Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Sieg der Putin-Partei bei der Duma-Wahl
„Festigung der Demokratie in Russland“ (Putin) oder ein weiterer Beweis für „Scheindemokratie“ (FAZ)?

Für seinen Sieg in der Parlamentswahl erntet Putin in der deutschen Presse keine Glückwünsche, sondern den Vorwurf der „gelenkten Demokratie“. Was hierzulande als „Machtinstinkt“ gelobt und als Ausweis einer erfolgreichen politischen Mannschaft gilt, wird bei Putin ins Gegenteil verwandelt. Sein Erfolg ist verdächtig, weil für die Durchsetzung deutscher Interessen in Russland dessen Stärkung hinderlich ist.

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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Sieg der Putin-Partei bei der Duma-Wahl
Festigung der Demokratie in Russland (Putin) oder ein weiterer Beweis für Scheindemokratie (FAZ)?

Seit Jahren wird auch in Russland regelmäßig gewählt – im März der neue Präsident; im Dezember vorigen Jahres haben die Wähler über die Zusammensetzung des Parlaments entschieden und damit wie bei uns die Mehrheit zum Regieren ermächtigt. Bei der Duma-Wahl hat die Partei „Einiges Russland“, die Präsident Putin unterstützt, eine Zweidrittelmehrheit erreicht, und Putin feiert seinen Sieg als Festigung der Demokratie in Russland (SZ, 9.12.03). Im Westen ist man weder darüber erleichtert, dass freie und geheime Wahlen, also ein Stück Demokratie, nun auch in Russland reibungslos funktionieren, noch erntet unser strategischer Partner Glückwünsche für seinen Erfolg, sondern eine durchweg hässliche Presse.

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Die fachkundige Presse überschlägt sich geradezu in ihrem Eifer, die politische Kultur in Russland als von A bis Z undemokratisch zu denunzieren. Schon interessant, was sie dabei in Russland alles entdeckt, was sie überhaupt nicht leiden kann.

Durch den Wahlerfolg, der ihr zuhause immer Eindruck macht, lässt sie sich in Russland nicht täuschen. Dort hat eine Partei der Macht den Sieg errungen, der die NZZ vorwirft, dass sie in erster Linie eine Wahlmaschine ist (4.12.), und die FAZ, dass sie damit Erfolg hat: Eine Partei, von der nichts bekannt ist, außer dass sie den Präsidenten unterstützt, erhält fast vierzig Prozent. (10.12.) Das finden dieselben Redakteure undemokratisch, die Machtinstinkt für eine unerlässliche Qualifikation von Kanzler- und Präsidentschaftskandidaten im Westen halten, die die Parteien der USA vor allem darauf hin begutachten, ob sie sich als Wahlmaschine für Bush resp. Kerry bewähren, und die diesen Parteien auch nie einen ernsten Vorwurf daraus machen würden, dass sie über kein weiter gehendes Programm verfügen.

Für die FAZ ist das politische System Russlands insgesamt eine einzige Scheindemokratie: Gehorsame Regionen, gehorsame Medien, gelenkte Parteien und ein Parlament, das kaum mehr ist als die Versammlung zum Abnicken der Entschlüsse des Kremls (FAZ, 10.12.). Fordert die FAZ etwa unsere Bundesländer zur Nachahmung auf, wenn die russischen Regionen den in Moskau beschlossenen Gesetzen den Gehorsam verweigern? Und was wäre wohl los, wenn ARD und ZDF die Verlautbarungen auf der Bundespressekonferenz für nicht berichtenswert erachten? Wäre es für Experten des demokratischen Politikgeschäfts nicht geradezu zwingend, dass Schröder als Kanzler zurück tritt, wenn die SPD-Fraktion auf sein Kommando hin nicht die geforderte Geschlossenheit zeigt? Haben nicht gerade die kundigsten Demokraten immer wieder an der Regierungsfähigkeit der SPD gezweifelt, weil sie nach ihren anspruchsvollen Maßstäben keine ausreichend erfolgreich gelenkte Partei war? Und würde die FAZ nicht zusammen mit der Opposition sofortige Neuwahlen verlangen, wenn das Parlament einem von der Regierung eingebrachten Gesetz das Abnicken verweigert?

Die Süddeutsche Zeitung warnt vor der ‚gelenkten Demokratie‘ als Patentrezept zur Wiedergeburt der gefallenen Großmacht (SZ, 9.12.). Ist Lenkung das falsche Rezept? Ist Großmacht ein falsches Staatsziel? Oder hat die SZ Mitleid mit der gefallenen Großmacht und wünscht sich deshalb für Russland eine echte Demokratie, damit dem Land mit diesem Rezept endlich die Wiedergeburt gelingt?

Auch die FAZ warnt – vor dem Streben nach Macht, das in Russland grassiert: Im Westen werden sich viele fragen müssen, mit welchem Partner sie es eigentlich zu tun haben, der sich Parteien zur machtpolitischen Bereicherung hält, unter Marktwirtschaft Kreml-Kapitalismus versteht und im geopolitischen Konfliktsaum mehr denn je die Hand im Spiel hat. (FAZ, 9.12.) Findet die FAZ Macht auf einmal schlecht? Tritt sie ab sofort für die globale machtpolitische Entreicherung der Staatenwelt ein? Wäre Deutschland bei einem Machtverlust auch ein besserer Partner? Darf man die Marktwirtschaft immer dann als Kapitalismus beschimpfen, wenn sie mit ihrem Wachstum den Standort stärkt und zusätzliche Machtmittel des Staates finanziert? Sollen Staaten überall da, wo ein Konflikt droht, schleunigst ihre Hand aus dem Spiel lassen?

„Nationalismus und der Glaube an die Notwendigkeit eines starken Staats. Das mag von Putin gewünscht sein, doch für einen entscheidenden Teil seines erklärten Programms, für die außenpolitische Integration in den Westen und die Wirtschaftsreformen, sind virulent nationalistische Parteien kaum hilfreich.“ (FAZ, 10.12.)

Hat man in Frankfurts Redaktionsstuben neuerdings den Nationalismus satt? Wünscht sich ausgerechnet das Lieblingsblatt ordnungsfanatischer Studienräte auf einmal einen schwachen Staat? Bezieht die FAZ demnächst Front gegen Schily und Beckstein? Oder möchte sie bloß die Russen höflich darauf aufmerksam machen, dass der Westen, in den sie sich gefälligst „integrieren“ sollen, den Nationalismus für sich gepachtet hat und einen andern selbst dann nicht leiden kann, wenn die nationale Ökonomie vollkommen marktwirtschaftlich „reformiert“ wird?

All das, was hierzulande zur Demokratie selbstverständlich dazu gehört, offenbart in Russland ein autoritäres Regime: In diesem Sinne klären Deutschlands Presseorgane ihr Publikum auf und geben dabei ziemlich unverhüllt zu erkennen, was sie an den Wahlen vor allem und eigentlich stört: das Wahlresultat, Putins Erfolg gegen die Statthalter des westlichen Interesses in seinem Land. Ein Russland, das in unserem Sinn stabil ist und machtvoll für eine echt moderne Marktwirtschaft sorgt, die deutschen Investoren ungehindert als Geschäftssphäre zu Gebote steht, wollen die ideellen Vorkämpfer des deutschen Imperialismus haben; ein Russland, das zugleich gegen Europa ohnmächtig ist und dort seine Hände aus dem Spiel lässt, wo der Westen seine Interessen tangiert sieht; unter einer Staatsführung, die auf die richtigen Ratgeber hört: Dafür hätten sie ein anderes Wahlergebnis nützlicher gefunden. Die Staatsraison, die Putin verkörpert, passt ihnen nicht; deswegen billigen sie ihm die urdemokratische Leistung, die Wahlen auch in Russland erbringen: die förmliche Ermächtigung einer Regierungsmannschaft, nicht zu; und deswegen denunzieren sie in ihren verlogenen Demokratie-Expertisen die gesamte russische Staatsverfassung als Scheindemokratie.

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Einen nicht unerheblichen sachlichen Unterschied zwischen so richtig korrekten freien Wahlen, wie man sie hierzulande kennt, als Inbegriff bürgerlicher Freiheit preist und zugleich als Hindernis für effektives Regieren beschimpft, und Putins russischem Wahlzirkus gibt es allerdings schon: Dort geht es nicht bloß um die personelle Besetzung von Regierungsämtern, deren Macht nach Inhalt und Reichweite feststeht und als staatliche Ordnung jenseits aller Personalfragen anerkannt ist. So wie es um Russland steht, fällt die Wahl einer dem Präsidenten ergebenen Staatsduma und die damit verbundene Festigung seiner persönlichen Macht mit der Stärkung der russischen Staatsmacht überhaupt zusammen. Was Putin als Festigung der Demokratie feiert, ist nicht einfach die Verankerung einer Verfahrensweise bürgerlicher Herrschaft in den Gewohnheiten des regierten Volkes, sondern ein Fortschritt in der Konsolidierung der Herrschaft selber, die förmliche Bestätigung eines praktisch noch gar nicht fraglos durchgesetzten Staatswillens durch eine Mehrheit der zur Wahl gerufenen Gesellschaft. Was da alles noch auf dem Spiel steht, macht die Bilanz des Präsidenten deutlich, die die erzielten Erfolge übertreibt und gerade damit lauter nationale Notstände offenbart:

„In den letzten vier Jahren wurde im Land die verfassungsmäßige Rechtsordnung wiederhergestellt, wurde eigentlich neu die Vertikale der föderalen Exekutivmacht errichtet.“ Es ist gelungen, „die gefährliche Degradierung der Staatsmacht, die Schwächung der Armee und den Zerfall der Rechtsschutzorgane und anderer Machtstrukturen zu verhindern.“ Er erinnert daran, dass „Russland Ende der 90er Jahre wegen vieler negativer Faktoren begonnen hat, die wichtigsten Merkmale eines einheitlichen Staates zu verlieren… Es muss die Arbeit fortgesetzt werden, um eine vollwertige arbeitsfähige bürgerliche Gesellschaft im Land zu etablieren. Diese ist ohne wahrhaft freie und verantwortliche Massenmedien unvorstellbar. Aber diese Freiheit und Verantwortung müssen durch die notwendige Rechts- und Wirtschaftsbasis gesichert werden, die der Staat schaffen muss“. (Interfax, 12.2.04, zit. nach Deutsche Welle)

Der russische Präsident regiert ein Land, das nach allen Regeln demokratischer Regierungskunst ein Fall für die härtesten Notstandsgesetze ist. Das Gewaltmonopol der föderalen Exekutivmacht gegenüber den Regionen lässt zu wünschen übrig; der staatliche Machtapparat hat die Gesellschaft nicht im Griff; die Einführung aller Zwangsgesetze des Eigentums und der Freiheit des Geschäftemachens hat alle nationalen Wirtschaftskreisläufe ruiniert; das kapitalistische Ausland besteht auf einer Lizenz für jede beliebige kapitalkräftige interessierte Partei, die Überreste des einstmals staatlichen Reichtums für sich auszuschlachten; militanter Separatismus stellt nicht bloß die kaukasische Südgrenze des Staates, sondern den Zusammenhalt des Staatsgebildes insgesamt in Frage. Ob gediegene westliche Demokraten in so einer Lage überhaupt freie Wahlen abhalten würden, ist sehr die Frage – eher keine Frage, dass sie „eng zusammenrücken“ würden hinter ihrem Präsidenten, siehe USA; wer eine Politik der „starken Hand“ und eines „energischen Durchgreifens“ im Sinne des amerikanischen PATRIOT-Act oder der spanischen Front gegen den baskischen Separatismus kritisiert, wäre der Staatsfeindschaft verdächtig und bestimmt nicht als interessante politische Alternative bei freien Wahlen willkommen; und den Test, ob die staatstragende Verantwortlichkeit der Massenmedien so vorbildlich aufblüht wie aktuell in der deutschen Berichterstattung über die Wahlen in Russland, würde man auch im Reich der Freiheit nicht dem Zufall überlassen.

Wenn in Russland dennoch in aller Form Wahlen abgehalten werden, dann haben die einerseits immer noch denselben politischen Inhalt wie die entsprechenden Veranstaltungen in einem unangefochten funktionierenden Staat: Sie mobilisieren den Staatsbürger im Landesbewohner, der sich die Sorgen seiner Obrigkeit macht und jenseits aller eigenen Misserfolge für deren Erfolg Partei ergreift; sie organisieren Zustimmung zur staatlichen Herrschaft, die eben nicht bloß loyale Polizisten, sondern ein botmäßiges, freiwillig mittuendes Volk braucht, um ihren Willen effektiv durchzusetzen. Andererseits nimmt in problemlos funktionierenden Demokratien dieser wesentliche Inhalt der Wahl, das Bekenntnis zur höchsten Gewalt und zu der von dieser zu definierenden nationalen Sache, die Form einer freien Auswahl aus einem Überangebot konkurrierender Führerfiguren und den Charakter einer Mandatserteilung an die dann zum Regieren ermächtigte Mannschaft an. Dieses zynische Kunststück, einen Unterwerfungs- als wählerischen Freiheitsakt zu inszenieren, so perfekt es zu einer Nation mit alternativlos durchgesetzter Staatsräson und einem darauf eingeschworenen Parteienpluralismus passt, ist für eine Staatsmacht, die um die Durchsetzung ihres Gewaltmonopols und ihrer Staatsräson zu kämpfen hat, mit Risiken verbunden. Da könnte glatt passieren, was eine reguläre freie Wahl zwischen prinzipiell gleichgesinnten politischen Konkurrenten gerade ausschließt: eine Infragestellung des nationalen Programms, eine Störung des Machtmonopols der maßgeblichen Machthaber, womöglich eine weitere Zersetzung der Staatsgewalt. Um den Zweck einer jeden freien Wahl, die Ermächtigung der Regierenden, sicherzustellen, zieht der Veranstalter in einem solchen Fall den „Verfassungsbogen“, innerhalb dessen Pluralismus herrschen darf und soll, sehr eng; notfalls definiert er den „Konsens der Demokraten“ so eindeutig, dass nur die Führungsfigur hineinpasst, die mit ihrem erfolgreichen Machtwillen die Etablierung einer effektiven souveränen Herrschaftszentrale betreibt.

Nach dieser Maxime handelt Putin. Und offenbar hat er sogar eine gewisse materialistische Kenntnis davon, auf welchen anspruchsvollen Voraussetzungen eine Demokratie beruht, die sich in der Frage der politischen Meinungsvielfalt im Land auf einen satten Konsens der Konkurrenten und einer freien Öffentlichkeit verlassen und für das unerlässliche Kontrollwesen mit einem verfassungsschützerischen Zugriff auf Randgruppen begnügen kann: Eine solche Idylle setzt eine Staatsgewalt voraus, die ihre Landesbevölkerung flächendeckend für die von ihr definierten politökonomischen Belange der Nation in Dienst nimmt – mit Putins Worten: „eine vollwertige arbeitsfähige bürgerliche Gesellschaft“; eine Staatsmacht, die jeden grundsätzlich anderen Gebrauch der politischen Gewalt wie des regierten Volkes wirksam ausschließt und den Leuten selber auch keine Alternative gestattet. Dann, aber auch nur dann ist darauf Verlass, dass politische Konkurrenten und eine freie Öffentlichkeit mit ihrer nimmermüden pluralistischen Fahndung nach Pflichtversäumnissen der Regierenden und „besseren Lösungen“ im Prinzip nichts falsch machen und auch ohne „übertriebene“ Kontrolle und Verbote „verantwortlich“ agieren.

Ganz in diesem Sinne bringt der Kreml die für Kandidaten, Parteien und Wahlen maßgeblichen Gesetze zur Anwendung, die sich der russische Rechtsstaat gegeben hat. Sorgfältig werden Verfassungsmäßigkeit und Vaterlandstreue der Parteien, die sich zur Wahl stellen, überprüft, ebenso, wer als Finanzier hinter ihnen steckt. Darüber hinaus nutzt der Präsident alle Mittel, die er hat – die Aufsicht über staatliche Medien, die Staatsanwaltschaft, die Loyalität der regionalen Verwaltungen usf. –, um Wähler für die Putin-Partei zu mobilisieren und den Wahlerfolg der anderen zu verhindern. Die Behinderung ihrer Agitation grenzt dabei häufig an einen Ausschluss vom Wahlkampf; doch so viel hat man im Kreml von den erfolgreichen Demokratien gelernt, dass eine Blamage abweichender Parteiprogramme durch ein schlechtes Wahlergebnis wirksamer sein kann als ein Verbot; und für ein derartiges Wahlresultat fühlt Putin mit seinem Partei-Anhang sich stark genug. Die bedeutenderen Konkurrenzparteien, die KPRF und die prowestlichen liberalen Parteien, werden daher nicht wirklich verboten, „nur“ als Feinde des Wiederaufstiegs der russischen Nation, der Wiederbelebung einer starken Staatsmacht und einer erfolgreichen Nationalökonomie gebrandmarkt und faktisch aus dem Parteienpluralismus ausgegrenzt, den der Kampf des Präsidenten gegen den allgemeinen Notstand und für ein neues Russland allenfalls zulässt.

Gegen die Kommunisten mag das übertrieben erscheinen, denn die KPRF tritt ebenso wie Putin für einen starken Staat ein. Sie folgert aber aus den geschrumpften Produktivkräften, den schwindenden Machtmitteln und den sozialen Folgen des Systemwechsels, dass der nationale Nutzen der Marktwirtschaft, auf die Putin die Zukunft Russlands gründen will, zweifelhaft ist. Sie zieht sich damit den Verdacht zu, zurück zur Sowjetunion zu wollen und die Loyalität des russischen Volkes gegenüber dem neuen Staat zu untergraben.

Keinesfalls übertrieben ist dagegen der Verdacht gegen die demokratischen Parteien, sie würden, wenn man sie an die Regierung lässt, Russland an das westliche Geschäft ausliefern. Das bestätigen im Nachhinein auch noch einmal sehr eindeutig die Kommentare der über den Wahlausgang enttäuschten Beobachter im Westen:

„Mit dem Ausscheiden der prowestlichen, liberalen Parteien geht ein Stück politischer Kultur verloren. ‚Jabloko‘ und die ‚Union Rechter Kräfte‘ sind die einzig wirklich demokratischen Parteien Russlands. Sie stehen trotz ihrer personellen und programmatischen Schwächen für eine differenzierte politische Argumentation. Die Liberalen sind die Einzigen, die die Idee der Zivilgesellschaft hochhalten. Sie zeigen bei der oft gerechtfertigten Kritik an den Oligarchen, wo die Substanz der Marktwirtschaft zugunsten des ‚starken Staates‘ in Frage gestellt wird. Sie fordern eine politische Friedenslösung für den Tschetschenien-Krieg.“ (SZ, 9.12.03)

In zentralen Machtfragen tritt diese Opposition gegen Putins Staatsprogramm auf: Wenn Putin darum kämpft, die Staatsmacht gegen die private Geldmacht der Oligarchen durchzusetzen,[1] treten sie für den Schutz dieser Geldelite mit ihren ausgezeichneten beiderseits lohnenden West-Verbindungen vor „zuviel Staat“ ein, für das Monopol auf Freiheit und Eigentum derjenigen, die aktuell darüber verfügen. Wenn die territoriale Einheit des Staats in einem Krieg gegen militante Separatisten behauptet werden soll, plädieren sie für deren Anerkennung als gleichberechtigte Verhandlungspartner der russischen Regierung. Von einer Alternative im normalen demokratischen Sinn kann da keine Rede sein: Sie bewerben sich nicht darum, die gleiche nationale Sache besser zu machen, sondern wollen eine gründlich anders ausgerichtete Staatsräson: ein Russland unter der politischen Vormundschaft des Westens und ökonomisch im Besitz westlich orientierter Milliardäre.

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So sind also die Weichen für die Wahlen in Russland gestellt. Und was macht der russische Wähler? Erstens spielt er seine Rolle als Demokrat gerade so, als wäre er in Deutschland in die Schule gegangen: Da mag seine materielle Lage als Arbeitsloser oder Rentner, bei Minusgraden in einer ungeheizten Wohnung etc. noch so schlecht sein – die Gründe für jede Menge Unzufriedenheit des gewöhnlichen Russen mit ihrem Alltag sind auch im Westen bestens bekannt –: Eine Mehrheit der Russen nimmt sie als triftigen Grund für ein Wahlkreuz zur Ermächtigung einer Obrigkeit, die nichts anderes verspricht als eine staatsdienliche Zurichtung des eingerichteten Elends. Dafür setzen die russischen Wähler zweitens in ihrer großen Mehrheit auf den gegenwärtigen Inhaber der Staatsgewalt – auch das nicht gerade originell; in gereiften Demokratien heißt es ‚Amtsbonus‘, wenn wahlberechtigte Untertanen die Macht, die sie schon allein deshalb als selbstverständliche Lebensbedingung akzeptieren, weil sie ihnen gar keine andere Chance lässt, mit ihrem aktuellen Inhaber identifizieren oder jedenfalls bei dem einfach deswegen am besten aufgehoben sehen, weil der sie ja hat. Zu so reifen Zuständen will der Präsident es in seinem Land zwar erst noch bringen; aber für eine Mehrzahl russischer Patrioten verkörpert Putin schon wegen seines tatkräftigen Auftretens die Wiedergeburt eines starken russischen Staates und gilt ihr als die einzige wählbare ‚Alternative‘, gerade weil die Staatsräson, für die er steht, ein umstrittenes Kampfprogramm ist, das erst noch durchgesetzt werden muss.

Alle diese Glanzleistungen als Demokrat und Patriot bringen dem russischen Wähler bei den demokratischen Sittenwächtern hierzulande jedoch denkbar schlechte Zensuren ein:

  • Er hat sich manipulieren lassen: Der Kreml hat den Duma-Wahlkampf eindeutig manipuliert – vor allem mit Hilfe der staatlich gesteuerten elektronischen Medien. Dies traf vor allem die Kommunisten, aber auch die Liberalen (SZ, 9.12.) – und weil die Kommunisten in Russland glücklich kleingemacht sind und sowieso nichts zu melden haben, darf man sie ruhig mal als Opfer der Präsidentenmacht bedauern und als Kronzeugen für einen Missbrauch der Unterhaltungselektronik zitieren.
  • Er fällt auf die ältesten Tricks der Vertrauenswerbung ’rein: Die Kreml-Partei … hat versucht, die Duma-Wahl … der Bevölkerung als Vertrauensabstimmung für den Präsidenten zu verkaufen (FAZ, 6.12.) – wo doch in einer wahren Demokratie Parlamentswahlen säuberlich von jedem Vertrauen in die Führungsfiguren frei gehalten werden und z.B. der deutsche Kanzler extra von seinem Parteiamt zurücktritt, damit niemand die Wahl seiner Partei mit einem Vertrauensvotum für ihn verwechselt…
  • Er ist doppelt blöd: Erstens durchschaut er die Machenschaften seiner Obrigkeit nicht und zweitens will er sie womöglich gar nicht durchschauen, weil er mehrheitlich einfach falsch drauf ist: Mit oder ohne die politischen Taschenspielertricks der Kreml-Strategen gibt das Wahlresultat die Stimmung im Lande wieder (SZ, 9.12.) – und das ehrt in dem Fall nicht das Wahlergebnis, sondern disqualifiziert die nationale Stimmungslage.

Der russische Wähler wählt nicht so, wie die ideellen Imperialisten in den Redaktionsstuben der westlichen Welt sich das gewünscht hätten. Daraus folgt eindeutig: Er ist noch nicht reif für die Demokratie. Fragt sich nur, ob ein russischer Müntefering reichen würde, die Sache in Ordnung zu bringen.

[1] Die Analyse dieses Machtkampfs steht in GegenStandpunkt 4-03, S.36: Der Fall Yukos.