Neues aus Moskau
Wladimir Putin macht sich für eine nationale Wende stark
Der neue russische Präsident Putin tritt sein Amt mit einer schonungslosen Selbstkritik an und beklagt nach 10 Jahren radikaler Öffnung den Zerfall russischer Macht auf allen Ebenen von Ökonomie, Politik und Moral – sein Schluss: Die Hoheit des Staates über seine Gesellschaft muss wiederhergestellt werden. Das Ausland wägt ab: Setzt der russische Erneuerer dem westlichen Zugriffswillen damit neue Schranken oder macht er mit der Zähmung des „Oligarchentums“ und der Restaurierung russischer Staatsmacht die zerfallende Großmacht berechenbarer?
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Neues aus Moskau
Wladimir Putin macht sich für eine
nationale Wende stark
1.
Zu Silvester überrascht Jelzin In- und Ausland ein letztes Mal. Er tritt seine Machtbefugnisse noch vor dem Ende seiner regulären Amtszeit an seinen Ministerpräsidenten Putin ab. Im russischen Fernsehen bekommt er einen letzten Auftritt, in dem er beteuert, nur das Beste für Russland und sein Volk gewollt zu haben, auch wenn dann vieles ganz anders gelaufen sei. Sein Amtsnachfolger sichert ihm lebenslange Immunität vor möglicher Strafverfolgung zu; offenbar hat der Ex-Präsident das nötig. Dann ist Putin neuer Hausherr im Kreml. Und sogleich macht er In- und Ausland mit einer vernichtenden Diagnose über den Zustand Russlands bekannt – wobei weniger die Diagnose überrascht als die Tatsache, dass die oberste Staatsspitze sich über die Lage nichts mehr vormacht:
„Der Zustand der vaterländischen Wirtschaft, die Unvollkommenheit des Systems der Organisation der Staatsmacht und der bürgerlichen Gesellschaft, die politisch-soziale Polarisierung der russischen Gesellschaft und die Kriminalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen, das Anwachsen der organisierten Kriminalität und das erhöhte Ausmaß des Terrorismus, die Verschärfung der Beziehungen zwischen Nationalitäten und die komplizierter werdenden internationalen Beziehungen erzeugen ein breites Spektrum innerer und äußerer Bedrohungen für die nationale Sicherheit des Landes… Die negativen Prozesse in der Wirtschaft sind die Grundlage separatistischer Bestrebungen einer Reihe von Subjekten der Russischen Föderation.“ (Aus dem neuen ‚Konzept der Nationalen Sicherheit‘, das unter Putins Leitung beschlossen wurde)
„Ich bin überzeugt, dass wir keinerlei Probleme, weder wirtschaftliche noch soziale, lösen werden, solange der Staat zerfällt.“ (FAZ, 6.1.2000)
Der neue Mann wischt mit einem Schlag Jelzins Gerede vom
Tisch, Russland habe mit mancherlei grundsätzlichen
Problemen zu kämpfen, aber er, der Präsident, garantiere
mit seiner Person und seiner Macht schon dafür, dass der
neue Reformweg des Landes allen Widrigkeiten zum Trotz
fortgesetzt und zu einem guten Ende gebracht werde. Putin
räumt programmatisch auf mit der Lüge, es handele sich
bei den von allen beklagten Zuständen um zwar gewaltige,
aber mit gutem Willen dann doch zu überwindende bloße
Übergangsschwierigkeiten auf einem neuen Weg, zu dem es
eben keine Alternativen gebe. Die allenthalben beklagten
Probleme und Missstände spitzt er auf einen einzigen
entscheidenden Punkt zu: Sie alle signalisieren den
Zerfall Russlands
, also den fortschreitenden Ruin
staatlicher Macht. Die ist mit ihrem neuen reformerischen
Erfolgsweg nicht gewachsen, sondern umfassend
heruntergewirtschaftet worden. In den Jahren, die unter
seinem Vorgänger als Aufbruch in eine bessere Zukunft
firmierten, haben die Verantwortlichen es dahin gebracht,
dass die politische Herrschaft nicht mehr funktioniert:
Ihr Kommando gilt im Land immer weniger;
staatsbürgerlicher Gehorsam und sogar die territoriale
Einheit werden zunehmend aufgekündigt; in der
Außenpolitik muss die Regierung zunehmend ohnmächtig die
Missachtung elementarer russischer Interessen hinnehmen.
Diesen unter Jelzin eingerissenen Zustand erklärt der
neue Präsident für unerträglich und gelobt Abhilfe.
Die fällt so fundamental aus wie die Diagnose: Was der Mann verspricht, ist nicht die Behebung dieses oder jenes Missstands – das erklärt er für aussichtslos, solange der eigentliche Notstand nicht beseitigt ist: Die zunehmende Zerrüttung der Staatsmacht muss ein Ende haben. Putin macht sich dafür stark, den Zerfallsprozess zu stoppen, Moskaus Kommando wiederherzustellen und dem Land international wieder Einfluss und Geltung zu verschaffen. Sein programmatisch verkündeter Aufbruch zielt darauf, das Volk im Allgemeinen, vor allem und im Besonderen aber alle, die sich aus der sowjetischen Erbmasse Bruchstücke staatlicher Kommandogewalt, Machtmittel und den Zugriff auf materielle Ressourcen der Nation angeeignet haben, exklusiv seiner Befehlsgewalt zu unterwerfen, die zerstückelte Herrschaftsmacht wieder zu monopolisieren, also ein Jahrzehnt nach dem Ende der Parteiherrschaft endlich ein bürgerliches Gewaltmonopol zu begründen und die Nation nach außen wieder aufzustellen.
2.
Putin geht so zu Werk, wie es sich für ein solches Staatsrettungsprogramm gehört: dort, wo der russische Herrschaftsanspruch auf eigenem Gebiet gewaltsam bestritten, der Staatszusammenhalt durch separatistischen Aufruhr in Frage gestellt wird und folglich vordringlichster Handlungsbedarf besteht: in Tschetschenien; und mit den Mitteln, die die konstatierte nationale Notlage gebietet: mit militärischer Gewalt – wie denn auch sonst, wenn es darum geht, die exklusive Moskauer Zuständigkeit für Land und Leute neu aufzurichten und gegen fundamentalen Widerstand durchzufechten. Die Verhinderung des Abfalls Tschetscheniens erklärt Putin zur nationalen Schicksalsfrage, zur großen Bewährungsprobe, mit der über Wiederherstellung oder Untergang der russischen Macht entschieden wird:
„Hier geht es darum, das Auseinanderbrechen Russlands zu beenden.“ (SZ, 3.1.)
„Es geht darum, dem Zerfall Russlands ein Ende zu setzen – das ist die Hauptaufgabe… Russland braucht eine starke staatliche Macht und wird sie bekommen.“ (HB, 4.1.)
Der Weg, auf dem Russland die benötigte „starke staatliche Macht“ „bekommt“, ist Krieg; keine groß angelegte Polizeiaktion gegen einen Terroristenhaufen – mit dieser verharmlosenden apologetischen Deutung des Militäreinsatzes im Kaukasus ist es vorbei: „Den offiziellen heuchlerischen Formulierungen hinsichtlich des Einsatzes von Truppen im Kampf mit dem ‚inneren Feind‘ wurde ein Ende gesetzt.“ (Nesawissimaja Gaseta 20.1.) –, sondern ein Bürgerkrieg besonderen Typs: ein Feldzug gegen das Land, dessen faktische Führung die Kündigung der politischen Loyalität gegenüber Moskau am weitesten, eben bis zur gewaltsamen Lostrennung vom gesamtrussischen Staatsverband und zum Versuch einer kleinstaatlichen Neugründung getrieben hat; ein Vernichtungskampf, der an einer ganzen Teilrepublik das Exempel statuiert, dass der russische Staatswille, personifiziert in Jelzins Nachfolger, überhaupt nicht mit sich spaßen lässt; ein regelrechter Staatsgründungskrieg also.
Das jedenfalls ist die hohe Bedeutung, die Putin der Schlächterei im Kaukasus zuspricht – und die er ihr auch praktisch verleiht, indem er seine Armee so blutig und so abschreckend vorgehen lässt, wie es nach der elementaren Logik eines funktionierenden bürgerlichen Gewaltmonopols nötig ist, damit erst einmal keiner sich mehr etwas traut. Keinesfalls darf es zu einer Neuauflage des ersten Tschetschenien-Kriegs kommen, der mit dem fatalen Tauschhandel geendet hatte: Verzicht Maschadows auf sofortige die Proklamation der ‚nationalen Unabhängigkeit‘ gegen die stillschweigend hingenommene faktische Abtrennung Tschetscheniens. Das Bedenken, ob die widerspenstige Provinz nicht eher eine Last denn ein Beitrag zu russischer Stärke sei, zumal der Streitfall das Verhältnis zum Westen belaste, ist damit auch erledigt. Etwas anderes als die unwiderrufliche Eingliederung in den russischen Herrschaftsbereich, also die Ausmerzung jeglichen Widerstands dagegen kommt nicht in Frage; die anfängliche Unterscheidung zwischen loyalen und aufständischen Tschetschenen, bei der noch an einen quer durch Tschetschenien gezogenen ‚cordon sanitaire‘ gedacht war, der die einen von den andern trennen sollte, wird hinfällig. Moskau darf seine Hoheitsansprüche nicht vom Willen der Bevölkerung abhängig machen, so Putins Konsequenz, sondern muss seine Zuständigkeit mit Gewalt durchsetzen; auf der Grundlage mag die Bevölkerung sich dann ihren freien politischen Willen bilden.
3.
Indem die Moskauer Präsidialmacht sich im eigenen Zuständigkeitsbereich so staatsterroristisch aufführt, wie ein moderner postsowjetischer Gewaltmonopolist es geschafft haben muss, um seiner Gesellschaft einen bürgerlichen Rechtsfrieden bescheren zu können, zieht sie auch nach außen Russlands Grenzen neu. Nämlich erstens in dem Sinn, dass die Staatsmacht ihrer Südgrenze im Kaukasus wieder die nötige Festigkeit verschafft, d.h. mit unwidersprechlicher Gewalt jeden grenzüberschreitenden Einfluss von außen ausschließt. Der Terror gegen Tschetschenien ist insoweit verwirklichte Abschreckungspolitik gegen jede äußere Macht; sei es die anderer Staaten, von Nachbarn womöglich, sei es die eines organisierten politischen Freischärlertums, islamistischer Observanz in dem Fall, einschließlich interessierter staatlicher Sponsoren im Hintergrund.
Andersherum betrachtet bringt Russland sich mit dieser gewaltsamen Restaurierung seiner angefochtenen Kaukasusgrenze auch wieder als Kaukasus-Macht in Erinnerung und zur Geltung: als Großmacht, die mit ihrem Anteil an jener Gebirgsregion eine durchaus grenzüberschreitende Zuständigkeit und Ordnungsansprüche gegen alle übrigen staatlichen Subjekte in der Gegend verbindet. Mit seiner massiven militärischen Machtentfaltung belegt Putins neues Russland eine Region neu mit Beschlag, in der sich mittlerweile alle Staaten mit Ausnahme Armeniens gegen Russland und für die Ausrichtung ihrer Staatsperspektiven am Westen entschieden haben – teils sprechen sie sich offen für eine Mitgliedschaft in der Nato aus, teils bieten sie der westlichen Allianz Militärbasen auf ihrem Territorium an; die Mehrzahl rechnet auf eine Zukunft als Ölförderland oder Durchgangsstation für die Öl- und Gaspipeline, mit der die USA an Russland vorbei den Ölfluss aus der Region unter Kontrolle nehmen wollen. Der neue Kreml-Chef belässt es nicht bei Erklärungen, sondern nimmt sich das Recht heraus, die Anrainer in seine Kriegführung einzubeziehen. Georgische Dörfer werden bombardiert; der Staat wird damit den logistischen Erfordernissen des russischen Feldzugs unterworfen und auf die Art zugleich mit einem praktischen Einspruch gegen die antirussische Stoßrichtung der georgischen Unabhängigkeit konfrontiert.
Der neu bekundete Machtwille macht denn auch Eindruck. Das ins Visier genommene Georgien sieht sich wie alle anderen Staaten auf dem letzten GUS-Gipfel bemüßigt, russische Positionen zu unterstützen. Aserbeidschan anerkennt Moskau wieder als überparteilichen Vermittler im Streit mit Armenien um Nagorny-Karabach, obwohl Russland als militärische Schutzmacht Armeniens auftritt. Und im Namen des Kampfs gegen islamischen Terrorismus vollzieht Usbekistan auf dem Gipfel eine prorussische Kehrtwende.
4.
Darüber hinaus richtet sich das Programm zur Wiedergewinnung russischer Größe grundsätzlich gegen den Westen. Die kriegerischen Selbstbehauptungsanstrengungen in Tschetschenien und über dessen Grenzen hinaus zielen darauf ab, dem Vordringen der Nato, der USA und Europas in diese für Russland entscheidende Region Einhalt zu gebieten. Zudem dringt der neue Mann sowohl mit seiner Propaganda wie mit seinen Taten gegenüber dem Westen ganz prinzipiell auf Respekt vor dem elementaren russischen Bedürfnis, sich als Macht neu aufzustellen: Programmatisch verbittet er sich westliche Einmischungsversuche. Mit denen rechnet er also, weil er realistischer Weise davon ausgeht, dass sein Vorhaben garantiert nicht im westlichen Interesse liegt. Dementsprechend fasst er die bisher gepflegten ‚partnerschaftlichen Beziehungen‘ zum Westen und dessen ‚Kredithilfen‘ als mögliche Erpressungsmittel gegen sein Kriegsprogramm ins Auge und stellt vorsorglich klar, wie er es mit der Abhängigkeit von westlichem Wohlwollen und Krediten zu halten gedenkt, in die sich Russland mit seinem Reformweg hineinmanövriert hat: Entweder der Westen anerkennt und unterstützt sein nationales Selbstbehauptungsprogramm, oder die ganze Partnerschaft und alle ökonomischen Beziehungen müssen grundsätzlich neu bewertet werden – als Bedrohung, gegen die sich Russland zur Wehr setzen muss und wird.
„Wir müssen uns klar werden, was wir wollen – das Land zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer behalten? Oder Auslandskredite? In diesem Fall entscheiden wir uns für den Landerhalt.“ (Spiegel 2/2000)
Im Sinne dieser Entscheidung setzt sich die Armee bei der Verfolgung tschetschenischer Unabhängigkeitskämpfer auf georgischem Gebiet darüber hinweg, dass Georgien mit dem Rückhalt droht, den es bei der Nato gefunden hat. Im selben Sinne unterbindet Putins Regierung die Versuche der OSZE, den ‚humanitären‘ Charakter der russischen Kriegführung vor Ort zu überprüfen, also als übergeordnete Kontrollinstanz tätig zu werden. Und ganz folgerichtig lässt der neue Präsident keinen Zweifel aufkommen, dass er die Kriegführung keinesfalls an Haushaltsfragen und IWF-Forderungen nach Haushaltsdisziplin zu relativieren gedenkt. Wo das Geld für den Sold und für das erforderliche neue Kriegsmaterial nicht ausreicht, soll es gedruckt werden.
Putin stellt damit die bisher gültige Prioritätenliste Jelzinscher Regierungskunst auf den Kopf. Er lässt die Pflege des guten Verhältnisses zum Westen nicht mehr als Erste und oberste Richtlinie russischer Politik gelten, sondern verlangt dem Westen ab, Russlands fundamentales Selbstbehauptungsprogramm anzuerkennen – und zwar so bedingungslos, wie er es für nötig befindet, noch vor jedem bestimmten Inhalt russischer Interessen, über die man ins Gespräch kommen kann. Der bislang vom Westen betriebenen Politik, Russland fortschreitend zu entmachten und dabei zugleich berechenbar zu halten, erteilt er damit eine grundsätzliche Absage.
5.
Der neue Kreml-Chef präsentiert sich folglich auch nicht mehr als bedingungsloser Anwalt der Notwendigkeiten des marktwirtschaftlichen Reformwegs, aus dessen Ergebnissen sich – irgendwann einmal und irgendwie – die russische Macht hätte konstituieren sollen. Er schickt sich stattdessen an, das staatliche Innenleben dem Programm der Rückgewinnung staatlicher Macht unterzuordnen.
Das bedeutet zum einen, weit über die aktuelle Frage der Kriegsfinanzierung hinaus, eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses der Macht zur Wirtschaft – d.h. zu denen, die nun nicht mehr „Nomenklatura“, sondern wie im Westen „die Wirtschaft“ heißen, weil sie es sind. Dass diese Figuren mit all ihrer emsigen Geschäftstätigkeit der amtlichen Regierungsmacht, die ja nun nach den Regeln der Marktwirtschaft mit Geld exekutiert werden soll, jeden diesbezüglichen Dienst, nämlich jeden substanziellen Beitrag zur Staatskasse schuldig bleiben, gehört nach jetzt gültiger Auffassung nicht mehr zu den „mafiösen“ Kinderkrankheiten des kapitalistischen Erfolgssystems, sondern zu dem nationalen Notstand, der gerade niedergekämpft werden soll: dass nach einem Jahrzehnt Jelzin in Russland überhaupt niemand mehr auf die Regierung hört und deren gesetzliche Ansprüche gesetzestreu bedient. Der Diagnose entspricht auch hier die anvisierte Gegenmaßnahme: nicht noch ein neues Wirtschaftsprogramm, nicht noch eine neue „Reform“ und erst recht nicht noch mehr „antiinflationäre Geldpolitik“, sondern – mehr Gewalt. Die staatliche Autorität muss sich wieder Respekt verschaffen; deswegen muss als Erstes die Überwachung sämtlicher Wirtschaftsaktivitäten im Land – wieder – greifen. Gleich mehrere staatliche Geheimdienste werden ermächtigt, den Geschäftsverkehr der Subjekte der freien Marktwirtschaft auszuspionieren; von allen Unternehmen wird eine Umrüstung ihrer Computer verlangt, um diesen Zugriff möglich zu machen. … Offenbar regiert da wirklich ein Mann mit Erfahrung.
Richtig wirksam werden kann dieser Wille, den staatlichen Zugriff auf die Wirtschaft neu zu organisieren, freilich nur, wenn überhaupt wieder gesamtnational das Moskauer Kommando gilt, also alle Figuren, die sich ein Stück Befehlsgewalt angeeignet haben, sich dazu bequemen, als untergeordnete Dienststellen der einen Moskauer Staatsmacht zu funktionieren. Deshalb wird – zweiter wesentlicher Programmpunkt der inneren Erneuerung – den Föderationssubjekten die ‚Einhaltung von Recht und Gesetz‘ abverlangt. Was damit gemeint ist, wird unmissverständlich hinzu gesagt: Unterwerfung unter die Zentrale, die darüber entscheiden will, wie weit die ‚Eigenständigkeit‘ gehen darf.
Das wiederum kann nur klappen, wenn der Staatspräsident auch wirklich monopolistisch über die Staatsmacht verfügt – also über einen Gewaltapparat, der im Zweifelsfall die Nation kontrolliert. Damit fällt dem Militär die letzt-entscheidende Rolle in Putins fundamentalem Notstandsbereinigungs-Programm zu – womit man wieder beim Tschetschenienkrieg gelandet wäre. Denn der kriegerische Einsatz der Armee ist die exemplarische Verwirklichung des Gewaltmonopols: einer Staatsmacht, um deren Respektierung kein Unter-Machthaber mehr herum kommt.
Er ist das natürlich nur dann, wenn es sich dabei nicht am Ende bloß um eine letzte militärische Kraftanstrengung handelt, bei der sich das Machtinstrument selbst verschleißt; eine „Gefahr“, die der neue Macher im Kreml mal wieder selbst als Erster wahrnimmt, um sie zu bekämpfen: „Die Kampfbereitschaft und die operativen Fähigkeiten der russischen Truppen“ sind nach regierungsamtlicher Auffassung „kritisch niedrig“. Also kommt der Wiederherstellung und Steigerung ihrer Schlagkraft über den Kaukasus-Einsatz – angeblich Russlands größte Militäroperation seit dem 2. Weltkrieg – hinaus höchste Priorität zu. Neue Rüstungsanstrengungen im Rahmen einer neuen Sicherheitsdoktrin werden beschlossen; gemeinsam mit Truppenbesuchen des Oberbefehlshabers in Tschetschenien hebt das kurzfristig zumindest die Kampfmoral der Armee. Und das ist, in Verbindung mit der Erfolgspropaganda des im Kaukasus kämpfenden Militärs, immerhin auch ein Beitrag zu Putins Unternehmen, Land und Leute mit so viel von ihm kommandierter Gewalt zu konfrontieren und seine vielen Mit-Herrscher so zu beeindrucken und sich damit so viel Respekt zu verschaffen, dass er nicht bloß demnächst zum Präsidenten gewählt wird – was westliche Demokratieexperten sich als einziges Motiv für sein „populistisches“ Auftreten vorstellen können –, sondern dass seine persönliche Kommandogewalt „umschlägt“ in ein glaubwürdig wiederhergestelltes amtliches Gewaltmonopol.
6.
Was die Glaubwürdigkeit seines Vorgehens im demokratischen Sinn betrifft, nämlich den Glauben des russischen Volkes an ihn als „starken Mann“, der die Rettung des Vaterlands schafft, so kann Putin bereits große Erfolge verzeichnen. Den ersten hat ihm die Duma-Wahl im Herbst vergangenen Jahres gebracht, bei der er gar nicht zur Wahl stand. Um einen Konkurrenzkampf zwischen kleinen und größeren „Oligarchen“ um Zugriff auf ein persönlich verwendbares Stück Macht – so wie in den Jahren der Jelzin-Herrschaft zuvor und nach deren Vorbild – ging es von dem Moment an nicht mehr bloß, zu dem eine frisch aus dem Boden gestampfte Putin-Partei namens „Einheit“ dem russischen Wähler die Chance eröffnete, dem scharfmacherischen Auftreten des seinerzeit noch als Ministerpräsident fungierenden Hoffnungsträgers aus patriotischem Gemüt Anerkennung zu zollen und eine Mannschaft – aus lauter „unbekannten Gesichtern“, wie die westliche Presse vorwurfsvoll notieren musste, und, man denke nur, „ohne Programm!!“ – ins Parlament zu entsenden, für die ihr ideeller Chef ebenso wie der offizielle Vorsitzende, passenderweise Putins Katastrophenminister, hauptsächlich mit dem gebührend bekannt gemachten Argument warben, sie hätten für Werbung gerade keine Zeit, wg. Staatsrettung in Tschetschenien. Programmgemäß wurde „Einheit“ fast so stark wie die russische KP, die auch schon in der Jelzin-Ära den russischen Staatswillen, freilich mehr den alten sowjetpatriotischen als den neuen bürgerlichen, gegen die Parteien der „demokratischen Reformen“ und deren Konkurrenz um gute Positionen bei der Ausschlachtung der überkommenen Staatsgewalt und ihrer Mittel hochgehalten und damit bei einer starken Minderheit Anklang gefunden hatte. Im Umgang mit dieser alternativ staatstragenden Kraft hat Putin dann wieder demokratisches Geschick bewiesen: Bei der Besetzung der Duma-Ämter haben „Einheit“ und KPR gegen die „Reformer“ gemeinsame Sache gemacht. Mit diesem „Schachzug“ hat Putin, mittlerweile als Interims-Nachfolger Jelzins im Präsidentenamt, gleich in mehrfacher Hinsicht für klare Verhältnisse gesorgt: Es kommt ihm auch im Umgang mit dem Parlament wirklich auf Notstands-Politik an; der bislang präsidialamtlich gepflegte ‚Hauptwiderspruch‘ zwischen guten Reformern und bösen Sowjet-Nostalgikern ist damit obsolet; die Ausgrenzung einer Kraft wie der KP, die ihren „Kommunismus“ längst auf das Volksbedürfnis nach ordentlicher Herrschaft über Russlands kapitalistisch mehr zersetzte als ausbeuterisch produktiv gemachte Gesellschaft herunterdefiniert hat, hat ein Ende –
„Wir müssen die Politik der Konfrontationen beenden… wir werden die Abgeordneten nicht in die unseren und die anderen einteilen.“ (SZ, 9.1.) –;
umgekehrt haben Reformer, die ihre Vorstellungen von Wirtschaftsfreiheit immer über die elementaren Erfordernisse einer gediegenen Herrschaft und Unterordnung, der Quelle aller bürgerlichen Freiheit, gestellt haben, nichts mehr zu melden. Und mit all dem legt Putin demonstrativ und so, dass es wirklich jeder merkt, den denkbar größten Abstand zwischen sich und seinen Vorgänger, dem er sein Amt formell verdankt. Natürlich empfiehlt er sich damit für die Präsidentenwahl im Frühjahr; mit dieser großartigen Entdeckung liegen die erfahrenen westlichen Medien sicher richtig. Bemerkenswerter als diese Trivialität ist aber, womit der Mann sich empfiehlt: Gerade seine an Verachtung heranreichende Abgrenzung gegen den Alt-Präsidenten macht kenntlich, dass der von Jelzin personifizierte Zerfall der staatlichen Macht zur Konkurrenzmasse für Interessenten mit Mitteln und Einfluss zu Ende ist. Angesagt ist eine Zeit militanter Neugründung des russischen Staates. Als Wähler sind die Bürger eingeladen, sich dazu zu bekennen.
7.
Der Westen sieht sich durch diese neue Generallinie russischer Selbstbehauptungspolitik schwer herausgefordert. Luft macht er sich mit seiner öffentlichen Empörung über das Tschetschenien-Gemetzel, gegen dessen staatstragende Bedeutung sich alle Experten eines funktionierenden Gewaltmonopolismus und der damit verbundenen staatsterroristischen Erfordernisse blind stellen – schließlich wollen sie ja nicht die Gründungsunterlagen der bürgerlichen Staatsgewalt zur Diskussion stellen, sondern dem russischen Reich das Recht auf seine gewaltsame und gewalttätige Um- und Neugründung absprechen. Damit sprechen sie ihrer Obrigkeit aus der Seele, die sich allerdings mit dem Empören härter tut, weil allzu heftige Anklagen in der Welt der Diplomatie Kampfansagen wären, die gegen Moskau eben doch nicht so leicht fallen wie gegen Belgrad und die gegen einen russischen Präsidenten, der dem Westen seinerseits offen herausfordernd begegnet, erst recht einige Probleme aufwerfen. So warnt sich der deutsche Außenminister Fischer bei seinem Besuch in Moskau
„vor dem Versuch, Moskau unter Druck zu setzen. Der Westen könne Russland nur mahnen… Eine Isolation Russlands durch Sanktionen sei der falsche Weg.“ (SZ, 22.1.)
Ebenso die diplomatische Fachwelt in Brüssel:
„Mit dem Wechsel von Jelzin zu Putin habe sich ohnehin die politische Konfiguration verändert. Brüssel ist überzeugt, dass Putin die Präsidentenwahl gewinnen wird, und erachtet es als vernünftig, sich auf eine Zusammenarbeit mit ihm einzurichten… Weil der Krieg in Tschetschenien aber in Russland populär sei und die Wahlchancen Putins erhöhe, riskiere die EU mit einem zu forschen Auftreten, in der russischen Öffentlichkeit als Feind wahrgenommen zu werden.“ (NZZ, 25.1.)
Andererseits kann Vorsicht und Zurückhaltung unmöglich das letzte Wort des Westens sein. Letztlich kommt er nicht darum herum, die Alternative zu entscheiden, die der ehemalige amerikanische Präsidentenberater Brzezinski mit der Prägnanz des US-Diplomaten auf den Punkt bringt:
„Wird Putin zu einem Pinochet oder zu einem Milosevic?“ (FAZ, 4.1.)
Soll man dem neuen Mann im Kreml zugestehen, dass er seinen Staat gewaltsam konsolidiert, weil Russland dadurch politisch berechenbar wird? Oder soll man sich entschließen, den Erneuerer russischer Staatlichkeit unter die Schurkenregime zu zählen, weil damit dem westlichen Zugriffswillen wieder Schranken erwachsen, die eine gute Zeit lang außer Kraft waren? Fest steht nur eins: Die schönen Zeiten, als Russland bis zur Machtlosigkeit zerfallen und dabei dank einem brauchbaren Präsidenten handhabbar geblieben ist, werden gerade beendet. Aber das wäre ja auch zu schön gewesen, um dauerhaft zu funktionieren: ein pflegeleichtes ‚Machtvakuum‘, in das sich hineinregieren, an dem sich womöglich sogar verdienen lässt, ohne dass für die westlichen Nutznießer größere Verwaltungskosten anfallen.
Das war das ‚Modell Jelzin‘. Jetzt ist es doch schneller tot als „unser Boris“ selber.