Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Terroranschläge in Madrid – Vom politischen Ertrag des „Terrors gegen Europa“

Madrid, 11.3.2004, 7:30 Uhr. Im morgendlichen Berufsverkehr explodieren in kurzer Folge in voll besetzten Nahverkehrszügen 10 Bomben. Der Anschlag ist Anlass zur Beendigung des Wahlkampfs, weil die Aufregung darüber sowieso Wahlkampf pur ist: die regierenden Konservativen wollen ihn den Basken in die Schuhe schieben, die Opposition macht al Kaida verantwortlich, jeweils um den eigenen Kurs zu rechtfertigen. Am Ende hat die Regierung gelogen: die Opposition gewinnt. Überraschend. Nichts ist ein so schöner Geburtshelfer für ein geeintes Europa wie gemeinsame Betroffenheit durch Terror. Das gilt nicht nur für das „Wir“-Gefühl der europäischen Bevölkerung, sondern auch für den Einigungswillen der europäischen Staaten.

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Terroranschläge in Madrid – Vom politischen Ertrag des „Terrors gegen Europa“

Wir sind alle Madrilenen (1): Vom Nutzen des Terrors für die spanische Nation

1. Ein Anschlag stiftet das große nationale „Wir“

Madrid, 11.3.04 7:30 Uhr. Im morgendlichen Berufsverkehr explodieren in kurzer Folge in vollbesetzten Nahverkehrszügen 10 Bomben.

José Aznar – zu diesem Zeitpunkt noch spanischer Ministerpräsident – erklärt in einer Rede an die Nation, dass er die Trauer der Angehörigen persönlich empfinde; schließlich wurden viele Menschen ermordet, nur weil sie Spanier sind. Als öffentlicher Ausdruck der Trauer, die wir heute als Spanier teilen, werden drei Tage Staatstrauer ausgerufen; allen Überlebenden des Attentats, die illegal nach Spanien gekommen sind, wird aus Solidarität mit sofortiger Wirkung die spanische Staatsbürgerschaft verliehen, um ihnen die Angst vor einer Behandlung im Krankenhaus oder einer Anzeige bei der Polizei zu nehmen. So viel menschliche Anteilnahme von allerhöchster Stelle bekommen die Opfer von Gewalttaten, Spaniens „Illegale“ zumal, nicht immer. In dieser schweren Stunde aber gelten dem spanischen Staat alle Opfer der Anschläge ohne Abstriche und ohne Ausnahmen als Repräsentanten der spanischen Nation; das macht auch den rechtlosen Einwanderer zum passenden Objekt staatlicher Solidarität.

Wo die Bevölkerung nicht schon von selbst Entsetzen und Betroffenheit als Spanier verspürt, wird diese Art der Betroffenheit organisiert. Im Fernsehen sind rund um die Uhr Nahaufnahmen von zerfetzten Körpern und verzweifelten Angehörigen zu sehen, und zuletzt kann und will die Bevölkerung genauso wenig wie ihr Ministerpräsident noch zwischen den elementarsten Dingen unterscheiden. Das Entsetzen der Angehörigen und die Betroffenheit der staatlichen Sicherheitsorgane, die spontane Hilfsbereitschaft der zufällig anwesenden Passanten und der anonyme staatsbürgerliche Schulterschluss – das alles geht jetzt vorwärts wie rückwärts durcheinander: Während der staatliche Zwangszusammenhang der unschuldigen menschlichen Bestürzung erst landesweit Bedeutung und Gewicht verleiht, verschafft die Trauer der Angehörigen der staatlichen Zwangsgemeinschaft ein menschliches Gesicht.

Für diese staatsbürgerliche Verwirrung bedarf es noch nicht einmal großer Worte; sie wird durch Trauerlichter vor dem Madrider Bahnhof effektvoll ins Bild gesetzt. In dem Gestus einer elementaren menschlichen Selbstverständlichkeit werden die spanischen Bürger dazu angeleitet, eine denkbar abstrakte und unpersönliche Identitätszuschreibung – die Mitgliedschaft in der nationalen Zwangsgemeinschaft – ganz persönlich und individuell zu empfinden, sich von dieser Empfindung überwältigen zu lassen und diesem Wahn in einem kollektiven Gefühlsausbruch Objektivität zu verleihen. Die spanische Regierung – die sonst mit der Bevölkerung in einem anderen Tonfall verkehrt – bittet ihr Volk um Schulterschluss: Die Regierung bittet die Spanier, sich morgen in den Straßen ganz Spaniens zu versammeln und zu demonstrieren. Und das Volk lässt sich nicht lange bitten: Allein in Madrid demonstrieren über zwei Millionen; im ganzen Land soll insgesamt fast ein Viertel der spanischen Bevölkerung auf die Straße gegangen sein. Das öffentliche Leben bricht regiegemäß zusammen; an Normalität ist nicht zu denken (FAZ, 13.3.). Als dann Bestürzung und Trauer in Wut und Zorn umschlagen und das Volk von seiner Regierung einen kompromisslosen Kampf gegen die feige terroristische Mörderbande verlangt, wird aus dem schwärzesten Tag in Spaniens jüngerer Geschichte endgültig eine Sternstunde des Nationalismus: Die spanische Bevölkerung benimmt sich jetzt so, als wäre sie tatsächlich nichts anderes als die Ansammlung spanischer Nationalfähnchen, an der sich die Terroristen in ihrem blutigen Wahn rächen wollten. Inniger ist die nationale Gemeinschaft nur noch im richtigen Krieg.

Bis zu den nationalen Wahlen am Sonntag sind es jetzt noch 48 Stunden.

2. Ein Anschlag deckt ein nationales Zerwürfnis auf

Unmittelbar nach den Anschlägen werden alle Wahlkampfveranstaltungen abgesagt und der gesamte Wahlkampf für beendet erklärt. Dieser Verzicht fällt insbesondere der regierenden konservativen Volkspartei und ihrem Ministerpräsidenten nicht schwer, da die nationale Aufregung über das Attentat ohnehin der beste Wahlkampf ist: Nichts schweißt Volk und Führung so zusammen wie ein Angriff von außen oder ein gemeinsam durchlittenes Attentat. In einer solchen Stunde der höchsten Not hat der Staat durchzugreifen und das Volk hat zersetzende Bedenklichkeiten zu unterlassen; das spricht grundsätzlich für den bereits amtierenden Führer und gegen die Opposition. Gleichwohl wird Ministerpräsident Aznar dieser demokratischen Idylle nicht so richtig froh. Schließlich hat die Bekämpfung des Terrorismus schon zuvor im Wahlkampf eine große Rolle gespielt: Aznar hatte sich als der schärfste Kämpfer gegen den baskischen Nationalismus profiliert und die oppositionellen Sozialisten beschuldigt, mit diesen Vaterlandsfeinden zu verhandeln; umgekehrt hatte ihm der Spitzenkandidat der Opposition, Zapatero, vorgeworfen, er würde den Terror ins Land holen, indem er sich mit der Entsendung spanischer Truppen an dem amerikanischen Krieg im Irak beteiligt.

Damit spitzt sich die Betroffenheit über die Anschläge schnell auf die Frage zu, ob sie von der baskischen ETA oder von der moslemischen Al Kaida verübt wurden. Aznar kennt eben seine Pappenheimer, die demokratischen Wähler, und ist sich sicher, dass die gleiche Bevölkerung, die jetzt noch fassungslos die Opfer der Anschläge betrauert, am Wahltag ihr staatsbürgerliches Unterscheidungsvermögen zurückgewonnen haben wird. Zwei alternative Szenarien deuten sich an:

  • Sollte sich herausstellen, dass die Anschläge von der baskischen ETA verübt wurden, dann werden die Opfer eindrucksvoll den innenpolitischen Kurs Aznars bestätigen. Der nationale Sinn des staatlichen Gewalteinsatzes steht in diesem Fall außer Frage; die Opfer, die dabei entstehen, mahnen dazu, diesen Kampf mit umso mehr Entschlossenheit fortzuführen.
  • Genau umgekehrt wird die Wertung des Attentats allerdings ausfallen, sollte sich erweisen, dass die Anschläge irgendwie im Zusammenhang mit der spanischen Beteiligung am Irak-Krieg stehen. Für Spanien ist der nationale Nutzen dieses Kriegs mehr als ungewiss (vgl. dazu GegenStandpunkt 3-03, S.119: Von Europa muss mehr Gewalt ausgehen), und die Opfer, die dabei entstehen, machen die Bilanz dieses Krieges für Spanien nur noch fraglicher. In diesem Fall sprechen die Opfer der Anschläge gegen einen Ministerpräsidenten, der die Nation in diesen Krieg geführt hat, und die nationale Betroffenheit über die Anschläge, die unmittelbar vor der Wahl das ganze Land ergriffen hat, verdirbt der Regierung womöglich den schon sicher geglaubten Sieg.

Das alles geht Aznar – bei aller persönlich empfundenen Trauer – sogleich durch den Kopf, als er von dem Attentat informiert wird, und zu einem Zeitpunkt, als der Wähler noch mit Bildern vom unfassbaren Grauen unterhalten wird, steht für den Ministerpräsidenten schon die Strategie der nächsten Tage fest: Er wird alle zur Verfügung stehende Macht nützen, um die ETA als die Urheberin des Attentats erscheinen zu lassen und dadurch ein Bild von der nationalen Lage zu zeichnen, das nach den polit-moralischen Gesichtspunkten einer demokratischen Öffentlichkeit zu der von ihm vertretenen politischen Linie passt. Noch am gleichen Tag verfasst er einen Demonstrationsaufruf zu den Terrorattentaten der ETA in Madrid; telefoniert mehrmals persönlich mit den Chefredakteuren von El Pais und El Periodico, zwei von Spaniens großen Tageszeitungen, um die ETA für die Tat verantwortlich zu machen, weist die Auslandskorrespondenten und das Botschaftspersonal dazu an, im Ausland auf diese Version der Ereignisse zu drängen; schließlich wird eine UN-Resolution zu den Anschlägen durchgesetzt, die die ETA ausdrücklich als Täter nennt.

Es zeigt sich schnell, dass Aznar den Wähler richtig eingeschätzt hat: Dem Wähler sind die nationalen Deutungen der jeweiligen Tatversion so geläufig, dass er die Frage, ob die Tat der ETA oder Al Kaida zuzuordnen ist, bruchlos mit der Frage identifiziert, ob er am Wahltag die Regierung oder die Opposition ermächtigen soll. Damit macht der Wähler sich zum idealen Objekt der Manipulation und versetzt die Wahlkampfstrategen in die bequeme Lage, dass sie, um die gewünschte nationale Deutung des Wählers gleichsam auf Kommando abzurufen, ihm nur die „entsprechenden“ Tatsachen vorhalten bzw. vorspiegeln müssen. Auf den Kampf um die staatsbürgerliche Ausdeutung der Lage können Parteistrategen jetzt verzichten; an seine Stelle tritt der Versuch, die Geheimdienste zur Abfassung der passenden Dossiers zu veranlassen, und vor allem der Kampf um die Ausdeutung und Veröffentlichung der Ermittlungen der Sicherheitsbehörden.

Zunächst schwankt die Gunst des Wählers zusammen mit den publizierten Ermittlungsergebnissen; als sich dann trotz aller Informationspolitik der Regierung die Hinweise auf eine Täterschaft von Al Kaida verdichten – am Tag vor der Wahl wird die arabische Spur zu offensichtlich, um weiter behördenintern verschleiert zu werden, und zu einigen Radiosendern hat eben auch die Opposition einen guten Draht –, schlägt die Stimmung jäh um: Aznar, das ist Dein Krieg, aber unsere Toten! rufen Demonstranten und wenden das große nationale „Wir“ der Betroffenheit gegen die Regierung, die diese Betroffenheit doch organisiert und aufgestachelt hat, um einen nahtlosen Zusammenschluss von Volk und Führung unter ihrer Regie herzustellen. Jetzt ist also nicht nur der Zusammenschluss von Bestürzung über das Attentat und Zweifel an der Kriegsbeteiligung auf dem Tisch, den die Regierung durch ihre Informationspolitik vermeiden wollte – jetzt wird auch offensichtlich, dass die Regierung die Öffentlichkeit über den wahren Stand der Ermittlungen täuschen will. Damit macht sich die Regierung nicht nur selbst zum Kronzeugen der Deutung der Anschläge durch die Opposition, die eine Täterschaft von Al Kaida für ein schlagendes Argument für ihre alternative nationale Linie hält. Jetzt gerät sie auch in Verdacht, die alte Regierungslüge vom nationalen Nutzen der spanischen Kriegsbeteiligung mit einer neuen Lüge zur Verschleierung der wahren Identität der Attentäter aufrechterhalten zu wollen. An die Stelle der anfänglichen Zweifel am nationalen Ertrag des Krieges tritt jetzt die Gewissheit über die mangelnde moralische Qualifikation der Kriegsherrn: Sie belügen das Volk, das seinen Führern doch vertrauen will, und entehren das Andenken an die Toten von Madrid, in deren Namen sich Volk und Führung so innig verbrüdert hatten. Die Volksseele beginnt zu kochen: Obwohl in Spanien vor Wahlen Demonstrationen verboten sind, verabreden sich am Samstag, dem Tag vor der Wahl, Demonstranten vor der Zentrale der regierenden Volkspartei und belagern sie unter Parolen wie Ihr Faschisten seid die Terroristen!, Mörder! und Die Volkspartei gehört verboten! bis zum nächsten Morgen; das spanische Fernsehen dokumentiert, wie die Regierungspolitiker wie in einem Bunker auf das Ende der Belagerung warten (einfühlsam: FAZ, 23.3.). Im Radiosender Cadena Ser, der mächtigsten Welle des Landes, wird über die Verhängung des Ausnahmezustands spekuliert; im Land kursieren Gerüchte, die Regierung wolle die Wahlen verschieben und plane deshalb einen Staatsstreich, kurzum: Jetzt ist man bereit, den amtierenden Führern, mit denen man gerade noch die Toten von Madrid betrauert hat, jede erdenkliche Niedertracht zuzutrauen. Innerhalb von nur wenigen Stunden verliert Aznar die schon sicher geglaubte Gunst des Wählers und am nächsten Tag entlädt sich der angestaute Volkszorn so, wie das in einer Demokratie vorgesehen ist: Das Volk ermächtigt die Opposition zur Führung der Regierungsgeschäfte.

Wir sind alle Madrilenen (2): Vom Nutzen des Terrors für den Fortschritt Europas

1. Ein Anschlag stiftet das große europäische „Wir“

In Spanien haben die Attentate die Massen zusammengeschweißt: Weil die Terroristen sie als Spanier angegriffen haben, haben sie sich auch gleich als Spanier solidarisiert. Da wollen Europa-Politiker nicht abseits stehen und die gemeinschaftsfördernde Wirkung des Terrors auch für Europa nutzen. Der Präsident der EU-Kommission Prodi lässt die Flagge der EU auf Halbmast setzen und gibt damit zu verstehen, die Pendler in den Madrider Nahverkehrszügen seien auch als Europäer angegriffen worden. Sein Kollege, der EU-Ratsvorsitzende Bertie Ahern, ruft die Bevölkerung in ganz Europa zu Schweigeminuten auf und will damit ein Zeichen setzen, dass sich die Mitgliedstaaten der EU der spanischen Staatstrauer anschließen (FAZ, 15.3.), und mit etwas gutem Willen fühlt sich die Presse an jenen vorbildlichen Gemeinschaftsgeist erinnert, der Spaniens Straßen beherrschte: In ganz Europa wird in Schweigeminuten der Opfer der Terroranschläge von Madrid gedacht. Radio und Fernsehprogramme werden unterbrochen, an vielen Stellen ruht die Arbeit. (SZ, 16.3.)

So nutzen die Europafunktionäre den Umstand aus, dass die Bürger jetzt, wo der Terror Europa erreicht hat, tatsächlich über alle Grenzen betroffen sind, und verlassen sich darauf, dass die Bevölkerung, die sich unter ihrer Regie solidarisieren soll, keinen Gedanken darauf verschwendet, welche Politik sie von den gewaltsamen Gegensätzen der Weltpolitik betroffen macht: In die Konflikte im Nahen Osten ist die europäische Bevölkerung nicht erst durch Al Kaida, sondern von jeher durch die ausgreifenden Interessen ihrer Nationen eingemischt; und ihre eigenen Regierungen hatten beschlossen, das Attentat islamischer Terroristen auf das World Trade Center als Auftakt einer Weltkriegsfront zu nehmen, in deren Verlauf z.B. die Bundeswehr von Somalia bis zum Hindukusch zum Einsatz gelangt.

Mit dieser Außenpolitik bringen die europäischen Staaten nicht bloß die Bevölkerungen fremder Staaten in die Schusslinie ihres Antiterrorkrieges; sie beglücken auch ihre eigenen Bevölkerungen mit der Rolle einer antiterroristischen Heimatfront und rufen für den zivilen Alltag eine hohe Gefährdungsstufe auf: Alle Demokratien sind gefährdet (SZ, 17.3.) versichern Schröder und Chirac – als würde hier ein friedliebender Kontinent mit terroristischer Gewalt belegt, nur weil ein finsterer Geheimbund sich an den sittlichen Werten Europas und an dessen toleranter Lebensart stört. Deswegen muss auch alles vermieden werden, was sich auch nur im Entferntesten als staatliche Nachgiebigkeit interpretieren ließe: Aufgrund des allgegenwärtigen Terrorismusverdachts ist Militanz angesagt

Auf die Betroffenheit ihrer Bürger, die sie selber herstellen, berufen sich die europäischen Führungsmächte und erblicken in den Anschlägen von Madrid ein historisches Ereignis, das Bevölkerung und Staaten zu mehr europäischem Gemeinschaftssinn ermahnt:

Als sich herausstellte, dass die Anschläge von Madrid von Al Kaida verübt wurden, wussten wir alle automatisch – wir alle: nicht nur die Politiker, sondern auch die europäischen Völker von Portugal bis Estland –, dass es darauf in der Sicherheitspolitik nur eine einheitliche europäische Antwort geben kann. (Fischer, Rede auf dem kleinen Parteitag der Grünen, 8.5.)

Nichts ist ein so schöner Geburtshelfer für ein geeintes Europa wie gemeinsame Betroffenheit durch Terror. Das gilt nicht nur für das „Wir“-Gefühl der europäischen Bevölkerung, sondern auch für den Einigungswillen der europäischen Staaten. Die entnehmen der neuen Dimension des Terrors den Auftrag, sicherheitspolitisch noch ganz andere Saiten aufzuziehen.

2. Die neue Dimension der Sicherheit

a. Staatssicherheit total – Innenpolitik im Zeichen des Terrorismus

Ihre Gesellschaften wollen die europäischen Staaten so lückenlos unter Beobachtung haben, dass es selbst jahrelang unauffällig in ihrem Lande lebenden „Schläfern“ unmöglich wird, an irgendeiner belebten Ecke einen Rucksack mit Sprengstoff zu deponieren. Dass der neue Standpunkt zur inneren Sicherheit maßlos ist, das wissen auch die Innenminister, die ihn vertreten: Absolute Sicherheit kann es nicht geben. (Schily, Tagesthemen vom 15.3.) Gleichwohl verfallen die Staatsmänner nicht in Panik, sondern beschließen mannhaft, wenigstens das Mögliche zu tun. Sie beraten über eine effizientere Sicherheitsarchitektur und unterziehen die Organisationsform ihrer Sicherheitsbehörden einer Generalrevision: Die föderale Gliederung der Dienste und die abgrenzende Aufgabenzuweisung von Militär, Polizei und Geheimdiensten, die einst unter dem Titel Lehren aus dem Nationalsozialismus als Gütesiegel der Republik firmierten – das alles hat sich jetzt vor dem Anspruch zu rechtfertigen, einen lückenlosen und totalen Zugriff der Sicherheitsorgane zu gewährleisten. Darüber ist man sich in Berlin so einig, dass sofort heftiger Streit entsteht: Wir sind viel zu lasch! (Stoiber, FAZ, 17.3.), meint der eine und sieht schwer wiegende Sicherheitslücken, die mit einem neuen Paket von Gesetzen geschlossen werden müssen. Mit dem Ruf nach neuen Gesetzen wird nur darüber hinweggetäuscht, dass durch den Abbau von Polizeistationen die Sicherheit der Bevölkerung gefährdet wird, kontert darauf der andere. (Westerwelle, in: Phönix, Der Tag, 26.3.) Und der amtierende Herr der Staatssicherheit beruhigt die Bevölkerung mit dem Hinweis, dass es zu ihrer totalen Sicherheit keiner Flut von Gesetzesänderungen, sondern nur einer kleinen Korrektur der rechtlichen Betrachtungsweise bedarf: Wenn ich jemanden ins Visier genommen habe, müssen wir nach den Grundsätzen vorgehen, die die Polizei bei der Gefahrenabwehr anwendet. Und da gilt eben – anders als im Strafverfahren – nicht der Grundsatz ‚Im Zweifel für den Angeklagten‘, sondern da ist die Sicherheit der entscheidende Gesichtspunkt. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21.3.) So kommt das altehrwürdige Rechtsinstitut der Schutzhaft zu neuen Ehren; schließlich kann niemand wollen, dass zwischen das Visier des Innenministers und seinen terroristischen Feind der Schatten restriktiver Gesetze fällt. Überhaupt der Datenschutz: Niemand würde es verstehen, wenn sich nach einem Anschlag herausstellte, dass die Rettung Dutzender oder gar Hunderter Menschenleben an einer Richtlinie des Datenschutzes gescheitert sein könnte. (FAZ, 5.4.) All die heiligen Kühe der Zivilgesellschaft, all die Errungenschaften, die unsere abendländische Wertegemeinschaft von dem finsteren Mittelalter fanatischer Gotteskrieger so wohltuend unterscheiden sollen – mit einem Federstrich werden sie der Staatssicherheit untergeordnet und zur Disposition gestellt. Selbstverständlich in der Sorge um das Wohl der Bürger: Wenn der Staat schon keine Rücksicht auf seine Bevölkerung nehmen kann, wenn es darum geht, im Kampf gegen den Terrorismus immer neue Fronten zu eröffnen – sonst würden die Terroristen mit ihrem schändlichen Treiben ja erreichen, was sie wollen! –, so ist er es seiner Bevölkerung wenigstens schuldig, diesen Kampf mit aller Entschlossenheit zu führen.

Der Schutz des Staatsvolks radikalisiert den misstrauischen Blick, den ein Innenminister von jeher auf diejenigen wirft, die in diesem Staatsvolk leben, ohne eigentlich dazu zu gehören: Ausländer sind per se verdächtig und ihr Aufenthalt ohnehin nur geduldet; im Lichte der jüngsten Ereignisse ist daher eine Reformdebatte über das gesamte Ausländerrecht dringend geboten. Die vom Innenminister gewünschte Abschiebungsmöglichkeit aufgrund von übler Nachrede und Gerüchten (der Grüne Bütikofer) klingt zwar unschön; andererseits sind die hier lebenden Ausländer nach Auffassung des Innenministers ohnehin dazu verpflichtet, aktiv zur Verbesserung der Sicherheitslage beizutragen, sollten es also auf keinen Fall versäumen, bei den Behörden etwas für ihren guten Ruf zu tun.

b. Staatssicherheit kollektiv – die innere Formierung Europas kommt voran

Die Internationale der Terroristen wollen Europas Innenminister mit der Internationale der Demokraten bekämpfen. Sie verlangen Informationen über die Erkenntnisse befreundeter Dienste und Mitsprache bei den Sicherheitsmaßnahmen auswärtiger Behörden und sind im Gegenzug notgedrungen bereit, den europäischen Nachbarn gleiches bei sich einzuräumen. Das schafft neue Rechte und Pflichten: Bundesinnenminister Schily rügt Aznar für dessen Informationspolitik nach den Anschlägen von Madrid und ist umgekehrt betroffen über den Verdacht, Deutschland habe bei der Vorbereitung dieser Anschläge als Rückzugs- und Ruheraum gedient.

Auf ihrem nächsten Gipfel – den sie in Madrid abhalten – vereinbaren die EU-Nationen daher weitere Schritte zur Koordination ihrer Geheimdienste: Sie beschließen einen umfassenden Katalog von Maßnahmen zur besseren Zusammenarbeit ihrer Sicherheitsbehörden, verpflichten sich darauf, in den nächsten Monaten die nationalen Gesetze für eine ganze Reihe von Beschlüssen zu verabschieden – darunter auch der von Italiens Berlusconi so lang und hartnäckig bekämpfte Europäische Haftbefehl –, die sie auf europäischer Ebene schon im Gefolge der Anschläge vom 11. September 2001 gefasst, auf nationaler Ebene aber noch nicht ratifiziert hatten.

Die Bildung eines europäischen Geheimdienstes nach dem Vorbild des amerikanischen CIA vereinbaren die europäischen Staaten nicht, ein entsprechender Vorschlag Österreichs und Belgiens bleibt aber weiter in der Diskussion. Gegen diesen Vorschlag wendet Schily ein, ein europäischer Geheimdienst funktioniere nur mit einer europäischen Regierung. Das zeigt, welche grundsätzlichen Souveränitätsfragen hier aufgerührt werden: Die freie Handhabung der Staatssicherheit betrifft den Kernbereich staatlicher Souveränität und ist von dieser eigentlich nicht zu trennen. Gleichwohl kommen die europäischen Staaten überein, auch auf dem hochsensiblen Gebiet der Staatssicherheit zwischen der Souveränität als solcher – die unangetastet bleiben soll – und den Hoheits-Funktionen des Staates – die europäisiert gehören – zu unterscheiden. Die typisch europäische Lösung ist die Einrichtung eines „Sicherheitskoordinators“, der sich seine Kompetenzen noch erobern muss.

Dabei sind die zuständigen Minister zugleich sicher, dass absolute Sicherheit auch hier nicht zu haben ist. Schily verkündet: Der internationale Terrorismus ist letztlich nicht in Europa, sondern nur in seinen Ursprungsländern zu bekämpfen. (Tagesthemen, 15.3.) Staatssicherheit total ist eben unteilbar und ein weltweites Programm.

Wir sind alle Madrilenen (3): Vom Nutzen des Terrors für die europäische Weltkriegs-Kompetenz

Jetzt haben auch die Europäer ihren Terrorismusfall. Den stellen sie heraus und verleihen ihm seinen weltpolitischen Rang: Das ist Europas 11. September. (The Times, 15.3.) Mit dieser Kennzeichnung reklamieren sie für sich die Berechtigung und die Kompetenz, selbst zu definieren, wo der Terror zu Hause ist. Die Stoßrichtung ist klar: Gegenüber den USA bestehen sie darauf, mitentscheiden zu dürfen, wie er bekämpft werden soll und wo die Anti-Terror-Front verläuft. Dem neuen spanischen Ministerpräsidenten fällt die ehrenvolle Rolle zu, mit dem unanfechtbaren Recht des Betroffenen den europäischen Standpunkt mit seiner ersten Handlung zu unterstreichen: Indem er seine Soldaten aus dem Irak abzieht, bestreitet er den Zusammenhang zwischen dem Antiterrorkrieg – in dem er sich von niemandem übertreffen lässt – und Amerikas Kampf im Irak. Frankreich und Deutschland fügen dem eine speziell europäische Lesart hinzu, wie dieser Kampf gegen den Terror auszusehen hat: Der Terror kann nicht allein mit militärischer und polizeilicher Macht bekämpft werden. Auch die Wurzeln des Terrors muss man bekämpfen. Dazu gehört die Unterentwicklung in der Dritten Welt. (SZ, 17.3.) Den dummen Spruch versteht jeder richtig: Damit kündigen Frankreich und Deutschland nicht milliardenschwere Entwicklungshilfe gegen „Unterentwicklung in der Dritten Welt“ an, sie bringen nur zum Ausdruck: Amerika macht alles falsch.

Den dummen Spruch versteht Washington schon gleich. Dort hält man „Europas 11. September“ umgekehrt für ein schlagendes Argument, dass sich die Imperialisten der zweiten Garnitur endlich und jetzt erst recht ohne Vorbehalt dem amerikanischen war on terror anzuschließen hätten. Alles andere ist appeasement, also Feigheit vor dem Feind, vor dem die USA ihre schlappen Verbündeten schon zweimal im vorigen Jahrhundert retten mussten. So landen die Anschläge von Madrid und ihre Aufarbeitung da, wo in der Welt des Imperialismus von heute ohnehin alles landet: bei der Konkurrenz der amerikanischen Weltmacht und der europäischen Emporkömmlinge um die Entscheidungsmacht über Krieg und Frieden in der Welt.