennbar war. Deshalb ist Russland heute eine mangelhafte Demokratie. In Wahrheit ist das größte Land der Erde ein Kulissenrechtsstaat, eine Oligarchie mit einer Herrschafts-Clique aus gewendeten KP-Funktionären, auf unsaubere Weise reich gewordenen Wirtschafts- und Medientycoons und anderen Kleptokraten. Das ‚System Jelzin‘ ist ein System, das die Wähler zwar regelmäßig zur Urne ruft, aber vorher festzulegen versucht, wo die Mehrheiten liegen; ein System, das die Grundrechte garantiert – um sie bei Bedarf zu brechen; ein System, das es erlaubt, einen Krieg wie den jüngsten in Tschetschenien zu führen, wenn es dem eigenen Machterhalt dient.“ (SZ, 3.1.)

Was gilt nun: was Jelzin „unbestritten“ oder was er „in Wahrheit“ geleistet hat?! (Oder ist beides womöglich dasselbe und Marktwirtschaft von Kleptokratie, Meinungs- und Pressefreiheit von der Manipulationsmacht von Medien-Tycoons, Demokratie von systematischer persönlicher Herrschaftssicherung im Falle Jelzin-Russlands deswegen nicht zu unterscheiden, weil demokratisches Wählen-Lassen eben immer eine Methode der Macht, Meinungsfreiheit allemal dasselbe wie öffentliche Meinungsbildung durch potente öffentliche Meinungsmacher und Marktwirtschaft die systematische Aneignung fremder Arbeit durch die ökonomisch herrschende Klasse ist?! Aber das wollen wir erst gar nicht unterstellen: dass die Süddeutsche Zeitung ihre Leser so hinterrücks über die „unbestrittene“ resp. „wahre“ Natur demokratischer „Marksteine“ und „Basiselemente“ hätte aufklären wollen…) Erste Klarheit stiftet hier das konkurrierende Weltblatt aus der Schweiz. Es stellt ebenfalls fest, dass ein und dieselbe Politik Jelzins sowohl gut als auch schlecht und böse ist – und reklamiert für diesen Befund die Freiheit des moralischen Urteils, sich pro oder contra Jelzin zu entscheiden:

„Jelzin hat das kommunistische Sowjetregime abgeschafft, die KPdSU verboten, die Sowjets zur Auflösung gezwungen. Ein Teil der Wirtschaft wurde privatisiert. Die unter Gorbatschow eingeleitete Öffnung des Landes nach aussen ist fortgeführt worden. Der politische Pluralismus ist eine Realität, ebenso wie Dezentralisierung und Föderalisierung des Landes. Aber man kann auch eine andere Reihe von Urteilen formulieren, die sich ebenso gut begründen lassen: Das kommunistische Regime ist nicht überwunden, die KPRF ist mit Abstand die grösste politische Partei. Der russische Kapitalismus ohne rechtsstaatliche Bremsen hat grosse Teile der Bevölkerung ins Elend gestossen. Staat und Wirtschaft werden von mafiosen Strukturen beherrscht. Russland zerfällt als einheitlicher Rechts- und Wirtschaftsraum. Das staatliche Gewaltmonopol ist ebensowenig gesichert wie Gewaltverzicht in der Politik.“ (NZZ, 4.1.)

Wir können es also so, wir können es aber genau so gut entgegengesetzt sehen. Und wie entscheiden wir uns nun? Am besten erst einmal noch gar nicht – dafür plädiert man in München:

„Entscheidend für Jelzins historische Bedeutung wird sein, ob sein halbdemokratisches, chaotisches Russland nur die Übergangsphase ist oder schon das Endergebnis der Wende von 1991/2. Wäre es Zwischenstation auf dem Weg zu einer besseren und gerechteren Gesellschaft nach Hunderten von Jahren der Despotie zaristischer und dann sowjet-kommunistischer Art, könnte Russland Jelzin seine Fehler verzeihen. Sollte das Russland der Gegenwart aber das Endergebnis sein, hätte Jelzin die Russen um ihre Zukunft betrogen.“ (SZ, 3.1.)

Was Jelzin wirklich geleistet resp. verbrochen hat: das zu entscheiden behalten wir uns vor. Nämlich bis klarer geworden ist, ob aus dem von Jelzin ruinierten Volk und neu gestifteten Herrschaftsklüngel nicht doch noch etwas Brauchbares herauskommt. Wobei wir selbstverständlich überhaupt nicht an den politischen oder anderweitigen Nutzen des Westens denken, dem Jelzin auf Kosten der Masse seiner Untertanen das Ende der „Despotie sowjetkommunistischer Art“ in den Schoß gelegt hat, sondern einzig und allein ans liebe russische Volk und seine Sehnsucht nach einer „besseren und gerechteren Gesellschaft“. Um welche Zukunft die Russen nicht betrogen werden dürfen, das wissen wir andererseits im Prinzip schon auch; und die Kenner der globalen Sachlage aus der neutralen Schweiz sprechen das Wesentliche in dankenswerter Deutlichkeit aus:

„Starkes oder schwaches Russland – was liegt im westlichen Interesse? Ein starkes Russland kann ein besser funktionierender Rechtsstaat sein und im Osten Europas und in Nordasien für notwendige Stabilität sorgen, Nuklearwaffen unter Kontrolle halten und ihre Weiterverbreitung verhindern, eine allgemein konstruktive Rolle in der internationalen Politik spielen. Ein Russland mit neugewonnener Stärke kann aber ebenso imperialistisch sein, seine Nachbarn und ihre oft prekäre Unabhängigkeit bedrohen, selbst für China ein ungemütlicher Rivale werden. Jelzin, das ist ihm hoch anzurechnen, hat immerhin mit der Ukraine einen Modus vivendi gefunden und die Balten schließlich in Freiheit gewähren lassen. Dass der Westen nur wenig Möglichkeiten hat, den Gang der Dinge zu beeinflussen, sollte ihn nicht daran hindern, eigene Prioritäten zu setzen und darauf zu bestehen, dass auch Moskau, ob Demokratie oder nicht, sich an die internationalen Spielregeln zu halten hat.“ (NZZ, 3.1.)

Eine eindeutige Gleichung von „westlichem Interesse“ und „internationalen Spielregeln“, vorwärts wie rückwärts zu lesen und ergänzt um den beschönigenden, aber gleichfalls unmissverständlichen Fingerzeig: „ob Demokratie oder nicht“ – das hilft doch gleich ein gutes Stück weiter bei der moralischen Urteilsbildung über Jelzins Lebenswerk. Denn ein unbestechliches Urteil dieser Art ergeht in praktischer Absicht und hat deswegen die Aufgabe, weniger die vorgefundene Lage theoretisch widerzuspiegeln als vielmehr die Entschlossenheit des Westens in seiner Eigenschaft als überparteiliche Weltaufsichtsinstanz, dem Objekt interessierter Begutachtung Botmäßigkeit, Unterordnung und nützliche Leistungen abzuverlangen. Nur dann liegt es richtig, kann dann aber auch gar nicht mehr fehlgehen, wenn es von der aktuellen imperialistischen Erwartungshaltung ausgeht, sich daran orientiert, was Russlands Regierung da schuldig ist, und im Wege des stillschweigenden Rückschlusses die „unbestrittene Wahrheit“ über Leistungen und Versäumnisse der bisherigen Präsidentschaft ermittelt. Das wiederum so auszudrücken, als wäre man auf dem Wege sorgfältiger sittlicher Begutachtung eines regierenden Säufers zu Wahrheiten gelangt, in deren Namen man unbestreitbare Ansprüche an dessen Erben kundzutun berechtigt ist: Das ist die hohe Kunst politmoralischer Urteilsbildung. Dann kriegt man es am Ende hin, eine Erinnerung an Jelzins bleibende Verdienste um die Zerstörung des einstigen Moskauer Staatswesens, einen Hinweis auf die seither eingetretene Verelendung des dazugehörigen Volkes und einen traditionsreichen Topos des rassistischen Russenbildes westlicher Intellektueller so zu einem Charakterbild des abgedankten Präsidenten zu kombinieren, dass jedenfalls sein Nachfolger Putin weiß, woran er ist:

„Russland hat lange auf den Rücktritt Jelzins warten müssen. Nach seinem vielleicht verspäteten Abschied hinterlässt Jelzin kein gefestigtes politisches System, sondern ein Land, dessen Bürger unter den ungelösten wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten stöhnen. Jelzin war ein Muschik auf dem Kremlthron, bauernschlau und gerissen, unberechenbar und gemütlich. Gemütlich wird es mit Putin nicht mehr…“ (FAZ, 10.1.)