Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Tschetschenienkrieg und russische Präsidentschaftswahlen
Krieg für die Wahlen oder Wahlen für den Krieg?

Westliche Beobachter sind sich einig: Putin habe den Tschetschenien-Krieg inszeniert, um die russischen Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Mit dieser Interpretation bekunden sie ihr zynisches Einverständnis für das Verhältnis von Krieg und demokratischem Regieren einerseits sowie ihre interessierte Ignoranz über den wirklichen Zweck des Krieges andererseits: Dass Putin den Abfall Tschetscheniens zur Schicksalsfrage für die Restaurierung des Gewaltmonopols erklärt und den Krieg gegen die Separatisten mit der Erneuerung der Autorität des Präsidentenamtes verknüpft, das lassen die westlichen Anhänger eines „schwachen“ und trotzdem „stabilen“ Russlands ihm nicht durchgehen.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Tschetschenienkrieg und russische Präsidentschaftswahlen
Krieg für die Wahlen oder Wahlen für den Krieg?

Wladimir Putin gewinnt souverän die Präsidentschaftswahlen in Russland. Wie aus dem bis zu seiner Einsetzung als Jelzins Regierungschef nur wenig bekannten, farblosen Geheimdienstchef, einem politischen Niemand, dem eigentlich allein schon seine Ernennung durch den im Volke ungeliebten Jelzin den politischen Todesstoß versetzen sollte, der neue Herr aller Russen werden konnte, dafür hat die westliche Öffentlichkeit eine Erklärung parat: Putin hat den Krieg in Tschetschenien genutzt, um das Problem des Machterhalts zu lösen. Putins Popularität stieg mit jeder Woche des Krieges, so lange und so sehr, dass er am Ende die Wahlen gewinnt und vom „amtierenden“ zum gewählten Präsidenten Russlands wird. Einen veritablen Krieg hat „der Kreml“ unter Putins Führung also inszeniert, um dessen Problem, an der Macht zu bleiben und Präsident zu werden, mittels eines Sieges an den Wahlurnen zu lösen (alle Zitate aus FAZ 25.3.2000). Für die Beschaffung einer Mehrheit unter den russischen Stimmbürgern, hat er den Tschetschenienkrieg geführt und – wie nach Ansicht der westlichen Beobachter nicht anders zu erwarten – damit Erfolg gehabt.

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Diese „Erklärung“ der „wahren Hintergründe“ des Gemetzels im Kaukasus verrät einiges über die abgeklärte Weltsicht hartgesottener Demokraten, hier insbesondere über das Verhältnis von Krieg und demokratischem Regieren, das sie bei ihren „Analysen“ unterstellen: Dass ein starker, erfolgreicher militärischer Auftritt gegen einen äußeren oder inneren Feind ausgesprochen vereinheitlichend auf das Stimmverhalten des mündigen Wählers wirkt – und zwar zugunsten seines jeweiligen nationalen Kriegsherrn –, ist ihnen selbstverständlich. Ebenso, dass ein Krieg, der viel prinzipielles Einverständnis zwischen Volk und Führern voraussetzt, als elementare nationale – also Volk und Führung gemeinsam betreffende – „Notlage“ gleich noch mehr von diesem Einverständnis evoziert. Dass also demokratische Staatenlenker um Wahlstimmen werben können mit dem Verweis auf vaterländische Tote, die ein beispielgebendes Opfer für die Nation unter ihrer Führung gebracht haben und „nicht umsonst gestorben“ sein dürfen, gilt ihnen so sehr als ausgemacht, dass sie umgekehrt echtes Kampfgetümmel und die damit verbundene Produktion von Kriegstoten als eine Form der Wahlkampfführung und raffinierten politischen Schachzug zur Erringung einer demokratischen Mehrheit erklären.

Damit treffen die Interpreten des Weltgeschehens von den freien Medien einerseits eine Wahrheit über die Demokratie, was die Bezugnahme von Führern und Geführten im demokratischen Staatsgewese auf allfällige militärische Gewaltanwendung nach innen und außen betrifft: Die einen tun – jetzt eben auch in Russland –, was immer sie für nötig halten, auch wenn es um die letzten Mittel der staatlichen Durchsetzung mit Waffengewalt geht, und die anderen lassen sich die Zustimmung zu diesen Notwendigkeiten abfordern; die einen wollen in Kriegszeiten, die immer schwere sind für die Nation, keine Parteien mehr kennen, sondern nur mehr Russen, Deutsche oder Franzmänner, und unterscheiden sich darin nur wenig von ihren vor- und undemokratischen Vorgängern, die anderen lassen sich das einleuchten und nutzen ihre freiheitliche Verpflichtung rsp. ihre pflichtenschwere Freiheit dazu, sich die Einheit mit ihrem Oberkommando zum staatsbürgerlichen Anliegen zu machen und diese Einstellung – falls und sobald verlangt – auch mit dem Stimmzettel zu bekunden. So ungefähr wollen die westlichen Öffentlichkeitsarbeiter es dem Wirken Putins im Kriege wie im Wahlkampf abgelauscht haben, und so ungefähr wird es sich schon auch verhalten. Es sind ihnen nun auch im ehemaligen Sowjetstaat die Mechanismen der demokratisch entfesselten Obrigkeit samt zugehörigem postsowjetischem Stimmbürger begegnet, deren Funktionsweise ihnen so geläufig ist, dass sie sie sofort wiedererkannt haben. Demokratie und Demokraten sind eben so, da macht ihnen so leicht keiner etwas vor.

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Ziemlich daneben liegen die Berichterstatter aber, wenn sie die auf dem Feld des demokratischen Legitimationswesens produktive Bezugnahme des russischen Kriegsherren auf sein Volk gleich zum Grund des Krieges erklären. Das stimmt nie: Nicht einmal Demokraten machen gleich die ganze Nation für das Schlachtfeld mobil, bloß um unangefochten von der internen Konkurrenz regieren zu können; sogar wenn sie mit allem wahlkämpferischen Zynismus Leichen zu Wahlargumenten verarbeiten, finden sie für ihre Opfer alle Mal ihre Gründe in der Staatsräson, die sie vertreten. Das gilt auch für Russlands neue Führung.

Putin hat jedenfalls eines begriffen: Die schönste Stimmenmehrheit wäre nichts wert, wenn ein in Wahlen erfolgreicher russischer Staats- oder Regierungschef sich täglich fragen (lassen) müsste, wieweit angesichts des Zustands des Landes seine Autorität überhaupt noch reicht. Deshalb setzt er mit dem Krieg gegen die tschetschenischen Separatisten die Restaurierung des Amtes auf die Tagesordnung, das er in den Wahlen anstrebt. Und erst auf der Grundlage eines erfolgreichen Feldzuges gewinnt der angestrebte Wahlsieg die politische Bedeutung, auf die es ihm ankommt: wenn es ihm gelingt, an dieser Stelle dem Verfall des russischen Staatswesens exemplarisch Einhalt zu gebieten, dann ist die dadurch erworbene Autorität des neuen Präsidenten zugleich eine Erneuerung der Autorität des Präsidentenamtes. Den Abfall Tschetscheniens zu verhindern ist für Putin deshalb eine Schicksalsfrage der Nation, die es unter Einsatz aller verbliebenen oder wieder mobilisierten Gewaltmittel im Sinne der nationalen Einheit Russlands und der Wiederherstellung der russischen Staatsgewalt zu lösen gilt.[1] Weil er dieses Projekt für unwidersprechlich notwendig hält, verfällt er auch nicht auf den unter Staatsmännern ohnehin unüblichen Missgriff, über den nationalen Errettungskrieg eine Volksabstimmung abzuhalten. Er setzt ihn vielmehr ins Werk und stellt sodann, bei den Wahlen, das alternativlose Programm zur Akklamation, das er auf dem kaukasischem Schlachtfeld bereits praktisch durchkämpfen lässt: Nationale „Wiedergeburt“ Russlands als Weltmacht, selbstverständlich mit Putin an der Spitze, und Verhinderung des weiteren Zerfalls des Landes.

Dass Putin mit dem Gehabe des über den Parteien stehenden nationalen Retters – „keine Zeit für Wahlkampf“ –, der offen zur Schau getragenen Verachtung des verantwortlichen Kriegsherrn für kleinlichen Interessenstreit und demokratische Wahlkampfverrücktheiten, „während russische Soldaten im Kaukasus sterben“, seinen allrussischen Kanzlerbonus in die Waagschale wirft und eben doch einen erfolgreichen Wahlkampf inszeniert, um den russischen Massen als Wählern die Zustimmung zu sich und seinem russischen Wende- Projekt abzuverlangen, beweist immerhin, wie gut der Mann sich schon auf die Techniken demokratischer Wahlkampfführung versteht.

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Im Falle Russlands wollen die westlichen Kritiker die Nutzung der ihnen vertrauten und bewährten demokratischen Mechanik allerdings nicht zugestehen, die einer erfolgreich Krieg führenden Regierung einigermaßen zuverlässig auch mehrheitliche Wählerzustimmung verschafft. Ausgerechnet die Profis der einfühlend-anteilnehmenden Wahlkampfberichterstattung wollen diesen schlichten Zusammenhang im Falle Putins nicht verstehen. Sie nehmen den offen ausgesprochenen Zweck des Krieges, die Restaurierung des staatlichen Gewaltmonopols in Russland, als bloßen Vorwand und die von Putin berechnend eingesetzte Wirkung des nach seiner Auffassung für die Wiederherstellung der russischen Staatsautorität unvermeidlichen Waffengangs im Kaukasus auf die Präsidentschaftswahlen als „wirklichen Kriegsgrund“. Die interessierte Verwechslung tut so, als wollte sie einen Missbrauch des ehrenwerten Mittels Krieg für die Zwecke demokratischer Wählerwerbung anklagen. Daraus soll selbstverständlich nichts Kritisches über die Techniken des freiheitlichen Stimmenfangs folgen, die auch ein gelungenes Gemetzel im nationalen Interesse als Gelegenheit nutzen, die Regierten für sich einzunehmen. Der Vorwurf, es ginge Putin bloß um die Macht, soll dem russischen Krieg und dem russischen Kriegsherrn einen moralischen Malus einbringen, weil man den unübersehbaren und durchaus zur Kenntnis genommenen wirklichen Zweck der kriegerischen Veranstaltung nicht billigt und dem führenden Veranstalter – deswegen – zutiefst misstraut: Denn man hat sich von westlicher Seite seit der russischen Wende bei der Verfolgung des schönen Ideals eines postkommunistischen neuen Russland – stabil und schwach hätte man es sich gewünscht – im praktischen Leben, weil nun einmal beides zusammen nicht zu haben ist, immer für die Förderung weiterer Schwächung und Abhängigkeit der einstigen Großmacht entschieden. Im Versuch Putins, mit dem Krieg gegen die tschetschenischen Separatisten einen Wendepunkt im Niedergang Russlands zu markieren, bemerkt der Westen den Willen zum Wiederaufstieg dieser Macht und tut alles dafür, diesen Willen in die Schranken zu weisen.

An der Fortentwicklung des moralischen Verdikts zu zur Einmischung berechtigenden Rechtstiteln wird derzeit nachdrücklich gearbeitet. Der russische Einwand, hier würden Terroristen und Separatisten bekämpft, wird als unbeachtlich zurückgewiesen. Ein zu bloßen Wahlkampfzwecken missbrauchter Krieg zieht vielmehr, anders als etwa die bekanntlich von Grund auf sauber motivierten westlichen Menschenrechtskriege, sogleich den Verdacht besonderer und unnötiger Grausamkeit auf sich, weshalb die Völkerfamilie unbedingt mit ihren Kontrolleuren vor Ort nach dem (menschen)rechten sehen und den Russen im Europarat mit internationaler Isolierung drohen muss. Über weitere Schritte entscheidet der Erfolg der Schritte, die man bis jetzt unternommen hat.

[1] vgl. dazu GegenStandpunkt 1-2000, S.47: Neues aus Moskau – Wladimir Putin macht sich für eine nationale Wende stark