Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die ersten 100 Tage eines sozialen Präsidenten und seines neuen Brasilien: „Null Hunger“
In den letzten Wochen des alten Jahres gewinnt der „charismatische“ sozialistische Politiker und frühere Gewerkschaftsführer Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, die Stichwahl um das Präsidentenamt mit „überwältigenden 61%“ der Stimmen und eint das Land geradezu begeistert hinter sich. Mit seinem Markenzeichen ‚Fome Zero‘ versteht er es, auch das in Armut und Hunger lebende Viertel des Volkes für die Besetzung des höchsten Staatsamts zu interessieren und an den Staat heranzuführen.
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Länder & Abkommen
Die ersten 100 Tage eines sozialen Präsidenten und seines neuen Brasilien: „Null Hunger“
In den letzten Wochen des alten Jahres gewinnt der „charismatische“ sozialistische Politiker und frühere Gewerkschaftsführer Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, die Stichwahl um das Präsidentenamt mit „überwältigenden 61%“ der Stimmen und eint das Land geradezu begeistert hinter sich.
„Seit dem Ende der Militärdiktatur hat kein Präsident so viel Zuversicht und Hoffnung unter den Brasilianern auslösen können wie derzeit Lula. Die Mehrheit der Brasilianer glaubt daran, dass es ihr unter dem neuen Präsidenten besser gehen wird. Schließlich ist Lula doch selbst in Armut aufgewachsen; er ist ‚einer von uns‘ und damit einer, der die Bedürftigen aus der Misere herausholt, der Arbeit gibt, der das Geld in der Lohntüte erhöht, der die Kinder in die Schule karren lässt und der mehr Ärzte einstellt.“ (NZZ, 26.3.03)
Mit seinem Markenzeichen ‚Fome Zero‘
(FAZ) versteht er es, auch das in Armut
und Hunger lebende Viertel des Volkes für die Besetzung
des höchsten Staatsamts zu interessieren und an den Staat
herauszuführen. Ihm und allen wohlmeinenden Brasilianern
bietet sein Hungerprojekt eine neue Version von
Nationalstolz, wie er einem humanen Land ziemt:
„Solange es einen Brasilianer oder eine Brasilianerin gibt, die Hunger leiden, gibt es mehr als einen Grund, uns dafür zu schämen.“ (Volksstimme, 9.1.03) Den Hungernden schenkt er Hoffnung – und der Nation das schöne Gefühl eines wahrhaften Miteinander, wenn er „am 1. Januar unter dem Jubel der Massen und der Medien“ sein Amt mit dem heiligen Versprechen antritt, dass nächstens „jeder Brasilianer morgens Kaffee trinken, Mittags anständig essen und abends ohne Hunger ins Bett gehen kann.“ (FAZ, 2.4.)
Die internationale „financial comunity“ begleitet das
alles mit höchstem Argwohn. Dem alten Klassenkämpfer
traut sie eine „antikapitalistische Revolution“,
ersatzweise ein „Moratorium der Staatsschulden“ zu, sie
zieht Geld ab und bringt Brasilien wieder einmal an den
Rand des Staatsbankrotts. Die Panik an den
Finanzmärkten drohte das Land in eine neue Rezession zu
stürzen.
(FAZ, 7.4.)
Hundert Tage später ist Lula der Liebling der
Finanzmärkte. Er gewann nicht nur die Herzen des
Volkes, sondern den Kredit von Banken und
Unternehmern.
(FAZ, 2.4.)
Der Real hat sich von seinem Tiefstand um mehr als 20%
gefestigt. Seit Jahresbeginn fließen wieder Kredite ins
Land, brasilianische Anleihen sind gefragt.
(FAZ 7.4.). Derweil warten
die Hungernden immer noch auf eine warme Mahlzeit. Beides
ist nicht verwunderlich bei dem Programm!
Ein erbärmliches Sozialprogramm …
Wenn der Chef eines Landes, in dem es Atomkraftwerke, eine Flugzeugindustrie und neueste Informationstechnologie gibt, den hungernden Millionen seines Volkes verspricht, sie nicht zu vergessen, d.h. ihnen, weil sie zur Nation zählen und auch Brasilianer sind, ein paar Grundnahrungsmittel zu spendieren, dann zeugt das erstens davon, dass die schon längst vergessen sind; und zweitens davon, dass das auch so bleiben wird. Dieser gar nicht kleine Volksteil wird fürs kapitalistische Geschäftsleben des Landes nicht gebraucht und hat daher keinen Zugang zum vorhandenen Reichtum – offenbar noch nicht einmal zu den Krümeln dieses Reichtums, die von der Herren Tische fallen. Den Elenden verspricht der Staatschef Hungerhilfe und eben nicht die Schaffung von Lebensgrundlagen, mit denen sie sich selbst helfen könnten – noch nicht einmal die zynische kapitalistische Variante davon: Arbeitsplätze. Der großartige Beschluss des Präsidenten, dass die nutzlosen Volksteile wenigstens gefüttert werden sollen, unterstellt und unterschreibt als unabänderlich, dass der Reichtum, um den es im Lande geht, das Kapital und sein Wachstum, mit einem Viertel des Volkes nichts anfangen kann und nichts anfangen wird.
Dass es auf die Marginalisierten unter keinem maßgeblichen nationalen Gesichtspunkt ankommt – außer eben dem aller abstraktesten: sie gehören auch irgendwie dazu! –, qualifiziert das Hungerprojekt zu bestenfalls einem Neben- und Unterpunkt brasilianischen Staatsmachens. Das hindert den sozialen Präsidenten aber nicht, es in seiner Antrittsrede an die erste Stelle der Agenda zu setzen. „Fome Zero“ ist die große soziale Überschrift über seine Präsidentschaft; an der Aufgabe soll sich sein Brasilien bewähren, für sie soll es zu einer neuen nationalen Kraftanstrengung zusammenfinden. Alle anderen Staatsfunktionen, die das brasilianische wie jedes kapitalistische Gemeinwesen so braucht, rücken in den Hintergrund – in die Rolle von bloßen Mitteln der Hungerbekämpfung. Die allerdings sein müssen. Der gute Staat, auf den die Hungernden hoffen sollen, muss funktionieren, seine Reichtumsquellen mehren und seine Finanzkraft fördern – damit er all das Gute bewirken kann, das ihm der neue Präsident zur Aufgabe macht. Und das heißt nun einmal, sich zu aller erst um die Bedürfnisse zu kümmern, von denen der Staat abhängt. Unter dem Titel, dass er für sein ideelles Hauptziel viel Geld brauchen wird, macht Lula die Befriedigung der Ansprüche des internationalen Finanzkapitals zur praktischen Hauptaufgabe seiner Amtsführung. Er lässt sich sozusagen von seinem großen Null-Hunger-Ziel zu genau der Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik beauftragen, die sein Vorgänger auch schon gemacht hat – und die immerhin der Grund für den massenhaften Hunger ist. So geht Sozialdemokratie auf brasilianisch!
… und seine Praxis
All den Fürsprechern der Armen, die das schäbige
Hungerprojekt mit einem „Immerhin“ begrüßen und so
„verstehen“, dass die Unterernährten zuerst
einmal essen müssten, ehe sie zur Schaffung eines
ganz neuen Brasilien aufbrechen können, rechnet der
soziale Präsident seine Erst-Einmals
vor, die dem
Füttern der Hungernden vorherzugehen haben, und ohne
deren befriedigende Erledigung er ihnen nicht helfen
kann.
Gleich nach der Verkündigung seines humanen Projekts
schreibt er einen Brief an das Volk
, in dem er
Unternehmern und Anlegern zusichert, alle unter
vorherigen Regierungen geschlossenen Verträge
einzuhalten. Auch an den mit dem IWF vereinbarten Zielen
für die Haushaltspolitik werde er festhalten
(FAZ, 7.4.) – ja sie
überbieten, um schleunigst die internationale
Geschäftsfähigkeit und dadurch die finanzielle
Handlungsfähigkeit seines Staates wiederherzustellen. Den
Erfordernissen des internationalen kapitalistischen
Geschäftsverkehrs muss auf jeden Fall entsprochen werden
– damit ein kapitalistisch potentes Brasilien eines Tages
vielleicht so viel überschüssigen Reichtum hat, dass es
den Armen Futter spendieren kann. Vorerst folgt aus der
Sicherung der Voraussetzungen der guten Tat jedoch das
Gegenteil. Um bei den Investoren Vertrauen zu stiften,
betreibt die Zentralbank genau die Hochzinspolitik,
die Lula im Wahlkampf noch gegeißelt hatte.
Wegen ihr
kommt die einheimische Produktion bisher nicht in
Gang. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Reallöhne sinken.
… Lula selbst wertet das neu erworbene Vertrauen der
Finanzmärkte als bisher größten Sieg.
(taz 5.5.03) Um einen primären
Haushaltsüberschuss von 3.75% des BIP zu erzielen, den er
dem IWF als Gegenleistung für einen neuen Kredit
zugesichert hatte, muss er sein Versprechen brechen,
die Sozialausgaben von den geplanten Etat-Kürzungen
auszunehmen. Letztlich entfiel sogar 1/3 der Sparsumme
auf diesen Bereich.
(HB
25.2.) So sollten bis zum Jahresende 60.000
Landlosenfamilien angesiedelt werden. Doch die
Haushaltsmittel für die Entschädigungszahlungen an
Großgrundbesitzer reichen nicht einmal um halb so viel
Land umzuverteilen.
(taz
5.5.03.)
Alles ist eben wichtiger als der Hunger, alle kapitalistischen Ansprüche müssen zuerst bedient, alle Erfordernisse der internationalen Konkurrenz zuerst erfüllt werden, ehe an die Bekämpfung der gröbsten Not – Lulas Hauptziel – auch nur zu denken ist. Vom sozialen Großprojekt bleibt denn auch nur eines übrig:
Ein Festival nationaler Mildtätigkeit
Alle wirtschaftspolitischen Zwänge können den neuen
Präsident aber nicht von seinem Anti-Hunger Engagement
ablenken. Er gründet ein Sonderministerium für
Versorgungssicherheit und zur Bekämpfung des Hungers
und fordert seine Minister auf, mit ihren Ressorts zur
Kampagne gegen Hunger und Armut beizusteuern
.
(FAZ, 2.4.03) Nur wird nicht
so recht klar, was das neue Ministerium genau tun soll
und was die anderen Ministerien mit ihren hungerfernen
Geschäftsbereichen überhaupt beitragen können: Mittel,
die sie den Hungernden zukommen lassen könnten, bekommen
sie ja nicht bewilligt. Dafür ruft der Mann mit der fast
messianischen Popularität noch weitere Kräfte auf den
Plan: Die Zivilgesellschaft
soll ihre Kräfte
einbinden – die Gewerkschaften ebenso wie die
Unternehmer, die Frauenverbände, die Kirchen, die
internationalen NGOs, die Forschung und Wissenschaft
(FAZ, ebd.) Und weil diese
Organisationen bekanntlich nur darauf warten, den Hunger
endlich entschieden zu bekämpfen, hebt erst einmal eine
große nationale Debatte an. Experten und runde Tische
stellen sich den drängenden Fragen: Wer gehört überhaupt
zu den Bedürftigen und wie viele gibt es? Was bedeutet
„Null Hunger“: Nahrungspakete verteilen, Bargeld
ausgeben, Schulstipendien einräumen oder Arbeitsplätze
schaffen?
(FAZ, ebd.)
Unterdessen wird schon mal stellvertretend gegessen –
Lula besucht ausgewählte, abgelegene arme Dörfler und
lässt sie für die Kamera vor ihren Wellblechhütten
mampfen – oder auch nach dem Rotationsprinzip:
Brasilianer, die essen, helfen den Hungernden
(Motto der Kampagne). Der
ganze soziale und nationale Aufbruch läuft darauf hinaus,
dass die „Zivilgesellschaft“ – nicht zum ersten Mal – mit
privaten Spenden die Not lindern soll, die der vernünftig
wirtschaftende Staat leider nicht beheben kann. Die
Brasilianer täuschen sich nicht einmal groß über die
Natur des guten Werkes; richtig Ärger gibt es nur, als
bekannt wird, dass „das Ministerium noch kein
Spendenkonto eingerichtet (hat)“, so dass Gisèle
Bündchen, das blonde brasilianische Starmodel
,
seinen unter zuckenden Kamerablitzen
unterschriebenen Scheck nicht korrekt ausfüllen kann. Den
mächtigsten Beitrag zu „Null Hunger“ leistet der
Jazz-Sänger Gilberto Gil, seines Zeichens Weltstar und
neuer Kulturminister. Er erhebt das Projekt zum
nationalen Kultur-Event, singt und tanzt zusammen mit
Kollegen und gibt in der Sprache des Bossa Nova seinen
Hoffnungen einen schönen Ausdruck: Lula möge ihnen
wenigstens nicht die Vision einer besseren Zukunft
nehmen. Und diese ‚Sisyphos-Vision‘ heißt ‚Null
Hunger‘
(ebd.)
Begeistertes Lob und neue Forderungen vom internationalen Finanzkapital
Sozialisten wie den Präsidenten Lula mögen die
Finanziers. Sie loben ihn für die Orthodoxie
, mit
der er auf die gewöhnlichen Rezepte der Geld- und
Fiskalpolitik zurückgreift
(El
País, 10.4.), noch mehr aber für sein Geschick,
diese Orthodoxie seiner Arbeiterpartei ohne erkennbaren
Widerstand als einzig gangbaren Weg in eine sozialere
Zukunft aufzudrücken: Es ist, als ob die ganze Nation
einen Kurs in Nationalökonomie belegt hat, und eingesehen
hat, dass man nur ausgeben kann, was vorher in die Kasse
gekommen ist
. (FAZ 2.4.)
Dann aber gehen die zynischen Profis von IWF und Presse
zu kollegialen Warnungen über: So sehr sie sich darüber
freuen, dass die blöden Brasilianer ihrem Präsidenten das
ideelle Staatsziel „Null Hunger“ als guten Sinn seines
kapitalistischen Realismus durchgehen lassen, so sicher
sind sie sich auch, dass das nicht lange gut gehen wird.
Sie beglückwünschen Lula zu seiner großen Popularität und
ermahnen ihn, rechtzeitig davon zugunsten der
eigentlichen Staatsaufgaben Gebrauch zu machen – nämlich
solange die Massen ihr Vertrauen noch auf „ihren“
Präsidenten setzen und sich die Härten der „echten
Reformen“ gefallen lassen, die internationale Investoren
in ihrem Interesse und im Interesse des brasilianischen
Kapitalstandorts fordern: „Vor allem müssten die
Reformen schnell vorankommen, mahnt Bezerra
(ein Analyst), bevor Lula
seine derzeit noch hohe Popularität verliere. Schon jetzt
machen sich erste Zeichen der Ernüchterung in der
Bevölkerung bemerkbar.“ (FAZ
7.4.) Nicht ohne Ironie knüpfen die
internationalen Ratgeber an Lulas soziale Rhetorik an und
entlarven seinen Hunger-Feldzug als ungeeignet, dem Volk
eine Lebensgrundlage zu verschaffen – allein (!) mit
Essensgaben werden 44 Millionen Menschen nicht von der
extremen Armut befreit werden können.
(FAZ 7.4.) – nur, um an die absolute
Bedingung zu erinnern, unter der im Kapitalismus
Lebenschancen entstehen und vermehrt werden:
Brasilianische Arbeit muss sich fürs internationale
Kapital lohnen – und zwar viel mehr als bisher. Millionen
Hungernde sind der lebendige Beweis ihrer mangelnden
Rentabilität. Um diese Not zu wenden, braucht es statt
schwachbrüstiger Hungerhilfe Strukturreformen
, die
Elend und Hunger vermehren: Die Begrenzung der
Pensionsansprüche, das Durchforsten des Steuerwirrwarrs,
die Reduktion der Abgabenlast durch verstaubte
Arbeitsgesetze und die Senkung der horrenden
Lohnnebenkosten.
(ebd.)
Schon jetzt ist klar, dass die Brasilianer die Quittung bekommen werden für die demokratische Reife, all ihre Hoffnung auf ein besseres Leben auf bessere Herrschaftsfiguren, auf einen guten Regenten, einen ‚Präsidenten des Volkes‘ zu setzen. Die internationalen Medien spekulieren ja längst darüber, wie die Massen diese Quittung verdauen.