Nachruf auf Popper
Kategorischer Aufruf zur Bescheidenheit des demokratischen Geistes
Popper vereint philosophisch moralisches Sinnstiften und Erkenntnistheorie: Er leitet sein Grundprinzip zur Erklärung der Welt – die Methode des Lernens aufgrund von Versuch und Irrtum – wissenschaftlich ab. Heraus kommt eine Moral des Denkens, die in einem prinzipiellen Vorbehalt den eigenen Theorien gegenüber besteht. Der Skeptizismus des politischen Moralphilosophen taugt zur Affirmation der Demokratie genauso wie zur Abrechnung mit dem Marxismus.
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Nachruf auf Popper
Kategorischer Aufruf zur Bescheidenheit des demokratischen Geistes
Es hat einige Jahrzehnte philosophischer Forschung gedauert, bis Popper endlich alles beieinander hatte. Seine erkenntnistheoretischen Studien konnte er schließlich dahingehend auf den Punkt bringen, daß die Wissenschaft ihre Fortschritte vermittels derselben Methode erzielt, „die alle Organismen anwenden, von der Amöbe bis Einstein“ (IV/70), nämlich der „Methode des Lernens aufgrund von Versuch und Irrtum“ (IV/57); seine politisch-moralischen Überlegungen zur „offenen Gesellschaft“ (Buchtitel) ließen sich zwanglos in der Einsicht zusammenfassen: Das Verfahren, dem die Wissenschaft ihre Erfolge verdankt, „gilt nicht nur für die Wissenschaft. Es gilt auch für die Politik“ (VI), wo die Zuständigen ebenfalls „versuchsweise Lösungen“ (VI) erproben, nach „Fehlern suchen, sie finden, sie aufzeigen, sie analysieren und aus ihnen lernen“ (II/70); und damit nicht genug: „Auch die Evolution geht vor mit Versuch und Irrtum. Die Mutationen können als Versuche angesehen werden… Wenn sie zu Fehlern führen, werden sie ausgemerzt.“ (VII)
Mit ein und derselben Formel erklärt dieser Mann die Vorgehensweise der Wissenschaft, das Funktionieren der Demokratie und die Entstehung der Arten. Er setzt mit ihr die disparatesten Angelegenheiten so bedenkenlos gleich, daß Zweifel durchaus angebracht sind, ob seiner Tour, die Dinge zu verstehen, überhaupt das Anliegen zugrundeliegt, deren Eigenart zu erfassen. Seine alles erklärende Formel geht so gründlich an seinen Gegenständen vorbei, daß noch nicht mal der Eindruck aufkommt, er habe sie aus der Befassung mit ihnen bezogen: Sein Bild von Wissenschaft erinnert auch nicht ansatzweise daran, daß es sich bei diesem Geschäft um eine auf Objektivität der Erkenntnis zielende Tätigkeit handelt, die sich in Urteilen und Schlüssen vollzieht; seine Auffassung von der Politik paßt nicht einmal ungefähr auf den Beruf regierender Demokraten, die ihren Untertanen die Staatsinteressen in verbindlicher Gesetzesform vorschreiben und dabei nicht den Anschein erwecken, sie wären belehrbar oder von ihrer „Fehlbarkeit“ überzeugt, sondern auf ihre Macht pochen; gänzlich sachfremd und sehr zu Unrecht auf Darwin zurückbezogen ist auch die Idee, den bewußlosen Prozeß, in dem es die Natur zu einer Artenvielfalt bringt, ausgerechnet mit einer Geistestätigkeit zu identifizieren; ohne Kopfzerbrechen über das windschiefe Verhältnis beherrscht Popper diese Gleichsetzung auch in die umgekehrte Richtung, wenn er seine Vorstellung vom Lernen am Beispiel der Amöbe entwickelt.
Soviel Sachfremdheit läßt sich auch bei wohlwollender Berücksichtigung der „Irrtumsmöglichkeit“, von der Popper soviel Aufhebens macht, nicht auf Verwechslungen und Täuschungen zurückführen; und schon gleich läßt sie nichts erkennen von dem Bemühen, „Fehler zu suchen und auszumerzen“. Sie beruht auf dem Entschluß, sich auch durch die gröbsten Verstöße gegen die Objektivität des Denkens nicht davon abbringen zu lassen, dem geistigen Bedürfnis nach einer Weltanschauung zu frönen; einem Bedürfnis, das den Verstand zu wenig vernünftigen Anstrengungen anregt: Die Suche nach einem für vernünftig erachteten oder wenigstens von der Vernunft durchschaubaren Prinzip, das es erlaubt, die Welt als Sinnganzes zu „begreifen“, läßt nicht nur gottgläubige Erdenwürmer erst einmal von allem Irdischen abstrahieren und unabhängig von allen Erfahrungen, die sie mit dem Staat und der Natur, mit Kapital und Arbeit, mit der Familie und dem Geistesleben so machen, eine Bombenidee fassen. Auch ein moderner Philosoph, der sich der Wissenschaft verbunden weiß, bringt diese Abstraktionsleistung hinter sich, wenn er sich seine Grundüberzeugung zurechtlegt, daß die Welt ein Lernprozeß ist, der gelegentlich daneben geht, aber insgesamt zu Hoffnungen berechtigt. Er ist sogar imstande, den abstrakten Kern seiner Weltsicht in angemessener Form, nämlich in Gestalt des kleinen Glaubensbekenntnisses „Ich bin ein Optimist, der nichts über die Zukunft weiß.“ (X) anzugeben. Er zeigt damit, daß die fixe Idee, die sich weltanschauliche Denker von der Welt machen, nur die objektivierte Fassung einer sachlich in nichts begründeten Gesinnung ist. Und auch den zweiten Akt, durch den aus einer abstrakten Grundüberzeugung eine umfassende Weltanschauung wird, vollzieht ein kritischer Rationalist des 20. Jahrhunderts nicht anders als die Anhänger einer Religion. Wie sie subsumiert auch er sämtliche Gegenstände unter sein feststehendes Vorurteil, weil er nicht auf das großartige Erlebnis verzichten will, seine sinnstiftende Idee an allem, was ihm unterkommt, wiederentdecken zu können und bestätigt zu finden. Er bekennt sich sogar ausdrücklich zu diesem Verfahren, wenn es ihm gelegentlich darum geht, seine Leserschaft in die verfremdete Welt seiner Gedanken einzuführen, in der er sich beispielsweise vornimmt, den „demokratischen sozialen Wiederaufbau“ als eine „Anwendung der kritischen und rationalen Methoden der Wissenschaft (besagtes Lernen aus Versuch und Irrtum) auf die Probleme der offenen Gesellschaft zu analysieren“ (IIIa/21). Ein Vorhaben, dessen Zielsetzung absehbar ist – mit ihm soll der in der Geschichte der Philosophie schon abertausend Mal unternommene Versuch durchgeführt werden, das Ideal der vernünftigen Herrschaft in Sätze zu gießen –, das sich aber ziemlich verdreht ankündigt.
Das liegt daran, daß Popper mit seinen Überlegungen nicht bloß naiv, und ohne damit wissenschaftliche Ansprüche zu erheben, ein Sinnbedürfnis befriedigen will. Er behauptet erstens, mit den „Methoden der Wissenschaft“ vertraut zu sein, reitet damit zweitens ziemlich penetrant auf der Wissenschaftlichkeit seiner eigenen theoretischen Anstrengungen herum, obwohl er sich drittens an diese Methoden gar nicht hält, sondern sie zum sinnstiftenden Prinzip einer Weltanschauung erklärt, das er im eben zitierten Fall z.B. auf die Demokratie anwendet. Popper konstruiert seine Weltanschauung: Er behauptet sie als eine Notwendigkeit, die aus seiner gewissenhaften Befassung mit der Frage folgt, was die Wissenschaft vermag und darf.
Dieses Anliegen verdient Beachtung, weil selbst unter Philosophen der Gegensatz zwischen weltanschaulichen Sinnkonstruktionen und Wissenschaft seit geraumer Zeit bekannt ist. Spätestens seit dem Aufkommen der Naturwissenschaften, die wirkliche Erkenntnisse vorzuweisen hatten, ist auch für Philosophen das offenkundig Unwissenschaftliche und betont Unsachliche ihrer Geistesabteilung nicht mehr zu verleugnen – einer Geistesabteilung, in der zum x-ten Mal der seit 2000 Jahren scheiternde Versuch unternommen wird, vernünftigen Wesen einsichtig zu machen, warum sie nicht ihrer Einsicht, sondern Pflichten gehorchen sollen; in der ohne befriedigende Antwort immer wieder die Frage durchgenommen wird, wie man durch die Tugend des Verzichts glücklich werden kann; in der in immer neuen Anläufen dieselben ollen Kamellen vom Guten, Schönen und Wahren aufgelegt werden, die als Lohn winken, aber nur dem, der sie als unerreichbare Ideale verehrt; in der bis zur Grenze des für uns Menschen Faßbaren nach dem Inhalt der leeren Abstraktion des Seins geforscht wird, zu der sich die Suche nach letzten, unwidersprechlichen Sinngründen verstiegen hat etc. Diesen haarsträubenden Zustand ihrer Fakultät haben die Philosophen der Aufklärung, die sich von den wissenschaftlichen Leistungen, die an anderen Fakultäten zustandekamen, haben begeistern lassen, lauthals beklagt. Sie haben die Bücher der Metaphysik gelegentlich „ins Feuer“ gewünscht, aber auf die verkehrten Gedanken ihrer Kollegen sehr unsachgemäß reagiert. Ihrem Bedürfnis nach sicherem Wissen, sind sie weder durch inhaltliche Kritik der Sinnstiftungsprogramme noch durch Beteiligung an der Wissenschaft nachgegangen. Stattdessen haben sie sich für die Frage zuständig erklärt, wie Wissenschaft möglich sei. Sie widmeten sich nicht dem Inhalt der Wissenschaft, sondern deren Verfahren, an dem sie Wissenschaft und Metaphysik unterscheiden wollten. Seitdem besteht die Philosophie aus zwei Abteilungen. Neben der, die nach wie vor für die Begründung eines Lebenssinns und daraus abgeleiteter moralischer Maßregeln zuständig ist, hat sich die Erkenntnistheorie eingerichtet, die für die Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit zuständig ist, für die Frage also, was als Wissenschaft auftreten darf und als solche Anerkennung verdient, und die dem universitären Geist mit der Empfehlung entgegentritt, sich bei der Theoriebildung an die Erfahrung und die Regeln der Logik zu halten. Als Einwand gegen unwissenschaftliche Umtriebe an den Universitäten hat diese Empfehlung noch nie viel getaugt. Der Vorwurf, daß das Verfahren zu wünschen übrig läßt, paßt sogar bestens zum Respekt vor der Gesinnung, die sich den Unsinn leistet. Mit der Entgegensetzung von wissenschaftlicher „Exaktheit“, die nur in „logischen Sätzen“ zu erreichen ist, welche nichts über die Wirklichkeit aussagen, und den „empirischen Wissenschaften“, deren Aussagen über die Wirklichkeit allemal die Frage aufwerfen, ob sie zutreffen, existiert die Erkenntnistheorie jedoch seitdem als institutionalisierter Vorbehalt gegen die neben ihm betriebenen Sinnveranstaltungen.
An dieser polemischen Stellung der Erkenntnistheorie zur weltanschaulichen Abteilung der Philosophie nimmt der Wissenschaftstheoretiker Popper Anstoß. Er legt sich ein Verständnis von Wissenschaft zurecht, das der Freiheit des Sinnstiftens nicht mehr skeptisch gegenübersteht. Dem Wissen dafür umso mehr. Popper ist also in beiden Abteilungen der Philosophie tätig. In beiden Abteilungen müht er sich um die Einheit des Fachs. Und aus diesem exotischen Anliegen leitet er seine Auffassungen über die Wissenschaft und die Welt her. Ein ziemlich durchgeknallter Philosoph. Aber so kann man in der Demokratie berühmt werden.
I. Der Wissenschaftstheoretiker
1. Warum Wissen nicht zu haben ist
Seine größte Leistung auf diesem Feld und bei genauerer Betrachtung sein einziges Argument besteht darin, einen Schluß zu widerlegen, den es gar nicht gibt, um aus dieser Widerlegung die Unmöglichkeit gesicherter Erkenntnis abzuleiten:
„Als induktiven Schluß oder Induktionsschluß pflegt man einen Schluß von besonderen Sätzen, die z.B. Beobachtungen, Experimente usw. beschreiben, auf allgemeine Sätze, auf Hypothesen oder Theorien zu bezeichnen. Nun ist es aber nichts weniger als selbstverständlich, daß wir logisch berechtigt sein sollen, von besonderen Sätzen, und seien es noch so viele, auf allgemeine Sätze zu schließen. Ein solcher Schluß kann sich ja immer als falsch erweisen: Bekanntlich berechtigen uns noch so viele Beobachtungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz, daß alle Schwäne weiß sind.“ (I/3)
Popper hat natürlich vollkommen recht damit, daß sein „allgemeiner Satz“ keine gesicherte Erkenntnis ist. Um das festzustellen, hätte er sich allerdings seine ganze Überlegung sparen können. Der Satz ist nämlich überhaupt kein Beispiel für eine wissenschaftliche Erkenntnis und schon gleich nicht für eine „Theorie“, die zu so einer Erkenntnis führt. Schon das Subjekt seines Satzes unterscheidet sich nicht unerheblich von der Art der Gegenstände, mit denen sich die Wissenschaft in ihren Urteilen befaßt. Diese pflegt eine Gattung aus gutem Grund nicht in die Allheit ihrer einzelnen Mitglieder aufzulösen, weil sie sich gerade für das Allgemeine interessiert, das diese Einzelnen zu Mitgliedern dieser Gattung macht. Dieses Allgemeine zu bestimmen, ist ihr ganzer Zweck. Sie abstrahiert daher von den zufälligen Bestimmungen der einzelnen Sache und hält in den Prädikaten ihrer Urteile gattungsspezifische Bestimmungen fest. Dieses Kriterium erfüllt die Farbe des Federkleides von Schwänen bereits deswegen nicht, weil schon zweifelhaft ist, ob sie überhaupt ein Merkmal der Gattung ist. Und schon gleich genügt dieses Prädikat nicht den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Definition, das zu erfassen, was ihren Gegenstand wesentlich ausmacht. Deswegen ist es ziemlich unwahrscheinlich, daß Popper sein Beispiel in einer Wissenschaft „beobachten“ konnte; der Brockhaus würde sich mit so einer Definition lächerlich machen. Und noch unwahrscheinlicher ist, daß es einen Schluß gibt, der Popper zu der Verallgemeinerung „berechtigt“, wissenschaftliche Erkenntnisse seien überhaupt von der Art seines „allgemeinen Satzes“. – Popper hat nämlich auch ganz recht damit, daß der sog. Induktionsschluß kein Schluß ist. Aber nicht deswegen, weil die Wissenschaft mit „noch so vielen Beobachtungen“ keinen Allsatz zustandebringt, sondern weil dieser „Schluß“, um einmal mit Hegel zu sprechen, sein Ergebnis gar nicht erschließt, sondern unterstellt. Die Allgemeinheit des Urteilens, die Popper mit seinem Argument anzweifelt, kommt nicht zustande durch das Ansammeln von Beobachtungen; selbst Popper kann nicht umhin, die Gattung der Schwäne vorauszusetzen, wenn er den Verstand zu dem albernen Gedankenexperiment auffordert, deren Mitglieder möglichst vollständig zu beobachten. Deswegen kann dieses Streben nach Vollständigkeit in der Wissenschaft auch ganz gut unterbleiben. Fragt sich nur, warum Popper eine Untersuchung anstrengt, deren Ergebnis er mit den Worten verkündet: „Induktion gibt es nicht.“ (VII) und warum er dann nicht gleich die Schlüsse untersucht, die es in der Wissenschaft gibt. Das liegt daran, daß er aus seiner Untersuchung, in der die Wissenschaft gar nicht vorkommt, unbedingt eine Schlußfolgerung auf die Wissenschaft ziehen will: „Sicherheit“ beim Erkennen „hat sich als ein Idol erwiesen“ (I/225). Diese Schlußfolgerung beruht auf zwei Voraussetzungen, die Popper ebenfalls nicht aus dem Studium der Wissenschaft gewonnen hat. Die erste, daß eine theoretische Tätigkeit, die im Unterschied zur Induktion den Namen Schließen verdient, in der Wissenschaft „nicht vorkommt“, dekretiert er einfach:
„In den empirischen Wissenschaften, die uns allein Informationen über die Welt, in der wir leben, verschaffen können, kommen keine Beweise vor, wenn wir unter einem ‚Beweis‘ ein Argument verstehen, das die Wahrheit einer Theorie ein für alle Mal begründet.“ (IIIb/20)
Popper absentiert sich ganz grundsätzlich davon, der theoretischen Notwendigkeit wissenschaftlicher Urteile Rechnung zu tragen, er überprüft keine Argumente und widerlegt keine Beweise – wie auch, wenn solche gar nicht vorkommen! –, sondern weigert sich schlicht, den Umstand anzuerkennen, daß noch der dümmste Theoretiker – selbst er! – argumentiert und in Gestalt von Begründungen und Schlüssen Anstalten macht, die Objektivität seiner Behauptungen zu beweisen. Mit seinem „ein für alle Mal“, das er offenbar für ein Kriterium beim Beweisen hält, zeigt er, daß er gar nicht die gleichnamige theoretische Tätigkeit im Auge hat, sondern schon wieder seinen Induktionsschluß, der „sich immer als falsch erweisen kann“. Damit kürzt sich die erste Voraussetzung seiner Schlußfolgerung ganz auf die zweite zusammen, daß die Wissenschaft in ihrem Versuch, gesicherte Erkenntnisse zu erlangen, auf ein Verfahren festgelegt ist, das diese Leistung nicht erbringt.
Woher Popper diese merkwürdige Voraussetzung hat – immerhin drängt sich die Frage auf, warum die Wissenschaft, die Gedanken sind bekanntlich frei, nicht ein anderes Verfahren wählt, wenn es ihrer Zielsetzung widerspricht –, ist kein Geheimnis: Er ist mit der Wissenschaft überhaupt nur vermittels der Erkenntnistheorie bekannt, in der, wenn schon sonst in keiner Wissenschaft, der Induktionsschluß tatsächlich „vorkommt“. Und zwar deswegen, weil sich dieses Fach seit geraumer Zeit den Kopf über ein Verfahren zerbricht, mit dem die Wissenschaft per Beobachtung, also möglichst ohne die für zweifelhaft befundene Tätigkeit des Denkens, den Weg von der Erfahrung zum Wissen sicher beschreiten kann. Popper nimmt diese Theorie nicht als Theorie über das Erkennen, die er als bekanntermaßen „kritischer“, von der „Fehlbarkeit“ theoretischer Bemühungen überzeugter Philosoph zu überprüfen hätte, sondern akzeptiert sie als ein in seinen Kreisen anerkanntes Dogma, an das er – das wirft ein Licht auf die Etage, in der dieser Herr herumdenkt! – wie an ein Faktum anknüpft. Allerdings mit der entgegengesetzten Absicht: Er benützt die falsche Manier seiner erkenntnistheoretischen Vorfahren, objektive Wissenschaft als möglich nachzuweisen, um aus deren Konstrukten die Unmöglichkeit von Wissen zu beweisen, und macht sich mit diesem Ergebnis an eine grundsätzliche Neufestsetzung des Verhältnisses zwischen Theorien und deren Gegenständen. Konnte man bei den alten Erkenntnistheoretikern die Frage, wie die Wissenschaft verfährt, noch mit einem rationellen Anliegen verwechseln, geht dies bei dem modernen Wissenschaftstheoretiker endgültig nicht mehr.
2. Wie Wissenschaft geht
Seine Problemstellung, wie man unter der Prämisse, daß Wissen nicht zu haben ist, ein Verständnis davon entwickeln kann, wie Wissenschaft geht, visiert Popper bereits im ersten Satz seiner „Logik der Forschung“ an:
„Die Tätigkeit des wissenschaftlichen Forschers besteht darin, Sätze oder Systeme von Sätzen aufzustellen und systematisch zu überprüfen; in den empirischen Wissenschaften sind es insbesondere Hypothesen, Theoriesysteme, die aufgestellt und an der Erfahrung durch Beobachtung und Experiment überprüft werden.“ (I/3)
Was sich Popper da als Überprüfung von Theorien vorstellt, wäre für die Wissenschaft, die aus der Erfahrung ihre Schlüsse zieht, bestenfalls überflüssig; warum soll sie nach vollzogener Theoriebildung die Erfahrung noch einmal zu Rate ziehen, von der sie ausgeht? Und schon gleich handelt es sich nicht um ein Verfahren, durch das sich Theorien überprüfen ließen. Verkehrte Schlüsse werden schließlich aus derselben Erfahrung gezogen wie die richtigen, sind also „an der Erfahrung“ von diesen gar nicht zu unterscheiden. Zu ihrer Überprüfung wird man sich schon die Mühe machen müssen, sie nachzuvollziehen. Auch Experimente dienen in der Wissenschaft einem anderen Zweck. Durch sie wird der Gegenstand, über den die Wissenschaft nachdenkt, von störenden Einflüssen der Umstände auf ihn getrennt, um aus seinen Bestimmungen die richtigen Schlüsse ziehen zu können. Das freilich sind ziemlich unpassende Aufklärungsversuche gegenüber einem, der sich vorgenommen hat, den Ausgangspunkt der Wissenschaft zu leugnen, und ihn zum nachträglich angelegten Kriterium ihrer Theorien umdeutet, um einsichtig zu machen, daß Objektivität ein Theorien äußerlicher Maßstab ist. Was dann Theorien sind, wenn man sie von ihrem Bezug auf ihre Gegenstände trennt, erläutert uns Popper so:
„Unsere Theorien sind unsere Erfindungen. Sie mögen oft nichts Besseres sein als schlecht durchdachte Mutmaßungen. Sie sind nie mehr als kühne Vermutungen, Hypothesen.“ (IV/80)
Daß er dabei womöglich von sich auf andere schließt, ist natürlich ausgeschlossen. Seine „Mutmaßungen“ über die Wissenschaft sind die einzig objektiven. Selbst dann, wenn er sich alle Mühe macht, mit ihnen auch noch das Mißverständnis auszuräumen, daß durch die „Überprüfung an der Erfahrung“ für die Wissenschaft je wieder eine Spur von Objektivität zu gewinnen ist. Nachdem er die Erfahrung als Maßstab für Objektivität eingeführt hat, um den Theorien ihre Objektivität abzusprechen, besteht er darauf, daß der Erfahrung grundsätzlich derselbe Mangel anhaftet, den er den Theorien angehängt hat:
„Was immer uns ‚gegeben‘ ist, ist bereits theoretisch interpretiert, entschlüsselt, von Hypothesen durchtränkt.“ (IV/201)
Warum die Wissenschaft ihre „Erfindungen“ dann überhaupt überprüft, wenn die „Überprüfung“ an einem Maßstab stattfindet, der selbst nicht objektiv ist, sondern auf eben solchen Erfindungen beruht, bleibt ziemlich unerfindlich. Zweifel an der „kühnen Vermutung“, daß sich die Wissenschaft im Spannungsfeld zwischen „raten“ (I/223) und dem Anlegen eines mehr als fragwürdigen Kriteriums abspielt, sind dennoch nicht angebracht. Mit seiner Behauptung beruft sich Popper nämlich auf die wirkliche Wissenschaft und strebt damit zielsicher den Gipfel wissenschaftstheoretischer Dummheiten an, mit wissenschaftlichen Einsichten ein Bild von Wissenschaft bestätigen zu wollen, mit dem Popper deren Objektivität bestreitet. Das macht natürlich ein paar Stilblüten fällig. Z.B. dann, wenn die naheliegende Frage zur Beantwortung ansteht, wo die „Theorien“ eigentlich herkommen, wenn sie der Erfahrung vorhergehen und diese bestimmen:
„Fast alle Philosophen gehen davon aus, daß wir unser Wissen durch Anschauung der Außenwelt bekommen. Das halte ich – mit Kant – für falsch. Ich glaube, es ist heute sonnenklar, daß wir mit bereits fast allem unserem Wissen geboren werden. Fast all unser Wissen ist in der genetischen DNS gespeichert.“ (VI)
„DNS“ – das fällt nicht in die Rubrik der theoretischen Fiktionen; das klingt unanfechtbar objektiv und verleiht der Botschaft von der Zweifelhaftigkeit allen Wissens eine unwiderlegliche Würze. Denselben Zweck erfüllt auch der stets angebrachte Verweis auf berühmte Wissenschaftler, mit denen man persönlich bekannt ist. Aus einem intimen Gespräch mit Niels Bohr erfährt man z.B.: „Er hat lange gehofft, eine wirkliche Erklärung für seine Atomtheorie zu finden, und wurde in dieser Erwartung enttäuscht.“ (VII) Popper ist sowas nicht mal peinlich, obwohl sich der Verdacht aufdrängt, daß Bohrs Atomtheorie die gesuchte Erklärung ist und ein ganz anderer „enttäuscht“ war, sie nicht verstanden zu haben. Und natürlich darf Einstein nicht fehlen, dessen wissenschaftliche Größe in der Bereitschaft bestanden haben soll, seine Theorie schonungslos der experimentellen Überprüfung an der Erfahrung auszusetzen, obwohl der Mann dafür bekannt ist, außer Gedankenexperimenten nie ein Experiment gemacht zu haben.
3. Was die Wissenschaft darf
Der Verweis auf anerkannte Autoritäten, der die Behauptung beglaubigen soll, daß die Wissenschaft tatsächlich so verfährt, wie Popper erläutert, macht sich gerade deswegen so gut, weil seine Auskünfte über die „Methode der Wissenschaft“ nach allen Seiten hin ein Etikettenschwindel sind: Was Popper unter der Überschrift „Theorien an der Erfahrung überprüfen“ abhandelt, zielt erstens nicht auf eine Überprüfung von Theorien. Er selbst beharrt darauf, daß weder die sachliche Übereinstimmung einer Theorie mit der Erfahrung noch ihre Abweichung von ihr etwas über die Theorie aussagt: Sie ist durch „noch so viele Beobachtungen“ – siehe Induktion – nicht zu „verifizieren“, aber auch durch eine Abweichung nicht zu „falsifizieren“, da die Wissenschaft, wie Popper „zugeben“ (I/16) muß, gelegentlich ganz gut daran tut, neue Erfahrungen nicht zum Anlaß zu nehmen, ihre bisherigen Theorien über den Haufen zu werfen, sondern sie durch zusätzlich „eingeführte Hilfshypothesen“ (IV/53) zu erklären. Munter führt Popper also Argumente an, die seine „Überprüfungsmethode“ gründlich ad absurdum führen. Nur hält er sich durch diese Argumente nicht für widerlegt, sondern insistiert mit ihnen darauf, daß in der Wissenschaft eine Überprüfungsmethode zur Anwendung gelangt, die nicht zur Klärung der Frage führt, ob die Theorien stimmen. Ihm gefällt diese Prüfung nämlich gerade deswegen, weil sie mit diesem offenen Ergebnis ausgeht, und er besteht auf diesem Ergebnis so sehr, daß er die Anstrengung, Zweifel an einer Theorie auszuräumen, nur als den unstatthaften Versuch werten kann, sich der Prüfung zu entziehen:
„Wenn wir derartige Immunisierungen zulassen, dann wird jede Theorie unfalsifizierbar. Folglich müssen wir wenigstens einige Immunisierungsmethoden ausschließen.“ (IV/53)
Er erhebt es daher geradezu zum Kriterium wissenschaftlicher Theorien, daß sie möglicherweise falsch, also kein Wissen sind:
„Wenn jemand eine wissenschaftliche Theorie aufstellt, dann soll er, wie Einstein, die Frage beantworten: ‚Unter welchen Bedingungen würde ich zugeben, daß meine Theorie falsch ist?‘ Mit anderen Worten: welche möglichen Tatsachen würde ich als Widerlegung (als ‚Falsifikation‘) meiner Theorie akzeptieren.“ (IV/53)
Eine ziemlich bescheuerte Aufforderung, möchte man meinen, denn was für „Tatsachen“ sollen das sein, die „möglich“ sind, obwohl sie theoretisch ausgeschlossen sind? Popper verlangt von jedem Theoretiker, ohne jeden Grund und im Widerspruch zu den Gründen, die er in seiner Theorie geltend macht, anzuerkennen, daß es sich mit der Sache auch anders verhalten könnte. Er fordert also gar nicht die Prüfung der Theorie, sondern will die Haltung des Theoretikers zu seiner Theorie auf die Probe stellen. Der soll einen in nichts begründeten, skeptischen Vorbehalt gegen seine eigenen Auffassungen gelten lassen, den Popper mit den Prädikaten „kritisch“ und „rational“ ausstattet, obwohl er weder kritisch ist, weil mit ihm gegen nichts ein begründeter Einwand erhoben wird, noch vernünftig, weil er gar keine theoretische Leistung darstellt, sondern nur in der Weigerung besteht, Theorien überhaupt nachzuvollziehen. Diese atheoretische Einstellung ist alles andere als eine Methode, „um herauszufinden, wo wir uns geirrt haben“ (IV/118). Sie ist ein Ausschlußgrund der unsachlichen Art, mit dem Popper „Dogmatiker“ ausmacht – eine Kennzeichnung, die zeigt, wie sachlich Popper argumentiert: er assoziiert Leute, die Argumente dafür haben, an ihrem Wissen festzuhalten, mit der Kirche, die zum Glauben an ihre Lehrsätze auffordert! – und aus dem Reich der Wissenschaft exkommuniziert.
Mit der unter dem Namen Erfahrung firmierenden Geistesleistung – des Etikettenschwindels zweiter Teil –, die Popper immerhin als Maßstab der Theoriebildung eingeführt hat, hat dieser Ausschlußgrund schon lange nichts mehr zu tun. Die hat sich unter der Hand ja auch schon aufgelöst in die Behauptung, „von Theorien durchtränkt“ zu sein. Der Maßstab, den er an Theorien angelegt sehen will, sind also gar nicht „die Tatsachen“, sondern ist durch andere Auffassungen von ihnen bestimmt. Wenn dann der Antrag an die Wissenschaft ergeht, sich an diesem Maßstab zu orientieren, dann geht es bei der Theoriebildung darum, nicht aus dem Rahmen dessen zu fallen, was in die bestehende Geisteslandschaft paßt. Popper kann das auch noch deutlicher sagen. Unter der Überschrift „Das Problem der Erfahrungsgrundlage“ (I/17) handelt er die Wahrnehmung als ein „subjektives Überzeugungserlebnis“ (1/18) ab, um schon einmal klarzustellen, daß sie ihn jedenfalls nicht als „Erfahrungsgrundlage“ der Wissenschaft überzeugen kann. Damit verschafft er sich die Freiheit, ein anderes Kriterium für jene „Tatsachenfeststellungen“ ins Spiel zu bringen, die der Wissenschaft als Maßstab dienen sollen: Sie müssen „intersubjektiv nachprüfbar“ (I/18) sein und werden von der Forschergemeinde „durch Beschluß, durch Konvention anerkannt“ (I/71). Was diese allseitige Anerkennung genießt, darf in seinen Augen dann getrost als Tatsache firmieren, an der sich eine „Theorie bewährt“, auch wenn es mit einer Tatsache in dem Sinn nicht mehr zu verwechseln ist. Unter dieses Kriterium fällt alles, was dem Verein freier Forscher als nützlicher Gedanke erscheint:
„Die Theorie ist ein Werkzeug, das wir durch Anwendung erproben und über dessen Zweckmäßigkeit wir im Zusammenhang mit seiner Anwendung entscheiden.“ (I/73)
Und Popper erläutert auch, was dieser „Standpunkt der praktischen Nützlichkeit der Wissenschaft“ (II/35) in Bezug auf eine Gesellschaft heißt, die nicht auf Wissen beruht, der Wissen also auch nicht nützlich ist. Er entwirft das Bild einer für „Sozialtechnologie“ (IIIb/98) nützlichen Wissenschaft, die sich Fragen wie „Was ist der Staat?“ oder „Was ist Kredit?“ (II/24) gar nicht erst stellt, die nicht dem „weltabgewandten intellektuellen Interesse am Warum gesellschaftlicher Phänomene“ (II/46) nachgeht, sondern sich auf die Frage festlegt, „welche Maßnahmen wir ergreifen können, wenn wir bestimmte Resultate erzielen wollen“ (II/34), damit „soziale Verbesserungsvorschläge“ (II/47) erarbeiten will und zielsicher an die allseits anerkannten Probleme anknüpft – die keine Tatsachen sind, sondern ideologische Deutungen der Fakten, die die politische Macht setzt! –, um diese Probleme aus dem konstruktiven Geist der Sorge um ihre Bewältigung heraus zu bedenken. Diese Sorte Anpassung an die Wirklichkeit hat Popper mit seinem Empirismus im Auge.
Der Etikettenschwindel insgesamt besteht also darin, daß Popper gar kein Verfahren der Wissenschaft abhandelt, sondern Einstellungen zu ihr begründet. Seine „Methode der Wissenschaft“ beschreibt nicht, wie die vorhandene Wissenschaft geht. Sie gibt auch kein Rezept für das Betreiben von Wissenschaft an die Hand, noch nicht einmal der verkehrtesten. Mit ihrem Skepsisgebot, mit ihrer Dialektik von Kühnheit und Bescheidenheit, mit ihrer Auflösung von Erfahrungstatsachen in Konventionen, an denen eine gleichgesinnte Forschergemeinde Theorien scheitern, ihren konstruktiven Unsinn aber durchgehen läßt, formuliert seine Wissenschaftstheorie eine Moral des Denkens. Als Haltung, die der Verstand vor und bei aller Betätigung einzunehmen hat, schreibt Popper die Selbstgenügsamkeit des privaten Spintisierens in Gemeinschaft vor und verlangt den gründlichen Verzicht, sich auch nur im geringsten an der Realität zu vergreifen, indem man sich ihr theoretisch widmet. Wenn auch der wissenschaftliche Pluralismus nicht durch die Beherzigung von Poppers Wissenschaftsmoral zustandekommt, so paßt sie mit ihrem Skepsisgebot – es verlangt schließlich nicht anderes, als anzuerkennen, daß andere Auffassungen von der Sache gerade so gut möglich, die eigenen also unerheblich sind – einzig auf diese Veranstaltung, die „Konkurrenz von Hypothesen“ (II/121), das Nebeneinander einander widersprechender Theorien über denselben Gegenstand, für das sich Popper so begeistern kann. Mit seiner Wissenschaftstheorie erteilt er diesem demokratisch organisierten Pluralismus den methodischen Segen, indem er – womit er recht hat – auf dessen Unvereinbarkeit mit Wissen besteht. Das geht nur über den Etikettenschwindel, den er unternimmt. Als Wissenschaft soll das Ganze schon noch kenntlich sein, weswegen Popper in Titeln wie „Erfahrung“ und „Kritik“ an das objektive Denken erinnert, das er unter diesen Titeln leugnet, und am Ende sogar darauf besteht, daß eine Wissenschaft, die seinem prinzipiellen Gebot zum Zweifel am Denken genügt, Objektivität beanspruchen darf: „Erkenntnis in diesem Sinne ist objektiv“ (IV/117).
II. Der politische Moralphilosoph
1. Wie Skepsis Affirmation begründet
Wenn sich Popper außer über die Wissenschaft auch noch über die Welt insgesamt, die Demokratie, die Technik, den Marxismus, die Grünen und die Jugend äußert, so ist der Eindruck durchaus verkehrt, er habe außer und neben seiner Wissenschaftstheorie noch andere Theorien entwickelt. Mit dieser Disziplin, die ihn in seinem Forscherleben „Induktionsschlüsse“ und „Probleme der Erfahrungsgrundlage“ studieren läßt, ist Popper bereits vollständig ausgerüstet, zu all diesen Angelegenheiten kompetent Stellung zu nehmen – und für die richtige Sache Partei zu ergreifen. Streng genommen hat er dazu noch nicht einmal seine Wissenschaftstheorie nötig; es reicht dafür der Standpunkt, den sie rechtfertigt: Die „sokratische Bemerkung ‚ich weiß, daß ich nichts weiß‘“ (IV/45), zu der er sich bekennt, nötigt diesen Mann überhaupt nicht dazu, die Schnauze zu halten – so ist die „intellektuelle Bescheidenheit“ (IV/45) offenbar nicht gemeint, die er predigt –, sondern erlaubt ihm vielmehr die denkbar umfassendsten Aussagen über die Welt und ihr Inventar:
„Wir leben in einer wunderschönen Welt, und wir haben hier in der westlichen Welt das beste soziale System geschaffen, das es bisher je gegeben hat.“ (X)
Wer nun Ausführungen über das soziale System erwartet oder wenigstens eine Aufzählung der Errungenschaften, die zu dem hemmungslosen, von keinerlei Skepsis gebremsten Freudentaumel veranlassen könnten, wird enttäuscht. Popper setzt seinen Bericht aus der „wunderschönen westlichen Welt“ nämlich fort mit dem Hinweis auf Probleme, die es in dieser Welt offenbar gibt, und auf Schwierigkeiten, die es bereitet sie auszuräumen:
„Und wir sind dauernd bemüht, es (das soziale System) zu verbessern, es zu reformieren, was alles andere als einfach ist. Viele Reformen, die sich uns als hoffnungsvoll anbieten, stellen sich leider als verfehlt heraus. Denn es ist eine der wichtigsten Einsichten, daß die Folgen unserer sozialpolitischen Handlungen oft ganz andere sind, als wir beabsichtigt haben und vorhersehen konnten.“ (X)
Was in dieser Welt im Argen liegt und nach Verbesserung ruft, erfährt man ebensowenig, wie die Gründe dafür, warum der offenbar allseits vorhandene Verbesserungswille so beständig danebengeht. Das ist auch gar nicht nötig. Die Leistung der Stellungnahme besteht gerade darin, alles, was zu einer Kritik Anlaß geben könnte – so vereinnahmt man Einwände, ohne auf ihren Inhalt einzugehen! –, erstens in ein Problem zu verwandeln, an dessen Bewältigung ein ideelles „wir“ arbeitet, und zweitens daraus zu erklären, daß die Problembewältigung bislang gescheitert ist. Gerade die negativen Seiten der schönsten aller Welten berechtigen auf die Weise zum Glauben an die positiv Absicht, die in ihr waltet. Allerdings nur denjenigen, der drittens die Verwirklichung dieser Absicht gar nicht erst erwartet – geschweige denn auf ihr besteht –, sondern sich ihre Nichtwirklichkeit mit der „Einsicht“ verständlich macht, daß im Leben mancher Schuß daneben geht, damit aber viertens nicht das Nichtvorhandensein der guten Absicht meint, sondern umso mehr darauf insistiert, daß sie im Modus der Möglichkeit vorhanden ist:
„Die offene Zukunft enthält unabsehbare und moralisch gänzlich verschiedene Möglichkeiten.“ (X)
Worauf Popper seine affirmative Sicht der Wirklichkeit gründet, ist nichts, was er in der Wirklichkeit vorfinden würde, sondern in einem Reich der Möglichkeiten angesiedelt, zu dem er sich als Skeptiker den Zugang eröffnet. Als Skeptiker, der Ignoranz zur Vorschrift macht und mit diesem Standpunkt alle in der Wirklichkeit geltenden Notwendigkeiten ideell außer Kraft setzt, verschafft er sich die Freiheit, alles für denkbar zu halten. Aus diesem sturen Beharren darauf, daß es auch anders kommen kann, folgt zwar noch nicht einmal der affirmative Bezug auf die dann „offenen“ Möglichkeiten, rechtfertigen läßt sich mit ihm jedoch jeder sinnstiftende Unsinn. Nämlich negativ dadurch, daß nichts ausgeschlossen ist, wenn man sich systematisch blöd stellt. Auch andere Sinnstifter vor und vor allem nach Popper bewegen sich mit ihren Sichtweisen im Modus der Möglichkeit. Sie bekennen sich dazu, indem sie darauf hinweisen, daß sich ihre Sicht der Dinge ganz dem Gesichtspunkt verdankt, und mit diesem Hinweis darauf beharren, daß man die Sache so sehen kann, wenn man ihren Gesichtspunkt anlegt. Im Unterschied zu ihnen verzichtet Popper allerdings ganz darauf, in seinem Beitrag zum positiven Denken überhaupt einen bestimmten Aspekt anzugeben, mit dem sich wenigstens die Form des Begründens wahren ließe, und nimmt die Kategorie der Möglichkeit gleich selbst als weltanschauliches Prinzip. Insofern bringt er es so recht auch gar nicht zu einer eigenen moralischen Vorstellung, sondern steht über allen anderen und bestätigt ihnen, daß sie möglich sind.
2. Wieso das Reich der Möglichkeiten demokratisch ist
Da ist es schon erstaunlich, mit welcher Sicherheit dieser Mann, ausgerüstet nur mit der abstrakten Idee, daß die Zukunft „offen“ ist – natürlich ist auch die Gesellschaft „offen“ und voller Möglichkeiten –, die Demokratie als seine Heimat identifiziert und sogar vom damals noch real-existierenden Systemfeind unterscheiden kann. Aber irgendwie gelingt es ihm:
„Selbstverständlich gibt es immer Dinge, die nicht gut sind und die verbessert werden müssen. Aber um hier Abhilfe zu schaffen, dazu sind unter anderem die Politiker da. Jedenfalls in einer demokratischen Gesellschaft.“ (IX)
Diesen soliden, aus der Einstellung des Problematisierens und Hoffens gewonnen Befund über die Zielsetzung demokratischer Politik, hätte Popper freilich geradesogut über die Politiker im Reich des Bösen aufstellen können. Er tut es allerdings nicht, sondern schließt sich mit ihm einem ziemlich totalitären Systemvergleich an, in dem die Demokratie gar nicht als zu beurteilende Staatsform vorkommt, sondern als Maßstab aller anderen Staatsformen, deren Unwert damit feststeht, daß sie nicht demokratisch sind:
„Wir brauchen nur zwischen zwei Regierungsformen zu unterscheiden… Demokratien und Tyranneien.“ (IIIb/189)
Und er braucht für diese parteiliche Unterscheidung tatsächlich nichts weiter als sein Faible für mit Skepsis vorgetragene, konkurrierende Weltanschauungen, weil er diesen affirmativen Aspekt der Demokratie abgewonnen hat. Sie schätzt er, weil sie eben diese Sorte Geistesleben garantiert:
„Die Wissenschaft, und insbesondere der wissenschaftliche Fortschritt… braucht immer mehr Konkurrenz zwischen Hypothesen… Letztlich hängt der Fortschritt in sehr hohem Maße von politischen Faktoren ab, von politischen Institutionen, welche die Gedankenfreiheit garantieren: von der Demokratie.“ (II/121)
Der Demokratie gereicht es in Poppers Augen zur Ehre, daß sie einen wissenschaftlichen Pluralismus einrichtet, den sie mit dem Gebot zur Toleranz gegenüber anderslautenden Auffassungen und jedem Unsinn auf das Bekenntnis zur praktischen Belanglosigkeit der zustandekommenden Gedanken festlegt. Für sie spricht, daß sie überhaupt eine Wissenschaft zuläßt – was Popper lässig darüber hinwegblicken läßt, daß der demokratische Staat sich in seiner Praxis nach wissenschaftlichen Einsichten gerade nicht richtet und mit seinem Toleranzgebot ganz prinzipiell auf seiner Handlungsfreiheit besteht. Aus dem für das Handeln der Politiker gar nicht maßgeblichen Blickwinkel betrachtet, daß es in der Demokratie schwer auf Wissenschaft ankommt, steht in Poppers Weltsicht dann alles gründlich auf dem Kopf. In denjenigen, deren Verstandesleistungen der Staat für seine Bedürfnisse und die Bedürfnisse seiner Kapitalisten instrumentalisiert, erkennt Popper zielsicher die wahren Subjekte, die den gesellschaftlichen Fortschritt vorantreiben – „Techniker und Wissenschaftler sind die einzigen, die wirklich helfen können.“ (IX) – auch wenn sie als Subjekte des Geschehens einen nicht gerade glaubwürdigen Eindruck machen:
„Alle Techniker haben ein großes Interesse daran, die von der Technik verursachten Schäden wieder zu beseitigen, und die auf Wissenschaft basierende Technik ist das einzige, was uns helfen kann, diese Schäden wieder in Ordnung zu bringen.“ (VII)
Die schon bekannte Dialektik von Verbessern und Scheitern erübrigt die nähere Befassung mit der Frage, was für „Schäden“ das sind und von welchem Einsatz der Technik für welche Zwecke sie herrühren. Zumal sich die schädlichen Wirkungen der kapitalistischen Produktionsweise auf Mensch und Natur auch lässig übersehen lassen, wenn man sich auf die wirklich großartigen Errungenschaften der Technik konzentriert:
„Die Technik hat uns, und insbesondere die Frauen, befreit. Die Waschmaschine zum Beispiel und fließendes kaltes und warmes Wasser, und der Kühlschrank…“ (IX),
… das sind sie dann auch schon, die Gebrauchswerte, die Popper als Beleg dafür einfallen, daß eine für die Wertproduktion instrumentalisierte Technik zur Mehrung des Nutzens und Minderung des Schadens da ist! Und auch sie werden übrigens nicht von der Technik zur Verfügung gestellt, sondern von Kapitalisten verkauft.
Die Demokratie – „und sie allein“ (IIIa/25) – stellt in Poppers kruder Weltsicht umgekehrt als dienende Macht den „institutionellen Rahmen“ (IIIa/25) für den allseits tätigen, konstruktiven Geist; „ein unschätzbares Kampffeld für jede vernünftige Reform, da sie Reformen ohne Gewaltanwendungen zuläßt“ (IIIb/189) und „die Anwendung der Vernunft auf die Fragen der Politik“ (IIIa/25) erlaubt. Um zu dieser Einsicht zu gelangen, muß Popper das Toleranzgebot, dem die Demokratie ihre Untertanen unterwirft, irgendwie verwechselt haben mit einer Regel, der die Herrschaft sich unterwirft. Jedenfalls führt er als Beweis für seine ungeheuerliche Behauptung, daß Demokraten für vernünftige Änderungswünsche an ihrer Politik zugänglich sind, Wahlen an, wie sie die Demokratie noch nicht gesehen hat. Durch sie, meint er, „können die Herrscher – das heißt die Regierung – von den Beherrschten entlassen werden, ohne daß es zu Ausschreitungen und zu Blutvergießen kommt.“ (IIIb/188) Natürlich glaubt das auch Popper nicht. Er erlaubt sich mit seinem „das heißt“ nur den kleinen Spaß, das Auswechseln einer Regierungsmannschaft gleichzusetzen mit der Vorstellung, die Untertanen könnten eine ihnen nicht genehme Herrschaft loswerden, um seine kühne Hypothese, die Demokratie sei ein Tummelplatz für Leute, die vernünftige oder auch nur gute Absichten geltend machen wollen, wenigstens in der Möglichkeitsform zu retten.
Ansonsten ist gerade ihm geläufig, daß die Demokratie jedes Blutvergießen rechtfertigt, wenn es um ihre Herrschaft geht. Schließlich rechtfertigt er es selbst:
„In einem einzigen weiteren Fall“ – der andere ist die „Errichtung einer Demokratie“ (IIIb/178) – „halte ich die Anwendung von Gewalt in politischen Kämpfen für gerechtfertigt. Ich meine den Widerstand – nach Errichtung der Demokratie – gegen jeden Angriff (ob von innen oder außen) auf die demokratische Verfassung und auf die Verwendung demokratischer Methoden.“ (IIIb/178)
Popper legitimiert die Gewalt der Demokratie – z.B. den „Einsatz der Atombombe“ (IX) durch die USA – freilich nicht ehrlich aus den wirklichen Interessen, die der demokratische Staat mit ihr verteidigt, sondern im Namen der „offenen Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fähigkeiten des Menschen in Freiheit setzt“ (IIIa/21), im Namen der Möglichkeiten also, die sich der positiv eingestellte Verstand ausmalt.
3. Was der Mensch darf
Darin widerlegt sich auch der Etikettenschwindel, den Popper in der praktischen Abteilung seiner Philosophie in Szene setzt. Der Gestus des Eingreifens, Veränderns und Verbesserns löst sich auf in die Erlaubnis, sich allen möglichen Illusionen über das Leben in der Demokratie hinzugeben; eine Erlaubnis, die Popper ausdrücklich unter der Bedingung erteilt, daß daraus keine praktischen Ansprüche folgen dürfen. Sowenig Poppers Wissenschaftstheorie eine Anleitung zum Theorietreiben ist, sowenig ist seine praktische Philosophie eine Auskunft über Praxis – weder über die wirkliche, die der demokratische Staat auf seine Interessen festlegt, noch über eine andere, die den Laden vernünftiger oder auch nur anders einrichten will. In ihr verkündet Popper seine Moral fürs Leben, die affirmative Stellung zur stattfindenden Praxis, die der von „intellektueller Bescheidenheit“ nur so strotzende Mann selbstverständlich nicht für seine Privatangelegenheit hält, sondern dem Verstand anderer Leute vorschreiben will. Die Leistung, die er als politischer Moralist vollbringt, besteht darin, als oberste Tugendwachtel die Strömungen des Zeitgeists zu beaufsichtigen, jeden kritischen Gedanken, der ihm unterkommt, als „giftgeschwängerte intellektuelle Zeitkrankheit“ (IIIb/15) anzuprangern und nach der Polizei zu rufen.
Seine größte Herausforderung in der Hinsicht ist der Marxismus. Seiner Bekämpfung widmet er zwei Bücher, die er „unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges und der kommunistischen Mythologie von der bevorstehenden Weltrevolution.“ (II/VII) bzw. „im Dunkel der gegenwärtigen Weltlage“ (IIIa/7) – 1950, der kalte Krieg läuft gerade auf Hochtouren – schreibt. Die Herausforderung ist also von vornherein weniger theoretischer Natur, als in politischen Lagen begründet, in denen der Staat unbedingte Parteilichkeit gebietet – der sich der freie Denker nicht verschließen will. Die Feindschaftserklärung der auf Demokratie und Marktwirtschaft abonnierten Staaten gegen das andere System begreift er umstandslos als seinen Auftrag, die Wissenschaft und den Zeitgeist gegen Infizierung mit der Staatsdoktrin des Systemfeinds zu bewahren. Die ganze Wissenschaft wird von ihm nach der politischen Auftragslage neu durchsortiert: Ehrenwerte Denktraditionen – Platon, Hegel („der Beginn zunächst intellektueller und später, als eine der Folgen, sittlicher Verwahrlosung“, IIIb/36). – bringt er in Verruf, den intellektuellen Brunnenvergifter Marx befördert zu haben; anerkannte Fachrichtungen der bürgerlichen Wissenschaft – neben etlichen erkenntnistheoretischen -Ismen u.a. die Geschichtsphilosophie, die Wissenssoziologie und die Psychoanalyse – werden von ihm als „Folgen“ des Ungeists denunziert; der Vorwurf der „fünften Kolonne“ (IIIb/96) – der Parteilichkeit fürs falsche System! – ergeht an die Intellektuellen insgesamt. Ein schönes Beispiel dafür, wie das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt!
Das für den demokratischen Vorzeigeintellektuellen Peinliche der politischen Auftragslage liegt darin, daß an Marx’ Vorwürfen gegen das Ausbeutersystem nicht vorbeizukommen ist, weil (und solange) jedermann in Gestalt der real-existierenden Alternative an sie erinnert wird. Die Theorie, die diese Vorwürfe begründet, ist nicht totzuschweigen; Popper sieht sich zu einer „Kritik des Marxismus“ (IIIa/7) veranlaßt.
Er nimmt Marx als „Propheten“, der mit seinem „Kapital“ eine „Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit“ (II/VII) verkünden wollte, und ist mit seinem skeptischen Durchblick, daß die Zukunft „offen“ ist, eigentlich auch schon am Ende seiner Marx-Widerlegung:
„Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß die Sozialwissenschaften als einzige unter den Wissenschaften fähig sein sollten, den uralten Traum zu verwirklichen: uns zu enthüllen, was für uns in der Zukunft verborgen liegt.“ (IIIb/101)
Popper redet als Wissenschaftstheoretiker über die Theorie, mit der er abrechnen möchte, was den Vorteil hat, deren Inhalt nicht in Betracht ziehen zu müssen. Daß das „Kapital“ nicht von der Wissenschaft, sondern von der Ökonomie handelt, hindert ihn nicht daran, ihm einen Begriff von Wissenschaft zu entnehmen, den er „Historizismus“ nennt und für widerlegt hält: Er weiß nämlich, daß Wissenschaft im Aufstellen von Voraussagen besteht, die sich nicht beweisen lassen! Obwohl Popper ein ganzes Buch über „Das Elend des Historizismus“ geschrieben hat, in dem sogar „Historizisten“ vorkommen und vorgeführt wird, wie „verschiedene Varianten“ (II/17) dieser Spezies argumentieren könnten und womöglich „tatsächlich“ argumentieren – „Ideen dieser Art sind von manchen Historizisten tatsächlich vertreten worden…“ (II/43) –, ist kaum anzunehmen, daß überhaupt jemals irgendwo einer so schwachsinnig gewesen ist, Wissenschaft und Hellseherei zu verwechseln und „historizistisch“ zu denken. Popper legt sich in diesem Ismus ja auch ziemlich offensichtlich nur das konstruierte Gegenbild zu seinem Glauben an die „offenen“ Möglichkeiten zurecht, daß nämlich „die Wissenschaft die Zukunft vorhersagen kann“, weil sie „vorherbestimmt ist“ (IIIb/100). Er führt also gegen Marx ein Scheingefecht, in dem er einen Pappkameraden aufbaut und abschießt.
Was diese Unternehmung so umfänglich geraten läßt – in seinem Buch „Die offenen Gesellschaft und ihre Feinde“ braucht Popper für sie über 200 Seiten –, ist der Umstand, daß es gar nicht so einfach ist, Marx’ Theorie mit dem Versuch der Hellseherei zu identifizieren. Nachdem sich Popper erst einmal 60 Seiten lang über die Marx unterstellte Schwachsinns-„Methode“ ausläßt –
„Der Marxismus ist eine rein historizistische Theorie, eine Theorie, die sich die Aufgabe setzt, den zukünftigen Verlauf ökonomischer und machtpolitischer Entwicklungen und insbesondere den Ablauf von Revolutionen vorherzusagen.“ (IIIb/98) –
wird es Zeit, Marx’ Theorie zur Hand zu nehmen und zu „Marxens Prophezeiung“ zu kommen, nämlich der „Voraussage des Auftretens einer klassenlosen, das heißt einer sozialistischen Gesellschaft“ (IIIb/161). Da Popper diese Prophezeiung im „Kapital“ leider nur ansatzweise entwickelt und zum größten Teil „nur angedeutet“ (IIIb/161) findet, sieht er sich genötigt, auf den nächsten 40 Seiten das Vermißte selbst nachzureichen. Und Popper führt nicht nur die Argumente an, die er bei Marx vergeblich gesucht hat, er kommentiert sie auch noch kritisch! Überhaupt muß das „Kapital“ gründlich „verbessert“ (IIIb/209) werden, weil Marx furchtbar schlecht für seine Vorhersage argumentiert hat – „um seine Theorie so überzeugend wie möglich darzustellen, habe ich sie etwas abgeändert“ (IIIb/209). Stattdessen hat er sich mit für den Versuch, den „Ablauf von Revolutionen“ vorherzusehen, nun wirklich gänzlich überflüssigen Angelegenheiten aufgehalten:
„Ich halte die Werttheorie von Marx, die gewöhnlich bei den Marxisten sowie bei Gegnern des Marxismus als ein Eckstein des marxistischen Gebäudes(?) gilt, für einen ziemlich unwichtigen Bestandteil…“ (IIIb/199)
Zumal sich ohne die Werttheorie manches auch wieder in verständlichen Worten sagen läßt, z.B. daß die „Akkumulation des Kapitals“, von der Marx spricht, soviel „bedeutet“ wie Vermehrung „der Maschinen“ (IIIb/209) etc…
So schwer tut sich der bürgerliche Denker, das leider nun einmal vorhandene und (damals) nicht zu übergehende Wissen um die im Kapitalismus geltenden Notwendigkeiten abzustreiten, mit dem auch – und das berührt Popper sichtlich! – alle Illusionen darüber kritisiert sind, was innerhalb dieses Systems alles möglich ist und wieviel Platz es dem humanistischen Verbesserungswillen läßt. Diesen Verbesserungswillen gesteht Popper auch Marx gerne zu; „Marx hatte ein brennendes Verlangen, den Unterdrückten zu helfen“ (IIIb/97). Er muß ihn leider dennoch als Verbrecher brandmarken, weil er mit seiner Theorie darauf bestanden hat, daß es „eine eitle Hoffnung (ist), wenn wir glauben, daß die Zustände verbessert werden können.“ (IIIb/133) Diese Hoffnung – es macht nichts, daß sie „eitel“ ist! – ist es nämlich, die dem Leben in der Demokratie einen Sinn gibt und den Menschen nicht ausrasten läßt:
„Dadurch, daß man den jungen Leuten einredet, daß sie in einer schlechten Welt leben, treibt man sie bis zum Selbstmord und bis zum Terrorismus.“ (IX)
Solche Auskünfte über dem Menschen, zumal dem jungen Menschen eigentümliche Reaktionsmuster haben sich, nachdem die Sache mit Marx praktisch erledigt war, alle anderen kritischen Geister, vor allem „die Intellektuellen“ (IX), u.a. die Grünen, als Vorwurf anhören müssen: Von einem Mann, dessen Menschenbild eine „eitle Hoffnung“ als das Lebensmittel vorsieht, auf das der Mensch – zumal dann, wenn er durch die Unterwerfung unter die Sachzwänge, die die Demokratie einrichtet, sittlich noch nicht gefestigt ist! – ein Anrecht hat und das ihm die Demokratie gewährt! Das haben die herrschenden Demokraten und ihre Öffentlichkeit Popper gedankt.
- I Logik der Forschung. 2. Aufl., Tübingen 1966; (1. deutsche Ausgabe 1934)
- II Das Elend des Historizismus. 2. Aufl., Tübingen 1969; (1. engl. Ausg. 1944)
- IIIa Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. (Bd.1) Der Zauber Platons. 6. Aufl., Tübingen 1980 (1. engl. Aufl. 1944)
- IIIb Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. (Bd.2) Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen; 7. Aufl. Tübingen 1992
- IV Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung. 1. Aufl., Hamburg 1979
- V Das Ich und sein Gehirn. (Zusammen mit John Eccles); 10. Aufl. München 1991
- VI Interview in Die Welt vom 6.7.87
- VII Interview in Die Welt vom 8.7.87
- VIII Interview in Die Welt vom 11.7.87
- IX Interview in Die Welt vom 21.2.90
- X Vortrag; zitiert aus der SZ vom 15./16.6.91