Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Das BVG erklärt das Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig und stellt nebenbei klar, was man von der Menschenwürde und dem Recht auf Leben hat
Die bundesdeutsche Ordnungsgewalt will sich ohne Wenn und Aber die gesetzliche Ermächtigung verschaffen, den Terroristen mit einem kriegerischen Akt zuvorzukommen. Bevor diese mit Hilfe eines gekaperten Flugzeugs das „Gemeinwesen“ treffen, sollen – notfalls – um höherer Interessen willen die Insassen des gefährlichen Fliegers zum amtlichen Abschuss frei gegeben werden.
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Das BVG erklärt das Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig und stellt nebenbei klar, was man von der Menschenwürde und dem Recht auf Leben hat
Das Luftsicherheitsgesetz
sollte den Verteidigungsminister zu der Anordnung
ermächtigen, durch die unmittelbare Einwirkung von
Waffengewalt
ein Verkehrsflugzeug samt Passagieren
abzuschießen,
„wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie (die Ausübung der Waffengewalt) das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.“ (Luftsicherheitsgesetz § 14, Abs. 3)[1]
So wappnet sich die Staatsmacht schon einmal vorsorglich
für den unwahrscheinlichen, nahezu
ausgeschlossenen
(Schily in der
SZ, 13.1.05) Extremfall
eines
nine-eleven
über ihrem Territorium. Irgendeine
andere Art von Vorbeugung
steht an dieser Stelle
nicht zur Debatte, geschweige denn die Frage nach den
Ursachen des Terrors und den Zielen der Terroristen,
ebenso wenig wie die, warum die Bundesregierung wie
selbstverständlich davon ausgeht, dass sich ein 11.
September
auch hierzulande ereignen könnte. Die
bundesdeutsche Ordnungsgewalt hat andere Sorgen: Sie will
sich ohne Wenn und Aber die gesetzliche Ermächtigung
verschaffen, den Terroristen mit einem kriegerischen Akt
zuvorzukommen. Bevor diese mit Hilfe eines gekaperten
Flugzeugs das Gemeinwesen
treffen, sollen –
notfalls – um höherer Interessen willen die Insassen des
gefährlichen Fliegers zum amtlichen Abschuss frei gegeben
werden. In der Auseinandersetzung mit den Terroristen
sieht sich der staatliche Gewaltmonopolist
herausgefordert. Deshalb stoßen abwägende Einwände der
Art, ein Abschuss über dicht bewohntem Gebiet habe
womöglich noch fatalere Konsequenzen als ein
erfolgreicher Anschlag, auf taube Ohren. Wenn sich
Terroristen eines Luftfahrzeugs
bemächtigen, dann
gilt es, sie mit überlegener Gewalt zu eliminieren.
Diesem offensiven Bekenntnis entspricht das Bedürfnis,
die einschlägigen militärischen Maßnahmen nicht einfach –
gewissermaßen pragmatisch – ihren Gang gehen zu lassen.
Dass die dafür Verantwortlichen nach der bisher geltenden
Rechtslage möglicherweise gerichtlich belangt werden,
sich nach allgemeinem Dafürhalten juristischer Experten
allerdings auf einen übergesetzlichen Notstand
berufen könnten, ist für die Regierung kein zufrieden
stellender Zustand. Sie will nicht nur tun, was
sie kann, sondern in ordnungsgemäßer Rechtsform sich
dafür ganz ausdrücklich vorab die Erlaubnis
erteilen. Damit leistet sie nebenbei eine kleine
Klarstellung über das Verhältnis von Politik und Recht:
Rechtmäßiges Verfahren und gesetzliche Form machen das
gewalttätigste Staatshandeln legal und damit
unwidersprechlich. Darauf zu achten, dass deswegen jedes
einfache Gesetz
mit den
verfassungsmäßigen Grundsätzen kompatibel sein
muss, welche sich die öffentliche Gewalt als ihre
prinzipielle Leitlinie gegeben hat, gehört insofern zum
alltäglichen Geschäft rechtsstaatlicher Politik. Dem
tragen die Macher des neuen Antiterror-Gesetzes gleich
mehrfach Rechnung:
Erstens in Bezug auf das Recht auf Leben. Die
Formulierung des Gesetzes betont, dass es keinem anderen
Zweck diene, als der Abwehr
einer Gefahr
für das Leben von Menschen
. Der – ehemalige –
Innenminister kann gar nicht oft genug hervorheben, dass
man sich gegen das Recht auf Leben geradezu versündige,
wenn man gegen das Gesetz sei, gehe es doch darum, den
zusätzlichen Tod Tausender von Menschen zu
verhindern.
(ebd.)
Zweitens erklären
die Autoren das Flugzeug zu
einem Sonderrechtsgebiet. Mit dem Einsteigen ins Flugzeug
erkläre man sich angesichts der seit dem 11. September
2001 allgegenwärtigen Terrorgefahr gegebenenfalls mit dem
Abschuss einverstanden.
(SZ,
16.2.06)
Nach dieser Lesart verstößt also der Abschuss eines
Passagierflugzeugs nicht gegen das Recht der Insassen auf
personale Selbstbestimmung
. Insofern, als mit dem
Betreten des Flugzeugs eine Art Einverständniserklärung –
durch schlüssiges Verhalten
– erfolgt sei,
verletze der Abschuss gerade nicht den freien Willen der
Passagiere. Die hätten die Gelegenheit gehabt und
wahrgenommen, durch die Teilnahme am Flug in
terrorgefährlichen Zeiten ihre Zustimmung zu ihrer
rechtsstaatlichen Exekution zu erklären. Diese zynische
Rabulistik fällt dabei gar nicht so sehr aus dem Rahmen
juristischen Argumentierens, wie es dem gemeinen Verstand
und insbesondere einem betroffenen Fluggast erscheinen
könnte: Der hier postulierte freie Wille der Passagiere
wird rechtlich herbeidefiniert, weil man sich als
freiheitlicher Gesetzgeber schon gerne auf Zustimmung und
willige Mitwirkung der freien Person berufen möchte, auch
und gerade dann, wenn es ihr mit Rechtsgewalt final an
den Kragen geht. Deswegen trifft man bei Gesetzesmachern
und -auslegern auf durchaus verwegene Konstruktionen
eigener Art, die mit dem wirklichen Wollen der
Betroffenen wenig zu tun haben, um so mehr aber mit dem
Interesse der legislativen Instanz, das Gesetz werden
soll: Im vorliegenden Fall mit dem Interesse, eine
terroristische Bedrohungslage
ebenso rücksichtslos
wie rechtsförmig zu bereinigen. Folglich verstößt das
neue Gesetz in den Augen des federführenden
Innenministers weder gegen das Recht auf Leben,
dient es doch – wie von Schily und Konsorten gesagt –
umgekehrt gerade dessen radikalem Schutz; noch verstößt
es gegen das Recht der Person, über sich selbst frei
zu verfügen, i.e. die Menschenwürde, findet
doch der staatlich eingeleitete Exitus der angenommenen
Entführungsopfer mit ihrer konkludenten
Zustimmung
statt.
Dieser nach juristischen Maßstäben durchaus plausiblen Argumentation, mit welcher die Verfasser ihr Gesetz wasserdicht gegen die ihnen nicht unbekannten juristischen Einwände machen wollten, schließt sich das BVG nicht an. Nach seiner maßgeblichen Auffassung verletzt das Gesetz gerade die Verfassungsgüter, deren Schutz bzw. Verwirklichung es für sich reklamiert.
Die Antwort des BVG – erster Teil –
fällt, den erleichterten Kommentaren liberaler Medien zufolge, vernichtend aus:
„Es sei eine ‚lebensfremde Fiktion‘, dass Besatzungsmitglieder oder Passagiere in die eigenen Tötung einwilligten. … Die Auffassung, entführte Menschen seien selbst Teil der Waffe, bringe ‚geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer nicht mehr als Menschen wahrgenommen, sondern als Teil einer Sache gesehen und damit selbst verdinglicht werden.‘ Der Gedanke sei abzulehnen, der Einzelne müsse sein Leben notfalls im Interesse des Staatsganzen aufopfern. Die staatliche Schutzpflicht für potenzielle Opfer am Boden reiche nicht so weit, dass andere Bürger getötet werden dürften.“ (SZ, 16.2.)
„Es ist schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten“,
zitiert „Die Zeit“ unter der Überschrift Nur das Leben
zählt
aus dem Urteil und fügt ergriffen hinzu: Und
vor allem dieser Satz wirkt wegen seiner
Bedeutungsschwere wie in Stein gemeißelt: ‚Menschliches
Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf
die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen
gleichen verfassungsrechtlichen Schutz.‘
(Die Zeit, 16.2.)
Dankenswerterweise wird man in der Wiedergabe des Urteils
durch die SZ darüber aufgeklärt, worum es dem Gesetzgeber
tatsächlich geht, wenn er das Leben möglicher Opfer eines
möglichen Terrorangriffs mit einem Verkehrsflugzeug als
das Rechtsgut zitiert, dessen Schutz das
Luftsicherheitsgesetz verpflichtet sei: Um nichts
Geringeres als das Interesse des Staatsganzen
. Das
Gesetz hätte also dem harmlosen Fluggast die jederzeitige
Bereitschaft abverlangt, für die Intaktheit des
staatlichen Gewaltmonopols sein Leben aufzuopfern
.
Diesen Gedanken
lehnt das Gericht ab. Die
Passagiere können aufatmen: Die staatliche
Schutzpflicht
darf sie nicht das Leben kosten,
jedenfalls dann nicht, wenn sie unschuldige
Menschen
sind, und auch sonst nicht weiter
dienstpflichtige Zivilisten.
Interessant ist dabei allerdings, wie weit das BVG bei
seinem Einspruch gegen die gesetzliche Selbstermächtigung
des Staates zum finalen Todesschuss gegen ein ganzes
Verkehrsflugzeug ausholt. Es argumentiert sehr
grundsätzlich, geradezu rechtsphilosophisch, mit der
drohenden Verdinglichung
der zivilen
Flugzeuginsassen: Das Grundrecht des Menschen auf
Selbstbestimmung
, auf freie Verfügung über sich
selbst, müsse der Staat auch dann achten, wenn es
praktisch schon gar nichts mehr wert ist. Die Bedingungen
und Schranken der physischen Existenz
der
Betroffenen dürfe er nicht in Betracht ziehen, wo es um
Leben
im Sinne des Grundgesetzes und um die
menschliche Würde
geht. Das Gericht verwirft die
lebensfremde Fiktion
eines impliziten
Einverständnisses rechtlich denkender Flugzeuginsassen
mit ihrem eigenen Abschuss – im Namen und vom Standpunkt
des Prinzips dieser Fiktion, das nämlich so
lautet: Der bürgerliche Rechtsstaat respektiert an seinen
Untertanen eine Subjektrolle, die er
ihnen zuspricht, ganz gleich, wie es objektiv um
die Chancen der Leute bestellt ist, sich überhaupt
praktisch als Subjekt zu betätigen; deswegen muss sein
eigener interessierter Umgang mit den Menschen sich stets
so interpretieren lassen, dass er ihnen in all
seinen Verfügungen und Zumutungen immer die Freiheit
lässt, sich als Subjekte dazu zu verhalten und sich damit
einverstanden zu erklären, auch wenn sonst weiter gar
nichts daraus folgt. Diese Haupt- und
General-Fiktion eines völlig leeren, für irgendeinen
Inhalt viel zu grundsätzlichen Rechts auf einen
eigenen Willen sieht Karlsruhe durch die
rechtliche Subsumtion freier Flugtouristen unter die
dingliche Bestimmung eines Flugzeugs als Waffe verletzt.
Das Gericht erinnert den Gesetzgeber daran, dass das
Recht sich in letzter Instanz überhaupt nicht darum
kümmert, wie es physisch
um das Leben seiner
Subjekte bestellt ist; dass es vielmehr deren gesamte
materielle Existenz – ihre Interessen, ihre
Interessengegensätze, ihr Mit- und Gegeneinander, ihre
Bedürfnisse und Nöte im Verhältnis zur staatlichen
Ordnungsgewalt selber – der einen grundlegenden Verfügung
unterordnet, ein jeder habe letztlich formell frei über
die eigene Person zu verfügen, besäße gewissermaßen ein
unveräußerliches Eigentum an seiner eigenen physischen
Existenz
. In dieser Abstraktion liegt die
Würde, die der Rechtsstaat seinen Bürgern
beilegt. Und gegen dieses hohe Gut verstößt das
Flugsicherungsgesetz mit seiner quasi pragmatischen,
quantifizierenden Abwägung „physischer Existenzen“
gegeneinander. Auch wenn das Gesetz sich noch so viel
Mühe gibt, ein Stück freien Willens der Opfer in deren
Opferrolle hineinzukonstruieren: Nach Ansicht des
Verfassungsgerichts verletzt der Staat hier – nein, nicht
so sehr die Leute, deren „physische Existenz“ kann und
muss hier ganz außen vor bleiben, vielmehr: – die
rechtliche Fiktion, auf der sein ganzes bürgerliches
Rechtssystem beruht, nämlich das formelle
Selbstbestimmungsrecht, das er gewährt;
und insofern verletzt er mit dem Gesetz – sich
selbst.
Dass diese Fiktion
die Staatsgewalt nie
prinzipiell beschränkt, und schon gleich nicht am Einsatz
aller Gewaltmittel gegen einen Feind hindert, der ihr
Gewaltmonopol brechen will, meint das BVG in diesem
Zusammenhang gleich genauso grundsätzlich bekräftigen zu
müssen. Ausweislich eines Leserbriefs findet sich in der
Urteilsbegründung nämlich folgende Passage:
„Wer, wie diejenigen, die ein Luftfahrzeug als Waffe zur Vernichtung menschlichen Lebens missbrauchen wollen, Rechtsgüter anderer rechtswidrig angreift, wird nicht als bloßes Objekt staatlichen Handelns in seiner Subjektqualität grundsätzlich in Frage gestellt, wenn der Staat sich gegen den rechtswidrigen Angriff zur Wehr setzt und ihn in Erfüllung seiner Schutzpflicht gegenüber denen, deren Leben ausgelöscht werden soll, abzuwehren versucht. Es entspricht im Gegenteil gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Er wird daher in seinem Recht auf Achtung der auch ihm eigenen menschlichen Würde nicht beeinträchtigt.“ (SZ, 17.3.)
Man sieht: Auch mit ihrer Lizenz für die Regierung,
rechtswidrige Angreifer
auch ohne formelle
Kriegserklärung umbringen zu lassen, macht Deutschlands
oberste Rechtsinstanz es sich nicht einfach. Sie sieht
sich bemüßigt, auch nach dieser Seite hin klarzustellen,
dass die Verdinglichung
, die sie der Exekutive
verbietet, wirklich nichts mit der physischen
Existenz
menschlicher Subjekte zu tun hat, sondern
eine Frage der hoheitlichen Anerkennung der Subjektivität
als solcher ist. Es geht um den freien Willen in seiner
denkbar abstraktesten Form. Diese Rechtsfigur erlaubt im
Falle eines terroristischen Fliegerangriffs
Gewaltanwendung, ja sie gebietet sie geradezu; insofern
nämlich, als der freie Wille der Angreifer
nicht
negiert, sondern gewürdigt wird, wenn der Staat den
feindlichen Subjekten die Folgen ihres
selbstbestimmten Verhaltens persönlich zurechnet
und
mit der Vernichtung der physischen Existenz
quittiert. Umgekehrt gebietet die Fiktion
der
grundgesetzlich garantierten Subjektqualität
im
Falle unschuldiger Passagiere gesetzgeberische
Zurückhaltung. Das BVG lehnt das Luftsicherheitsgesetz
nicht deshalb ab, weil dieses die Tötung von Hunderten
von Passagieren vorsieht, sondern weil es sie ins
Recht setzt und damit gegen das Rechtsgut der
abstrakten Selbstbestimmung der Person verstößt. Die
Antwort auf die bange Frage möglicher Betroffener, ob
ihre physische Existenz
Schutz genießt, hängt also
an einem sehr feinen – juristischen – Faden.
In Bezug auf die öffentliche Gewalt wird damit allerdings eine Rechtsfrage der Extraklasse beantwortet: Ausdrücklich erlauben darf sich der Staat die Tötung Unschuldiger auch im gedachten Extremfall nicht. Das muss aber für die Verantwortlichen kein Hindernis sein, nach ihrem Ermessen zu handeln. Den Hinweis glaubt das BVG sich auch noch schuldig zu sein. Die fliegenden Rechtssubjekte mit ihrer unveräußerlichen Würde kommen daher in den Genuss folgender „Ergänzung“ des Urteils:
Der Antwort zweiter Teil
„Einigermaßen überraschend fand sich dann aber darin doch ein Satz, der viele Profis elektrisierte. ‚Dabei ist hier nicht zu entscheiden‘, las Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier vor, ‚wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn vorgezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären.‘ Das aber musste bedeuten: Der Abschuss einer entführten Passagiermaschine kann strafrechtlich anders, nämlich milder, beurteilt werden als verfassungsrechtlich.“ (SZ, 16.2.)
Ein wahrhaft salomonisches Urteil also: Einerseits ist
die Lizenz zum Töten verfassungswidrig. Andererseits ist
die Verfassung nicht der einzige Maßstab des Handelns.
Indem das Gericht, gleich nach der Bekräftigung höchster
verfassungsrechtlicher Grundsätze, die
strafrechtliche Bewertung eines Verstoßes gegen
diese Grundsätze in das milde Licht staatlicher
Notwendigkeiten taucht, anerkennt es das ehrenwerte
politische Bedürfnis hinter dem Luftsicherheitsgesetz.
Auch im Krieg gegen den Terror bleiben Leben und
Menschenwürde verfassungstheoretisch
unverrückbar die höchsten Güter. Praktisch mag
es dagegen auch einmal unabweisbar sein, dass sich die
Staatsgewalt in ihren vielfältigen Drangsalen nicht nach
der schönen Theorie richtet. Da können, das wollen die
gar nicht lebensfremden Verfassungsrichter schon
einmal vorab klarstellen, die beamteten Gewalttäter auf
verständnisvolle Strafrichter hoffen. Und auch
politisch erfüllt das Gericht den Streit um die
lebensfremden Fiktionen
des Gesetzentwurfes doch
mit sehr lebensnahem Inhalt: Es müsste sich unter den
Befehlshabern des Sicherheitsapparates nur jemand finden,
der die Verantwortung übernimmt und im Fall des Falles
mit gewissensschwerer Geste und dem Grundgesetz unter dem
Arm zurücktritt. Damit wäre auch dem Geist des Urteils
des BVG Genüge getan. So jedenfalls die Interpretation
der sachkundigen Öffentlichkeit.
Rechtspolitiker sind damit allerdings noch lange nicht
zufrieden. Denn es war ja gerade diese in ihren Augen
unbefriedigende Rechtslage eines übergesetzlichen
Notstands
, welche durch das Luftsicherheitsgesetz in
die Normalität der gesetzlichen Regelung eingemeindet
werden sollte. Also denken sie vorwärts und entnehmen dem
Urteil die Notwendigkeit, anlässlich der bekannten
terroristischen Bedrohungen
das damit befasste
Sicherheits- und Polizeirecht zu militarisieren.
Ein neues Stück Kriegsrecht
ist in den Augen von Schily und Schäuble dringend nötig,
weshalb sie für eine entsprechende Änderung der
Verfassung werben. Wenn das Urteil zum
Luftsicherheitsgesetz den Gedanken ablehnt, der
Einzelne müsse sein Leben notfalls im Interesse des
Staatsganzen aufopfern
, dann fällt den Kennern der
Materie natürlich sofort ein, dass unstreitig
„Fälle denkbar (sind), wo der Staat rechtmäßig einen Lebenseinsatz fordert oder eine Lebensvernichtung als rechtmäßig anerkennen kann, obgleich in diesen Fällen in den Wesensgehalt des konkreten Grundrechts auf Leben eingegriffen wird (siehe Art. 19 II GG). Diese staatlich vorgenommenen oder geduldeten Eingriffe sind aber nur dann zulässig und gerechtfertigt, wenn dabei Leben gegen Leben steht und die Entscheidung zugunsten des einen Lebens verfassungsrechtlich geboten ist. … Die staatliche Forderung des Lebenseinsatzes im Verteidigungskrieg ist durch den ungerechten Angriff auf die Lebensrechte der das Staatsvolk bildenden Menschen gerechtfertigt.“ (Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, RdNr. 13 u. 19, Art.2 II)
Wenn die Menschen
also als Staatsvolk
zur
Zielscheibe in einem gerechten Verteidigungskrieg
werden – und wann hätte man je davon gehört, dass Staaten
etwas anderes machten als zurückzuschießen –,
dann kann eine demokratische Obrigkeit mit allem Recht,
da sogar verfassungsrechtlich geboten
,
Lebenseinsatz
in beliebigem Umfang von ihren
Bürgern fordern
, so unschuldig und zivil die bis
gestern gewesen sein mögen. Deshalb ist auch schon vor
Jahren der höchstrichterliche Bescheid ergangen, dass
auch die Wehrpflicht, die typischerweise
Lebensvernichtung als rechtmäßig anerkennt
, mit
der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar ist: Der
Soldat hat also keinen Anlass, auch wenn er –
militärtechnisch gesehen – noch so sehr Teil einer
Waffe
ist, sich – verfassungsrechtlich gesehen –
übermäßig verdinglicht
zu fühlen und deswegen zum
Verfassungsgericht zu rennen (BVerfGE 12, 50).
Es kommt also darauf an, die Bedrohungslage nach den
Anschlägen vom 11. September 2001 … mit dem
Verteidigungsbegriff im Grundgesetz in Einklang zu
bringen
(Schäuble, SZ,
15.4.). Weil es im Kriegsrecht
die im Fall
des Luftsicherheitsgesetzes vom Verfassungsgericht
gerügte Abwägung Leben gegen Leben geben können muss
(Schäuble, ebd.), muss eben
die Bedrohungslage
als Verteidigungsfall
gewürdigt werden, womit auch dem höchsten Gericht eine
neue Entscheidungsgrundlage gegeben wäre. Wären also
bislang kriminelle terroristische Umtriebe künftig als
militärische – selbstverständlich ungerechte
–
Angriffshandlung zu bewerten, so wäre der Abschuss des
Fliegers nicht mehr als eine gerechtfertigte Maßnahme im
Rahmen eines gerechten „ Verteidigungskrieges“
und damit verfassungsrechtlich erlaubt, wenn nicht sogar
geboten
. Daran arbeiten Schäuble, der noch in
dieser Legislaturperiode mit einer Änderung des
Grundgesetzes … den Einsatz der Bundeswehr im Innern
ermöglichen
(ebd.) will,
wie auch die Kanzlerin, die sich in ihrer bekannten,
angenehm-zurückhaltenden Art auch so ihre Gedanken macht:
Wir sind der Meinung, dass innere und äußere
Sicherheit nicht mehr so zu trennen sind wie vor
fünfzehn, zwanzig Jahren.
(Merkel in der SZ, 16.1.) Dann wird wohl
auch die Unterscheidung zwischen polizeilichen und
militärischen Aufgaben keinen Sinn mehr machen.
„Teile der Union wollen, gerade als Reaktion auf das Karlsruher Urteil, das Grundgesetz so ändern, dass es passt: Karlsruhe hatte die Selbstverständlichkeit betont, dass nach Art. 35 deutschen Soldaten kein bewaffneter Militäreinsatz im Inneren erlaubt ist. Dies aber ließe sich, eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat vorausgesetzt, entsprechend ändern.“ (ebd.)
Die herkömmliche funktionelle Arbeitsteilung zwischen
Polizei, Geheimdiensten und Militär, die in Abgrenzung zu
Deutschlands „dunkelsten Stunden“ hierzulande besonders
streng geraten sein soll, ist Sicherheitspolitikern
offensichtlich ein Dorn im Auge. Sie wollen in diesen
gefährlichen Zeiten, die derzeit zwar keinerlei innere
Opposition kennen, aber eine äußere Welt voller
asymmetrischer
Feinde hervorgebracht haben,
verantwortungs- und anspruchsvoll wie sie sind, alle
bewaffneten Organe der Staatsgewalt für alle nur
möglichen, wahrscheinlichen und nahezu
ausgeschlossenen
Szenarien zur Verfügung haben. Die
Rüge
, welche ihnen Karlsruhe
erteilt hat,
ist ihnen deswegen nur der Auftakt, ihre Macht als
Gesetzgeber entsprechend in Anschlag zu bringen. Von
wegen also Karlsruhe locuta causa finita
. Mit
ihrem abschlägigen Bescheid bringt die Dritte Gewalt die
beiden anderen erst so richtig in Schwung.
[1] Siehe auch GegenStandpunkt 1-05, S.36: Das neue Luftsicherheitsgesetz: Feuer frei für den „finalen Rettungsschuss“, 36 ff.