Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Parteitage im Zeichen eines systemeigenen Widerspruchs
Regieren und die parteilich interpretierte Unzufriedenheit des regierten Volkes repräsentieren
Deutschlands Parteien haben Redebedarf. Nach dem überraschenden Ausgang der Bundestagswahl und dem Umbruch in den etablierten Mehrheitsverhältnissen sind einige harte Entscheidungen zu treffen, also harte Auseinandersetzungen um den künftigen Kurs zu führen. Wie es sich für demokratische Parteien gehört, wird dabei an personellen Intrigen mitsamt Hinterzimmern nicht gespart, aber auch nicht an der ganz transparenten, öffentlichen Austragung ihrer innerparteilichen Konflikte. Die demokratische Institution des Parteitags bietet sich dafür an – wofür genau, das kommt ein bisschen darauf an.
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Parteitage im Zeichen eines systemeigenen Widerspruchs
Regieren und die parteilich interpretierte Unzufriedenheit des regierten Volkes repräsentieren
Deutschlands Parteien haben Redebedarf. Nach dem überraschenden Ausgang der Bundestagswahl und dem Umbruch in den etablierten Mehrheitsverhältnissen sind einige schwerwiegende Entscheidungen zu treffen, also harte Auseinandersetzungen um den künftigen Kurs zu führen. Wie es sich für demokratische Parteien gehört, wird dabei an personellen Intrigen mitsamt Hinterzimmern nicht gespart, aber auch nicht an der ganz transparenten, öffentlichen Austragung ihrer innerparteilichen Konflikte. Die demokratische Institution des Parteitags bietet sich dafür an – wofür genau, das kommt ein bisschen darauf an.
1.
Ihren ersten Parteitag nach der Wahl veranstaltet die AfD unter denkbar günstigen Voraussetzungen im Zeichen ihres fulminanten Einzugs in den Bundestag als drittstärkste Kraft. Zum Leidwesen des verhassten Establishments hat sie sich damit als starke Opposition im Machtzentrum der Republik etabliert, was einerseits die Laune hebt, andererseits die kontroverse Frage aufwirft, was für eine Opposition sie eigentlich sein will, damit sie zur regierenden Macht in diesem Zentrum wird. Da lebt der Richtungsstreit erneut auf, wie rechtsradikal die Partei sein will – ein Streit, der nach allgemeiner Auffassung in der Partei das Zeug zu einer erneuten Spaltung hat. Den fechten die Kontrahenten allerdings – demokratisch äußerst professionell – an keinem einzelnen Programmpunkt aus; sie überführen ihn vielmehr voll und ganz in die Frage der angebrachten Stellung zur Macht überhaupt und zur Methode, sie zu erobern. Das ist durchaus sachgerecht, dringt man damit doch zum Kern der demokratischen Parteienkonkurrenz überhaupt vor, zur fundamentalen Wahlalternative jenseits aller politischen Richtungen, streng genommen zur einzigen Alternative, die in einer Wahl entschieden wird: Regierung oder Opposition? Ausübung der Macht oder Agitation gegen die Mächtigen im Namen der Unzufriedenen, die bessere Machthaber verdient hätten?
Den Anfang macht der Kandidat vom ‚moderaten‘ Flügel, Georg Pazderski, der in seiner Bewerbungsrede um den Parteivorsitz mit einem Lob und einer Warnung aufwartet:
„Unsere bisherigen Erfolge haben wir einer klaren Linie zu verdanken. Wir dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Wer in einer sich ändernden politischen Situation stehenbleibt, fällt zurück... Als Opposition haben wir die Themen aufgegriffen, die den Bürgern auf den Nägeln brennen und vor denen die Altparteien Angst haben... Aber kritisieren, meine Damen und Herren, ist eine Sache, verändern ist eine andere. Wir in der AfD sind angetreten, um Deutschland nach vorne zu bringen, um Deutschland zukunftsfähig zu machen... Das geht aber nur, wenn wir in absehbarer Zeit bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen.“ (Rede auf dem Parteitag, 2.12.17)
Ein eindrücklicher Beweis der Beherrschung der feinen demokratischen Dialektik von Opponieren und Regieren: Die Unzufriedenheit der Bürger aufgreifen, sich als Sprachrohr des darin zielstrebig hineindefinierten Bedürfnisses nach besserer Herrschaft auf- und entsprechend gegen die herrschenden Parteien stellen – das ist richtig und wichtig für den Erfolg als Opposition. Da hat die von der AfD gepflegte Kultur rechter Provokationen und gezielter Brüche mit der ‚political correctness‘, die die Partei als Gesinnungsdiktatur der volksfeindlichen Altparteien geißelt, ihren Sinn und ihren Platz. Doch den Erfolg als demokratische Partei hat man erst dann vollendet, wenn man diese oppositionelle Rolle als Anwalt der Unzufriedenen gegen die existierenden Machthaber abstreift, um selbst die Macht über die Unzufriedenen auszuüben; Sprachrohr bleibt man dabei immer noch, aber nicht mehr bloß irgendeines Anliegens, sondern des großen nationalen Ganzen, mit dessen Beförderung jede Unzufriedenheit sich befriedigt zu sehen hat. In dieser zukünftigen Regierungsrolle, so Pazderski, habe man sich schon in der Opposition zu üben; und in seiner eigenen Bewerbungsrede macht er gleich einen starken Anfang, indem er von der ideellen Warte einer Partei-Regierung aus die rechten Fundis im Club wie eine innerparteiliche Opposition ins Visier nimmt: Er kommt ihnen erstens mit der zwar bösartigen, aber demokratisch sauberen und zur Arroganz der Macht gehörigen Technik, Kritikern vorzuwerfen, sie würden, weil sie auf Opposition gegen die herrschende Politik bestehen, bloß kritisieren, also gar nichts ändern, also nur folgenlos meckern – also ein einziges Bild der Verantwortungslosigkeit abgeben. Das ist gekonnt, zumal er diesen Vorwurf der verantwortungslosen Selbstgefälligkeit auch noch ausgerechnet an radikale Patrioten richtet, die sehr viel verändern
wollen, für Pazderskis Geschmack sogar etwas zu viel, nämlich einen rechtsradikalen Umsturz des gesamten bestehenden politischen Establishments mitsamt dem von ihm definierten Selbstverständnis der Deutschen anstreben. Sich selber präsentiert Pazderski mit seiner Aufforderung an die Partei, sich bei allem Opponieren als mitregierungswillige und -fähige Kraft zu profilieren, damit umgekehrt kongenial als die Verkörperung des staatsmännischen Verantwortungsbewusstseins, das sich durch nichts so sehr wie durch den Willen zur Machtausübung und durch die Frechheit beglaubigt, den Willen zur Macht über alle Bürger als die Bereitschaft zum versprochenen Dienst an ihnen zu präsentieren.
Die Vertreter des ‚völkischen‘ Flügels lassen sich den Vorwurf nicht bieten – erst recht nicht aus dem Mund eines Befürworters des Parteiausschlusses ihres inoffiziellen Capo, Björn Höcke. Sie schicken also ihre eigene Vertreterin von Sayn-Wittgenstein mit einer einzigen elementaren Botschaft vor:
„Ich möchte nicht, dass wir in dieser sogenannten Gesellschaft ankommen. Das ist nicht unsere Gesellschaft, da werden wir ausgegrenzt... Ich wünsche nicht, dass ich Koalitionsgespräche anbieten muss, sondern dass die anderen uns um Koalitionsgespräche betteln.“
Die kalkulierten Provokationen und rechte Tabubrüche der AfD sind also das, was die Partei überhaupt ausmacht; sie ist radikal oppositionell. Und gerade darin besteht zugleich ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Macht: Ihr Wille zum ordentlichen Regieren im Sinne des Volkes verträgt nämlich nicht einmal den Anschein des Mit-Regieren-Wollens mit den Parteien, die das nationale Wohl verraten. Von dem Standpunkt aus hört diese Fraktion in dem von Pazderski dreimal dick unterstrichenen Willen zum baldigen Regieren über das ganze Land eine opportunistische Anpassung, eigentlich ein vorauseilendes Einknicken vor dem Establishment heraus – also seinerseits den Verrat am verantwortlichen machtvollen ‚Gestalten‘ der Nation.
Um einer befürchteten Spaltung der Partei entlang dieses Streits zuvorzukommen, übernimmt Gauland, der inoffizielle Steuermann und ‚Brückenbauer‘ der Partei, gleich selbst den Vorsitz und liefert eine Klarstellung an beide streitenden Partner:
„Es ist mir sehr wichtig, dass wir auf der einen Seite klar bei den Bürgerbewegungen stehen, und auf der anderen Seite eine parlamentarische konservativ-liberale Reformpartei sind, wie wir das im Bundestag angefangen haben und wie wir inzwischen viel Zustimmung als Fraktion bekommen haben. Es hat keinen Zweck, irgendeine Wurzel abzuschlagen oder einen Fuß abzuschneiden.“ (Rede auf dem Parteitag) „Ich würde das gar nicht für eine Flügelfrage halten. Frau von Sayn-Wittgenstein hat eine Rede gehalten, die ans Herz der Partei appelliert hat, und da war es völlig gleichgültig, wo sie steht oder wo sie herkommt.“ (Interview mit Alexander Gauland, phoenix, 3.12.17)
Gauland besteht beiden Kontrahenten gegenüber darauf, dass ihr Zwist recht besehen gar keine Kollision hergibt. Beide Seiten sind nämlich nebeneinander gleich wichtig für die Partei: Man muss einerseits zu den Bürgerbewegungen
stehen, deren Unzufriedenheit man als ein Verlangen nach der Herrschaft in der Hand der AfD definiert, und andererseits zu seiner Verantwortung für die Macht, die – richtig, nämlich von einem selbst ausgeübt – der versprochene Dienst an den Bürgern ist. Mit dem oppositionellen Machtwillen im Herzen und der staatsmännischen Regierungsfähigkeit im Kopf kann man – unter seiner Führung geeint – weiter voranmarschieren.
Damit hat sich der Parteitag der AfD zu einem durchaus sachgerechten demokratischen Ergebnis hingearbeitet: Eine demokratische Partei darf sich in dem Gegensatz Ausübung der Macht oder Agitation gegen die Mächtigen nie ganz auf die eine oder andere Seite schlagen, will sie in der vernünftigsten aller politischen Welten bestehen, zu der die Ausübung der politischen Macht und die Unzufriedenheit mit ihrem Wirken gleichermaßen dazugehören. Glaubwürdig ist sie dadurch, dass sie beides leistet: Repräsentation der Unzufriedenheit der Bürger mit der Herrschaft und zugleich Repräsentation der Herrschaft gegenüber den unzufriedenen Bürgern, also Anwalt der Unzufriedenen und Sachwalter der Staatsmacht zugleich zu sein. Und sie bewältigt diesen Widerspruch auf erzdemokratische Weise, indem sie die Frage, wie eine Partei ihre Rolle als radikale Kritikerin der aktuellen Machtausübung und ihren Anspruch auf Verantwortung für die Macht in Deutschland am glaubwürdigsten zur Deckung bringt, genauso methodisch zum öffentlichen Streitthema auf ihrem Parteitag macht: Sie überführt ihn in die Frage, wer geeignet ist, in dieser öffentlichen Entscheidungsschlacht Einigkeit in der Partei zu stiften, und sich damit unter den konkurrierenden Karrieristen der Macht zu deren Führung qualifiziert.
2.
Unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich im Zeichen des größten Stimmenverlusts ihrer Parteigeschichte, schlägt sich die SPD mit genau dem gleichen Prinzip des demokratischen Parteiendaseins herum: mit der Ungleichung zwischen der Berufung auf die Unzufriedenheit der Regierten und der Berufung zur Machtausübung über die Unzufriedenen.
Nach dem enttäuschenden Wahlergebnis war sich der Chef der Sozialdemokraten sicher: Nur durch entschiedenes Opponieren lässt sich Glaubwürdigkeit als Regierungspartei wiedergewinnen. Opponieren, um zu regieren: Das ist der ganze Sinn und Zweck der ‚inhaltlichen Erneuerung‘, die Schulz schon am Wahlabend seinen Parteigenossen verordnet und versprochen hat. Vor einer internen Auseinandersetzung darüber, wie die Erneuerung im Einzelnen aussieht, braucht die Partei sich nicht zu fürchten, weil sie sich in der Hauptsache vollkommen einig ist: Es geht darum, eine ganze Legislaturperiode lang der Unzufriedenheit der Bürger voll und ganz recht zu geben, und zwar in der einzig vernünftigen, demokratisch vorgesehen Form eines Einspruchs gegen das schlechte Regieren, das man selbst besser kann, also gegen die Regierung, die man selbst sein will. Ein schönes Thema für den demokratischen Diskurs, für den ein Parteitag die geeignete öffentliche Bühne bietet – für den Streit konkurrierender Führungspersonen, hinter denen die Partei sich zu versammeln hat.
Doch kurz vor dem Parteitag platzen bekanntlich die Jamaika-Sondierungen; der Bundespräsident appelliert an die SPD, sich auf ihre gesamtstaatliche Verantwortung zu besinnen statt oppositionstypisch bloß an sich und ihre Anhänger zu denken; sie soll also selbstlos dienend die Macht im Land weiter mit ausüben. Der Appell trifft bei der SPD ins Schwarze, versteht sie sich doch nicht als eine bloße Interessenpartei mit einem oppositionellen Einspruch, sondern als eine Volkspartei mit einer Verantwortung für das ganze Land. Doch andererseits macht das ihre Problemdiagnose nicht weg, dass sie erst einmal glaubwürdig gegen das Regieren sein muss, um wieder glaubwürdige Regierungsmannschaft zu werden. Das bringt eine ganz andere Spannung in den anstehenden Parteitag, und man wird Zeuge des ach so schwierigen Spagats des armen Parteichefs, gefangen zwischen Pflicht und Versprechen: Er muss die Genossen davon überzeugen, dass die Erneuerung des oppositionellen Geists und die weitere Übernahme der Regierungsmacht, sozialer Einspruch und gesamtstaatliche Machtausübung, zu versöhnen sind. Dass so etwas nicht ohne ein bisschen Heuchelei abgehen kann, versteht sich; dafür kommt man in den Genuss einer Lektion über den Nutzen höherer Werte für den Machtwillen einer demokratischen Volks- und Reformpartei.
„Die Sozialdemokratie wurde gegründet als ein Zusammenschluss von Arbeitern, die als Einzelne gegenüber dem übermächtig werdenden Kapital machtlos waren: Sie waren ohne Rechte, schutzlos ausgeliefert der Willkür einer sich immer mehr bereichernden Oberschicht... Diese Leute teilten gemeinsame Werte, sie schlossen sich zusammen, um als Einheit stark zu sein, um füreinander einzustehen und sich ihre Rechte zu erstreiten... Und unsere Partei ist immer mit der Zeit gegangen... Aber immer war der Gedanke, dass sich Menschen zusammenschließen, um durch Solidarität eine starke Gemeinschaft zu bilden und mehr individuelle Freiheit und Gerechtigkeit herzustellen, weil sie die gleichen Prinzipien und Werte teilen.“
Am Anfang war also die Not der arbeitenden Klasse und deren Einsicht in die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses zu einer Kampfgemeinschaft für ihr Interesse gegen das Kapital. Doch schon damals ging es offenbar nicht bloß um ein Interesse, sondern um etwas Höheres – im übertragenen Sinne und wortwörtlich: Erstens haben sich die Arbeiter recht besehen zu einer Wertegemeinschaft zusammengeschlossen, um eine Tugend zu leben, der sie sich verpflichtet wussten; aus der Not, aber im Bewusstsein dieser höheren Pflicht haben sie sich zweitens das vorgenommen, was kein höheres Wesen für sie erledigen konnte, nämlich den Kampf um eben dieses höhere Wesen, das ihnen mit seiner Gewalt den Schutz bietet, den ihre Solidargemeinschaft im Kapitalismus braucht. Und wenn ein Staat seinen Arbeitern gegen das übermächtige Kapital gewisse Schutzrechte einräumt, dann sind alle drei zusammen eine Solidargemeinschaft. Und der darf man als Vertreter dieses Höchstwerts seine Hilfe, also seine Führung, doch nicht versagen.
„Und heute geht es darum, dieses Prinzip, diese Werte unter veränderten Rahmenbedingungen zur Geltung zu bringen... Deshalb muss die SPD beantworten, wie unter den Bedingungen der Globalisierung dem demokratischen Willen ... Geltung verschafft werden kann... Der Nationalstaat hat in der globalisierten Welt Gestaltungsmacht verloren... Globale Regeln müssen global durchgesetzt werden. Und hierfür brauchen wir Europa. Deshalb müssen wir Europa stärken... Nur Europa kann es, in dieser Welt die Regeln durchzusetzen, die diese Auswüchse unter Kontrolle bringen... Die europäischen Völker haben sich zusammengeschlossen, weil sie erkannt haben, dass sie alleine gegenüber bestimmten Entwicklungen machtlos sind. Ja, die haben sich auch zusammengeschlossen, weil sie nur durch gelebte Solidarität gemeinsam stark sind. Das ist das Europa, von dem wir mehr brauchen... Wir brauchen das Europa, das sich zusammenschließt, weil es durch den Zusammenschluss seine Menschen schützt... Ich habe oft weniger Angst vor den Menschen als vor mancher taktisch handelnden Regierungszentrale.“
Vor so viel Abstraktionskunst müsste sogar ein Jungsozialist in die Knie gehen, der eine glaubwürdige Profilierung der Partei als Retter des sozialen Anstrichs nur in der Opposition für möglich hält: Schulz ‚schließt‘ einfach umstandslos vom kämpferischen Zusammenschluss der Lohnarbeiter ausgerechnet auf die EU als gelebte Solidarität der Völker unter dem Regime kooperierender Regierungen. Und schon lassen sich unter Berufung auf diese fiktive Solidarität andere, kooperationsunwillige Regierungen zurechtweisen – eine bruchlose Linie vom oppositionellen Kampf der deutschen Arbeiter zum imperialistischen Vorwärts einer sozialdemokratisch mitgeführten deutschen Staatsgewalt.
3.
Die Versöhnung zwischen den zwei Polen demokratischer Parteienkunst geht ohne den Umweg über sogenannte ‚Inhalte‘. Das beweist die mit Stimmenverlusten bestrafte CSU auf ihrem Parteitag mit einer dritten Variante, oppositioneller Anwalt der Unzufriedenheit – der man insoweit recht gibt – und Repräsentant gesamtverantwortlicher Regierungskompetenz – die sich über jede Unzufriedenheit hinwegsetzt – zugleich zu sein. Sie nutzt ihren Parteitag für eine originelle Lösung, die ihre gegeneinander mit zunehmender Bitterkeit streitenden Führungsspitzen ganz ohne Streit auf offener Bühne, vielmehr in aller Eintracht präsentiert: Die nationalistische Unzufriedenheit der bayrischen Wähler mit der Politik der CSU nimmt diese als eine mit der Person an der Spitze – und bietet ihnen eben eine neue Spitzenperson. Söder greift die Unzufriedenheit der abgewanderten CSU-Wähler, ihr Verlangen nach einer Alternative
auch für Bayern, als eine Forderung nach mehr Einsatz für das Sonderrecht des bayrischen Sondervolks auf, also nach der Kontinuität in puncto ‚Bayern first!‘, für die nur eine weiterhin mit der absoluten Mehrheit ausgestattete christlich soziale Regierungspartei garantieren kann. Die alte Spitzenfigur Seehofer schickt man nach Berlin mit dem Auftrag zum weiteren Mitregieren – dort, wo man immer schon auch dagegen war. Und schon sind mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: die Auflösung des erbitterten Machtkampfs der Führungsfiguren, die Befriedigung der rechten Unzufriedenheit der Bayern, die Übernahme der Macht und der Geist der Opposition. Geht doch.
4.
Die Grünen schließlich haben – nach den gescheiteren Jamaika-Verhandlungen – ihr spezielles Problem mit dem Zwiespalt zwischen Parteiidentität und Regierungsfähigkeit. An ihrem unbedingten Regierungswillen haben sie in dem gesamten Verhandlungsprozess keinen Zweifel aufkommen lassen. Wenn überhaupt jemand daran zweifelte, waren es am ehesten noch ihre Erzgegner von der CSU, am wenigsten aber ihre grünen Parteigenossen selbst. Für die gab es mindestens zwei gute Gründe für eine schwarz-gelb-grüne Koalition: In der Opposition sind sie nur dritte Wahl – und außerdem im Prinzip gar nicht mehr gegen irgendetwas auf der Agenda jeder kommenden Regierung. Denn längst ist ihre Grüne-Partei-Identität in der deutschen Staatsräson angekommen – Umwelt, Artenschutz, Frauenrechte etc. –, was auch immer ihre speziellen Berufungstitel gewesen sein mögen, mit denen sie einstmals angetreten waren, die Notwendigkeit zu unterstreichen, dass sie endlich verantwortungsvoll mitregieren: Alles ist eingemeindet in den großen parteiübergreifenden Konsens der demokratischen Parteien und hat Eingang gefunden in sämtliche Parteiprogramme.
Ende 2017 besteht das Problem der Grünen darin, dass sie – ausgerechnet vom FDP-Lindner, ausgerechnet mit der aus einer alten Grünen-Ideologie entlehnten Begründung Lieber nicht regieren als schlecht regieren!
– um ihre Regierungsbeteiligung betrogen wurden. Dieses unverdiente Unglück gilt es auf einem Parteitag der programmatischen und personellen Erneuerung
vorwärtsweisend zu bewältigen. Die zwei Hälften dieser Aufgabe nimmt für die Partei der ambitionierte und dafür sehr bewunderte Kandidat für den Parteivorsitz in Angriff. Robert Habeck, personell der Inbegriff der Identität von Grünen-Fortschrittsbewusstsein und praktizierter Regierungsverantwortung, stellt sich nur zur Wahl, wenn er als Parteiführer gleichzeitig sein Ministeramt in Schleswig-Holstein behalten darf. Als letzten programmatischen Stolperstein für zukünftige grüne Machtbeteiligungen hat er nämlich die alten Statuten über die Besetzung der Parteiämter entdeckt: In ihrer wilden Jugendzeit hat die Partei die Differenz zwischen Protest gegen die und den Willen zur Macht nicht inhaltlich, sondern in politologisch reflektierter Weise in ihrer Parteisatzung festgeschrieben – als Vorschrift zur ‚Trennung zwischen (Partei-)Amt und (Staats-)Mandat‘. Das passt Habeck nicht mehr ins Konzept, und der Partei leuchtet es ein, dass das mit dieser Vorschrift gepflegte Erscheinungsbild der Grünen nicht mehr zu ihrem Profil als regierungsfähiger und -williger Partei, die glaubwürdig nichts als ‚Verantwortung für Deutschland tragen‘ will, passt. Sie wählt erst das Statut ab und dann Habeck zu ihrem Vorsitzenden, mit der kleinen schamhaften Einschränkung, dass seine Doppelfunktion als Partei- und Regierungsfunktionär erst einmal auf acht Monate begrenzt sein soll. So wird der institutionalisierte rein formelle Vorbehalt gegen zu viel personalisierte Macht, vormals als Markenzeichen einer machtkritischen demokratischen Verlässlichkeit der Grünen gepflegt, jetzt als Hindernis der glaubwürdigen Kompetenz zur Wahrnehmung staatstragender Verantwortung offiziell ad acta gelegt – und die überkommene Gewohnheit, die Parteispitze zwischen ‚Fundis‘ und ‚Realos‘ aufzuteilen, gleich mit.
So nimmt die kleine Ironie der Geschichte ihren Lauf: Die kleinste Oppositionspartei im Bundestag bekennt sich, programmatisch und personell erneuert, zu ihrer Identität als verhinderte Mitregierungspartei.
Und das sicher nicht nur auf acht Monate.