Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Arbeitskämpfe französischer Lkw-Fahrer, englischer Feuerwehrleute und deutscher Staatsangestellter:
Staatliche Lehrstunden über den rechten Gebrauch des Streikrechts

Wenn die französischen Fahrer 9% mehr Lohn für die nächsten drei Jahre und ein dreizehntes Monatsgehalt als kleine Kompensation der gelaufenen Preiserhöhungen verlangen, vermag die Grande Nation daran absolut nichts Positives für sich zu entdecken. Wenn die britischen Feuerwehrleute aus den erbrachten Leistungen ein Argument für sich zu machen suchen und glatt 39% mehr Lohn anpeilen, dann kann auch der englische Staat sie überhaupt nicht mehr leiden. Der deutsche Staat ist mit seinen Beamten und Angestellten im Öffentlichen Dienst nicht erst dann unzufrieden, wenn sie lohnfordernd und warnstreikend unterwegs sind.

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Arbeitskämpfe französischer Lkw-Fahrer, englischer Feuerwehrleute und deutscher Staatsangestellter:
Staatliche Lehrstunden über den rechten Gebrauch des Streikrechts

„Der Streik darf nicht gegen das Prinzip der fairen Kampfführung verstoßen, zu dem insbesondere das Unterbleiben von Gewaltandrohungen und -anwendungen gehört.“ (Gablers Wirtschaftslexikon, 1988, S.1795)

Frankreich: Ein tolerierter Streik – eine verbotene Blockade

So mag der französische Staat seine Lkw-Fahrer: Wenn sie unterwegs auf den Straßen sind und just in time anliefern und abholen, was das produzierende kapitalistische Gewerbe so alles für seinen möglichst stockungsfreien Produktions- und Verwertungsprozess braucht. Damit sie dabei auch die LKW ihrer Unternehmer ordentlich – möglichst rund um die Uhr – auslasten, achtet er mit Regelungen in Bezug auf Fahrzeit und Ruhepausen auf ihre Gesundheit, und wenn dann die Kapitäne der Landstraße ihren Sekundenschlaf so hinkriegen, dass sich ihre Unfallstatistik im Rahmen des leider nun mal Unvermeidlichen hält, haben sie ihren Beitrag zum nationalen Wirtschaftswachstum geleistet. So kommen auch die etwas raubeinigen Routiers in den Rang eines ehrenwerten und geschätzten nationalen Berufsstandes.

Auch in Lohnfragen kann der französische Staat seine Fahrer gut leiden. Mit ihrem Einkommen, bei dem zwischen der höchsten Lohnstufe und dem gesetzlichen Mindestlohn Smic ein Abstand von 10% besteht (Libération, 25.11.), sind sie nicht nur für ihre kapitalistischen Anwender eine Kost, die sich für sie lohnt. Von ihrem Verdienten führen sie auch brav Steuern und Beiträge an die staatlichen Renten-, Krankenversicherungs- usw. -kassen ab, und mit dem Rest, der ihnen dann noch bleibt, gelingt es dieser Berufsgruppe glatt noch, ein standesgemäßes Leben etwas über dem Existenzminimum zu führen, ohne dem Staat als arbeitende Sozialfälle lästig auf der Tasche zu liegen. Dafür verdienen die Brummi-Chauffeure allen staatlichen Respekt.

Deswegen hat der französische Staat gar kein Verständnis dafür, wenn sie, vertreten durch ihre Gewerkschaften, an diesem Verhältnis von Lohn und Leistung, das für alle national-ökonomischen Belange so zufriedenstellend geregelt ist, etwas zu ihren eigenen Gunsten verschieben wollen. Wenn die Fahrer 9% mehr Lohn für die nächsten drei Jahre und ein dreizehntes Monatsgehalt als kleine Kompensation der gelaufenen Preiserhöhungen verlangen, vermag die Grande Nation daran absolut nichts Positives für sich zu entdecken. Für sich nicht, und schon gleich nicht für ihre im Transportgewerbe tätigen Kapitalisten, denen die bescheidene Anhebung des Lebensstandards ihrer Routiers doch nur überflüssige Zusatzkosten beschert – wo sie es doch schon schwer genug haben, sich mit den Billig-Löhnen ihres fahrenden Personals auf dem europäischen Transportmarkt zu behaupten.

Doch auch wenn die französische Staatsgewalt der Lohnforderung nichts abgewinnen kann: Die Fahrer haben, wie alle abhängig Beschäftigten, ein Recht, ihrer Forderung auch mit Arbeitskampfmaßnahmen Nachdruck zu verleihen. Das ist staatlich verbrieft, und daran hält sich die Politik auch in diesem Fall. Sie setzt dabei auf die Produktivkraft ihres Streikrechts, nämlich darauf, dass das Kräfteverhältnis zwischen beiden Parteien die Tarifauseinandersetzung schon zügig und mit eindeutigem Ausgang beenden wird, stehen sich doch in der zwei sehr ungleiche Partner gegenüber: Auf der einen Seite die, die vom Steuern von Lkws ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen; und auf der anderen die, denen die Fahrzeuge gehören und die von der erpresserischen Wucht ihres Eigentums nötigenfalls auch mit der Auswechslung ihres streikenden Personals Gebrauch machen können.

Mit der staatlichen Duldung der Arbeitsniederlegung ist es aber ganz schnell vorbei, wenn sich die Fahrergewerkschaften ihrerseits als Macht aufstellen, sich anschicken, den Verkehr an zentralen nationalen Autobahndrehkreuzen lahm zu legen und die nationale Spritversorgung durch Blockaden der großen Raffinerien und Benzindepots auszutrocknen. Dafür ist das Streikrecht definitiv nicht vorgesehen. Wo die Fahrer sich zu einer kollektiven Macht aufbauen wollen und zur Blockade des gesamten nationalen Transport- und Verkehrswesens übergehen, wird von Staats wegen klargestellt, was beim Streiken erlaubt und was verboten ist: Streik ja, Blockade nein!, heißt die hoheitliche Scheidelinie, mit der die Regierung klarstellt, dass ein Streik im Land nichts groß durcheinander zu bringen hat. Das nachhaltige Sperren strategischer Punkte wird unter Strafe gestellt, die Fahrergewerkschaften erhalten die Auflage, die Autobahnen allenfalls einspurig, am besten gleich am Straßenrand zu bestreiken. Vorübergehend den Dienst am fremden Eigentum einstellen dürfen sie, das ist gleichsam ihre Privatsache. Aber den Konflikt mit ihren Arbeitgebern zu verallgemeinern; den Klassengegensatz, auf dem er beruht, einmal andersherum zur öffentlichen Angelegenheit zu machen und ihre Macht zur Behinderung des gewohnten kapitalistischen Geschäftslebens in der Nation zur Durchsetzung ihres Interesses verwenden: Das dürfen sie nicht. Da muss die Staatsmacht ihnen gegenüber schon darauf bestehen, dass die Anliegen der Allgemeinheit, die im allerhöchsten staatlich-rechtlichen Schutzobjekt der ‚öffentlichen Ordnung‘ zusammengefasst sind, ein wenig höher zu bewerten sind als ihr privates Interesse an einem etwas besseren Leben. Ihre ‚Ordnung‘ sieht die Staatsmacht in Verkehrsblockaden gestört, von den Streikenden also unmittelbar selbst betroffen und dazu herausgefordert, für ein störungsfreies öffentliches Leben auch bei Arbeitskämpfen zu sorgen. Eine gelungene Unterscheidung, auf der die fürs „Allgemeinwohl“ Zuständigen da bestehen: Die organisierte Interessenvertretung der kollektiven Gewerkschaftsmacht gegen das Kapital soll erlaubt sein und bleiben, darf aber die Belange der Allgemeinheit nicht stören. Das dürfte in einer Gesellschaft, deren allgemeine Belange ein einziges Anhängsel des Geschäftserfolgs ihrer Kapitalisten sind, schwer zu haben sein. Aber mit Gewalt durchsetzen lässt sich diese feine Unterscheidung bei Bedarf allemal, und den Respekt vor der öffentlichen Ordnung bringt der französische Staat dann dem streikenden Fuhrpersonal entsprechend bei – und bricht damit der gewerkschaftlichen Gegenmacht gegen die des Kapitals von vorneherein die Spitze. Zu der Einsicht, dass Routiers beim Streiken allenfalls das Recht auf Demonstration ihrer Unzufriedenheit genießen, und auch das nur, wenn die sich in einem belanglosen Verkehrsstau kundtut, verhilft die demonstrative Mobilisierung des staatlichen Gewaltapparats: Das Transportministerium postiert Räumfahrzeuge an den strategischen Autobahnkreuzen, die Polizei kratzt uneinsichtigen Brummi-Fahrern die TÜV-Plaketten ab und kassiert ihre Führerscheine. Das entfaltet schnell die angestrebte erzieherische Wirkung und spaltet die Gewerkschaften. Die vier kleineren akzeptieren das Angebot der Unternehmer – 2 ½ Prozent über dem Mindestlohn –, der Arbeitskampf bricht zusammen, und eine geschichtsbewusste Öffentlichkeit weiß von einer historischen Tarifunterschrift zu berichten. Denn die kommt wundersamer Weise zustande, ohne dass auch nur einen einzigen Tag gestreikt wird. (Libération, 25.11.).

England: Arbeitskampf ja – politischer Streik nein!

Auch die britische Regierung lässt auf ihre proletarische Klasse nichts kommen. Ihre Feuerwehrleute stehen im nationalen Dienst, passen rund um die Uhr darauf auf, dass im Vereinigten Königreich nichts groß anbrennt. Sie sind flexibel einsetzbar, passen sich willig den Arbeitsumständen an und machen aus allem das Beste – zwischen den Schichten gibt es lange Freizeiten, die etliche Feuerwehrleute nutzen, um sich als Taxifahrer oder Handwerker ein Zubrot zu verdienen. (FAZ, 23.11.) Ihr Lohn, von dem niemand behaupten mag, man könne mit ihm große Sprünge machen – es ist unmöglich, von den durchschnittlichen 21.500 £ der Feuerwehrleute in London zu leben (Guardian 3.12.) –, belastet die Städte- und Gemeindekassen nicht übermäßig, und dennoch ist auf das Ethos dieser Feuerlöscher – Motto: Trust the Professionals – unbedingt Verlass: Verantwortungsbewusst und professionell haben sie eine in den letzten zwei Jahrzehnten ums Doppelte gewachsene Zahl von Notrufen mit einer verringerten Zahl von Beschäftigten bewältigt und seit 25 Jahren keinen Lohnkampf mehr geführt. So mag der staatliche Arbeitgeber sein Personal.

Wenn allerdings die Feuerwehrleute den Spieß umdrehen, aus den erbrachten Leistungen ein Argument für sich zu machen suchen und glatt 39% mehr Lohn anpeilen – „den Feuerwehrleuten und den Beschäftigten in den Notrufzentralen sollte ein beträchtlicher Lohnzuwachs zuerkannt werden in Anerkennung der substantiellen Modernisierung (so höflich sind sie zu den duldsam hingenommen Rationalisierungen der letzten 25 Jahre!), die schon stattgefunden hat“ (www.fbu.org.uk 5.12.) –, dann kann der Staat sie überhaupt nicht mehr leiden. Es mag ja noch angehen, dass die Feuerwehr ein bisschen mehr Lohn will – aber gleich 39 Prozent! Dafür sind Lohnrunden nicht gedacht. Den Antrag, für die professionelle Verhinderung und Bewältigung von Feuer und Notfällen so viel mehr zahlen zu sollen, hält der öffentliche Arbeitgeber für unsittlich – und schon gleich, wenn die Feuerwehrleute ihn auch noch unter Druck setzen und den nationalen Schutzdienst für Land, Leute und Eigentum, für den sie angestellt sind, in einem Warnstreik in Frage stellen: Das setzt ihrer Verantwortungslosigkeit die Krone auf!

Es nützt den guten Feuerwehrleuten überhaupt nichts, dass sie noch im Streik ihrem Dienstverständnis treu bleiben und wegen möglicher Opfer moralische Skrupel hegen – viele Feuerwehrleute unterbrachen in Notfällen ihren Streik in der vergangenen Woche (FAZ, 23.11.). Was die Unversehrtheit von Person und Eigentum betrifft, ist ihr Staat um einiges risikofreudiger als sie – und eskaliert die Streiksituation. Er macht ein wenig mobil, zwangsverpflichtet Teilzeitkräfte der Feuerwehren, Fachkräfte für Kellerüberschwemmungen u.Ä., kommandiert seine militärischen Feuerwehreinheiten zum zivilen Löschen ab und verschafft sich so mit seinen hoheitlichen Mitteln die Streikbrecher, die den gewerkschaftlichen Ausstand wirkungslos machen. So bekommen die Feuerwehrleute vorgeführt, wie wenig das auch vom englischen Staat gewährte Streikrecht als Waffe im Kampf um Lohn taugt: Der staatliche Arbeitgeber, den sie mit ihrer Arbeitsniederlegung beeindrucken müssen, dreht den Spieß um und setzt sie mit einem kleinen Griff ins Arsenal der ihm zu Gebote stehenden Machtmittel unter Druck. Dem beugt sich die Fire Brigade Union dann auch und schließt mit den kommunalen Arbeitgeber eine 16% Lohnerhöhung für zwei Jahre ab.

Damit ist der Fall aber nicht erledigt. Über das Ende des Streiks und seinen moderaten Abschluss kommt an politisch maßgeblicher Stelle keine Freude auf. Im Gegenteil, man ist hochgradig empört, denn ebenso wenig wie fordernde und streikende Feuerwehrleute kann die staatliche Zentralgewalt untere Behörden leiden, die sich in Lohnauseinandersetzungen mit der FBU viel zu schnell arrangieren. Also wird der Abschluss von höherer Stelle wieder kassiert, und Blair, der eben mal – neben der laufenden Kriegsvorbereitung im Irak – 19.000 Soldaten und 1000 Löschfahrzeuge zum Streikbrechen abkommandiert hat, erklärt sich und seinen Staat zum Opfer eines gar nicht mehr zu fassenden Unrechts: Wenn diese Leute glauben, dass die Regierung und das Land durch einen Streik in Geiselhaft genommen werden können und durch unbezahlbare, unausgegorene nächtliche Vorschläge – gemeint sind die 16% – erschüttert werden können, die nichts oder nur wenig an Modernisierung beinhalten – Vorschläge, die auf den ersten Blick das Finanzministerium Hunderte von Millionen Pfund kosten –, dann leben sie nicht in der wirklichen Welt (Sunday Times, 24.11.).

Offen bekennt sich der englische Klassenstaat dazu, dass das seiner working class gewährte Recht, Lohn fordern und zur Durchsetzung der Forderung auch streiken zu dürfen, wieder aus dem Verkehr gezogen wird, wenn es ihm opportun erscheint. Er führt seinen Feuerwehrleuten vor, was es heißt, ökonomisch von einem Arbeitgeber abhängig zu sein, der die Mittel einer Staatsgewalt hat: Wenn er es so will, dann ist ein Streik einfach nicht aus der wirklichen Welt. Wenn er am Lohn seiner Dienstleute zu einem radikalen Schnitt entschlossen ist, haben die ihr Recht verwirkt, mit Streik mehr Lohn zu erpressen – das Recht zur Erpressung steht nur einer Seite zu, nämlich dem Staat: 11% Gehaltssteigerung für 3 Jahre setzt die Regierung fest, und das auch nur dann, wenn die Gewerkschaft der Gehaltskürzung von ein paar Tausenden Entlassener sowie der Verschärfung der Schichtarbeitsbedingungen zustimmt. Dieser Rigorismus der Regierungspartei ist richtungsweisend, und die konservative Opposition schlägt präventiv gleich generell ein Streikverbot für Feuerwehrleute vor – nur so würde aus einer Idiotenbande und Schande für unser Land (so der Sprecher der Konservativen) wieder ein ehrenwerter nationaler Berufsstand.

Deutsche Tarifauseinandersetzung: Eine „Nullrunde“ und eine „3 vor dem Komma“ ergeben den Kompromiss von 4,4% mehr Lohn.

Mit seinen Beamten und Angestellten im Öffentlichen Dienst ist der deutsche Staat nicht erst dann unzufrieden, wenn sie lohnfordernd und warnstreikend unterwegs sind. Sein Missvergnügen an ihnen beginnt bereits, wenn er an ihre Arbeitsleistung denkt. Gerade mal durchschnittlich 38,5 Stunden im Westen und 40 im Osten stehen sie ihm zur Verfügung, was einfach viel zu kurz ist, wie auch die Arbeitszeitregelungen viel zu starr, zu unflexibel – kurz: einfach unzeitgemäß und extrem reformbedürftig sind. Zudem kosten die Staatsdiener auch noch entschieden zu viel. Auf 80 Milliarden beziffern sich die Personalausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden, und allein schon diese Summe überzeugt ganze Talkshows davon, dass der öffentliche Dienst ein unhaltbarer Zustand in der Nation ist und der menschliche Faktor in der staatlichen Verwaltung gründlich verbilligt gehört. Und was dem Fass den Boden ausschlägt: All diese unhaltbaren Zustände sind auch noch geltendes (Tarif)Recht, also in einem Rechtsstaat nicht einfach abzuschaffen, binden betrüblicherweise nicht nur die Beschäftigten, sondern tatsächlich auch den staatlichen Dienstherren.

Deswegen kann der Staat es schon gleich nicht leiden, wenn die für die öffentlichen Dienstleute zuständige Gewerkschaft Verdi eine tarifliche Lohnerhöhung anstrebt, wie sie sich die Beschäftigten in fast allen anderen Branchen schon im Frühjahr und Sommer erkämpft haben – deutlich mehr als drei Prozent, sich für die längst überfällige Angleichung der Ostlöhne und -einkommen an das Westniveau bis 2007 (verdi-publik.de, 18.12.) stark macht und dafür auch noch Warnstreiks organisiert. Das ist für den herrschenden politischen Zeitgeist schlicht unerhört. Die ‚leeren Kassen‘, auf die der Staat verweist, sollen ja nicht zur Nachfrage ermuntern, wer die denn leert und wozu – der Staat ist es ja schon selbst, der in den Angelegenheiten seiner Haushaltsführung hoheitlich beschließt, wofür er seine Mittel einnimmt und ausgibt. Der allerdings beruft sich auf seine krisenbedingt knappen Mittel, um aus ihnen den unbedingten ‚Sachzwang‘ zur steuerlichen Pflege des kapitalistischen Wachstums herzuleiten – und umgekehrt das genauso unbedingte Gebot, seine Haushalte auf Kosten aller sog. ‚unproduktiven‘, also sozialen Ausgaben zu sanieren. Und da ausgerechnet fordern seine Angestellten, an denen er zuallererst zu sparen gedenkt, mehr Lohn – sie, die einen gesicherten, quasi unkündbaren Arbeitsplatz beim Staat, also gar kein Recht auf eine Lohnerhöhung haben, weil sie ja schon mit der Gnade, überhaupt einen Lohn zu haben, mehr als gut genug bedient sind.

Andererseits weiß der Staat schon, was er an einer Gewerkschaft wie Verdi hat. Klar, verglichen mit einer Nullrunde sind 3% exakt 3% zu viel, aber ein gewisses Augenmaß ist der Forderung ja auch nicht abzusprechen: Wirklich nur mit dem, was in der Privatwirtschaft an Tarifabschlüssen am Ende herausgekommen ist, steigt Verdi als Forderung in die Tarifverhandlungen ein, und nicht nur das. Der gewerkschaftliche „Realismus“, der auf das übliche Ritual verzichtet und eine ehrliche Lohnforderung auf den Tisch gelegt hat (Homepage Verdi, 17.12.), gibt nicht nur zu verstehen, was die vielen gewerkschaftlichen Berechtigungstitel für einen fälligen Lohnzuwachs – ‚Massenkaufkraft‘, ‚Produktivitätszuwachs‘, ‚Preissteigerungsrate‘… – schon immer waren: Verzichtbares Beiwerk eines Rituals. Wenn sie jetzt ganz offiziell für überflüssig erklärt und aus dem Verkehr gezogen werden, dann stellt die Gewerkschaft damit auch klar, dass sie bei ihren Lohnverhandlungen nicht mehr als Vertreter von Ansprüchen unterwegs ist: Ehrliche Lohnforderungen sind solche, die die Titel einer höheren Berechtigung für ein wenig mehr Entgelt nicht mehr zu strapazieren brauchen, weil sie sich erfolgreich von der Auffassung verabschiedet haben, von denen, die vom Lohn zu leben haben, hätte irgendeiner ein irgendwie begründbares Anrecht auf mehr Lohn. Stattdessen herrscht zwischen den Partnern des Tarifvertrags Konsens darüber, dass eine Erhöhung von Lohnzahlungen das Recht auf Maßnahmen einer erfolgreichen Gegenfinanzierung begründet, es den Arbeitgeber also nichts kosten darf, wenn er seinen Dienstkräften mehr Geld überweist, und diese neue tarifpolitische Vernunft entgeht dem Kontrahenten von Verdi nicht. Der staatliche Arbeitgeber lässt sich zum Verhandeln herbei, nicht ohne auch das noch als ein einziges Zugeständnis zu deklarieren: Nach seinem Verständnis ist die Gewerkschaft ihm einfach nur unbedingten Respekt vor den Nöten seines Haushalts schuldig und hat allenfalls mit ihm um eine Null vor dem Komma zu verhandeln. Und so kommt es zu echt substantiellen Verhandlungen wie aus dem Sozialkunde-Lehrbuch: Jede Seite tritt mit ihren Forderungen an – die Nullrunde steht gegen die 3%-Forderung –, bei denen man in harten Nachtsitzungen, scheiternden Gesprächen und Schlichterspruch die gerechte Mitte sucht und schließlich einen genialen Abschluss findet, der ein echter Kompromiss ist und beiden Seiten Recht gibt: Verdi bekommt nicht nur die geforderten 3%, nein, die Gewerkschaft darf sich öffentlich und vom staatlichen Verhandlungsführer unwidersprochen 4,4 Prozent als ihren Erfolg gut schreiben. So viel Entgegenkommen bei der gewerkschaftlichen Selbstdarstellung ist dem obersten staatlichen Verhandlungsführer Schily der Tarifabschluss allemal wert. Die große Zahl erschlägt nämlich ziemlich gründlich jedes Bedürfnis nach einer Gegenprobe für die wundersame Rechnung, bei der sich 2,4% mehr Lohn für dieses Jahr, ein Prozent mehr für ein halbes nächstes Jahr und nochmals ein Prozent bis zum 31. 1. 2005 zu 4,4% Lohnsteigerung addieren. Und sie deckt auch erfolgreich zu, was sich der staatliche Arbeitgeber an erfolgreicher ‚Gegenfinanzierung‘ hat genehmigen lassen: Die öffentlichen Arbeitgeber haben mit einer fast zweieinhalbjährigen Laufzeit „Planungssicherheit“ – also alle nötigen Freiheiten ihres kalkulatorischen Umgangs mit ihren Beschäftigten. In den Genuss der 2,4% für 2003 gelangen nur die unteren Lohngruppen ab Januar – für alle anderen beginnt der Zuwachs ab April. Zuwendungen bleiben bis 2005 eingefroren. Bei Aufstieg in die nächste Lebensalter- oder Lohnstufe fällig werdende Zusatzzahlungen werden für die Dauer eines Jahres halbiert, Bezüge generell ab sofort erst am Ende des Monats ausbezahlt. Die Tarifangleichung des Ostens erfolgt erst bis Ende 2009, Einzahlungspflicht in die Versicherungskassen besteht für die Arbeitnehmer dort allerdings ab sofort – für je 1% Anpassung 0,2% des Bruttoentgelts, usw. Und auch was die Arbeitszeit betrifft, kann der Abschluss sich sehen lassen: Die unerträglich kurze wöchentliche Regelarbeitszeit kann bleiben, dafür arbeiten ab sofort alle 1 Tag im Jahr mehr für Vater Staat.

Das sind schon neue Sitten bei Tarifverhandlungen. Der Tarifpartner Staat setzt durch, dass ein Lohnabschluss ihn im Resultat nicht nur keinen zusätzlichen Euro kosten darf, sondern auch noch eine Kostenentlastung staatlicher Haushalte garantieren muss. Der Lohn, den er seinen Beschäftigten zahlt, ist für ihn nicht das Entgelt für empfangene Arbeitsleistungen, sondern eine Geldausgabe, für die ihm die Kostgänger der Nation finanzielle Einsparungen schuldig sind, und das sieht nicht nur er so, sondern auch der Verein, der für die Vertretung der Interessen der Staatsdiener zuständig ist. So wäscht eine öffentliche Hand die andere.

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Dass es um die ‚soziale Lage‘ französischer Lkw-Fahrer, englischer Feuerwehren oder deutscher Staatsbediensteter irgendwie gut bestellt wäre, will in der jeweiligen demokratischen Öffentlichkeit niemand behaupten. Im Gegenteil: Es hat sich eingebürgert, mit ausgiebiger Berichterstattung ganz verständnisvoll auf die besonders schweren Lebensumstände einzugehen, die diese Abteilungen des europäischen Proletariats zu ertragen haben, und dass sie da – sogar mit Streik! – ein wenig auf Abhilfe sinnen, kann man durchaus nachempfinden. Und genau diese einfühlende Tour, mit der man für die Belange besonders Betroffener ein wenig Verständnis entwickelt, ist eine einzige Absage an alle Formen einer proletarischen Gegenwehr. Die Einfühlung in die Nöte, die man als abhängig Beschäftigter in diesen Branchen auszuhalten hat, will ja von deren im Beschäftigungsverhältnis selbst beschlossenen Notwendigkeit nichts wissen: Um Abweichungen vom Regelfall, um Fälle nur besonderer proletarischer Betroffenheit soll es sich dabei handeln. Entsprechend gilt das Verständnis für ein bisschen Aufbegehren auch nicht dem Interesse an Verbesserung einer Lebenslage in ihrer Allgemeinheit – die ist so allgemein, branchen- und berufsgruppenübergreifend, weil in jedem einzelnen Fall nur Resultat einer Kalkulation der Arbeitskraft nach dem Gesichtspunkt ihrer lohnenden Anwendung –, sondern auch nur in diesem speziellen Fall: Verstehen mag man allein die Probleme, die ganz spezielle Minderheiten unter den Lohnempfängern mit ihrem Lebensunterhalt haben, Lkw-Fahrer in Frankreich, Feuerwehrleute in London, Krankenschwestern und Polizisten in deutschen Großstädten eben. Die haben es schwer – im Unterschied wohl zu allen anderen, die deren besondere Notlagen nicht und daher auch keinen Grund zu Klagen haben! Daher sind diese proletarischen Sonderfälle mitsamt ihrem Elend auch kein Thema mehr, wenn sich alles, was sie an Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lage probieren, sang- und klanglos in Nichts auflöst. Der so mitfühlenden europäischen Öffentlichkeit zeigt das keineswegs, dass im Kapitalismus der Lebensunterhalt der arbeitenden Klasse eben eine pure Machtfrage und sonst nichts ist, die arbeitende Klasse, wenn sie sich ein wenig besser stellen will, ihre Dienste eben aufkündigen und die Machtprobe gegen ihren Gegner für sich entscheiden muss. Nein, an den Streikbemühungen und deren kläglichem Scheitern bewahrheitet sich nur, dass es hoffnungslose Minderheiten sind und bleiben, die sich da aufzustellen versucht haben, und Streiken außer ‚Schaden für alle‘ nichts bringt. So führt das Mitleid, das ihrer schweren Lage gilt, zielstrebig zu der Einsicht, dass an der nichts zu ändern ist, und ihre ohnmächtigen Versuche, dies dennoch zu tun, bekräftigen bloß die Ohnmacht, die zu ihrer Lebenslage nun einmal dazu gehört.