Zu den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm
Radikale Anklagen, bescheidene Alternativen, verwegene Anträge: Antiimperialismus heute
– und wie der Rechtsstaat damit umspringt
„Alle fünf Sekunden stirbt in der Welt ein Kind an Hunger, mehr als 800 Millionen Menschen sind chronisch unterernährt. Maßgeblich verantwortlich hierfür ist eine ungerechte Welthandelspolitik, wie sie im Rahmen der G8 und anderer internationaler Institutionen von den reichen Industrieländern betrieben wird.“ (ebd.) Der kritische Blick geht immerhin in die richtige Richtung: Er fällt auf die Veranstalter der globalen Wirtschaftskreisläufe. Aber kann es wirklich sein, dass ein Mangel an Gerechtigkeit in der Politik der großen Welthandelsnationen der Grund für weltweites Massenelend ist? Lässt sich zu den Zwecken dieser Politik nicht etwas Handfestes sagen – ungerecht zu sein, ist ja sicher nicht ihr Anliegen! Und wenn man die Prinzipien des Welthandels ins Auge fasst: Gehört da nicht die Scheidung zwischen Gewinnern und Verlierern, die Produktion von Reichtum und Opfern zum System – schließlich wird der Weltmarkt nicht aus Philanthropie, sondern als Konkurrenz um das Geld der Welt betrieben! Und gehört zu diesem System nicht eine eigene Sorte Gerechtigkeit – nämlich das Recht der Erfolgreichen!
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Länder & Abkommen
Zu den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm
Radikale Anklagen, bescheidene Alternativen, verwegene Anträge: Antiimperialismus heute
– und wie der Rechtsstaat damit umspringt
I.
Die Chefs der großen Nationen, die den Weltmarkt und die Weltpolitik bestimmen, treffen sich wie jedes Jahr; diesmal unter deutscher Leitung an der Ostsee. Und eine breite Protestbewegung macht demonstrativ klar, was sie von der „Ordnung“ hält, die diese Mächte dem Globus aufnötigen: Gar nichts.
„Die von der Dominanz der G8 geprägte Welt ist eine Welt der Kriege, des Hungers, der sozialen Spaltung, der Umweltzerstörung und der Mauern gegen MigrantInnen und Flüchtlinge.“ (Eine andere Welt ist möglich! Aufruf zur Internationalen Großdemonstration in Rostock am Samstag, 2.6.2007)
Ursächliche Zusammenhänge zwischen der Dominanz der G8 und dem Elend der Welt wissen die Wortführer des Protests auch anzugeben – das muss auch sein; schließlich dominiert, nicht bloß in Deutschland, eine öffentliche Meinung, wonach am wohlbekannten und gar nicht beschönigten desolaten Zustand des Globus ein Mangel an kapitalistischer Geschäftemacherei, eine Horde wild gewordener Terroristen und die korrupten Häuptlinge der armseligsten Mitglieder der Völkergemeinschaft schuld sind; eine Diagnose, die alle Unverschämtheiten nachbetet, mit denen sich die Lobby kapitalistischer Geschäftemacher, die demokratisch gewählten War Lords der westlichen Großmächte und all die ehrenwerten Instanzen der „1. Welt“ ins Recht setzen, die sich mit ihren Finanzmitteln Regierungen und andere Gewalthaber in der „3. Welt“ kaufen. Dagegen setzen die G8-Kritiker ihr eigenes Sittenbild. Das wirft allerdings auch einige Fragen auf.
„Alle fünf Sekunden stirbt in der Welt ein Kind an Hunger, mehr als 800 Millionen Menschen sind chronisch unterernährt. Maßgeblich verantwortlich hierfür ist eine ungerechte Welthandelspolitik, wie sie im Rahmen der G8 und anderer internationaler Institutionen von den reichen Industrieländern betrieben wird.“ (ebd.)
Der kritische Blick geht immerhin in die richtige Richtung: Er fällt auf die Veranstalter der globalen Wirtschaftskreisläufe. Aber kann es wirklich sein, dass ein Mangel an Gerechtigkeit in der Politik der großen Welthandelsnationen der Grund für weltweites Massenelend ist? Lässt sich zu den Zwecken dieser Politik nicht etwas Handfestes sagen – ungerecht zu sein, ist ja sicher nicht ihr Anliegen! Und wenn man die Prinzipien des Welthandels ins Auge fasst: Gehört da nicht die Scheidung zwischen Gewinnern und Verlierern, die Produktion von Reichtum und Opfern zum System – schließlich wird der Weltmarkt nicht aus Philanthropie, sondern als Konkurrenz um das Geld der Welt betrieben! Und gehört zu diesem System nicht eine eigene Sorte Gerechtigkeit – nämlich das Recht der Erfolgreichen!
„Trotz der vollmundigen Versprechungen vom G8-Gipfel in Gleneagles 2005 wurde den Ländern des Südens bislang nur ein geringer Teil ihrer Schulden erlassen.“ (ebd.)
Kleinlich sind sie, die Großen; keine Frage. Aber ist das nicht der praktische Beleg dafür, dass der gesamten Schuldenerlass-Initiative lauter Berechnungen der Gläubiger zugrunde liegen, die mit einem substanziellen Verzicht von deren Seite, einer durchgreifenden Statusverbesserung der heillos überschuldeten Länder des Südens, geschweige denn einer anständigen Lebensperspektive für deren Bevölkerung nun wirklich gar nichts zu tun haben? Selbst wenn die internationale Gläubigerversammlung sich zu einem kompletten und sofortigen Schuldenerlass durchringen würde: Wäre der überhaupt eine Gunst, wenn weiterhin nach wie vor die Geschäftsfähigkeit der Staaten – und, als deren Anhängsel, das Überleben ihrer Insassen – ganz grundsätzlich davon abhängt, dass sie mit ihren Bemühungen um Kreditwürdigkeit vor den großen Kreditschöpfern Gnade finden? Was hilft, kurz gesagt, eine Schuldenstreichung gegen die brutalen Regeln des globalen Kreditsystems?
„Indem sie Liberalisierung und Privatisierung vorantreiben, haben die G8 Armut nicht nur im globalen Süden, sondern auch in den Industrieländern verstärkt. Die weltweite Plünderung von Rohstoffen und anderen natürlichen Ressourcen wird beschleunigt.“ (ebd.)
So viel ist klar: Wo Mensch und Natur als Mittel verwendet werden, Geld zu erwirtschaften, also dazu, dass Unternehmer in aller Freiheit privaten Reichtum aus ihnen herausholen, werden die Menschen massenhaft verarmt und die natürlichen Quellen des Reichtums ruiniert. Der Grund dafür kann aber doch nicht darin liegen, dass die G8 es mit ihrer Politik der Förderung des globalen Geschäftemachens übertreiben! Es wird schon so sein, dass die gerade amtierende Politiker-Generation mit ihrem Wahn, überall und sogar noch in ihren eigenen Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung eine illiberale Bevormundung des privaten Gewinnstrebens zu entdecken, einiges an Verarmung verstärkt und die Verwüstung natürlicher Lebensgrundlagen beschleunigt. Aber die Kritik an diesem Irrsinn ist doch wohl nicht so gemeint, dass Geschäftswelt und Staatsgewalt es beim produktiven Verzehr von Menschenleben und Lebensbedingungen, beim Verelenden und Plündern langsamer angehen lassen sollten!
„Zugleich schotten sich die reichen Industriestaaten immer stärker gegen Flüchtlinge und MigrantInnen ab. Die dennoch Eingereisten werden illegalisiert und als rechtlose BilligarbeiterInnen ausgebeutet.“ (ebd.)
Das hat in der Tat seine zynische Logik: Erst macht der Zugriff der mächtigen Staaten und Konzerne in halben Kontinenten ein menschenwürdiges Überleben unmöglich; dann lassen die politischen Machthaber der Nationen, von denen dieser Zugriff ausgeht, gegen Elendsflüchtlinge Zäune bauen und ihre Marine patrouillieren; und wer da trotzdem durchkommt, gerät bestenfalls in eine Ausbeutungsmaschinerie, die nicht zuletzt von den kleinen Kollegen der großen Multis, dem berühmten geschäftstüchtigen „Mittelstand“, in Schwung gehalten wird. Das Ganze ist nur ein, aber ein drastisches Beispiel dafür, wie Weltgeschäft und Nationalismus, Ausländerrecht und Arbeitsmarkt, Ruinierung des Südens und Patriotismus des Nordens zusammengehören und sogar ganz ohne Plan systematisch zusammenwirken. Bloß: Ist im Sittenbild der G8-Kritiker das gemeint? Oder lautet die Botschaft doch wieder bloß: Wie ungerecht! – ?
„Die G8-Staaten sind verantwortlich für 90 % der weltweiten Waffenexporte und eine neue Ära von Rohstoffkriegen. Sie sind Vorreiter einer auf Krieg gestützten Weltordnung, die in vielen Ländern zu Flucht, Vertreibung, neuem Hass und Gewalt führt.“ (ebd.)
Am Ende also doch ein klares Wort: Die Welt, so wie die großen Mächte sie ein- und her- und zugerichtet haben, beruht auf und funktioniert nur mit kriegerischer Gewalt. Wer gegen Merkel & Co protestiert, soll wissen und kriegt mitgeteilt, womit er sich da anlegt: mit nichts Geringerem als einer kompletten auf Krieg gestützten Weltordnung
, einem ganzen System von Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt. Nur: Wenn dieser Befund wirklich so gemeint ist, wie verträgt er sich dann mit dem aufmunternden Versprechen:
„Dagegen wollen wir bei unserer Großdemonstration am 2. Juni 2007 in Rostock protestieren und die Alternativen dazu aufzeigen.“ (ebd.)
Alternativen aufzeigen – dazu?! „Aufzeigen“, dass „es“ auch anders geht – das klingt so, als wäre gar nicht weiter viel dabei, eine ganze mit Krieg verteidigte Weltordnung aus den Angeln zu heben und zu ersetzen; als wollten die Gipfelkritiker, noch bevor sie den gewalttätigen Zwängen der wirklichen Welt auf den Grund gekommen sind, sich anheischig machen zu zeigen, wie der ganze Laden, den man kennt, sich auch ohne Verelendung und kriegerisches Gemetzel managen ließe. Wer so denkt, nimmt allerdings alle Behauptungen über eine Weltordnung, die auf Krieg gestützt
ist und Ausbeutungsinteressen bedient, schlichtweg zurück – oder hat sie so ernst überhaupt nie gemeint.
Den meisten der kritisch eingestellten Leute, denen Heiligendamm eine Demonstration wert ist, mag die Frage, wie man sich das mit der Weltordnung zu denken hat, unwichtig vorkommen. Der schlichte Befund, dass der Globus für die Masse seiner Insassen ein eher ungemütlicher Wohnort ist, und die Vermutung, dass die Machthaber, wenn schon Chefs von Weltmächten, dann auch dafür verantwortlich sind – irgendwie –, mögen ihnen genügen für einen Protest – und tatsächlich braucht man über die Regularien des internationalen Kreditgeschäfts nicht im Einzelnen Bescheid zu wissen, um gegen das System Einspruch einzulegen, zu dem Schulden so gut wie Waffen gehören und enorme Gewinne ebenso wie massenhaftes Elend. Genau in der Frage aber: ob der Protest dem System des Welthandels gilt oder bloß einer vermuteten Ungerechtigkeit beim Geschäftemachen, ob man zu den Prinzipien des kapitalistischen Menschenverschleißes und Naturverbrauchs Nein! sagt oder bloß zu ein paar Übertreibungen, ob man in der Ordnung der Welt, wie sie ist, den Grund für Gewalt und Krieg erkennt oder ein Problemfeld, das für bessere „Lösungen“, solche ohne Waffengewalt offen ist: in der Frage geht es ums Ganze. Daran entscheidet sich nämlich, ob man der von der Dominanz der G8 geprägten Welt
ihre Grobheiten und Gemeinheiten als letztlich überflüssige Verfehlungen vorhalten, also ansonsten und im Prinzip sein Einverständnis bekunden will, oder ob man die Notwendigkeiten dieser Weltordnung im Sinn hat und denen jedes Verständnis aufkündigt. Es geht um die Entscheidung, ob man sich an der Vorstellung erbauen möchte, die Welt könnte ganz gut auch ohne ihre schlechten Seiten funktionieren, oder ob man sich klar macht, warum diese Welt über so eindrucksvoll schlechte Seiten verfügt, und in den Gründen die Mittel findet, ohne die dem ganzen Elend nicht wirklich beizukommen ist.
II.
Die Vereine, die zum Protest gegen den G8-Gipfel aufrufen, haben sich entschieden. Sie fordern eine „andere Welt“ – und das ist die, die es gibt, ohne ihre schlimmsten Begleiterscheinungen.
„Gemeinsam mit Millionen Menschen in aller Welt sagen wir: Eine andere Welt ist möglich! Für die sofortige Streichung illegitimer Schulden und eine faire Entschuldung der Länder des globalen Südens! ... Für gleiche soziale Rechte und Standards weltweit! Für die Überwindung von Mauern und Grenzen! Gegen Lager und Abschiebungen! Für eine friedliche Welt! Schluss mit der militärischen Durchsetzung wirtschaftlicher und machtpolitischer Interessen durch die G8-Staaten! Globalisierung im Interesse der Mehrheit der Menschen bedeutet faire Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, bedeutet Frieden, Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, Demokratie und Bewahrung der Lebensgrundlagen des Planeten für die nächsten Generationen.“ (ebd.)
Das haben die Kritiker des brutalen Weltgeschehens sich bis zum Überdruss anhören müssen, das haben sie satt und geben nichts mehr darauf: dass es zu der Politik, die die Mächtigen machen, keine Alternative gäbe; dass überall da, wo Staatsgewalt und Geldmacht zuschlagen und Opfer schaffen, ein Sachzwang vorläge, dem sich zu widersetzen ein ebenso hoffnungsloses wie unvernünftiges Unterfangen wäre. Dagegen setzen sie ihre Parole von der gar nicht so unrealistischen Möglichkeit einer „anderen Welt“ – und schenken sich im Namen dieser Losung gleich auch jede Befassung mit den wirklichen Gründen, aus denen die Welt so ist, wie sie ist; mit dem System realer Zwänge, an denen der Wunsch nach einer besseren Welt beständig scheitert und die von der herrschenden Ideologie als grundvernünftige Sachzwänge heilig gesprochen werden. So kennen die Gipfelgegner z.B. einen Unterschied zwischen Industrie- und Entwicklungsländern; aber von den Interessengegensätzen, die diesen Unterschied ausmachen und für so verheerende Wirkungen sorgen, wollen sie nichts weiter wissen; mit der Tugend der Fairness wäre schon alles ins Lot zu bringen. Sie wissen von Kreditverhältnissen zwischen den Nationen; aber von denen soll es nur die „fairen“ und „legitimen“ geben, als wäre nicht die ökonomische Herrschaft des Gläubigers über den Schuldner das Kernstück jeden Kreditrechts; und die großen staatlichen Gläubiger sollen ein Einsehen in ihr Unrecht haben und ihre „illegitimen“ Forderungen streichen – denen ihre Kreditmacht zu nehmen, davon ist nicht die Rede, so viel „Änderung“ wäre dann wohl doch nicht so leicht „möglich“. Die G8-Staaten sind Realität; an denen kommt kein Weltverbesserer vorbei; aber die sollen gefälligst damit aufhören, wirtschaftliche und machtpolitische Interessen militärisch durchzusetzen
– als wären die anders durchzusetzen, oder als könnten die G8 auf das Interesse an überlegener Wirtschaftskraft und Macht ganz gut verzichten, und als wären es dann immer noch die G8, wenn sie sich bei ihrer Weltherrschaft auf das beschränken, was sich zwanglos unter Freunden regeln lässt.
Freilich, bloß fromme Wünsche sollen die Beschwörungen einer „anderen Welt“, die die Protestbewegung den Weltmachthabern entgegenschleudert, durchaus nicht sein. Der Agenda des Gipfels von Heiligendamm haben dessen Kritiker vielmehr das Eingeständnis entnommen, dass die Mächtigen selber Riesenprobleme mit ihrer Weltordnung haben – und zwar genau die Probleme, die die verarmten Massen und deren globalisierungskritische Freunde und Anwälte mit dieser Ordnung haben und für die die „andere Welt“, deren „Möglichkeit aufgezeigt“ werden soll, die probate Lösung wäre. So wäre, was für eine glückliche Fügung, das wohlverstandene Eigeninteresse der G8 letztlich der Ansatzpunkt und die Gewähr dafür, dass eine Alternative zu der Politik, mit der sie die Welt verwüsten, wirklich „möglich“ ist.
So zum Beispiel in Sachen Klimawandel:
„Die Unfähigkeit der G8, zukunftsweisende Politik zu betreiben, ist auch im Energiesektor offenkundig. ... Wir wissen, dass der Hunger nach Energie zur treibenden Kraft der Geopolitik wird. Wird die Knappheit erst mal spürbar, spitzt sich der Konflikt um Energie zu. ... Die G8 ziehen aber nicht die offensichtlichste aller Schlussfolgerungen: Fossile Energien sind nicht die Lösung der Energiefrage, sondern verursachen erst die Probleme. ... All dies passiert, obwohl die Alternativen zum fossilen Pfad klar auf der Hand liegen. Nicht die verfehlte Politik der G8 brauchen wir, sondern eine massive Förderung erneuerbarer Energien. Sie sind umweltfreundlich, friedenspolitisch sinnvoll und wohlstandsfördernd. Sie schaffen Arbeitsplätze.“ (Attac, G8-Infoheft, November 2006)
Genau besehen – so lautet hier die gute Nachricht – sind es gar nicht die verabscheuungswürdigen wirtschafts- und machtpolitischen Interessen, mit denen die Weltmächte den Globus umwelt-, friedens- und arbeitsmarktpolitisch ins Verderben stürzen, sondern die gewählten falschen Mittel: Es sind die „fossilen Energien“, die „erst die Probleme machen“, an denen nicht etwa bloß die ohnmächtig Betroffenen leiden, sondern auch und vor allem, Kanzlerin Merkels Gipfelthema beweist es, die Mächtigen selber laborieren. Und erfreulicherweise liegt die machbare Alternative hier so „klar auf der Hand“, dass man sich vergeblich fragt, wieso die G8 an ihrer „verfehlten Politik“ eigentlich so zäh festhalten. Klar ist hingegen der Fehler, den die Pfadfinder der „erneuerbaren Energien“ machen: Über den wirklichen, nämlich standort- und weltordnungspolitischen Inhalt der nationalen Interessen, die die Großmächte unter dem Titel „Klimaschutz“ verfolgen, über die damit neu aufgemachten internationalen Konflikte ebenso wie über die daraus abgeleiteten innernationalen Verzichtsdiktate sehen sie einfach hinweg und glauben stattdessen noch die fadenscheinigsten offiziellen Ideologien zu Merkel-Gabriels neuer Energiepolitik von wegen umweltfreundlich, friedenspolitisch sinnvoll und wohlstandsfördernd
.
Noch wüster die Empfehlungen zur Lösung des Kriegs-„Problems“:
„Liegt die Lösung der Konflikte wirklich in militärischen Interventionen? ... Studien der Weltbank beweisen, dass auch neutrale oder multilaterale Interventionen die Konfliktdauer nicht verkürzen. Leider ziehen die reichen westlichen Staaten aus solchen Fakten nicht den Schluss, Militär als Instrument zur Herstellung von ‚Sicherheit und Ordnung‘ in ihrer Außen- und Innenpolitik kritisch zu hinterfragen, sondern verstärken ihre militärischen Aktivitäten. Ohne eine andere Wirtschafts- und Umweltpolitik in den reichen und mächtigen Staaten werden immer wieder Konflikte und Bürgerkriege ‚ausbrechen‘. Sinnvoller und effektiver als ‚Friedens‘-truppen zu finanzieren, ist die Bekämpfung der Armut.“ (ebd.)
Krieg – eine schlechte Konfliktlösungsstrategie? Armutsbekämpfung – der billigere Weg zum gleichen Ziel? Auf so eine einfühlsame Deutung militärischen Zuschlagens muss man auch erst einmal kommen. Haben diese Kriegskritiker nicht mitgekriegt, dass das einzige „Problem“, das Kriege „lösen“, die Existenz einer feindlichen Gewalt ist, die einer militärisch potenten Macht im Weg steht und nicht mehr hinnehmbar erscheint? Haben sie übersehen, dass es im Kriegsfall um schleunige „Konfliktlösung“ allein in dem Sinn geht, dass alles dafür getan wird, den Gegner möglichst blitzartig zur Kapitulation zu zwingen? Merken sie nicht, wie absurd es deswegen ist, Krieg an dem Kriterium der schonenden Beilegung von Streitigkeiten zu messen und als dafür untaugliches Instrument zu verwerfen? Haben sie ihren eigenen Vorwurf, mit Kriegen würden „machtpolitische Interessen durchgesetzt“, gleich wieder vergessen? Bestätigt fühlen diese Friedensfreunde sich auch noch durch die Autorität der Weltbank, wenn die in gelehrten Studien die politische Unrentabilität von Bomben und Granaten errechnet: Wollen sie sich deren zynisches Kalkül zueigen machen? Und finden sie wirklich nichts dabei, Armutsbekämpfung unter dem Gesichtspunkt zu empfehlen, dass damit Kriegsziele billiger zu erreichen wären? Klar, an die wirklichen Ziele wirklicher Kriege denken sie dabei nicht. Aber das ist gerade das Merkwürdige: Ausgerechnet beim Kritisieren nehmen die Gipfelkritiker es mit der Realität nicht so genau; statt dessen übernehmen sie alle schönfärberischen Sprachregelungen von wegen „Frieden schaffen“ und „Konflikte lösen“, mit denen zivile demokratische Befehlshaber ihre Feldzüge zu bewerben pflegen, und nehmen sie für bare Münze, um die kriegerische Realität an solchen fiktiven Zielen zu blamieren. Dabei gelingt ihnen diese Blamage, nebenbei gesagt, nur mit Hilfe eines gezielten Missverständnisses: Das normale patriotisch politisierte Publikum versteht das Gerede seiner Führer vom Frieden als Kriegszweck allemal so, wie es gemeint ist, nämlich als Ankündigung, den Feind niederzumachen, der sich dem Frieden widersetzt, den er halten soll... So parteiisch denken die Gipfelkritiker nicht – sie üben eine ganz eigene Art einseitiger kritischer Solidarität mit ihren Kriegsherren, indem sie an deren Sorgen um die Weltordnung, nämlich um die Unterordnung der restlichen Staatenwelt, ihre Sorge um eine gewaltfrei geordnete Welt herantragen: Die eigene idealistische Problemsicht unterstellen sie als das große Weltproblem, an dessen Lösung die Verantwortlichen sich mit dem untauglichen Mittel des Krieges zu schaffen machen, logischerweise vergeblich; auf der fiktiven Basis eröffnen sie – notfalls auch bloß mit sich selbst – einen kritischen Dialog über bessere Methoden; „aufzeigen“ wollen sie allen Ernstes, dass ihre „andere Welt“, von der die Machthaber immerzu nichts wissen wollen, die wahre und einzig tragfähige oder jedenfalls billigste, aber böswillig oder aus Dummheit verschmähte Lösung auch und gerade für die Drangsale der Großen und Mächtigen selber wäre.
Nach diesem Muster arbeiten sich die G8-Kritiker durch die gesamte Agenda der Heiligendamm-Veranstaltung durch.
- Wenn Kanzlerin Merkel ‚Afrika‘ auf die Tagesordnung setzt, dann geht es da um das Ordnungsproblem, das mindestens 6 bis 7 der G8 mit gewissen Konsequenzen ihrer eigenen Afrika-Politik haben: Der Kontinent gerät zusehends zu einer Ansammlung von „failing“ resp. „failed states“, Ländern ohne brauchbares Gewaltmonopol, das fähig und willens wäre, der globalen Geschäftswelt ein sicheres Betätigungsfeld zu bieten und die strategischen Ordnungsdienste zu versehen, die die „1. Welt“ von der „3.“ und „4.“ erwartet. Dass in dem Zusammenhang Hunger, Armut, Aids und Bürgerkriege zum Thema werden, nämlich als Hindernisse für das Bedürfnis der Weltmächte nach Beherrschung der Lage, ist für die Gipfelgegner keine schlechte, sondern eine gute Nachricht. Sie lesen ihre philanthropische Besorgnis ums Überleben der Leute – vor allem, so sortiert halt das philanthropische Gemüt, von Frauen und Kindern – in die Probleme hinein, die die USA und die EU mit den unzuverlässigen eigenen politischen Kreaturen und solchen der unerwünschten Konkurrenz aus China haben, mit verkommenen oder von den Falschen ausgebeuteten Rohstoffquellen und mit potentiellen Schlupfwinkeln für antiwestliche Terroristen. Sie freuen sich über ein Problembewusstsein bei Merkel & Co, von dessen Inhalt sie nichts wissen wollen, weil sie ihr eigenes darin wiederfinden möchten. Sie wissen und empfehlen und erwarten von dem Gipfeltreffen gute Taten, mit denen – wenn man von allen sonstigen Existenzbedingungen abstrahiert – das Leben der Opfer der aktuellen Weltordnung in Afrika hie und da zu verbessern wäre; sie verweigern den Regierenden von Washington bis Berlin jegliches Verständnis dafür, dass die in solchen Wohltaten noch immer nicht den Königsweg zur Bewältigung ihrer eigenen Ordnungsprobleme in und mit Afrika erkannt haben. Wenn dann tatsächlich die eine oder andere humanitäre Maßnahme den Zuständigen als Beitrag zur Stabilisierung brauchbarer Herrschaftsverhältnisse in einem Land einleuchtet und womöglich im Abschluss-Communiqué ehrenvolle Erwägung findet, erschrecken die protestierenden Freunde Afrikas nicht über den Dual Use ihrer Weltverbesserungsideen und über den Zynismus, mit dem da auch noch ein bisschen Fürsorge für Aids-Kranke für den Konkurrenzkampf der Imperialisten um die Kontrolle dieser ruinierten Weltgegend funktionalisiert wird: Sie meinen, sie hätten mit Erfolg dem Good Will eine Bresche geschlagen!
- Wenn der Gipfel über Probleme der ‚Migration‘ verhandelt, dann widmen sich die deutsche Bundeskanzlerin und ihre westlichen Kollegen einer anderen unerwünschten Nebenwirkung ihrer Weltherrschaft: der Flucht einer tatkräftigen Minderheit aus ihren desolaten Lebensverhältnissen. Das Problem der Regierenden besteht darin, eine striktere Abwehr der Flüchtenden, auch mit militärischen Mitteln, mit der Befriedigung der unverschämten Ansprüche heimischer Arbeitgeber auf exotische Billigst-Arbeitskräfte in Übereinstimmung zu bringen. Die Gemeinheit, sich dafür auf das offensichtliche, öffentlich besichtigte Elend der Elendsflüchtlinge zu berufen und deren Verhaftung, Sortierung und massenhaften Rücktransport ins Elend ihrer Herkunftsländer als humanitäre Großtat und Kampf gegen verbrecherische Menschenhändler zu verkaufen, geht der Dame und den Herren in Heiligendamm leicht von der Hand – und freut die Gipfelgegner. Die verbuchen den Erfolg, dass das Elend der Opfer bei den Verursachern des Elends immerhin schon mal „angekommen“ ist; sie sehen Ansätze dafür, dass die Politik auf das humanitäre Problem aufmerksam wird, das sich ihnen an der Stelle aufdrängt; sie setzen darauf, dass die Erbauer von Mauern und Grenzzäunen letztlich nicht umhin können, sich im Sinne einer besseren Lösung, einer ohne Zäune und Stacheldraht, um „das Flüchtlingsproblem“ zu kümmern.
- Wenn Frau Merkel eine Initiative zur
sozialen Dimension der Globalisierung
ankündigt, fällt der internationalen Solidaritätsbewegung nur Zustimmung ein: Sie fordertweltweit gleiche soziale Rechte
und das sofort; das wäre die wahreGlobalisierung von unten
. Dass derartige Rechte nur dort vonnöten sind, wo die soziale Deklassierung der Masse der Bevölkerung ihren Gang geht und der gesellschaftliche Normalfall bleibt, kommt der Bewegung nicht in den Sinn; schon gar nicht, dass solche Rechte nur dazu da sind, die Sortierung der Gesellschaft geordnet abzuwickeln, also zu verewigen. Wenn Deutschlands Kanzlerin das Thema unter dem TagesordnungspunktInvestitionsfreiheit in Industrie- und Schwellenländern
einordnet, dann könnte den Befürwortern „weltweit gleicher sozialer Rechte“ dennoch auffallen, wofür dieser Titel in der internationalen Politik wirklich steht: für die Dauerbeschwerde der großen Weltwirtschaftsmächte über unliebsame, als unfair inkriminierte Konkurrenzpraktiken aufstrebender Nationen mit viel billigem Menschenmaterial; für die Sorge der Chefs der Kapitalstandorte mit den technologisch fortschrittlichsten Arbeitsplätzen, also einer Ausbeutung mittels höchstgezüchteter Produktivkräfte, die extensive Ausbeutung rechtloser Proletarier anderswo könnte ihre Überlegenheit auf den Weltmärkten relativieren; jedenfalls überhaupt nicht für den Beschluss, der Weltbevölkerung materiell etwas Gutes zu tun. Den Freunden der „3. Welt“ fällt das aber entweder gar nicht auf, oder sie machen sich einen sehr affirmativen Vers darauf: Hier würden die Probleme der Armen dieser Welt mit ihrer sozialen Rechtlosigkeit und die der kapitalistischen Weltwirtschaftsmächte mit den Lebensbedingungen, die gewisse „Schwellenländer“ ihren Massen zumuten, glücklich zusammenfallen... Dabei steht klar und deutlich die Drangsalierung konkurrierender Nationen auf dem G8-Programm, also das genaue Gegenteil einer globalen Sozialpolitik, wie die Kritiker sie sich wahrscheinlich vorstellen. Und dass das hoheitliche Plädoyer für weltweite Rechtsangleichung ganz nebenher für die Insassen der kapitalistisch fortgeschritteneren Standorte eine Angleichung ihres Lebensniveaus nach unten ankündigt – noch ein bisschen mehr „3. Welt“ in den Metropolen ... –, ist auch kein Geheimnis.
Und so weiter. Was auch immer die Gipfelgegner an der Welt und an der Politik der G8 auszusetzen haben, stets kritisieren sie so, als wären die Sorgen und Nöte der Opfer der Weltordnung letztlich dieselben wie die Probleme der Macher oder wenigstens im Endeffekt deckungsgleich damit. Wenn sie den Machthabern den Vorwurf machen, sie wären die Verursacher der Weltprobleme, dann denken sie immer einerseits an ihre Betroffenheit und die andererseits immer so, als wäre genau die der wirkliche politische Inhalt der Weltlage, an der deren Urheber sich abarbeiten – und scheitern, weil sie die verkehrten Mittel anwenden, die Lage verschlimmern statt verbessern, gewissermaßen sich selber immerzu ins Knie schießen. Die „andere Welt“, die sie sich wünschen, ist zusammengesetzt aus Idealen der wirklichen Welt, nämlich den beliebtesten Phrasen der politischen Moral, einem Bild der realen Verhältnisse ohne deren „Schattenseiten“, und der Vorstellung, die Abstraktion von allem Übel, die sie in ihrer Einbildung vornehmen, wäre deswegen „möglich“, weil darin und nur darin die Lösung für alle großen Weltprobleme läge, vor denen die Staatenwelt steht. Die Realität selbst, die schlechte, verlangt gewissermaßen nach ihrer Alternative – und nicht nur das: Aus Sicht einer Mehrheit von Gipfelkritikern ist sie in vieler Hinsicht und auf etlichen Gebieten schon so ideal, wie sie es insgesamt, im Weltmaßstab noch werden soll. Zumindest war es neulich noch so, wenn man nämlich mit dem richtigen demokratieidealistischen Blick das goldene Zeitalter vor der heutigen Phase der Globalisierung betrachtet:
„Untrennbar mit dem Territorialprinzip des Nationalstaates ist auch die parlamentarische Demokratie verbunden. Der Souverän der Demokratie ist der Staatsbürger. ... Im Zug der Globalisierung findet eine Verlagerung ökonomischer Prozesse und Strukturen aus dem Rahmen des Nationalstaats statt sowie deren Übergang in den transnationalen Raum. Die Identität zwischen Wahlbürgern und jenen, die die politischen Entscheidungen fällen, löst sich zunehmend auf. ... Solange das Wirtschaften im Wesentlichen innerhalb des Nationalstaats stattfand, unterlagen ökonomische Prozesse in erster Linie nationalstaatlicher Regulierung. Im Ergebnis langer Kämpfe ... gelang es, den ungezügelten Manchesterkapitalismus ... zumindest in den Industrieländern zu zivilisieren. Für die globalisierte Wirtschaft existiert ein solcher Ordnungsrahmen nicht.“ (Infoheft...)
Da liegt also die Lösung; das ist das Prinzip der „anderen Welt“: Die Staatsgewalt ist gefragt, zu guten Taten herausgefordert so wie damals, wann immer das gewesen sein mag, als die Nationen noch nichts vom Weltmarkt wussten und mit der Zähmung des Manchester-Kapitalismus beschäftigt waren. Und wenn ein Zurück schon nicht mehr möglich ist, dann müssen standhafte Staatenlenker sich unter den neuen Bedingungen der Globalisierung auf ihre Zivilgesellschaft besinnen, Erpressungsversuche der Kapitalisten in die Schranken weisen und eine echte Weltregierung nach dem Vorbild des nationalbürgerlichen Gemeinwesens fabrizieren, in dem rückblickend kein Globalisierungskritiker noch irgendetwas von Verarmung, Naturzerstörung oder gar Klassengesellschaft entdecken kann... Idealistisch bis zur schlichten Realitätsblindheit, dabei ganz auf den Nachweis der Realitätstüchtigkeit ihrer „anderen Welt“ erpicht, bekennen die Gipfelkritiker sich als Anwälte souveräner staatlicher Gewalt, präsentieren sich als Ratgeber für ein großes Gemeinschaftsunternehmen von Herrschern und Völkern für das schöne Ziel, aus der Welt – wie der US-Präsident so nett zu sagen weiß – „a better place“ zu machen. Die versammelten Führer der globalisierten Welt werden nur schlecht gemacht, um gutes Regieren von ihnen zu verlangen: Protest gegen als kämpferische Grußadresse an die Zuständigen.
III.
Freilich, in einem Punkt lassen die G8-Gegner sich gar nichts vormachen: Die Figuren, die sich aktuell an der Ostsee zu ihrem Jahrestreffen versammeln, sind Heuchler, das steht fest.
„Die GipfelteilnehmerInnen repräsentieren die acht mächtigsten Staaten der Welt, die daran teilhaben, die globalen Probleme erst zu produzieren, für die sie dann vermeintliche Lösungen beschließen. Sie sprechen von ‚Global Governance‘ und ‚humanitärer Intervention‘, ‚Stärkung der Zivilgesellschaft‘ und ‚friedensbildenden Maßnahmen‘, doch in Wirklichkeit nutzen sie gnadenlos das Recht der Stärksten, um eine Weltordnung zu schaffen, die ihrem Machterhalt und kapitalistischen Profitinteressen dient.“ (G8 blockieren, Kriege verhindern! Aufruf zum Aktionstag am 5.6.2007 in Rostock-Laage)
Wer so redet und das wirklich ernst meint, der macht sich keine Illusionen mehr; weder über die Ordnung, die die Weltmächte schaffen – sie hat mit dem Ideal einer schiedlich-friedlichen Weltverwaltung nichts zu tun –, noch über die Phrasen, die die Urheber der brutalen Realität im Munde führen – die künden von nichts als dem unverschämt guten Gewissen der Machthaber und verkünden deren Anspruch, für ihre Taten auch noch gelobt zu werden. Doch genau den simplen Schluss zieht die Protestbewegung nicht, weder den auf die Realität noch einen auf die dazugehörigen Idealismen. Stattdessen scheiden sich ausgerechnet hier die Geister – an einer vollends verkehrten Alternative.
Die gemäßigte Mehrheit, die inzwischen so kritische Geister wie den einstigen CDU-Generalsekretär Geißler zu den Ihren zählt, interpretiert die berechnende Verlogenheit der Politiker als politische Chance, mit Protest Wirkung zu erzielen. Den selbstgerechten Sprachregelungen legt man mit Hilfe eines lateinischen Fachausdrucks eine enorme praktische Bedeutung bei: Wenn die Machthaber sich mit den handelsüblichen Phrasen rhetorisch ins Recht setzen, dann wäre das ein Legitimationsverfahren; die Legitimität ihrer Macht hinge davon ab, dass man ihnen ihre Sprüche glaubt, und letztlich ihre Macht selber. Daher kämen sie nicht darum herum, nach den Sprachregelungen, die sie benutzen, auch zu handeln, wenn man ihnen nur nachdrücklich und konsequent genug den Spiegel vorhält und die versprochene Problemlösung einklagt. Nun lehrt schon die Erfahrung, dass für demokratische Politiker mit ihren „Spin Doctors“ wenig dazu gehört, ihre Politik so zu interpretieren, dass Taten und Moral ganz gut zusammenpassen; zumal das normale Publikum es mit dem Verhältnis zwischen Berechnung und Schönfärberei erstens überhaupt nicht so genau nimmt und zweitens schon gleich nicht bei Politikern, von denen es sowieso mehr Machtentfaltung als praktizierten Idealismus erwartet. Zumindest den aktiv und vor allem den passiv wahlberechtigten Mitgliedern der Bewegung kann diese Erfahrung auch unmöglich fremd sein. Für die Zwecke ihres Protests jedoch und zugunsten ihrer Vorstellung, mit ihren Mahnungen auf die Inhaber der Staatsmacht Eindruck zu machen, tun sie so, als wären die Regierenden einer ständigen Überprüfung der Glaubwürdigkeit ihrer Bekenntnisse zu den Idealen einer heilen Welt ausgesetzt, und als stünde damit nicht bloß ein schöner Schein, sondern – irgendwie – auch ihre Macht auf dem Spiel. Ob die Wortführer dieses Teils der Bewegung selber im Ernst an diese Legitimations-Ideologie glauben, ist schwer zu sagen; auf jeden Fall geben sie sich einige Mühe und scheuen keine Widersprüche, um sie glaubhaft zu machen. In einem Beitrag des Geschäftsführers des „Forum Umwelt und Entwicklung“ für die Frankfurter Rundschau z.B. liest sich das exemplarisch so:
„Politische Legitimitätsdefizite weisen heute fast alle politischen Strukturen auf: Umweltorganisationen genießen in der Öffentlichkeit ein weitaus höheres Ansehen als Parteien, Parlamente und Regierungen. Dennoch kommen wir nicht an den Parlamenten und Regierungen vorbei, wenn wir politische Fortschritte durchsetzen wollen. Es ist immer wieder aufs Neue mühsam, zunächst rhetorische Zugeständnisse zu fordern, sie zu erreichen und dann auch ihre Umsetzung durchzusetzen. Aber anders funktionieren demokratische Politikprozesse nun mal nicht.“ (Wer nichts fordert, erreicht auch nichts, FR, 19.5.2007)
Weshalb man als angesehener, glaubwürdiger Weltverbesserungsverein „an den Parlamenten und Regierungen nicht vorbei kommt“, obwohl die ihre Legitimität ins Defizit gewirtschaftet haben: Die Frage hätte noch ein letztes Mal den Blick darauf lenken können, worauf die Macht der politischen Herrschaftsinstanzen tatsächlich beruht – jedenfalls nicht auf dem Schein eines weltverbessernden Good Will, wie das Publikum ihn einer namhaften NGO zubilligt, die mit Prominenz und frechen Aktionen auf sich aufmerksam zu machen versteht oder moralische Autoritäten wie die Kirche hinter sich hat. Herrschaft, auch und gerade eine demokratische, hat handfestere Grundlagen: in dem Gewaltmonopol, dem sie ihre Gesellschaft unterwirft; in dem Rechtssystem, auf das sie ihre Leute festlegt; in den produktiven Abhängigkeitsverhältnissen, die sie stiftet und betreut und deren geldförmiges Ergebnis sie wiederum als ihr universelles Machtmittel benutzt... Von solchen Banalitäten sieht man allerdings tatsächlich besser ab, wenn man darauf aus ist, die Macht der Phrase zu beweisen, weil man dumme Sprüche als Waffe nutzen will. Dann sagt man vielmehr der Demokratie als Vorteil nach, in ihr führte Heuchelei zur Macht – nicht nur dazu, was ja stimmen mag, dass einer in Partei und Parlamenten Karriere macht, sondern auch zur Definition ernsthafter Staatsaufgaben. Das gibt jedenfalls Hoffnung:
„Sie delegitimieren sich in den Augen der Öffentlichkeit, wenn sie die Probleme nicht gelöst bekommen, die sie zu lösen beanspruchen. Für Umwelt- und Entwicklungsorganisationen ist dies der Hebel, politisch im Sinne unserer Forderungen und Ziele voranzukommen.“
Nimmt man in diesem Sinne den Schein für die eigentlich treibende Kraft in der Welt der Politik und ignoriert alle politischen Berechnungen, die sich bedarfsweise passender Idealisierungen bedienen, dann ist auf einmal die Welt voller rührender Erfolgsgeschichten, und sogar die Initiative der Europäer für eine Energiepolitik, die darauf abzielt, Abhängigkeits- und Machtverhältnisse international aufzumischen, entpuppt sich als gelungener Umschlag von rhetorischer Quantität in eine neue moralische Qualität:
„Ohne den jahrelangen, beharrlichen Einsatz von Umweltorganisationen hätten wir heute weder das Kyoto-Protokoll noch seine Umsetzungsschritte auf Bundes- und Europaebene. Kraftwerksbetreiber könnten heute noch unbegrenzt CO2 in die Luft blasen, niemand würde über Emissionsgrenzwerte für Autos diskutieren. Alles das sind unzureichende Anfänge, aber immer noch weit besser als gar nichts. Die scheinbar allmächtige fossile Lobby ist in die Defensive geraten. Sie ist in jeder denkbaren Hinsicht delegitimiert.“
Wenn das Letzte stimmt, dann hätten die Theoretiker der demokratischen Politikbeeinflussung einen schönen praktischen Beleg dafür geliefert, wie wenig sich durch die Delegitimierung mächtiger Interessen tatsächlich ändert. Aber sei’s drum. Auf jeden Fall kriegt die Mehrheitsfraktion der G8-Kritiker so den Übergang hin von demonstrativer Illusionslosigkeit, was den guten Willen der amtierenden Weltpolitiker betrifft, zu einem Realismus, der die Zuständigkeiten für die Gestaltung des Globus und die Verwirklichung der Möglichkeit einer „anderen Welt“ voll und ganz dort belässt, wo sie sind und nach demokratischer Sitte auch hingehören: bei der Obrigkeit. Man gefällt sich in dem Schein politischer Wirksamkeit eines Protests, der darauf angelegt ist, die Mächtigen zu betören. Und es kommt, wie es kommen muss: Die Protestler finden Gehör – bei den Politikern, die momentan nicht für die Vollstreckung der Staatsräson zuständig sind, sondern als parlamentarische Opposition den demokratischen Beruf haben, die Glaubwürdigkeit der aktuell Regierenden anzuzweifeln. Die verstehen den Antrag auf eine bessere Welt als Einladung, sich als die bessere Regierungsmannschaft ins Spiel zu bringen und aus dem Protest eine Wahlempfehlung für sich herauszudestillieren – und liegen damit nicht einmal falsch: Wo eine alternative Politik verlangt wird, da ist der Wunsch nach alternativen Führern lebendig. Die sind jedenfalls prompt zur Stelle. Und sogar manche amtierende Figur ist cool genug, sich bei denjenigen Demonstranten, die sich als Echo offizieller Sprachregelungen betätigen, für eine so schöne Unterstützung zu bedanken...
Eine entschiedene Gegenposition beziehen die Propagandisten der „kleinen Schritte“ mit ihrer Ideologie der demokratischen Einflussnahme per Appell gegen den radikalen Flügel der Bewegung. Der findet es verkehrt, mit Forderungen für eine andere Politik an die G8 heran
zu treten und diese absichtlich nur wenig radikal
zu gestalten,
„weil sie sonst von den Regierenden nicht gehört würden“ (Die Bundeskoordination Internationalismus (Buko), ein „Zusammenschluss von knapp 150 internationalistischen Gruppen“, ebenfalls in der Frankfurter Rundschau: Mehr als ein Gipfelsturm, FR, 19.5.2007).
NGOs, die so verfahren, tragen nach Ansicht dieser Gruppen
„dazu bei, die G8 als Adressatin zu legitimieren, und ermöglichen zudem den Anschein des kritischen Dialogs mit der Zivilgesellschaft“.
Dass jemand, der die Regierenden zu einer besseren Politik auffordert, deren Zuständigkeit anerkennt, sich also gegen eine Absage an die herrschenden Verhältnisse und deren Macher entschieden hat, das zumindest ist den Buko-Leuten klar; das halten sie für falsch – wenngleich dann doch nicht so grundsätzlich, wie ihre Absage an die Herrschenden als Adressaten es eigentlich nahelegt; da sind sie schon ein bisschen kompromissbereit:
„So wichtig es ist, in bestimmten Fragen Lobbying zu betreiben, so verengt es den Blick dafür, dass notwendige Veränderungen breiter ansetzen müssen.“
Für diesen ‚breiten Ansatz‘ treten sie jedenfalls ein; und der geht so:
„Weite Teile der G8-Mobilisierung richten sich deshalb im Kern gegen die Anmaßung der Regierungen, die vorgeben, die Probleme der Welt zu lösen, die sie selbst maßgeblich mit verursachen. Weder können sie die Probleme lösen, noch wollen sie es. Daher halten wir einen politischen Ansatz für falsch, der mit guten Argumenten die Regierungen zu besserem Handeln bewegen möchte. Das ist naiv. Die Klima- und Energiepolitik lehrt, dass die Regierungen das bestehende, Ressourcen fressende Produktions- und Konsummodell nicht in Frage stellen.“
Warum sollten sie auch – möchte man fragen: Für die Großmächte der Weltwirtschaft handelt es sich bei dem System des kapitalistischen Wachstums, das sie weltweit flächendeckend durchgesetzt haben, gar nicht um ein „Modell“, das man „in Frage stellen“ und im Zuge eines bisweilen fälligen Modellwechsels auch mal beiseite legen könnte, wenn sich eine unter ganz sachfremden Gesichtspunkten „besser“ erscheinende – z.B. Ressourcen schonende – Alternative anbietet. Diese Mächte stehen total offensiv dafür ein, dass die Staatenwelt sich auf kapitalistisches Wachstum als ihre materielle Grundlage und entsprechend unverzichtbaren Teil ihrer Staatsräson festlegt. Und wenn die „Klima- und Energiepolitik“ der Führungsnationen etwas „lehrt“, dann sind das ein paar Wahrheiten darüber, wann und inwiefern diese Mächte mit dem Großverbrauch natürlicher Reichtumsquellen durch ihre heimische Wirtschaft ein Problem kriegen – nämlich wenn die Kosten der Beschaffung und Sicherung von Nachschub die nationalen Wachstumsziffern belasten –, was für ein Problem sie dann kriegen – nämlich Konkurrenzprobleme erstens mit ihresgleichen, zweitens mit den Lieferanten –, wie die ihr Problem angehen – sehr zugreifend und fest entschlossen, anderen Nationen verbindliche Beschränkungen aufs Auge zu drücken –; am Ende auch noch, dass das Weltklima für sie vielleicht wirklich ein ernsthaftes Schadens-, also Kostenproblem, vor allem aber ein Argument zur politischen Bevormundung anderer Souveräne ist. Die radikalen G8-Kritiker freilich scheinen ernsthaft die Frage zu wälzen, warum die für alles zuständigen Regierungen den Modellwechsel nicht vollziehen, der ihrer Ansicht nach ansteht und jedermann als fällig einleuchten müsste. Jedenfalls geben sie darauf, andeutungsweise, eine Antwort, die so verkehrt ist wie die Frage:
„Eine andere Klimapolitik würde heißen, sich hierzulande massiv mit der Industrie anzulegen – und mit dem Konsumverhalten einer großen Anzahl von Wählern.“
Aus Schwäche, aus Opportunismus, aus wahltaktischer Berechnung, womöglich erpresst durch die Macht der Industrie, mit populistischem Blick auf eine konsumsüchtige Bevölkerung unterlassen die Verantwortlichen das Notwendige: In der Diagnose sind die Radikalen sich mit dem Mainstream der Protestbewegung tatsächlich einig. Radikaler sind sie insofern, als sie ihren „Blick“ nicht auf die Regierenden „verengen“, sondern, „breiter ansetzend“, auf die gesellschaftlichen Kräfte richten, die denen den Willen zum eigentlich notwendigen Wechsel des Gesellschafts-„Modells“ abkaufen:
„Es bedarf nicht nur eines Politikwechsels, sondern der Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse.“
Die Privatmacht des Industriekapitals ist zu groß, das Konsumverhalten der Massen unverantwortlich; diese „gesellschaftlichen Machtverhältnisse“ sind zu ändern; und dafür fällt den Radikalen schon wieder der Kunstgriff der „Delegitimierung“ ein. Von dem verspricht man sich zwar keinen direkten Effekt auf die Machthaber, dafür irgendwie weiterreichende Wirkungen; vor allem auf die „Menschen“, denen man in ihrer Eigenschaft als wahlberechtigte Konsumenten soeben noch das Misstrauen ausgesprochen hat:
„Ein Teil dieser Veränderung ist die Delegitimierung der herrschenden Politik – insbesondere der G8. Wenn die Botschaft in einer breiteren Öffentlichkeit ankommt, dass die Regierungen der G8 nicht Verbündete sind, sondern Teil des Problems, dann wirkt das für viele Menschen politisierend und öffnet Räume für eine andere Politik – mittelfristig auch für eine andere staatliche Politik.“
Insoweit bleibt der Veränderungswille also konsequent im Rahmen: Die Staatsmacht soll und muss es richten, letztendlich; ihr bleibt ja im Endeffekt ohnehin keine andere Wahl – angesichts der enormen Probleme in der Welt
...
*
In äußerst konstruktiver Absicht also kämpft die Protestbewegung, und zwar in allen ihren Abteilungen, um die Delegitimierung der Regierungen, die sich in Heiligendamm treffen. Und für dieses wichtige Anliegen fällt ihr, neben dem Vorwurf des willentlichen Versagens vor den selbstgeschaffenen Weltproblemen, noch ein anderes Argument ein, das sie offenbar für einen ganz besonderen Hammer hält, weil damit das Gipfeltreffen als solches in die Grauzone der Illegitimität rückt:
„Die Gruppe der 8 ist eine Institution ohne Legitimation. Dennoch trifft sie als selbsternannte informelle Weltregierung Entscheidungen, die die gesamte Menschheit betreffen.“ (G8 blockieren...)
Auch darauf muss man erst einmal kommen: Da treffen sich die Chefs der mächtigsten Nationen, die eine ganze Weltordnung bestimmen; die fühlen sich nicht bloß für die Gewaltverhältnisse und das Geschäftsleben auf dem gesamten Globus verantwortlich, sondern praktizieren ihre Zuständigkeit mit aller nötigen Gewalt; wenn jemand sie an der Entfaltung ihrer Zugriffs- und Kontrollmacht hindert, dann sind das am ehesten noch sie selbst in ihrer immerwährenden Konkurrenz um Führungsmacht und Reichtumsquellen – und die Protestbewegung schmettert ihnen das Verdikt entgegen: Das hat denen niemand erlaubt! Wer, bitte schön, außer ihnen selbst, hätte sie denn legitimieren sollen? Wer verteilt die formelle Lizenz für Imperialismus? Die Opfer vielleicht? Oder die UNO – also die Organisation, die von den wichtigsten der G8 selber gegründet worden ist, damals schon in der Absicht, den Globus ein Stück weit unter Kontrolle zu kriegen, und in der die Großen nach wie vor in letzter Instanz das Sagen haben? Und dass die auf so eine Lizenz nicht gewartet haben: Das soll ein Einspruch sein gegen die Zustände, die „die gesamte Menschheit“ der Tatkraft der G8, der Gewalt ihrer Waffen und der Macht ihres Geldes, dem kapitalistischen Weltgeschäft und dessen wenigen großen und vielen kleinen politischen Betreuern und Nutznießern zu verdanken hat? Statt eine Legitimation zu vermissen, hätten die Vordenker des Protests sich besser einmal gefragt, woher die G8 ihre Macht zu Entscheidungen haben, „die die gesamte Menschheit betreffen“. Vielleicht hätten sie dann sogar bemerkt, dass diese Menschheit – und die Protestbewegten selber auch, noch bevor sie ihren Häuptlingen ein kritisches „not in our name“ zurufen können – nicht als missachtete Legitimationsinstanz, sondern als handfest benutzte materielle Basis eingebaut ist in den Imperialismus ihrer Nationen. Gerade für die Länder, in denen die Wortführer der Protestbewegung zu Hause sind, gilt: Es ist der funktionierende Kapitalismus daheim – die private Macht des Kapitals, der tägliche Lebenskampf ums Geld, der den Bürgern verordnet wird –, der der Staatsmacht die Mittel einspielt, mit denen sie die Welt ihrem Nationalinteresse an Wirtschaftswachstum gefügig macht. Es sind die verkehrten Berechnungen der Staatsbürger, die sich diesen Zwängen anpassen, darin ihr Auskommen suchen und sich noch in der größten Unzufriedenheit auf die staatliche Politik als Instanz zur Lösung aller Probleme beziehen, was es den Regierenden so leicht macht, ihre Völker als Manövriermasse zu benutzen, als verlässliche Grundlage auch für ihre weltpolitische Handlungsfreiheit.
Aber danach, warum die wirkliche Welt so ist, wie sie ist, fragt die Protestbewegung ein für allemal nicht. Sie will von der Realität nichts anderes wissen, als dass sie ihren Idealen – denen nämlich, die in der Welt des demokratischen Imperialismus als Billigware zirkulieren und den Kritikern als Messlatte fürs Delegitimieren dienen – nicht entspricht. Und mit diesem Fehler folgen sie einer altehrwürdigen staatsbürgerlichen Tradition. Denn mit einem Protest, der sich auf allgemein akzeptierte idealistische Phrasen stützt, sind die Gipfelgegner in der für sie offenbar entscheidenden Hinsicht auf der sicheren Seite: Was sie an den Taten ihren hohen Herrschaften auszusetzen haben, ist durch deren Worte gedeckt; mit der Berufung auf den Wertehimmel der abendländischen Demokratie verschaffen sie sich ihre Glaubwürdigkeit. Ob sie es mit ihren Plädoyers schaffen, die Herrschenden ins Unrecht zu setzen, ist eine Sache – und in Wahrheit noch nicht einmal zweifelhaft; eher profitieren die Machthaber davon, dass man sie an höchsten Werten misst, so als wäre deren Verwirklichung der wahre und eigentliche Auftrag ihrer Gewalt. Eine andere Sache ist es, dass die Protestbewegung mit dieser Art von Kritik alles tut, um sich ins Recht zu setzen. Die Titel, mit deren Beschwörung sie die herrschenden Figuren und „Strukturen“ delegitimieren möchte, haben vor allem den tieferen Sinn, ihre Einwände zu legitimieren. Protestieren ist gerechtfertigt – das ist die Botschaft, auf die es den Gipfelgegnern entscheidend ankommt.
IV.
Damit stößt die Bewegung allerdings auf eine Staatsmacht, die ihren Kritikern mit aller Gewalt die umgekehrte Rechnung aufmacht. Sie definiert die Grenzen der Legitimität von Kritik und Protest. Und das tut sie genau so und in genau der Reihenfolge, wie es sich in einem und für einen demokratischen Rechtsstaat gehört, nämlich so, dass es wirklich durchschlagend Wirkung zeigt: Erst kommt die Gewalt, dann die Wertedebatte, die gar nicht mehr anders als passend ausfallen kann. Zuerst setzt der Gewaltmonopolist seine sicherheitspolitischen Fakten: baut einen Zaun, erteilt Auflagen für Demonstrationen, schafft No-go-Areas für Protestierer, geht im Vorfeld gegen potentielle Störer vor, und zwar gleich mit dem dicken Prügel des Terrorismus-Verdachts, mobilisiert Tausende von Polizisten, lässt eine Hundestaffel scharf machen usw. Mit all dem beschäftigt die Regierung ausgiebig eine freie Öffentlichkeit, die die Sicherheitsproblematik äußerst interessant findet, viel interessanter jedenfalls als die großen Weltprobleme der G8-Gegner und auch als die Agenda des Gipfels selber. Intensiv wird problematisiert, ob die Schutzvorkehrungen zu weit gehen oder zu wünschen übrig lassen, was sie kosten und wen sie stören, ob man damit einer „gewaltbereiten Minderheit“ Herr wird und wie böse die wirklich ist. So wird der Protest komplett unter das Überwachungsproblem subsumiert, das die bundesdeutsche Staatssicherheit damit hat. Das ist die solide Prämisse für die „geistige Auseinandersetzung“, die sich dann zwischen der Staatsgewalt in allen ihren Abteilungen, insbesondere in Gestalt der freischaffenden „4. Gewalt“, und der Protestbewegung entfaltet. Die hat und kreist um genau 1 Thema: Wie halten die Gipfelgegner es mit der Gewalt? Sind sie brav und friedlich? Dann geht ihr Protest in Ordnung; und nicht nur das: Dass er friedlich und ordentlich vonstatten geht, ist auch schon die ganze Botschaft, die überhaupt Beachtung findet – was in gewisser Hinsicht auch gar nicht ungerecht, sondern im Sinn der Veranstalter ist. Denn in ihrem Bemühen, die Berechtigung ihres Protests zu beweisen, steigen die selber ihrerseits auf die Vorgaben der Staatsmacht ein und debattieren heftig mit über das Problem berechtigter und unberechtigter Schranken der Demonstrationsfreiheit. Sie alle beteuern ihren guten Willen zur Gewaltfreiheit, diskutieren engagiert über „den Gewaltbegriff“, den eigenen wie den der Staatsmacht, und fordern von der Polizei glaubwürdige „Deeskalations-Strategien“. Auch Radikale, die Forderungen an die Regierenden für verkehrt halten, ereifern sich über räumliche Einschränkungen, die es unmöglich machen, dass die Gipfelteilnehmer von den Protesten etwas mitbekommen; alte Gerichtsurteile zu Sitzblockaden werden hervorgezerrt, um im Vorfeld eventuelle Behinderungen des freien Journalistenverkehrs zu und von der Tagungsstätte zu legitimieren; und so weiter. Hält sich dann der Protest im Rahmen des Erlaubten, so ehrt das natürlich nicht nur die Demonstranten, von denen man damit auch schon alles weiß, was man von ihnen zu wissen hat; ein solcher Ablauf adelt auch und vor allem die Staatsmacht, die in dem Fall wieder mal ganz prima das Gleichgewicht getroffen hat zwischen Sicherheit für die G8 und Freiheit fürs Demonstrationsrecht und damit einmal mehr bewiesen hätte, wie gut eine demokratische Herrschaft sich mit Kritik verträgt und wie wenig sie schon allein deswegen welche verdient. Finden – oder schaffen – die Sicherheitskräfte umgekehrt einen Anlass, mit Gewalt gegen unerlaubte Formen des Protests vorzugehen, dann wird auf der einen Seite wieder einmal manche staatliche „Überreaktion“ zu beklagen sein: ein gutes Zeugnis für die Staatsmacht als solche, sofern ihr damit bescheinigt wird, dass ein brutales Vorgehen nie und nimmer wirklich im Programm sein kann; und weil es sich bei der rechtsstaatlichen außerdem um eine fürsorgliche Gewalt handelt, lässt sie ihre Uniformierten, denen eventuell mal der Knüppel ausgerutscht ist, nicht im Stich, sondern nimmt sie gegen „übertriebene Vorwürfe“ tapfer in Schutz. Welche Botschaft auf der anderen Seite in einem solchen Fall von dem niedergemachten Protest ausgeht, ist erst recht klar: Er ist im Unrecht. Und zwar erstens egal, was er gewollt hat; zweitens gar nicht egal, denn dann kann sein Inhalt auch unmöglich legitim gewesen sein.
So macht der Rechtsstaat den G8-Kritikern vor, wie Delegitimierung wirklich funktioniert – und wie perfide eine Demokratie sich unliebsamer, auf öffentliche Wahrnehmung und Aktion drängender Kritik zu entledigen weiß. Praktisch und dann auch theoretisch wird Protest unter die Gretchenfrage subsumiert, wie er es mit der Gewalt hält, und damit ist schon alles erledigt. Denn entweder beweist er mit seiner Polizeiwidrigkeit, dass er insgesamt und folglich auch sein Inhalt unzulässig ist; oder sein Inhalt geht auf in dem geglückten Beweis, dass er der Obrigkeit den Respekt nicht kündigt. Das Letztere wird der Mehrheit der Protestbewegung im Endeffekt gerade recht sein.