Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Russischer Winter: Imperialistische Naturkunde
Russlands hoher Norden: Die Menschen hungern und frieren, Häuser und Fabriken verrotten. Mag das vor der Wende alles funktioniert haben – dass es infolge der Unterordnung unter einen neuen ökonomischen Maßstab, Geld muss verdient werden, rentabel muss es sein, jetzt vom neuen Russland zugrunde gerichtet wird, kann für demokratisch-vorurteilsfreie Journalisten nur für eines stehen: Das mit dem Sozialismus konnte ja nicht gut gehen!
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Russischer Winter:
Imperialistische Naturkunde
Wie jedes Jahr befaßt sich die deutsche Öffentlichkeit im Dezember mit dem russischen Winter, seinen Kältegraden und dem davon betroffenen Volk. Für bemerkenswert wird im Winter 98 vor allem die Tatsache befunden, daß die Gebiete im russischen Norden und Nordosten schon zu Teilen entvölkert sind, daß sich die noch verbliebene Bevölkerung im Prinzip vor dieselbe Perspektive gestellt sieht, weil Lebensmittel- und Brennstofflieferungen dieses Jahr an vielen Stellen wieder ausgeblieben sind, und daß sich darüber auch qualitative Fortschritte in der Schadensbilanz ergeben: Die Rohrnetze der Heizungssysteme frieren ein und platzen, Städte und Siedlungen werden unbewohnbar.
„Rußlands Nordostrand wird entvölkert. Der Autonome Kreis Tschukotka an der äußersten Nordostecke Rußlands… Vor vier Jahren lebten hier noch 113000 Menschen, inzwischen ist die Bevölkerung wegen akuter Versorgungsprobleme auf 78.500 Menschen geschrumpft.“ (NZZ)
„Norilsk, die größte Stadt jenseits des Polarkreises… Im November zerbarst im örtlichen Wärmekraftwerk eine vierzig Jahre alte Turbine, die Pumpen standen still. Ein Teil von Norilsk blieb ohne Heizung und Wasser. Angesichts einer Kälte von minus 27 Grad kein Vergnügen… Auch in Norilsk erhalten die Menschen ihre Löhne gar nicht oder mit großer Verspätung ausbezahlt, stehen Maschinen in gigantischen Werkshallen still, verlieren Menschen ihre kostbare Arbeit. Wer das nötige Geld hat, denkt daran, Norilsk zu verlassen und aufs Festland zu ziehen.“ (FAZ)
„Dick vermummt versuchen Familien, ohne Heizung in gnadenlos ausgekühlten Betonwohnblöcken zu überleben… Mäntel und Pelzmützen ziehen sie nicht mehr aus. Verzweifelte Klempner kommen nicht mehr nach, gefrorene und geplatzte Wasser- und Heizungsrohre zu reparieren. Bei Temperaturen von unter minus 20 Grad sind primitive Blechöfen die letzte Hoffnung. Sie verschlingen Holz, Kohle, Parkett, Bücher, alles was brennt.“ (SZ)
Deutsche Fernsehteams nehmen die Strapazen diverser Expeditionen auf sich, um vor Ort nachzuschauen, wie ein Überleben dort überhaupt möglich ist, welche interessanten Lebenstechniken Leute entwickeln, wenn Strom und Lebensmittelversorgung ausfallen, und wie es sich anfühlt, wenn man eigentlich dort weg muß, aber nicht weg kann. Vor allem aber stellt sich natürlich die Frage, wie es dazu kommen konnte. Schuld ist
1. das alte System
Miriam Neubert von der SZ ist eigens nach Wladiwostok gereist, um sich dort diese Erkenntnis abzuholen:
„Die abgeschiedenen Permafrost-Regionen sind in der Sowjetzeit gegen alle Gesetze der Natur besiedelt und durch teure Versorgung mit Brennstoff und Lebensmitteln erhalten worden.“
Schuld ist also das alte System, insofern es
damals die Leute mitsamt Brennstoff und
Lebensmitteln dorthin geschafft hat, wo sich
heute ihre Versorgung mit dem Nötigsten nicht
lohnt. Und die Tatsache, daß sich der Unterhalt nach den
heute geltenden Regeln der Marktwirtschaft nicht
rechnet, beweist dem gesunden Menschenverstand
rückwärts, daß die Erschließung gegen alle Gesetze der
Natur
verstoßen haben muß. Das ist zwar
schlechterdings nicht möglich; die Besiedelung hat auch
nur unter Beachtung dieser Gesetze, nämlich mit
den nötigen technischen Mitteln ausgerüstet,
jahrzehntelang funktioniert. Moderne Journalisten
erklären aber diesen Sachverhalt ganz unbefangen und
kontrafaktisch für widernatürlich, womit sie zu
Protokoll geben, für wie überaus natürlich und
naturnotwendig sie die Grundrechnungsarten des
Kapitalismus halten, wenn diese heutzutage in Sibirien
die Alternative Auswandern oder Erfrieren auf die
Tagesordnung setzen.
Die Betrachtung der Zustände in Rußland als Rache der
Natur am Sozialismus hat Konjunktur. Laut dem
Korrespondenten der NZZ widerlegt die Entvölkerung der
Tschuktschen-Halbinsel den Modernisierungsfuror der
Kommunisten
, der den Norden einst kolonisiert
hat. Und Elfie Siegl von der FAZ besichtigt in Norilsk
die Hinterlassenschaften der sowjetischen Vergewaltigung
von Mensch und Natur:
„Norilsk ist eine sehr junge Stadt. Sie verdankt ihre Existenz ausschließlich wertvollen Metallen und Stalins kostenlosen Arbeitskräften. Die Erde von Norilsk birgt mehr als 35 Prozent der Weltvorräte an Nickel, neun Prozent der Vorräte an Kupfer, ungefähr 14 Prozent des Kobalts und rund 40 Prozent der Platingruppe. Die Stalinsche Industrialisierungspolitik verlief nach der Devise: Bodenschätze sind dort zu verarbeiten, wo sie der Erde abgerungen werden. Also wurden Millionen Menschen in den Tod getrieben und Tausende Quadratkilometer Landschaft vergewaltigt… Wenn es regnet, geht Schwefelsäure nieder. Endlose Polarnächte, eiskalte Winde und heftige Magnetstürme tragen dazu bei, daß der menschliche Organismus sich in dieser Gegend verändert. Ein schwacher Körper ist nach einem Jahr erschöpft.“
Mit dem Argument Stalin
ist die Hauptsache schon
geklärt. Daß bei der Erschließung des russischen Nordens
massenhaft Sträflinge, Kriegsgefangene und gewöhnliche
Arbeiter verschlissen worden sind, was dort genausowenig
gezählt hat wie beim amerikanischen Staatsprogramm des
Go-West, der Nutzbarmachung Alaskas oder den
industriellen Revolutionen andernorts, beweist in
Sibirien die Brutalität dieses Systems im
Unterschied zum anderen. Ganz anders ist der Fall
wiederum gelagert, wenn Reporter dorthin geschickt
werden, um die Quellen unserer Gasversorgung zu
besichtigen:
„30 Grad minus und 14 Meter Wind pro Sekunde wirken zusammen wie 70 Grad Kälte… Dann beginnt die körperlich harte und durch die mörderische Kälte noch erschwerte Arbeit des Bohrens. Ein Meister, drei Assistenten und ein Dutzend Arbeiter benötigen etwa 14 Tage, um die Förderrohre hinter dem mit Diamantsplittern gespickten Edelstahlmeißel bis in 1200 Meter Tiefe zu treiben. Sie leben in dieser Zeit zwischen den Tagesschichten in verrußten, beengten und überheizten Stahlcontainern an der Bohrstelle… Wenn das Jamburg-Gas die deutsche Grenze erreicht, erhält die Gazprom als Entgelt für Förderung und Transport 11,6 Pfennig je Kubikmeter. Ein deutscher Privathaushalt bezahlt für diese Gasmenge etwa 55 Pfennige, ein mittlerer Industriebetrieb knapp halb soviel. Den in Deutschland entstehenden Mehrwert schöpfen die Transportgesellschaften und Stadtwerke sowie die Steuerbehörde ab. Wenn man die harten Lebensbedingungen an den sibirischen Erdgasfeldern kennt, möchte man zugunsten der Leute dort gern einen höheren Preis zugestehen. Aber am Energiemarkt ließe sich dies kaum durchsetzen. Und die Zahl der Arbeitsplätze in Jamburg würde unweigerlich sinken.“ (FAZ 10.12.98)
In diesem Fall geht es natürlich nicht um eine Industrie, die über Leichen geht, um widerliche Lobeshymnen auf sowjetische Helden der Arbeit, sondern darum, wie wir mit – zugegeben – schlechten Gaspreisen die letzten Arbeitsplätze in Rußland schützen, weil uns die Naturkonstante Energiemarkt etwas anderes nicht erlaubt.
Soviel zu Stalin. Den Rest der Verurteilung erledigt das
Argument Vergewaltigung der Natur
. Es sei einmal
dahingestellt, ob man sich ausgerechnet über die
Vergewaltigung der Tundra aufregen sollte – Die
Moskitos werden mehr als zwei Zentimeter groß. Die
Mückenschwärme sind so gewaltig, daß sie sogar Rentiere
erledigen können… In Norilsk gibt es keinen einzigen
Baum, nur Moos und Flechten.
Die Autorin legt sich
auch gar nicht fest, ob sie die Vergewaltigung von Mensch
und Tundra für ungefähr ähnlich große Verbrechen hält.
Sie liefert lieber Bilder für den angeblichen Verstoß
gegen die Gesetze der Natur, schildert Regen aus
Schwefelsäure als Beweis dafür, daß sich
Naturbeherrschung unweigerlich rächen muß. Daß die
Methoden der Metallgewinnung vor Ort die Gegend vergiftet
haben, beweist zwar nur, daß der reale Sozialismus mit
seinen Gesetzen der Ökonomie
, mit dem Gebot der
Sparsamkeit beim Einsatz kostbarer Maschinerie, ähnliche
Erfolge bei der Vergiftung der Naturbedingungen erreicht
hat wie die kapitalistische Konkurrenz mit ihrer
Kosten-Kalkulation. Aber die Konstruktion mit der Natur
als Opfer des Stalinismus und deren gerechter Rache
verschafft den Reportern schriftstellerische Freiheit:
Wenn erst einmal feststeht, daß die Nutzbarmachung dieser
Gebiete wider die Naturgesetze stattgefunden hat, dann
läßt sich alles, was unter der Sowjetherrschaft dort für
die Bevölkerung eingerichtet worden ist, als immer
gigantischere Sünden gegen die Natur darstellen. Beim
Abfilmen und -schildern der sowjetischen Vermessenheit –
Fabrikanlagen, ganze Städte, die dabei sind zu erfrieren,
samt Häusern im Stil der italienischen
Renaissance
, Schwimmbad und Theater! – können sich
die Betrachter gar nicht mehr fassen. So ganz
ausschließlich
mit kostenlosen
Arbeitskräften
ist der Aufbau dann doch nicht
zustandegekommen; ein paar Maschinen haben Stalin und
Nachfolger schon auch noch dahingeschafft, diejenigen
eben, die in gigantischen Werkshallen stillstehen
.
Ganz nebenbei wird dann auch noch mitgeteilt, daß die
Sowjetrussen nicht nur für das Nötigste gesorgt, sondern
auch Kompensationsmittel und -gelegenheiten für die
klimatischen Unbilden dort aufgestellt haben.
„Norilsk Nikel wurde in Sowjetzeiten im wahrsten Sinne des Wortes zur Geldschmiede. Aus seinen gigantischen Gewinnen finanzierte man bescheidene Vergünstigungen für die Stadt und ihre Bewohner. Wer hier sieben Jahre arbeitete, konnte sich ein Auto, eine Wohnung auf dem ‚Festland‘ und jedes Jahr einen Urlaub am Schwarzen Meer leisten. Norilsk entfaltete sich zur modernen Großstadt mit einem Theater, einem Schwimmbad, mit dreihundert Geschäften, mit Kantinen und Restaurants und mehr als vierzig Schulen. Da in der Tundra nichts wächst, versorgte man die Menschen großzügig mit Lebensmitteln, Obst, Gemüse, Fleisch, sowie Gebrauchs- und Luxusgütern. Das Leben war sehr teuer, aber annehmbar. Die Arbeit war eine Qual. So hat man in Zeiten, als der Mensch nichts wert war, für den Umweltschutz gar nichts getan… Die ehemals eleganten Häuser verwittern, viele stehen leer. Wer kann, zieht von hier weg.“
Was denn jetzt? Was hat denn nun das alte System den
Menschen
, die nichts wert
waren, damals
angetan: bescheidene Vergünstigungen
oder
großzügig versorgt
? Beides, weil beides als
Einwand gegen das alte System sprechen soll. Einerseits
ist es schäbig mit seinen Leuten umgegangen, mit denen es
gigantische Gewinne
erwirtschaftet hat; es möchte
einem fast das Wort Ausbeutung einfallen. Andererseits
läßt sich der moderne Wirtschaftssachverstand dann glatt
noch davon beeindrucken, wieviel nach kapitalistischen
Maßstäben unsinniger und überflüssiger Reichtum dort
schlichten Proleten zugeteilt wurde, und entdeckt – was
kümmert mich mein Geschwätz von drei Zeilen vorher –
sogar noch Luxusgüter
am falschen Platz.
Zurück zur Schuldfrage, was die heutige Lage angeht. Bei ihren Erläuterungen, inwiefern Stalin und Nachfolger für die Katastrophen im russischen Norden haftbar zu machen sind, kommen interessante Auskünfte zustande: In diesen Gebieten hat sich der Sowjetstaat viel zu viel geleistet. Das System, von dem man sonst nur in seiner Eigenschaft als Mangelwirtschaft zu hören bekommt, unter dem immerzu Schlangestehen angesagt war und „marode“ Industrien vor sich hin verrotteten, dasselbe System hat zur Ausnützung von Rohstoffvorkommen und für den industriellen Fischfang in diesen unwirtlichen Gegenden Städte gebaut, mit Heizung und Stromversorgungsnetzen ausgestattet, eine Schiffsflotte zur Versorgung und noch einigen Sozialklimbim unterhalten. Rückblickend wird diesem System ein Ausmaß von Reichtum zugesprochen, das ihm sonst kategorisch abgestritten wird, um es dafür haftbar zu machen, daß dieser ganze Reichtum samt Bevölkerung heute in die Binsen geht. Es hat nämlich lauter Dinge unterhalten, die einem Apologeten der Marktwirtschaft widernatürlich vorkommen, weil sich ihr Unterhalt heute nicht lohnt, und mit alldem dem heutigen Staat ein fürchterliches Erbe hinterlassen.
Einen Teil der Schuld hat auch
2. der neue Staat
zu tragen. Allerdings wird dem hauptsächlich Unfähigkeit bescheinigt:
„An Rußlands tiefgefrorenen Rändern sind die Menschen Geiseln einer erbarmungslosen Natur und überforderter Bürokraten geworden. Nun rächt sich, daß keiner für den Winter vorgesorgt hat – weder auf lokaler noch staatlicher Ebene.“
Ein kritischer Journalist verfügt überall und unter allen
Umständen über Maßstäbe, mit denen er klugscheißerisch zu
Protokoll geben kann, daß jedenfalls er genau weiß, worin
die Misere besteht. Daß am heutigen Rußland sowohl zu
viel Staatlichkeit – Bürokraten
– als auch viel zu
wenig an staatlicher Leistung – überfordert
– zu
beanstanden ist, widerspricht sich nicht im geringsten.
In einer einzigen Phrase wird der Wechsel von der
pflichtschuldigen Anklage zum relativierendem Verständnis
für die Nöte der Staatsmacherei in Rußland untergebracht.
Nach dem gerechten Tadel für eine unfähige Bürokratie
gebietet es schließlich die journalistische
Sorgfaltspflicht, auch die extrem widrigen Naturumstände
in Rechnung zu stellen, die den neuen russischen Staat
ziemlich „überfordern“.
„Die Siedlungen in Tschukotka warteten in diesem Jahr vergeblich auf den ‚Nord-Sawos‘, die jährliche Lebensmittel- und Brennstofflieferung, mit der Rußland seine 12 Millionen Bewohner der arktischen Randgebiete in den Sommermonaten versorgt. Die Eisbrecherflotte fährt die Nordostpassage von Murmansk der russischen Nordküste entlang nur noch gegen Barzahlung. In Tschukotka jedoch gibt es kaum Geld.“
Das wächst dort einfach nicht – kein Wunder bei dem
Klima. Aber nicht nur bei den Leuten gibt es
kein
Geld, beim Staat auch nicht. Der Befund heißt
Finanzkrise
:
„Diese Mittel hat der finanziell ausgeblutete Staat längst nicht mehr… Die ‚Versorgung des hohen Nordens‘, wie ein Extraposten im Staatsetat heißt, ist endgültig unter die Räder der Finanzkrise gekommen.“
Ja, dann. In dieser Optik figuriert schließlich der Staat selbst nur noch als Opfer der weltweit gültigen Rechnungsweise, der er seine Nation unterworfen hat.
3. Systemvergleich heute
Von den Landeskennern ist also folgendes zu erfahren, was
den Vergleich zwischen früher und heute betrifft: Das
alte System hat aus diesen Gebieten gigantische
Gewinne
herausgeholt, Geld
genug, die Bewohner
dieser Gebiete zwar schäbig, aber mit einer teuren
Versorgung
zu unterhalten – der heutige Staat
gebietet über dieselben immensen Naturreichtümer und ist
finanziell ausgeblutet
. Trotz dieser
Reichtumsquellen, die die Berichterstatter heute noch ins
Schwärmen bringt, ist der russische Staat nicht einmal
dazu imstande, auch nur die überkommenen Einrichtungen in
Schuß zu halten – und das schlicht und einfach wegen der
widrigen Natur: Das beweisen unseren Beobachtern schon
allein die Kältegrade, daß ein Leben in Sibirien nicht
geht, weil es nicht zu bezahlen ist.
Daß auf der einen Seite der frühere Staat trotz seiner
unerschwinglichen Ausgaben nie in eine „Finanzkrise“
geraten ist, daß auf der anderen Seite das Existieren im
hohen Norden trotz seiner Unbezahlbarkeit durchaus
möglich war, braucht keinen aufgeklärten Menschen zu
erschüttern: Es muß an der Begriffsstutzigkeit der Russen
liegen, die alles erst so spät merken und Geld und
Gebrauchswert nicht unterscheiden können. Was den
Unterschied der Systeme angeht, kennen sich die
Betrachter genau aus. Sie wissen, daß nur ein vermessenes
und menschenfeindliches System wie das alte auf die
Erschließung dieser Gebiete verfallen konnte und insofern
die Hauptlast an der heute zu beantwortenden Schuldfrage
zu tragen hat. Inwiefern es aber ein anderes
System war, inwiefern in diesem Staatswesen die
Geldrechnungen, die sie ihm überstülpen, nach ihrem
eigenen Zeugnis zu völlig anderen Resultaten geführt
haben, also offensichtlich auch einen anderen Gehalt
hatten – das weiß keiner der Informationslieferanten so
recht anzugeben. Es interessiert trotz aller Rätsel, die
ihre Vergleicherei so mit sich bringt, auch gar nicht. Im
Prinzip gibt es darüber nicht mehr zu sagen, als daß die
pure menschliche Bosheit geherrscht hat, Stalin, Gulag.
Die Berichterstatter beharren auf einem gewaltigen
Systemunterschied, der aber nur in einer Richtung,
nämlich retrospektiv gelten soll. Wenn aber in Sibirien
und im russischen Osten unter der Sowjetherrschaft eine
Wirtschaft und Reproduktion der für diese Wirtschaft
nötigen Arbeitskräfte stattgefunden hat und heute
Entvölkerung ansteht, dann verdankt sich dieser häufig
bemerkte Unterschied der Tatsache, daß andere ökonomische
Maßstäbe in Kraft gesetzt worden sind. Damals wurden dort
Naturstoffe gefördert, woanders verarbeitet und umgekehrt
die nötigen Produkte in den Norden geliefert; in einem
Kreislauf, der durch die staatlichen Kennziffern der
Planung und Leitung verrechnet und eher behindert wurde,
aber immerhin das zustandegebracht hat, was der hiesigen
Berichterstattung als absurd „teure Versorgung“
erscheint. Die will einfach nicht zur Kenntnis nehmen,
daß dieser Kreislauf zwar durch die Einkleidung in
Geldgrößen zu mehr Effizienz
angespornt werden
sollte, aber eben zu mehr Effizienz bei der Vermehrung
von sachlichem Reichtum in der Nation. Eines der
Drangsale dieses Systems war die beständige Aufgabe, die
Einheit von materieller und finanzieller Planung zu
sichern
. Die älteren Leser dürften sich auch noch
daran erinnern, daß das Geld dieses Systems zu seiner
Zeit ziemlich schlechte Noten bekommen hat, daß es als
eine Sorte von nationalem Spielgeld gehandelt wurde, das
keine ehrliche ausländische Bank je hätte annehmen
wollen. Heute aber geht es um „echtes Geld“, und deshalb
bewirkt ein Verfall der Weltmarktpreise für Nickel,
Kupfer und andere Buntmetalle
den Niedergang von
Norilsk – eine Angelegenheit, die das alte System gar
nicht hätte erschüttern können, weil es ihm um die
interne Verarbeitung und den nützlichen Verbrauch dieser
Stoffe zu tun war. Heute unterbleibt die Versorgung des
hohen Nordens, weil die Adressaten kein Geld
haben
, heute sorgt die im neuen Rußland gültig
gemachte Geldrechnung dafür, daß überall Produktion und
Reproduktion zusammenbrechen, weil sie sich nicht
rentieren, heute verzeichnet der russische Staat
eine Finanzkrise
, weil er das Wohl und Wehe seiner
ganzen Nation davon abhängig gemacht hat, daß sie zur
Geldproduktion taugen muß.
Es sind die Maßstäbe der Marktwirtschaft, die in Rußland die Masse der Bevölkerung als Überbevölkerung ausweisen, als nutzlose, wirtschaftlich nicht verwendbare, also auch nicht überlebensfähige Mannschaft. Daß dieser Umstand jetzt erst in Gestalt der Katastrophenberichte zur Kenntnis genommen wird, verdankt sich der Tatsache, daß das alte System so viel Substanz des alten Reichtums hinterlassen hat, daß davon immer noch einiges da ist, was sich benutzen und verheizen läßt. Daß die Katastrophenberichte von diesem Winter viel neuen Stoff vorfinden, ergibt sich aus dem Umstand, daß diese Methode an ihr objektives Ende gelangt – im wörtlichen Sinn: Die Hinterbliebenen in aufgegebenen Städten überleben, indem sie das Inventar der leerstehenden Häuser verschüren.
Dieser rasante Niedergang stellt eine Herausforderung für die bourgeoisen Welterklärer dar. Immerhin ist es noch keine 9 Jahre her, daß die Russen in großer Menschenfreundschaft umarmt und zu ihrem Übergang begrüßt worden sind. Einen Fortschritt hatte man sich von der Verabschiedung des realen Sozialismus schon erwartet, irgendwie für die Leute, einwandfrei für den Staat und die restliche Welt – zumindest in den beiden ersten Abteilungen ist das Resultat anders ausgefallen. Es muß also erklärt werden, daß es an der Marktwirtschaft keinesfalls liegen kann, wenn der Einstieg in dieses System für Rußland zu einer einzigen Krise geraten ist. Ungeübte Betrachter könnten ja glatt in die Versuchung geraten, die Verwüstungen, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion heute stattfinden, dem System anzurechnen, zu dem sich der moderne russische Staat bekennt. Einen Teil dieser Aufgabe erledigen die Winterreportagen auf allen Kanälen. Unter anderem auch auf die Weise, daß die Auslandsreisenden, wenn sie die ordinären kapitalistischen Rechnungsweisen in Rußland antreffen, diese gar nicht wiedererkennen können. Schon gleich nicht in diesen exotischen Gebieten:
„Niemand versteht, warum Gouverneur Nasarow Tschukotka entvölkern will. Arbeit werden die Menschen, die er umsiedeln läßt, im Innern Rußlands auch nicht finden. Eine Erklärung besagt, der Gouverneur warte die Legalisierung des Grundbesitzes ab, dann werde er die Gegenden, in denen sich die Goldvorkommen befänden, für sich und seine Leute privatisieren, um das dergestalt privatisierte Gold von Saisonarbeitern waschen zu lassen. Eine abenteuerliche Begründung? Den Menschen in Tschukotka scheint sie plausibel.“
Angesichts ganz normaler kapitalistischer Projekte gibt sich der Berichterstatter erschüttert. Als ob ihm die Praktiken des Privateigentums noch nirgendwo sonst untergekommen wären.
4. Aber Naturgesetze kennen wir jede Menge
Bei den heutigen Scheußlichkeiten, von denen die Pflicht
des Berichterstatters zu berichten gebietet, handelt es
sich in der Sache darum, daß „die Natur“ gegen die
Übergriffe „des Menschen“ zurückschlägt. Denn genau
genommen bestehen die Verbrechen Stalins doch darin, daß
er die europäische Zivilisation
in diese Gebiete
transportiert hat. Und nun sieht man genau – nicht, daß
sich der Unterhalt dieser Gebiete nach den neuen
Rechnungen nicht mehr rentiert, nicht, daß sich die neue
russische Regierung dort zurückzieht, sondern daß dort
ein Krieg zwischen Zivilisation und Eismeer abläuft. Die
Kommentatoren legen die Systemfrage jetzt nach dem Muster
auf, wer wie mit dem Export von Zivilisation umgeht:
„Hatten die Kommunisten den Norden in ihrem Modernisierungsfuror einst kolonisiert, die Tschuktschen und Eskimos in Sowchosen gezwungen und dabei ihre dem harschen Klima angepaßten Lebensformen zerschlagen, so zieht sich heute, überall Trümmer hinterlassend, die europäische Zivilisation nun kleinlaut zurück. Der Norden wird entvölkert.“
Dieser Subjektwechsel hat seine Vorteile, er erlaubt den
Übergang zu einer übergeordneten und mehr kontemplativen
Einstellung: Trotz aller betrüblichen Vorkommnisse
besteht kein Handlungsbedarf. Wenn die Zivilisation
gegenüber der ortsüblichen Natur den kürzeren zieht,
heißt es eben damit zurechtzukommen. Und das hat auch
sein Gutes, wie es der Autor gemeinsam mit einer
Eskimo-Frau ermittelt. Der Eskimo hat ohnehin wenig zu
tun und zu beißen. Die Menschen wirken
fehlernährt
, – bloß keine vorschnellen Urteile! –
die Gesichter mancher Jugendlichen schimmern grau, die
Menschen hocken bei 15 Grad Frost den ganzen Tag tatenlos
in ihren ungeheizten Wohnungen,
und sind daher zu
kulturphilosophischen Betrachtungen jederzeit gut
aufgelegt.
„Vor allem die Russen und die Ukrainer gehen, die Weißen. Manche Eskimos begrüßen das. Die Krise habe ihre gute Seite. Sie zwinge die Eskimos, sich auf ihre ursprüngliche Subsistenz zu besinnen. Für den vergangenen Sommer hatte die Internationale Walfang-Kommission den Eskimos von Alaska und Tschukotka erstmals eine gemeinsame Fangquote von 140 Grauwalen bewilligt. Aber die russischen Yupik müssen ihre alten Jagdtechniken erst wieder lernen. Die Sowjets hatten ihnen die Selbstversorgung aus dem Meer verboten.“
Zu Zeiten der Sowjetunion ist der Fischfang industriell betrieben worden und Walfangquoten wurden – wie heute noch – von eben dieser Kommission zugeteilt; zu kritisieren sind diese Gepflogenheiten als stalinistisches „Verbot“ einer Selbstversorgung. Die Rußland-interne Produktionsweise und Lebensmittelversorgung waren in Wirklichkeit darauf berechnet, die guten alten Subsistenztechniken der Eingeborenen zu zerschlagen. Man darf also dankbar dafür sein, daß die modernen Zeiten das Gleichgewicht wieder herstellen und die Russen-Eskimos in ihren gottgegebenen Status von Sammlern und Jägern zurückbefördern. Gepflegte und von ihren öffentlich-rechtlichen Anstalten gut ausgehaltene Westeuropäer respektieren die Überlebenstechniken armseliger Kreaturen! Sie erklären es glatt zu einer Kulturleistung, wenn sich die Eingeborenen darauf verstehen, das, was sie aus dem Meer herausfischen, auch roh zu verspeisen, wenn kein Brennstoff mehr vorhanden ist.
Leider hat der Autor der NZZ die Frage nicht weiter
geklärt, was denn mit den Russen und Ukrainern, die
weggehen, passiert und wie man sich deren
ursprüngliche Subsistenz
vorzustellen hätte.
Miriam Neubert von der SZ hilft mit Auskünften über die
russischen Fähigkeiten beim Einmachen aus:
„Anders als der bankrotte Staat hat Andrej Sokolow vorgesorgt – wie Millionen andere. Von Mai an hat er nach einem strengen Saat- und Ernteplan mit den zwei Söhnen und seinen Enkeln den großen Gemüsegarten der Familie bearbeitet. Der Blick in seinen Vorratskeller, wo volle Einmachgläser glänzen und zentnerweise Kartoffeln lagern, beruhigt ihn. ‚Der Winter wird hart. Meine zehnköpfige Familie wird nicht verhungern. Aber die anderen, die keine Familie und keinen Ackergrund haben?‘“
In weiteren Reportagen wird das Geschick der russischen Ethnie in der Bewirtschaftung der eigenen Scholle und beim Pilzesammeln besichtigt und die tröstliche Botschaft vermittelt, daß sich trotz aller schlechten Nachrichten große Teile des Volks mit dieser – dem „Russen“ offensichtlich angemessenen – Produktionsweise über Wasser halten. Überhaupt ist die Lage nach den Erkenntnissen, die die SZ-Korrespondentin sammeln konnte, gar nicht so katastrophal:
„Die Versorgungslage ist nicht so schlimm wie im Umbruchsjahr 1990/91, als die Läden infolge der kollabierenden Sowjetwirtschaft leergefegt waren. Heute sind Geschäfte und Kioske gut bestückt – nur leisten können es sich die wenigsten.“
Hätten sie halt vorgesorgt, nach einem strengen Saat-
und Ernteplan
. Aber immerhin ist es beruhigend zu
erfahren, daß es in Rußland keine Versorgungskrise gibt,
sondern bloß kein Geld. Auskennen muß man sich halt in
den Systemen! Bei der sowjettypischen Versorgung hat es
sich um eine Zerschlagung von Lebensformen gehandelt; die
heutige Versorgung aber klappt im wesentlichen, auch wenn
sie gar keine ist, sondern der Verkauf von Waren
an eine Bevölkerung ohne Geld.
5. Die Leistungen des Arguments „Natur“
Dank der Aufklärung unserer Auslandskorrespondenten weiß man nun das, was in Rußland an Hungern und Frieren vor sich geht, besser einzuordnen. Es handelt sich um ein Vermächtnis des alten Systems, das sich mit vermessenen Industrialisierungsprojekten gegen die Natur vergangen hat. Die Wirkungen des neuen Systems, die gigantische Vernichtung von sachlichem Reichtum und Menschenleben, sind folglich nicht die eines Systems, sondern der Natur, und deswegen sind sie ebenso unvermeidlich wie andere Naturkatastrophen, wie die Vulkanausbrüche und Überschwemmungen in anderen Regionen, bei denen sich die Naturgesetze Bahn brechen. Diese Erkenntnis erlaubt eine gemütliche Betrachtungsweise der Katastrophen, nachdem sie – auch bei allerbestem Willen – gar nicht zu verhindern sind.
Es kommt wiederum nicht von ungefähr, daß derlei
Erkenntnisse über das notwendige Verhältnis von Mensch
und Natur erdteilspezifisch ausfallen. Auf anderen
Kontinenten, wo z.B. US-Geräte auf den Mars geschickt
werden, um dort die unglaublich spannende Möglichkeit von
Leben auszuforschen, pflegt man die Triumphe des Menschen
über die Natur zu feiern, während die Gesetze
der Natur bei der Entvölkerung Sibiriens uneingeschränkt
zuschlagen und an eine Beherrschung der Natur dort gar
nicht zu denken ist. Was die Sowjetunion dort seit Stalin
hingestellt hat, ist ein Produkt von Hybris, wie man
heute beobachten kann. Woanders herrschen dann wieder
andere Gesetze, solche wie Modernität
,
Vernetzung
oder Globalisierung
, aber an den
Rändern Rußlands
heißt es: zurück zur
ursprünglichen Subsistenz
. Armut kommt von Natur,
wie man schon von anderen Erdteilen und ihren
Naturvölkern her weiß. Was wir auch immer schon irgendwie
gewußt haben: daß Rußland einfach zu groß ist – das
dürfen wir uns nun auch klimatisch bestätigen lassen: Man
muß nur die natur-widrige Versorgung im Norden abschalten
und schon schrumpft das Land auf seinen natürlichen
Status zusammen. Im Grunde findet dort so etwas wie die
Regeneration eines überstrapazierten
Mensch-Naturverhältnisses statt. So geht unser Weltbild
in Ordnung. Das ist die erste Abteilung imperialistischer
Sinnstiftung. Wenn Natur-Notwendigkeiten walten, dann
darf man die Wirkungen auf die menschlichen Opfer füglich
als Schicksal betrachten, das man zwar bedauern, aber
schlechterdings nicht ändern kann. Das ist die zweite
Abteilung Sinnstiftung.
6. Der krönende Abschluß
Es ist nicht so, daß die Schicksale deutsche Reporter
kalt lassen. Sie verfassen Hintergrundberichte, fliegen
mit ihrem Troß, samt Kameramann und Dolmetscher hin zu
diesen Menschen und befragen sie, wie es ihnen denn so
geht. Mütterchen, die auf Kamtschatka übrig geblieben
sind und sich mit ein paar Stück Vieh durchbringen,
Familien, die aus ihren Plattenbauten in Holzbaracken
umgesiedelt sind, weil sie dort wenigstens Öfen
aufstellen und das Holz verfeuern können, das sie aus den
umliegenden Frostbauten einsammeln, werden mit
anteilnehmenden Fragen konfrontiert, wie das denn
weitergehen soll
und ob sie denn überhaupt noch
eine Perspektive für sich und ihre Kinder sehen
.
Und nach solchen Antworten wie nein
und das
wissen wir auch nicht
fliegt der Reporter dann wieder
zurück in sein mit Strom und Heizung versehenes
Fernsehstudio.
Vorgeführt werden Existenzen, die kaum mehr Überlebensmittel haben, nicht einmal mehr die Möglichkeit aus ihrer Gegend abzuhauen. Was bei der Vorstellung dieser Schicksale nicht berücksichtigt werden kann, ist die Tatsache, daß sie sich von ihrem Staat und dessen Reformen haben enteignen lassen – so gründlich, daß sie heute aufgeschmissen sind. Was aber unbedingt zu würdigen ist, ist die Meinung dieser Existenzen, daß ihnen beim besten Willen auch gar keine Alternative einfällt, ihr Schicksal also wohl unvermeidlich ist. Die Verzweiflung und Passivität dieser Kreaturen wird als genau der passende korrekte Bewußtseins- und Willenszustand zu Protokoll genommen: Weil sie in der Verfassung, in der sie gelandet sind, gar keine Möglichkeit mehr sehen, an ihren Umständen irgendetwas zu ändern, gibt es die auch nicht. Nicht einmal die, daß die Fernsehmannschaften sie in ihren Hubschraubern mitnehmen. Und eben dies ist die Botschaft. Mit solchen Stimmungsbildern kehren die Reporter zurück, um sich und aller Welt aus dem Munde der Opfer bestätigen zu lassen, daß ihr Zugrundegehen unabweisbar sein muß, wenn sogar von ihrer Seite aus weder Änderungsbedarf angemeldet wird noch Möglichkeiten dazu gesehen werden. Die im Land befindlichen Rohstoffe zur Versorgung in Beschlag nehmen, den Transport organisieren und die Heizungen instandsetzen – ein Ding der Unmöglichkeit, völlig undenkbar.