Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“

Hunderttausende demonstrieren gegen die AfD. Für Demokratie. Für welche denn eigentlich?

Die von investigativen Journalisten ausspionierte „Geheimkonferenz“ in einer Potsdamer Villa wirkt ungeheuer mobilisierend. Dort hatten rechte und rechtsradikale Politiker mit Gesinnungsgenossen über die massenhafte Deportation von hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund, darunter – was offenbar das Schlimmste ist – auch solchen mit deutschem Pass, beraten. Die Enthüllung rückt ins Licht, wozu die Rechtsaußen-Partei womöglich, wenn sie an die Macht kommt, fähig und willens sein könnte. Die schnell gezogene Parallele zur Wannsee-Konferenz der Nazis, auf der die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde, und das Wissen der Nachgeborenen, wie schlimm das alles für Deutschland geendet hat, tun ein Übriges, um den Faschismus-Verdacht gegen die AfD zu nähren. Dass die solche Pläne dementiert und mit „Remigration“, von der sie schon spricht, etwas anderes meinen will, ändert nichts.

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Hunderttausende demonstrieren gegen die AfD. Für Demokratie. Für welche denn eigentlich? 

Der Weckruf

Wogegen die vielen Leute, die das sonst nicht tun, auf die Straße gehen, ist klar: gegen die AfD. Die von investigativen Journalisten ausspionierte „Geheimkonferenz“ in einer Potsdamer Villa wirkt ungeheuer mobilisierend. Dort hatten rechte und rechtsradikale Politiker mit Gesinnungsgenossen über die massenhafte Deportation von hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund, darunter – was offenbar das Schlimmste ist – auch solchen mit deutschem Pass, beraten. Die Enthüllung rückt ins Licht, wozu die Rechtsaußen-Partei womöglich, wenn sie an die Macht kommt, fähig und willens sein könnte. Die schnell gezogene Parallele zur Wannsee-Konferenz der Nazis, auf der die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde, und das Wissen der Nachgeborenen, wie schlimm das alles für Deutschland geendet hat, tun ein Übriges, um den Faschismus-Verdacht gegen die AfD zu nähren. Dass die solche Pläne dementiert und mit „Remigration“, von der sie schon spricht, etwas anderes meinen will, ändert nichts. Nachdem aufgedeckt worden ist, wo das alles enden könnte, wollen die Demonstranten

„Den Anfängen wehren!“

Welchen Anfängen? Wer gegen die schlechte Behandlung von Migranten ist, kann doch nicht erst bei der AfD anfangen. Und schon gar nicht für die Demokratie eintreten, die es in Deutschland gibt. Die ist mit ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik doch selbst der Anfang und eigentlich längst nicht nur der Anfang dessen, was schon jetzt, und zwar programmatisch, mit Deportationen endet: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“, sagt der demokratische Kanzler.

Nicht zu vergleichen? Weil die Berliner Politik nur Menschen ohne Aufenthaltsrecht trifft? Wo ist denn dann die Grenze zwischen der guten, demokratischen Ordnung, für die man demonstrieren geht, und der faschistischen Gefahr, der man sein „Nie wieder ist jetzt!“ entgegenschleudert? Hat die gemeinte Grenze überhaupt einen Inhalt, und wenn, hat sie denselben Inhalt wie letztes Jahr oder vor zwei Jahren? Wissen die Demonstranten, was sie definitiv nicht mehr mitzumachen bereit sind, oder verteidigen sie gegen die rechte Gefahr den je aktuellen Status quo, dessen Einführung sie seinerzeit als Rechtsruck beklagt hatten? Immerhin konzipiert die demokratische Regierung gegenwärtig eine Reform der Flüchtlingspolitik, wie sie bis vor Kurzem nur die Bürokraten der ausländerfeindlichen Opposition gefordert hatten: mit Asylprüfungszentren nach dem britischen Ruanda-Vorbild weit weg von europäischen Grenzen, und mit Kurzprüfungen des Asylbegehrens in exterritorialen, gefängnisartigen Lagern mit anschließender Rückführung für die, die es bis an die EU-Grenzen schaffen.

Oder verläuft die Scheidelinie zwischen dem, wogegen, und dem, wofür demonstriert wird, vielmehr zwischen einem rassistischen Ungeist, aus dem heraus die Rechtsradikalen gegen Ausländer hetzen, und dem sachlichen Ton, mit dem demokratische Bevölkerungspolitiker – durchaus mit humanem Bedauern und unter Beachtung der verfassungsmäßigen Vorgaben – ihre jeweiligen Verschärfungen im Umgang mit den Flüchtlingen begleiten? Spaßige Sprachkunststückchen – „Lieber Menschenrechte als rechte Menschen“, „Lieber solidarisch als solide arisch“ – und die überall auftauchende Erklärung, dass man sich gegen Hass und die Hasser wende, legen jedenfalls nahe, dass die Absage an die rassistische Gesinnung eben den feindseligen Motiven gilt, die man in der Rhetorik der AfD zur Flüchtlingspolitik findet, und nicht so sehr dieser Politik selbst: Die armen Leute, die Deutschland fernhält oder wieder wegschickt, sollen nicht verachtet und als minderwertig geschmäht werden. Harte Ausländerpolitik ist die eine Sache, Ausländerfeindschaft eine andere, die sich nicht gehört. Ist das der demokratische Unterschied, auf den es ankommen soll?

Die Einheit der Demokraten

Keine dieser Fragen wird von den Demonstranten beantwortet, schon gar nicht einheitlich: Es gibt diejenigen, die die deutsche und europäische Migrationspolitik auch ohne die AfD schon ziemlich schlimm finden. Und es gibt die anderen, die diese Politik unterstützen, sie aber nicht von der AfD gemacht sehen wollen. Der Dissens wird auf den Demonstrationen immer wieder laut – und dann schnell wieder leise. Teilnehmer rufen: „Merz, das gilt auch für dich“ und vermissen bei CDU und SPD die berühmte Brandmauer gegen Xenophobie und Abschiebungspolitik. Es laufen auch Leute mit, die meinen, eine Demonstration für die Demokratie wäre eine Gelegenheit, an das Leiden der Palästinenser in Gaza und das ihnen verweigerte Recht auf eine eigene Demokratie zu erinnern. Sie alle ernten überwiegend Buh-Rufe und kriegen von den veranstaltenden Organisationen die rote Karte gezeigt. Die lassen das einige Bekenntnis zu den hohen Werten der Demokratie nicht von Leuten stören, die von der wirklichen Politik reden und eine Kritik äußern, die nicht nur der AfD gilt. Dem Vorwurf von CDU/CSU, dass die Veranstalter aus der linken Ecke kommen und gegen rechts demonstrierend die demokratische Rechte diskriminieren, treten diese so entgegen, dass sie die C-Parteien ausdrücklich zum Mitmarschieren einladen und deren Vertretern ihre Bühnen für deren Version von AfD-Kritik zur Verfügung stellen. Wenn in noch einem anderen Fall Aktivisten großsprecherisch behaupten, ihre ganze Stadt hasse die AfD, bekommen sie zu hören, sie stünden auf derselben verachtungswürdigen Stufe wie die Partei der Hasser und würden nicht zum Geist der – fast – alle umfassenden, niemanden feindlich ausgrenzenden Demonstration der Demokraten passen.

Was also verbindet die einen und die anderen Demonstranten, wenn sie „Gemeinsam gegen rechts“ antreten? Sie eint der Wille, zugunsten des gemeinsam artikulierten Glaubens an die Werte und die gute Mission ihres Staates von der Politik, die der macht, komplett abzusehen, und ebenso davon, was sie selbst von dieser Politik wollen und andere Mitdemonstranten eben nicht wollen. Jeder politische Inhalt würde die Einheit der guten Gesinnung und damit das unüberbietbar breite Bündnis für die Demokratie sprengen. Umgekehrt ist die Einheit der Gutwilligen dann auch der ganze Inhalt der Massenaufläufe. Die Teilnehmer fordern sie nicht, demonstrieren nicht für diese Einheit, sondern repräsentieren sie: Sie verwirklichen ihr Selbstbewusstsein, die demokratische Substanz des Landes zu sein, die den hasserfüllten Spaltern widersteht.

Wenn sie für Demokratie eintreten, denken sie also nicht an die Staatsform der Verfassung und ihre Regularien – deren Konsequenzen fürchten sie ja eher, wenn sie vor einem demokratischen Weg der Rechtsradikalen an die Macht warnen –, sondern an die Einigkeit und Einheit aller mündigen Bürger, die sich einreihen, weil sie sich an den korrekten, noch immer gültigen liberalen und weltoffenen Anstand halten.

„Wir sind die Mehrheit!“ 

Mit den über Wochen großen Zahlen auf den Marktplätzen der Republik schenken die Demonstranten sich ihr Argument: Der politischen Richtung, die den Ruf: „Wir sind das Volk“ gepachtet hat, stellen sie sich als das wahre einig Volk entgegen. Sie beanspruchen, die Mehrheit zu repräsentieren, und gründen darauf das Recht, im Land die Maßstäbe zu setzen. Die Minderheit, zu der sie das rechte Lager erklären, hat kein Recht, eben weil – etwa auch solange? – sie die Minderheit ist. Deren abweichendes politisches Programm qualifiziert die Rechten zu Volksfeinden und Spaltern. Nicht der bestimmte Inhalt der Alternativ-Programmatik der AfD, mit dem sich ja höchstens in Form moralischer Schlagworte befasst wird, ist die eigentliche Sünde; er steht nur für Abweichung von der und Bestreitung der anständigen Norm: Die Rechten stören die Volkseinheit, grenzen sich aus ihr aus, wollen nicht gehören und gehören nicht zum ansonsten einigen Volk. Eine radikalere Verurteilung der „Völkischen“ können sich die demonstrierenden Demokraten gar nicht vorstellen.

Maßvolles Lob und neue Erwartungen der Staatselite an die Pro-Demonstranten

Der Bundespräsident wie alle Politiker aller Parteien – außer der AfD natürlich – zeigen sich erfreut, dass „die demokratische Mitte der Gesellschaft aufgewacht ist“. Den öffentlich gemachten Bekenntnissen zu den Idealen der Demokratie – bunt, antirassistisch, weltoffen – geben sie unbedingt recht; dass es bei uns, und natürlich auch und erst recht ihnen, um lauter gute Aufgaben geht, können sie nur bestätigen. Sie stellen den aktiven Bürgern gegenüber, sofern das überhaupt nötig ist, aber auch klar, mit welcher Realität die sich über den Umweg der Ideale identifiziert haben: Mit dem Staat, so wie er ist.

„‚Ich finde, das ist ein äußerst ermutigendes Zeichen einer lebendigen Demokratie, dass sich in einer so großen Zahl Menschen auf die Straße begeben‘, sagte Merz... Sie hätten ‚für den Erhalt unserer Demokratie, unseres Rechtsstaates, unserer Freiheit‘ demonstriert. Sein Wunsch: ‚Wenn jeder Zehnte von denen, die demonstrieren, morgen in eine politische Partei eintritt, wäre viel geholfen.‘“ (news.de, 22.1.24)

Sosehr die Demonstrationen für den Staat den CDU-Chef auch ermutigen, sie reichen nicht. Engagement für die Demokratie darf nicht beim einmaligen und bloßen Dagegen gegen die Falschen stehen bleiben, sondern verlangt dauerhaften Einsatz, und zwar für ein eindeutiges Dafür. Was sich Merz von jedem Zehnten wünscht, das mahnt der Bundespräsident generell an:

„Diese Demonstrationen könnten aber nicht politisches Engagement ersetzen, sagte Steinmeier auf die Frage, wie es weitergehe mit den Protesten. Seine Bitte an Unzufriedene sei, runter vom Sofa zu kommen und sich aktiv für die Gemeinschaft einzusetzen. Demokratie lebe vom Engagement ihrer Bürger. In keinem Land gebe es so gute Möglichkeiten dazu wie in Deutschland. Dazu müsse Menschen, die politische Verantwortung übernehmen gerade auf kommunaler Ebene, aber auch wieder mehr Respekt entgegengebracht werden, mahnte Steinmeier.“ (Zeit Online, 26.1.24)

Wahres Engagement für die Demokratie besteht eben nicht im Demonstrieren. Wer die Demokratie wirklich stärken will, soll den Politikern Arbeit abnehmen, die Personaldecke der Parteien stärken, sich in Ämter wählen lassen, kurz: Mithelfen beim Staat-Machen. Die übrigen sollen den Vertretern des Staates den gebührenden Respekt erweisen. Und gefälligst richtig wählen. So funktioniert die Demokratie, die es wirklich gibt.