Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Pandemie XVI.
Highlights öffentlicher Moral in Zeiten von Corona
Arbeitgeber und Öffentlichkeit erteilen Verdi eine Lektion in Sachen gesunder Gemeinsinn

Verdi fühlt sich stark wie lange nicht mehr. Die Gewerkschaft stellt selbstbewusst Forderungen in den Raum, mit denen sie ihre materiellen Ansprüche als die naturwüchsige Verlängerung des allseits ausgesprochenen Respekts gegenüber den Angestellten im öffentlichen Dienst behandelt. Was hilft, ist ein Tarifvertrag für eine Lohnerhöhung von 4,8 %, mindestens aber 150 Euro, bezogen auf 12 Monate. Damit beißt Verdi auf Granit. Und die Abfuhr ist lehrreich ...

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Pandemie XVI.
Highlights öffentlicher Moral in Zeiten von Corona
Arbeitgeber und Öffentlichkeit erteilen Verdi eine Lektion in Sachen gesunder Gemeinsinn

Dass es auf die Angestellten im öffentlichen Dienst in Zeiten von Pandemie und Lockdown besonders ankommt, dass ihre Arbeit unentbehrlich ist für die Pflege der Alten und Kranken, den Nahverkehr, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und sonst ganz vieles, ist auch so eine Lehre aus der Krise. Sie werden als systemrelevant beansprucht und mit reichlich öffentlicher Anerkennung bedacht.

Ihre Gewerkschaft sieht sich – es wurde auch Zeit! – offiziell ins Recht gesetzt. Für Verbesserungen für ihre Mitglieder geht sie seit Jahr und Tag mit der Unersetzlichkeit von deren Leistungen für Gott und die Welt hausieren und macht die Härten geltend, die deren Dienste Tag für Tag ausmachen, die zu allem Überfluss mit der Bekämpfung der Pandemie nicht weniger, sondern mehr werden. Endlich nimmt die Öffentlichkeit das alles zur Kenntnis: die Krankenpfleger zum Beispiel, die von der Aufopferung auf der Corona-Station berichten, wo seit jeher Personalmangel herrscht; die x Jahre, in denen sie ohnehin schon keinen Monat ohne absurd viele Überstunden mehr erlebt haben; das alles bei äußerst dürftiger Bezahlung für Jobs, die auf die Knochen gehen.

Verdi fühlt sich mit der moralischen Rückendeckung stark wie lange nicht mehr. Die Gewerkschaft stellt selbstbewusst Forderungen in den Raum, mit denen sie ihre materiellen Ansprüche als die naturwüchsige Verlängerung des allseits ausgesprochenen Respekts behandelt:

„Die Corona-Pandemie zeigt: Der öffentliche Dienst und seine Beschäftigten halten das Land zusammen. Das muss auch im Tarifergebnis deutlich werden. Klatschen allein hilft niemandem.“ (Verdi-Chef Werneke, 25.8.20)

Was hilft, ist ein Tarifvertrag für eine Lohnerhöhung von 4,8 %, mindestens aber 150 Euro, bezogen auf 12 Monate.

Damit beißt Verdi auf Granit. Und die Abfuhr ist lehrreich – hinsichtlich der Produktivkraft und des Nutznießers einer gefestigten rechtschaffenen Gesinnung anständiger Bürger in einem intakten Gemeinwesen.

*

„Wir wissen die Arbeit der Beschäftigten im gesamten öffentlichen Dienst zu schätzen. Aber wir können nicht so tun, als gäbe es die Milliardenlöcher in den kommunalen Haushalten nicht.“ (U. Mägde, Verhandlungsführer der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber (VKA), 3.6.20)

Mit dem bewährten Totschlagargument namens Kassenlage können die öffentlichen Haushälter kinderleicht so tun, als ob die Milliardenlöcher, die sie als Beweis der Unerfüllbarkeit solcher gewerkschaftlichen Forderungen anführen, nicht umgekehrt von ihrer Freiheit zeugen würden, das zu finanzieren, was sie für nötig halten. Sie stilisieren die Schulden der Vergangenheit und Zukunft zum Beleg ihrer Unfreiheit, die sie unbedingt darauf festlegt, am Personal zu sparen. Das ist angesichts der täglich neuen Hilfspakete für notleidende Firmen, ganze Branchen und den allgemeinen Betrieb des hauseigenen wie europäischen Kapitalismus denkbar lächerlich – aber auf die Art bestehen die Arbeitgeber unmissverständlich darauf, dass die wertvollen Leistungen der kopfstarken staatlichen Angestelltenmannschaft von der Billigkeit ihrer Gehälter nicht zu trennen sind.

Und bei aller Wertschätzung für die unverzichtbaren Leistungen ihrer Angestellten können sie das holzschnittartige Bild von 2,4 Millionen Corona-Helden angesichts untätig gemachter Bademeister und Museumswärter gleich gar nicht unwidersprochen stehen lassen: Zahlreiche Beschäftigte haben während des Lockdowns über Wochen hinweg nicht arbeiten müssen – das Geld kam trotzdem pünktlich. (VKA, Presseinformation vom 22.9.20) Nichts geleistet und trotzdem bezahlt – die Demontage des gewerkschaftlichen Bilds vom unentbehrlichen Katastrophenhelfer kann offenbar gar nicht holzschnittartig genug ausfallen. Vor allem aber:

„Die Gewerkschaften sollten einmal den Blick über den Tellerrand hinaus wagen und sich daran erinnern, dass wegen der Corona-Pandemie zahlreiche Dienstleistungen der öffentlichen Hand nicht erbracht werden konnten... Auch die Gewerkschaften müssen sich dieser besonderen Verantwortung bewusst sein. Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass sich Millionen Beschäftigte aktuell noch in Kurzarbeit befinden oder gar um ihre Arbeitsplätze fürchten. Das ist im Übrigen auch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft: Unsere Arbeitsplätze sind sicher!“ (Ebd.)

Wenn die Krise schon deutlich macht, was ganz viele von denen alles nicht geleistet haben, um trotzdem hunderttausendfach als reine Kostgänger von der öffentlichen Hand durchgefüttert zu werden, untermauert das die noch viel entscheidendere Sache: welches Privileg ein derartig sicheres Arbeitsverhältnis ist. Wer sich’s so gerichtet hat, ist es den Unterprivilegierten schuldig, einfach mal die Schnauze zu halten und ansonsten, wo gebraucht, arbeiten zu gehen und den Applaus entgegenzunehmen, anstatt die allgemeine Notlage für Sonderinteressen ausnutzen zu wollen, während die anderen empfindliche Kürzungen ihres Einkommens oder gleich dessen Verlust zu verdauen haben. Davon haben ihre Kollegen aus der privaten Wirtschaft zwar auch nichts, aber die sind ja auch für eine andere Sorte Beweis gut. Deren Nöte mit ihrem Lebensunterhalt, die die Arbeitgeber ihnen aufhalsen, sprechen für uneingeschränkte Dankbarkeit aufseiten der öffentlich Bediensteten gegenüber ihrem Arbeitgeber. Zweifel wegen der Gemeinheit des Arguments, das für das Aushalten der Härten noch viel schlimmere Lebenslagen anführt, die man den öffentlich Angestellten nicht antut, sind keine bekannt. Die Lehre ist bestechend: Arbeitsplatzsicherheit wie Haushaltsloch verlangen unbedingt nach Verzicht in der Frage, was man vom Arbeiten hat, in der Krise schon gleich, und verpflichten zu Dank, dass man Arbeit hat. Verglichen mit schlimmeren Schicksalen ist der Arbeitsplatz Lohn genug. Und während die Verhandlungsführer der Gegenseite guten Gewissens ohne eigenes Angebot in die ersten beiden Verhandlungsrunden gehen, wähnt sich die Gewerkschaft unbeirrt noch auf der sicheren Seite, betont ihren guten Willen, unterstreicht den bösen der Gegenseite und traut sich was:

„Die Arbeitgeber haben unsere ausgestreckte Hand ausgeschlagen. Damit sind Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst im Herbst vorprogrammiert.“ (Werneke, 18.6.20)

Zwar rechtfertigt die Gewerkschaft nach Kräften die minimalinvasive Störung des Landes, das man zusammenhält, inszeniert keinen noch so bescheidenen Warnstreik, ohne darauf herumzureiten, was sie damit alles nicht lahmlegt und auf welche Dienste sich das Gemeinwesen und die pandemiegeplagten Bürger allemal verlassen können – allein, es nützt nichts. Die Gegenseite konfrontiert Verdi mit einer hinreichend kompromisslosen Klarstellung darüber, wen die öffentliche Hochachtung ins Recht setzt.

„In der schlimmsten Rezession der Nachkriegszeit jetzt schon mit Arbeitskampf zu drohen, zeigt aber, dass die Gewerkschaften den Ernst der Lage offensichtlich nicht erkannt haben. In dieser schwierigen Situation ist Augenmaß gefordert – sowohl für die kommunalen Arbeitgeber als auch für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst.“ (Mägde, 18.6.20)

Erstens steht es Lohnarbeitern nicht zu, bei Rezession an den Ernst ihrer Lage zu erinnern und daraus Ansprüche abzuleiten. Diese Gleichsetzung ist den Arbeitgebern vorbehalten. Für ihre Weigerung, die materiellen Forderungen der Gewerkschaft zu erfüllen oder überhaupt nur als irgendwie legitim anzuerkennen, und ihre gallige Polemik gegen jeden noch so peinlichen Warnstreik kommen, zweitens, schon wieder die pandemiegebeutelten Arbeitnehmer wie gerufen. Diesmal nicht so sehr als Kurzarbeiter und Entlassene, sie haben dankenswerterweise noch andere Krisensorgen:

„Dass nunmehr Warnstreiks in Bereichen wie den Kindertagesstätten erfolgen, zeigt, dass die Gewerkschaften ihre Bodenhaftung verloren haben. Denn wie will man diese Aktionen gegenüber den Beschäftigten rechtfertigen, die schon während des corona-bedingten Lockdowns bei der Kita vor verschlossenen Türen standen und ihre Kinder zuhause betreuen mussten?“ (VKA, Presseinformation vom 22.9.20)

Dass sich die Arbeitgeber für ihr eisernes Njet! gegenüber den kindergeplagten Beschäftigten rechtfertigen müssten, fällt keiner Sau ein. Wenn der hoheitlich geregelte Alltag gestört wird, auf dessen reibungslosen Ablauf sich die Menschheit verlassen muss, weil sie alle Hände voll zu tun hat, mit seinen Herausforderungen fertigzuwerden, blamiert das von vornherein den Störer, nie dessen Hüter und Sachwalter. Umgekehrt gilt umso mehr: Wenn schon alles Recht, das die Gewerkschaft für sich und die ihren geltend macht, auf der einwandfreien Erledigung der allerorten benötigten Dienste beruht, auf die die Insassen eines modernen Kapitalismus in Krisenzeiten erst recht angewiesen sind, dann folgt aus der prekären Lage des Gemeinwesens nur eins: Die Dienste müssen erbracht werden, ohne Wenn und Aber. Sonst verspielt die Standesvertretung mehr als die nächste Tariferhöhung, nämlich das öffentliche Wohlwollen von Politikern, Bürgern und einer verantwortungsbewussten Öffentlichkeit.

Die Steilvorlagen aus dem Lager der Arbeitgeber nimmt letztere dankbar auf – für ein paar Handreichungen auf dem Feld richtig verstandenen sozialpartnerschaftlichen Gemeinsinns in Krisenzeiten. Die Gewerkschaft hat noch Glück, wo der Standpunkt, dass Streiks nicht in die virenverseuchte Landschaft passen, ganz als problematische Erörterung schwer gegeneinander abzuwiegender Rechte inszeniert wird: Streiken trotz Corona – legitim oder verantwortungslos? (ARD-Presseclub) Die leichte Übung schwerer Abwägungen zielt allein auf die feststehende Antwort: Womöglich legitim, aber was ist mit der Verantwortung gegenüber den Betroffenen? Die bewährte Tour, jede Menge Opfer zu beschwören, die allein auf das Konto der Gewerkschaft gehen, bedarf dann nur der entsprechenden Drastik – Warnstreiks nehmen Fahrgäste und Eltern in Geiselhaft! (Bonner Generalanzeiger) –, um schließlich ohne heuchlerisches Für und Wider ganz unbekümmert in antigewerkschaftliche Hetze überführt zu werden. Stellvertretend die Frankfurter Edelfedern:

„Streiks und Corona-Ausbreitung: Geht’s noch? Wenn nicht gerade Corona das Land lahmlegt, kommt Verdi um die Ecke. Die Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst ist auf den kuriosen Gedanken gekommen, den öffentlichen Nahverkehr zu bestreiken. Als ob Corona das nicht schon Monate zur Genüge besorgt. Warum Verdi einen der größten Verlierer der Corona-Krise bestreikt, ist ebenso ein Rätsel wie der Ausstand in Kitas und Krankenhäusern.“ (FAZ, 29.9.20)

Ein wirkliches Rätsel ist das natürlich nicht. Die Redaktion für kluge Köpfe kann nur die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, die Forderungen der Gewerkschaft zu einem einzigen Irrationalismus aufzublasen, bei dem nur noch eines auszumachen ist: selbstgerechtes gewerkschaftliches Schmarotzertum an den Nöten aller anständigen Krisenopfer.

*

Konfrontiert mit der hartnäckigen öffentlichen Empörung und Hetze entschließt sich Verdi, es auf eine ernsthafte Kraftprobe dann doch lieber nicht ankommen zu lassen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren, um nach einer wie immer harten dritten Verhandlungsrunde ein Ergebnis schönzureden, das von den hochverdienten Forderungen nicht viel übrig lässt. Der oberste Dienstherr zeigt sich hingegen vollauf zufrieden, sodass er am Ende seine Angestellten sogar moralisch rehabilitiert – nicht als Mitglieder der Gewerkschaft, dafür aber als Funktionsträger öffentlicher Aufgaben: Wir haben einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst. Auf ihn ist Verlass! (Seehofer)

Die eindringliche Schilderung von Opferbereitschaft ist gut für tiefempfundene Anteilnahme und Hochachtung und hat, wenn sich die Aufregung um die Konjunkturritter aus dem Gewerkschaftslager wieder gelegt hat, ihren bleibenden Stellenwert. Die Inszenierung passender Sternstunden unter reger Beteiligung des Publikums beherrschen die Macher von Politik und Öffentlichkeit selbst gut genug. Bei der Gelegenheit setzen die aufgewühlten Bürger unter öffentlicher Anleitung den unermüdlichen Helfern, sich selbst als anständigen Menschen und in ihrer Eigenschaft als gute Deutsche ihrem Gemeinwesen ein Denkmal. Es gilt der Gemeinschaft, die zusammensteht in schwerer Stunde und die fälligen Opfer auf sich nimmt. Für so etwas Kleinkariertes wie eine Forderung nach mehr Lohn ist da kein Platz. Das wäre für eine deutsche Gewerkschaft zur Abwechslung auch mal eine interessante Lehre aus der Pandemie.