‚Linksruck‘ in Lateinamerika:
Venezuelas Aufstand im Hinterhof der USA
Chávez in Venezuela, Morales in Bolivien, Correa in Ecuador und jetzt noch der ehemalige Sandinistenchef Ortega in Nicaragua! In Lateinamerika kommen falsche Führer an die Macht, so jedenfalls die Meinung der hiesigen Begutachter und der offiziellen Politik. Nach deren übereinstimmender Auffassung ziehen diese Machthaber aus der zugegeben desolaten Lage ihrer Länder völlig falsche Schlüsse, verschreiben sich ökonomischen und politischen Zielen, die den gebotenen Sachverstand vermissen lassen, leisten sich Rückfälle in vergangene nationalistische Wirtschaftsprogramme, die längst der Untauglichkeit überführt sind, machen den Massen falsche ‚populistische‘ Versprechungen und verschleudern dafür die Mittel ihrer Nationen.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- I. Die Kritik am unerträglichen Zustand der Nation
- II. Der praktische Kampf um eine ‚nationale Erneuerung‘ im Dienst am Volk
- III. Die erbitterten Feinde und die neuen Stützen des alternativen nationalen Wegs
- IV. Der innere Machtkampf um die ‚nationale Erneuerung‘
- V. Der außenpolitische Kampf um die ‚zweite Befreiung Lateinamerikas‘
- PS. zum schlechten und zum guten Ruf eines antiimperialistischen Abenteuers
‚Linksruck‘ in Lateinamerika:
Venezuelas Aufstand im Hinterhof der USA
Chávez in Venezuela, Morales in Bolivien, Correa in Ecuador und jetzt noch der ehemalige Sandinistenchef Ortega in Nicaragua! In Lateinamerika kommen falsche Führer an die Macht, so jedenfalls die Meinung der hiesigen Begutachter und der offiziellen Politik. Nach deren übereinstimmender Auffassung ziehen diese Machthaber aus der zugegeben desolaten Lage ihrer Länder völlig falsche Schlüsse, verschreiben sich ökonomischen und politischen Zielen, die den gebotenen Sachverstand vermissen lassen, leisten sich Rückfälle in vergangene nationalistische Wirtschaftsprogramme, die längst der Untauglichkeit überführt sind, machen den Massen falsche ‚populistische‘ Versprechungen und verschleudern dafür die Mittel ihrer Nationen. Eine Öffentlichkeit, die für einen ‚gesunden Patriotismus‘ viel übrig hat, entdeckt, dass in Lateinamerika ein gefährlicher ‚Links‘-‚Nationalismus‘ um sich greift. Sie ist nämlich abgrundtief unzufrieden mit der Kritik, die die neuen Führer am Zustand ihrer Länder anmelden, und mit den praktischen Folgerungen, die sie daraus ziehen, erst recht. Kein Wunder. Das Programm, das in Venezuela mit Chávez seit einigen Jahren an der Macht ist und das anderswo mehr oder weniger entschiedene Nachahmer zu finden droht, verstößt gründlich gegen alles, was die internationalen Sittenwächter des heutigen Weltmarkts an Ansprüchen gegenüber diesen Ländern für selbstverständlich halten.
I. Die Kritik am unerträglichen Zustand der Nation
„Ein solcher Reichtum! Die weltweit größten Erdölreserven, die fünftgrößten Erdgasreserven. Es gibt Völker, die haben unter dem Wüstensand Kanäle bauen müssen, um ihre Bevölkerung mit Wasser zu versorgen. Wir sind eines der Länder mit den größten Süßwasserreserven der Welt, mit Millionen von Hektar fruchtbarer Erde, ein riesiges Territorium, ideal für den Tourismus, ein junges, fröhliches, zotiges, karibisches Volk und vieles mehr. Und unter dem Strich bleiben 80 Prozent Armut. Wie ist das zu erklären?“ (Chávez: 1. Antrittsrede im Nationalkongress 1999, zitiert nach: Christoph Twickel, Hugo Chávez, Hamburg 2006, S. 140)
Chávez [1] will nicht einleuchten, dass in einem mit begehrten Öl- und Erdgasreserven gesegneten Land wie Venezuela ein Großteil der Bevölkerung im Elend versinkt und mit Gewalt niedergehalten wird, während der Reichtum einer kleinen Oberschicht wächst; dass Ölmultis riesige Gewinne einfahren, während das Land Schulden akkumuliert; dass sich an Standortbedingungen wie Wasser- und Stromversorgung internationale Unternehmen bereichern, für die Masse der Bevölkerung aber nicht einmal diese elementaren Lebensbedingungen ordentlich verfügbar sind.
Was ihm als Skandal aufstößt, das sind die Folgen, die die Eingemeindung Venezuelas als Öllieferland in den Weltmarkt im allgemeinen und der Ende der 80er Jahre eingeschlagene wirtschaftspolitische Kurs im besonderen gezeitigt haben: In den 80er Jahren sind die meisten Länder Lateinamerikas, so auch Venezuela, nicht zum ersten Mal in eine umfassende Schuldenkrise geraten, weil die Erträge, die das internationale Geschäft ihnen eingebracht hat, zur Bedienung der steigenden Kreditlasten immer weniger ausgereicht haben. Die Öldollars und sonstigen Einkünfte aus den Geschäften mit Rohstoffen und Agrargütern sind von den privaten Nutznießern unproduktiv aufgezehrt worden bzw. ins Ausland geflossen, die staatlichen Deviseneinkünfte sind großenteils für den steigenden Schuldendienst verbraucht worden, die Kreditwürdigkeit ist nur mit immer neuen Schulden und dementsprechend wachsenden Ansprüchen der internationalen Kreditgeber aufrechterhalten worden. Auf diese Weise hat sich das kapitalistische Handicap geltend gemacht, dass die wesentliche Einnahmequelle dieser Länder die Nutzung ihrer Naturschätze und Agrargüter für den Bedarf der kapitalistischen Zentren, also für kapitalistische Geschäfte anderswo ist, dass sie es zu einer weltmarktfähigen Industrie aber nicht gebracht haben. Den Status eines an Kapitalmangel leidenden ‚Rohstofflandes‘ sind sie nicht losgeworden, im Gegenteil: Er hat sich für die meisten verfestigt. Staatliche Anstrengungen, eine lohnende nationale Produktion in Konkurrenz zu auswärtigem Kapital in Gang zu bringen, sind an der Überlegenheit der etablierten Weltmarktmächte und an den von ihnen durchgesetzten Weltmarktbedingungen gescheitert. Und weil keine nationale Akkumulation in Gang gekommen ist, ist auch die Mehrheit des Volkes kapitalistisch gesehen für nichts gut und für einen Staat, der auf nationale Bereicherung aus ist, eine reine Last, verkommt daher in absoluten Elendsverhältnissen.
Aus der Schuldenkrise haben die lateinamerikanischen Regierungen in Übereinstimmung mit dem IWF und den internationalen Kreditgebern die Konsequenz gezogen, auf eine weitergehende Öffnung der Länder für auswärtige Geschäftsinteressen zu setzen, und haben das als den besseren Weg zu mehr nationalem Reichtum propagiert. Die Auslands-Beteiligung an der Rohstoffförderung und am Agrarexportgeschäft, in Venezuela insbesondere an der partiell verstaatlichten Ölindustrie, wurde zu Gunsten der Multis neu organisiert, um mehr auswärtiges Kapital für die Erschließung der Rohstoffe ins Land zu holen, um die Kreditwürdigkeit bei den privaten und staatlichen internationalen Finanzinstitutionen zu erhalten, sowie nicht zuletzt, um sich das Wohlwollen der USA, der gerade für Lateinamerika entscheidenden Weltmarkts-, Weltfinanz- und Aufsichtsmacht, zu sichern. Ferner wurden verbliebene Staatsunternehmen privatisiert; Wasser- und Stromversorgung, aber auch Telekommunikation und Banken verwandelten sich damit in Anlageobjekte vor allem amerikanischer und europäischer Multis – zu Bedingungen, die denen ein lohnendes Geschäft, Garantien für den Geldwert ihrer Gewinne und freien Devisenverkehr gesichert haben.
Das hat den Staaten zwar einige Milliarden zusätzliche Staatseinnahmen und neue Kredite eingebracht, sie aber bald erneut und auf neuer Stufenleiter in die Schuldenfalle geraten lassen und die Gegensätze im eigenen Land vorangetrieben. Die Privatisierung der Versorgungsbetriebe ist zu einem einzigen Anforderungskatalog an die Staaten geraten, rücksichtslos gegen die Massenarmut für entsprechende Preise und Gewinngarantien zu sorgen, so dass sich ein Großteil der Bevölkerung Wasser und Strom immer weniger leisten kann. Die Massenproteste sind teils gewaltsam niedergeschlagen, teils hinhaltend ausmanövriert worden. Die Regelung der Konzessionen und Abgabenmodalitäten bei der Rohstoffförderung haben auch in Venezuela dafür gesorgt, dass trotz steigender Öl- und Erdgaspreise die Staatseinnahmen nicht entsprechend vorangekommen sind, während Multis im Verein mit dem Management des staatlichen Ölunternehmens von steigenden Öl- und Erdgaspreisen kräftig profitiert und wachsende Dollarvermögen zu Lasten der staatlichen Devisenbilanz ins Ausland verschoben haben.[2]
Dieses international geforderte und national verbindlich gemachte ‚neoliberale‘ Programm der lateinamerikanischen Staaten, als Anlagesphäre ausländischer Unternehmen voranzukommen, die Schuldenbedienung zum leitenden haushaltspolitischen Gesichtspunkt zu erheben und die einschneidenden Folgen für Land und Leute mit Gewalt zu managen, befindet Chávez für untragbar. Verelendung und gewaltsame Niederhaltung wachsender Volksteile auf der einen, inländische und ausländische Bereicherung zu Lasten des Gemeinwesens auf der anderen Seite beweisen ihm, dass es hier an einer ordentlichen national gesinnten Politik fehlt. Eine Schicht privater Nutznießer eignet sich die Mittel an, die der Nation mit ihrem Volk zustehen, „Eliten und transnationale Unternehmen“:
„Was die suchen, ist der ökonomische Mehrwert , die finanziellen Vorteile, und dabei vergessen sie den Arbeiter, die Arbeiterin, die Kinder und die Würde der Völker.“ (ebd. S. 297)
Im Elend der Massen entdeckt er die Unterwerfung seines Landes unter fremde Reichtums- und Herrschaftsansprüche und empfindet das als Verrat am eigenen Volk. Und es ist auch klar, wer dabei insbesondere gemeint ist: die USA mit ihren Multis, die Lateinamerika als ihnen gehörigen ökonomischen und politischen ‚Hinterhof‘ beanspruchen.
Chávez vertritt also entschieden den Standpunkt, dass es sich bei den Gegebenheiten des Weltmarkts nicht um ‚Sachzwänge‘ handelt, aus denen für das nationale Vorankommen das Bestmögliche zu machen ist, sondern um Volk und Nation schädigende Interessen, gegen die es sich zu wehren gilt. Der volksverbundene Ex-Militär will sich nicht damit abfinden, dass die große Masse der Bevölkerung mit Gewalt in Armut gehalten wird, weil sie nach den bisher gültigen Maßstäben eine kapitalistisch nutzlose Überbevölkerung darstellt und staatlich dementsprechend behandelt wird. Den kapitalistisch erzeugten und staatlich beaufsichtigten Pauperismus in seinem Land will er beseitigen; aus einem Sumpf sozialen Elends und Objekt ständiger staatlicher Repression soll ein ordentliches, mit seinen Lebensbedürfnissen anerkanntes Volk werden. Den bisher von allen Errungenschaften der Zivilisation ausgeschlossenen Massen soll endlich zukommen, was ihnen seiner Auffassung nach in einem ordentlichen Staat zusteht, das Recht auf ein Leben in ‚Würde‘.
Als Mittel für ein solches soziales Aufbauprogramm soll das Geld dienen, über das der Staat aus den Weltmarktbeziehungen verfügt. Statt das ganze Land einer Geschäftsordnung zu unterwerfen, die die große Mehrheit zum Dasein einer arbeits- und einkommenslosen Elendsmannschaft verdammt, macht sich der erste Mann in Caracas für das Umgekehrte stark: Mit dem Geld aus den Rohstoffgeschäften will er seiner Bevölkerung Lebensumstände stiften, in denen sie sich reproduzieren kann.
II. Der praktische Kampf um eine ‚nationale Erneuerung‘ im Dienst am Volk
Dafür muss er erst einmal das staatliche Kommando über die materiellen Mittel und Grundlagen des ökonomischen Lebens im Lande neu organisieren, um ihnen den Dienst an seinem nationalen Zweck abzunötigen.
Der staatliche Ölkonzern, der unter Leitung eines auf Unternehmensbereicherung eingeschworenen Managements Milliardengewinne in private Kassen und Auslandsanlagen geschleust hat, statt Abgaben an den Staat zu zahlen, und der als Agentur lukrativer Beteiligungen ausländischer Ölmultis statt als Garant staatlicher Kontrolle des Ölgeschäfts funktioniert hat, wird neu organisiert. Das Unternehmen wird nicht nur zu vermehrten Zahlungen an den Staat verpflichtet, sondern mit seinen Erträgen zusätzlich politisch in die Pflicht genommen, nämlich zu eigenen finanziellen Leistungen zur Förderung von Kooperativen und anderen volksdienlichen Unternehmungen verpflichtet. Auch für die privaten Ölkonzerne werden als erstes Konzessionsgebühren und Steuern erhöht, also die bisher minimalen Zahlungspflichten an den Staat auf den anderswo üblichen Standard angehoben. Beteiligungen und Lieferbeziehungen werden nach Möglichkeit so diversifiziert, dass die bisherige einseitige Abhängigkeit von amerikanischen und europäischen Ölmultis aufgebrochen wird. Daneben wird die Verstaatlichung des Ölsektors vorangetrieben und schließlich die Erdöl- und Erdgasförderung sowie nach Möglichkeit auch die Verarbeitung generell unter Staatsregie gestellt. Der staatliche Ölkonzern soll überall die Mehrheit und das Kommando in der Hand behalten, damit die nationale Entscheidungshoheit und der nationale Nutzen aus Kooperationen gesichert bleiben. Es sollen eben nicht bloß die Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft vermehrt und im Verein mit Ölmultis Prospektion und Förderung erweitert werden. Die umfassende ‚Renationalisierung‘ des Rohstoffsektors soll prinzipiell Schluss machen damit, dass die Politik als Diener der Bereicherungsinteressen der Ölindustrie fungiert; sie soll gewährleisten, dass diese entscheidende nationale Einkommensquelle nach eigenen politischen Zwecken genutzt werden kann.
Verstaatlicht werden ferner ‚strategische Bereiche‘ wie Strom- und Wasserversorgung sowie Telekommunikation. Damit macht die politische Führung in Venezuela sich wieder selber zum Organisator der Dienste, statt solche Leistungen von kapitalistischen Rechnungen abhängig zu machen, und das heißt: für die Bevölkerung unerschwinglich werden zu lassen. Mit subventionierten Versorgungsleistungen übernimmt der Staat die Verantwortung dafür, dass Land und Leute nicht weiter verkommen.
Darüber hinaus führt die Chávez-Regierung eine Devisenbewirtschaftung ein, um den laufenden Devisenabfluss zu unterbinden, und schlachtet offiziell die heilige Kuh der ‚Selbständigkeit der Zentralbank‘, um eine den politischen Finanzbedürfnissen entsprechende Geldpolitik zu garantieren. Dem Staat sollen Haushaltsmittel an die Hand gegeben werden, um damit seiner Bevölkerungsmehrheit ein anderes Leben zu ermöglichen.
Wie das passieren soll, hat die venezolanische Regierungsmannschaft in den letzten Jahren vorgeführt. Mit Ölgeldern hat sie in Gestalt von staatlich initiierten und finanzierten ‚Misiones‘, die schon im Namen den Anspruch auf ein Staat und Bevölkerung vereinendes Fortschrittsprogramm ausdrücken, ein umfassendes staatliches Sozialwerk für ihr Volk und mit dessen reger Beteiligung aufgezogen. Darunter fallen Alphabetisierungskampagnen, Volksbildungsinitiativen bis hin zu alternativen Hochschulabschlüssen, Gesundheitsdienste für das einfache Volk, aber auch lokale und nachbarschaftliche Betreuungszirkel. Die sozialen ‚Netzwerke‘, die den Bewohnern der Elendsviertel und den Armen auf dem Land erstmals elementare zivilisatorische Leistungen zukommen lassen, sind zu Anfang mit Hilfe des Militärs als Aufbauhelfer in Gang gebracht worden; inzwischen sind sie fest institutionalisierte Einrichtungen, in denen sich die Massen mit politischer Dauerunterstützung als Aktivisten ihres alltäglichen Lebens betätigen können und sollen.
Außerdem hat sich die venezolanische Staatsführung daran gemacht, die innerstaatliche Ökonomie im Sinne ihres Sozialprogramms umzuorganisieren. Die private Wirtschaft soll mit staatlichen Auflagen und mit staatlichen Mitteln dahin gebracht werden, in erster Linie als Arbeitsplatzbeschaffer zu fungieren, um das Volk aus seiner Beschäftigungslosigkeit herauszuholen. Die Privatunternehmen werden mit erhöhten Mindestlöhnen und Einstellungsverpflichtungen auf die ‚Sozialpflichtigkeit des Eigentums‘ festgelegt, dafür aber auch mit Lohnzuschüssen unterstützt; am nationalen Interesse an sozial verträglicher Beschäftigung soll durchaus verdient werden, das Verdienstinteresse sich umgekehrt aber auch sozialverträglich betätigen. Daneben werden bankrotte Unternehmen auf Staatsbeschluss hin von den Belegschaften übernommen, mit staatlichem Kredit wieder in Betrieb gesetzt und erhalten; so wird Beschäftigung gestiftet, die nicht dem unmittelbaren Zwang zur Rentabilität unterworfen ist. Als ‚Unternehmen sozialer Produktion‘ zeugen diese Unternehmungen vom staatlichen Willen, eine nationale Produktion in Gang zu setzen und zu halten, die dem Volk Arbeit gibt.
Auf den Weg gebracht und mit Staatsmitteln dauerhaft gefördert werden ferner Landkooperativen und bäuerliche Kleinbetriebe, die auf konfisziertem brachliegendem Großgrundbesitz Lebensmittel produzieren. Mit ‚Mikrokrediten‘ wird eine Kleinproduktion für den Massenbedarf aufgebaut. Die Banken werden zu entsprechender Kreditvergabe angehalten, und in Konkurrenz zu ihnen kommen staatliche Institute für das Kleinkreditwesen in die Finanzwelt. Aus dem vormals ‚informellen Sektor‘ der Geldwirtschaft, in dem sich große Teile der Bevölkerung mehr schlecht als recht irgendwie durchgeschlagen haben bzw. zu den elendesten Bedingungen haben ausbeuten lassen müssen, wird so eine mit staatlichen Sonderkonditionen subventionierte eigene Abteilung Volks-Ökonomie. Insbesondere hat der venezolanische Staat, neben dem und in Konkurrenz zum privaten Handel mit kapitalistischer Ware, ein Netz von staatlich subventionierten Volksläden aufgebaut, die für die Massen preisgünstig Grundgüter anbieten, nach Möglichkeit die in den Kooperativen und Kleinbetrieben im Land produzierten Waren oder aus anderen lateinamerikanischen Ländern im Austausch gegen Öl bezogene Produkte des täglichen Massenbedarfs. Gleichzeitig macht er dem privaten Lebensmittelhandel Preisvorschriften für elementare Güter, um eine bezahlbare Versorgung der Bevölkerung zu sichern, erlässt andererseits Steuern, damit die Händler Waren nicht zurückhalten, und droht gleichzeitig mit der Verstaatlichung des Großhandels.
Keine Geldrechnung ist also abgeschafft, aber auch kein Zwang zum rentablen Wirtschaften und Geldverdienen wird gelten gelassen, wenn es der Staatsführung unpassend erscheint; das Privateigentum wird nicht aufgehoben, aber laufend ins Eigentum eingegriffen; preisgünstige Volksversorgung wird zum Programm erhoben und zugleich an Kosten- und Ertragsrechnungen privat und gemeinschaftlich nebeneinander und gegeneinander wirtschaftender Unternehmungen geknüpft, die dann im Sinne verträglicher Preise wiederum staatlich modifiziert und manipuliert werden.
Solche Anstrengungen, eine ‚soziale Produktion‘ in Gang zu setzen, verfolgen offenkundig nicht die alten Ziele, im Land eine wettbewerbsfähige kapitalistische Ökonomie aufzubauen, für die andere lateinamerikanische Staatsführungen ihre Massen nützlich machen und deshalb auch sozialstaatlich aufmöbeln und betreuen wollten. Im Unterschied zu den nationalen Anstrengungen, sich als ‚Schwellenland‘ mit Staatshilfe zu einer weltmarktfähigen Nationalwirtschaft hinzuentwickeln, laufen die gegenwärtigen Anstrengungen der angefeindeten ‚Nationalisten‘ auf eine Rettung ihrer Nationen hinaus, in denen mit den Fortschritten des Weltgeschäfts immer mehr an Land und Leuten vor die Hunde geht. Mit dem Geld, das der auswärtige kapitalistische Rohstoffbedarf ihnen einbringt, versuchen die neuen Führer gegen die ruinösen Folgen ihrer Weltmarktabhängigkeit vorzugehen. Auf Basis des Ausschlusses der Mehrheit vom Geld und von Gelegenheiten, welches zu verdienen, gewährt der Staat seinen Massen eine Beteiligung am staatlichen Reichtum, den er aus anderen Quellen bezieht, damit sie das sein können, was sie nach dem politischen Willen seiner Führung sein sollen: ein richtiges Volk, das sich unter ihrer Herrschaft ordentlich reproduziert, sich in ihr folglich gut aufgehoben und als Mitglied einer nationalen Gemeinschaft anerkannt weiß und sich deshalb umgekehrt seinerseits für diese Gemeinschaft einsetzt.
Das unterscheidet diese sozialen Leistungen auch von den sozialstaatlichen Einrichtungen in den Metropolen. Hier geht es nicht darum, eine Arbeiterklasse für die Dienste am Kapital bereitzustellen und fähig zu erhalten; hier werden nicht Lohnteile vom Staat für die Sozialkassen kollektiviert und dafür gesorgt, dass die Kosten für die Sozialfälle, die der rentable Einsatz der Arbeit mit sich bringt, standortgerecht fürs Kapital niedrig gehalten werden: Hier wird einer Masse einkommens- und arbeitsloser Paupers mit Staatsgeld eine Art Hilfe zur Selbsthilfe spendiert; also in etwa das, was die versammelte Staatenwelt in der UNO als ihre ewig unerreichbaren hehren ‚Millenniumsziele‘ propagiert – für die politischen Vorsteher der kapitalistischen Metropolen ein zynischer Titel für ihren Anspruch auf eine passende Verwaltung der von ihnen geschaffenen Armenhäuser, aber nie und nimmer als Anspruch der Elendsfiguren auf materielle Mittel gemeint und schon gleich nicht auf Teilhabe an den Öldollars, die durch Schuldendienst und anderweitig ‚recycelt‘ gehören.
Gemessen an den geltenden Maßstäben guten Regierens handelt es sich also um einen einzigen Verstoß: Massen, die nicht als Arbeitsvolk den Geldreichtum kapitalistischer Unternehmen mehren und deshalb mit ihrer Armut auch nicht zur Staatsbereicherung taugen, wird garantiert, was in keiner kapitalistischen Rechnung und keinem imperialistischen Beaufsichtigungsprogramm für diese Mannschaften vorgesehen ist: eine aushaltbare Existenz. Eine Herrschaft, die Rohstoffgeschäfte dazu gebrauchen will, nicht zum Armenhaus zu degenerieren, die es auf ein, wie bescheiden auch immer, sozial betreutes und ökonomisch für sich tätiges Volk abgesehen hat: Das ist in der Tat ein Anschlag auf alle Interessen, die bisher den nationalen Weg bestimmt und von ihm profitiert haben.
III. Die erbitterten Feinde und die neuen Stützen des alternativen nationalen Wegs
Herausgefordert sehen sich erstens die auswärtigen Kapitale und ihre Agenturen. Die einschlägigen Multis sind nicht nur entscheidende Mitbetreiber und Nutznießer der Rohstoffgeschäfte. Auch die Infrastrukturbetriebe sind im Zuge der Privatisierungen mehrheitlich in die Hände auswärtiger Kapitalisten übergangen. Es ist also ihr Eigentum, das von den Verstaatlichungen betroffen ist. Die an geschäftliche Vorzugsbedingungen gewöhnten Unternehmen werden nun genötigt, sich mit dem Staat nach dessen neuen Vorgaben zu arrangieren oder das Feld zu räumen. Sie wehren sich, bestehen auf Einhaltung langfristig geschlossener Verträge, drohen mit Klagen vor internationalen Gerichten und Konfiszierung von staatlichen Exporterlösen und verlangen in jedem Fall gehörige Entschädigungen. Die neuen Devisenregelungen verletzen das Anrecht auf freien Gewinntransfer; die offiziell verkündete Unterordnung der Schuldenbedienung unter nationale Haushaltsgesichtspunkte ist ein Anschlag auf erworbene Gläubigeransprüche sowie ein Verstoß gegen die auswärtigen Haushaltsgebote, die auf strikter Disziplin gerade bei staatlichen Subventionen und Sozialausgaben sowie auf konsequenter Ausrichtung des ganzen staatlichen Finanzwesens an der Schuldenbedienung bestehen. Ein Verstoß gegen die stete Forderung nach noch mehr ‚Öffnung‘ für internationale Anleger ist das alles schon gleich. Das Programm einer ‚nationalen Erneuerung‘ tangiert also ganz generell die Ansprüche der führenden Weltmarktnationen, allen voran der USA, auf freie Verfügung über die ‚strategischen Grundstoffe‘ ihres Kapitalismus, die sich unter auswärtiger Hoheit befinden. Hier stellt eine lateinamerikanische Regierung den Status, den ihr Land im Weltmarkt hat, prinzipiell in Frage: Sie begehrt dagegen auf, dass solche Länder fester Besitzstand der ‚global player‘ sind und ihre Regierungen als Garanten für frei verfügbare Zugriffssphären internationalen Kapitals ohne Rücksicht auf die nationalen Folgen zu fungieren haben.
Herausgefordert sind ferner alle Agenten und Interessenten des bisherigen nationalen Wegs im Innern. In erster Linie das Management des staatlichen Ölkonzerns und seine politischen Profiteure. Denen wird die Freiheit genommen, ihr Bereicherungsinteresse am Rohstoffgeschäft zu Lasten des staatlichen Interesses an Einkünften aus dieser entscheidenden Haushaltsquelle zur Geltung zu bringen. Nach ihrer, von den internationalen Beobachtern entschieden unterstützten Auffassung handelt es sich um ‚Entzug‘ der dem Unternehmen zustehenden Gewinne und Investitionsmittel, wenn ihnen bisherige Mittel und Wege genommen werden, das Unternehmen als ihre Pfründe zu nutzen. Die Führung des Staatskonzerns, immerhin die entscheidende ökonomische Macht im Lande, begegnet daher der Politik, die das Unternehmen auf nationalen Dienste festlegen will, mit offener Obstruktion bis hin zur Sabotage. Unterstützt wird sie in ihrer Gegnerschaft von einem Großteil der vergleichsweise besser gestellten Angestellten und Arbeiter; die verteidigen unter Leitung der um ihre Privilegien fürchtenden Betriebs-Gewerkschaft im Verein mit dem Management die Freiheiten ‚ihres‘ Betriebs gegen die Ansprüche der Chávez-Regierung. Um dem Staatsunternehmen die erwünschten Leistungen abzunötigen, hat die Regierung erst dafür sorgen müssen, dass es die Rolle eines ‚Staates im Staate‘ verliert. Nach dem Putsch 2002 und dem monatelangen ‚Streik‘ des gesamten Unternehmens wird das Management ausgewechselt, die Gewerkschaft zerschlagen und die Verschiebung von Gewinnen ins Ausland, soweit es geht, unterbunden.
Auch den sonstigen nationalen Geschäftemachern werden ihre gewohnten Freiheiten beschnitten. Ausgerechnet unter Umständen, wo unbeschäftigte Arbeitskraft im Überfluss und zu jedem Preis bereitsteht, sollen sich Unternehmen beim Beschäftigen zu sozialen Rücksichten gegenüber den Arbeitskräften verpflichten lassen. Dem Handel wird seine ökonomische Macht und seine Freiheit genommen, aus den Bedürfnissen der Massen das an Zahlungsfähigkeit herauszusaugen, was eben geht. Und den Banken wird eine massenfreundliche Kreditierung zu Sonderkonditionen sowie überhaupt und vor allem eine strengere Kontrolle ihres Finanzgebarens zugemutet. Den Großgrundbesitzern schließlich wird ihre Verfügungsgewalt über Grund und Boden streitig gemacht. Die Pflicht zu einem gültigen Eigentumsnachweis und zur Bebauung des Bodens, die Enteignung brachliegenden und nicht ordentlich ausgewiesenen Großgrundbesitzes zugunsten von Kleinbauern und Landkooperativen: Das untergräbt die Rolle von lokalen Herren, die mit politischer Duldung und mit organisierter Privatgewalt ihre Besitzansprüche gegen die Bauernbevölkerung durchsetzen und behaupten.
Die neue politische Führung mag – berechnend oder mehr oder weniger ehrlich – verkünden, dass in ihrem ‚System der zwei Hände‘, der ‚unsichtbaren Hand des Marktes‘ und der ‚lenkenden Hand des Staates‘, Privatgeschäfte und Privateigentum gebilligt seien, wenn sie zum gemeinsamen ‚nationalen Neuaufbau‘ beitragen und sich diesem Ziel unterordnen. Tatsächlich sind lauter widerstreitende Interessen unterwegs, die unter dem neuen Regime teils gefördert, teils beschnitten, teils notgedrungen geduldet, teils offen bekämpft werden. Ein nationaler Ölkonzern, der sich mit seinen Kosten- und Gewinnrechnungen zugleich als Organisator nützlicher internationaler Kooperationen mit den Multis und als Motor für soziale Fortschritte und Initiator nationaler Volksunternehmen bewähren soll; eine Privatwirtschaft, der lauter neue Pflichten eröffnet werden; ein Handel, der sich angestammter Geschäftsmöglichkeiten beraubt und zu erschwinglichen Versorgungsleistungen verpflichtet sieht; daneben staatlich gesponserte Armenläden, die zugleich irgendwie geschäftlich rechnen sollen; Familien- und Nachbarschaftsklitschen und selbstverwaltete Unternehmen, die von Kleinkredit und mehr oder weniger unproduktivem Werkeln leben; Kleinbauern und Landkooperativen neben dem Großgrundbesitz, der sein Anrecht auf alles Land reklamiert: Das alles ist für die bisher bestimmenden Kreise ein einziger Anschlag.
Sie haben den Staat bisher als Diener ihrer Interessen beansprucht und sich damit Recht verschafft, auch wenn ihre Eigentums- und Geschäftsansprüche keineswegs dazu getaugt haben, das staatliche Interesse an Wachstum seines Geldreichtums und an Vorankommen des nationalen Standorts zufrieden zu stellen. Als Eigentümer der wenigen Reichtumsquellen im Land haben sie erreicht, dass ihre Ansprüche trotz aller verbreiteten Unzufriedenheit mit dem Stand der Nation abgesegnet und gültig gemacht worden sind, indem sie dafür gesorgt haben, dass die politische Führung sich aus ihren Reihen rekrutierte und ihrem unmittelbaren Einfluss unterstand. Jahrzehntelang haben sich zwei ihren Interessen verpflichtete Parteien regelmäßig in der Führung abgewechselt und gegen die unvermeidlichen Widerstände für den Fortgang dieser Politik gesorgt, immer wieder auch mit unmittelbarer Gewalt. Herausgefordert sind deswegen auch die politischen Repräsentanten des bisherigen Wegs, die diesen Interessen verbunden waren und zugleich das Engagement des internationalen Kapitals mit all seinen Konsequenzen für Land und Leute gefördert haben. Und herausgefordert sind nicht zuletzt die Militärs, soweit die sich der Aufrechterhaltung dieser nationalen Ordnung verpflichtet wissen.
An die Macht gekommen ist Chávez freilich seinerseits als Mann des Militärs. Auch und gerade große Teile der Armee haben wegen ihrer Volksverbundenheit, für die Anhänger einer ordentlichen Staatsgewalt innerhalb der ‚Ordnungskräfte‘ immer gut sind, zunehmend weniger einsehen wollen, dass sie den Ausverkauf der Nation und die davon profitierenden Interessen gewaltsam gegen ein Volk durchsetzen sollen, das soziale Gerechtigkeit fordert. Entscheidende Unterstützung hat das Programm einer ‚nationalen Erneuerung‘ auch von unzufriedenen Patrioten erhalten, die den Standpunkt geteilt haben, dass die Politik grundsätzlich versagt, wenn im Land solche Zustände herrschen: oppositionelle Gruppierungen, die die zunehmende Gewalt gegen das Volk als Unrecht verurteilen und als Zeichen des generellen nationalen Niedergangs verstehen; Kritiker der herrschenden Zustände, die sich, wenn auch sonst nicht, auf jeden Fall darin einig sind, dass es so nicht weitergehen kann. Diese Opposition hat in Chávez die Chance gesehen, die herrschende Politik endlich abzulösen, und sich deshalb auf ihn einschwören lassen, nachdem sich der gescheiterte Putschist dazu entschlossen hat, um die Staatsmacht mit demokratischen Mitteln zu kämpfen. So ist er zum Sammelpunkt aller oppositionellen Kräfte aufgestiegen: zu ihrem gemeinsamen Kandidaten für einen echten Wechsel in der politischen Führung.
Zur Rolle einer solchen politischen Leitfigur hat ihn wiederum die Zustimmung prädestiniert, die er bei den Massen gefunden hat, die immer wieder gegen ihre Lebensumstände aufbegehrt oder sich notgedrungen in ihnen eingerichtet haben und es so oder so laufend mit staatlicher Gewalt zu tun bekommen. Sie haben sich sein Versprechen, sich für eine gerechte Herrschaft stark zu machen, in der die bisher mit ihren Bedürfnissen niedergehaltene Bevölkerung sich endlich mit seiner Führung einig wissen kann, einleuchten lassen, egal, was sie sich als unterdrückte Indigene, landlose Bauern, entwurzelte Slumbewohner, Billigarbeiter oder vom sozialen Abstieg bedrohte ‚Mittelschichtler‘ darunter alles vorgestellt haben mögen. Sie haben in ihm die Chance gesehen und ergriffen, einen Führer ins Amt zu wählen, der ihren sozialen Anliegen in der Politik endlich wirksam Geltung verschafft.
So ist es gelungen. das alte politische Wechselspiel innerhalb der überkommenen Elite und damit deren Monopol auf die Macht zu durchbrechen.
IV. Der innere Machtkampf um die ‚nationale Erneuerung‘
Erledigt ist mit diesem demokratischen Wechsel aber noch überhaupt nichts. Denn da wechselt ja nun wirklich nicht bloß das Führungspersonal in einer Herrschaft, deren nationaler Zweck allseits geteilt, im Herrschaftsapparat und in der demokratischen Konkurrenz verlässlich verankert ist und der für die Verfolgung ihrer Macht- und Reichtumszwecke ein ökonomisch brauchbar sortiertes und staatsbürgerlich passend ausgerichtetes Volk zu Gebote steht. Mit den neuen Staatschefs ist ein alternativer Staatszweck gegen den Willen der bisher politisch alleinzuständigen Parteien, gegen die Interessen des bestimmenden Teils der Gesellschaft, gegen die Ausrichtung und Grundüberzeugungen des gesamten Staatsapparats einschließlich der ‚herrschenden Meinung‘ der etablierten Öffentlichkeit ins oberste Amt gekommen. Das neue Staatsprogramm verfügt also über keinerlei gefestigte Macht. Es muss erst einmal in Staat und Gesellschaft verankert werden; neue Loyalität muss gestiftet werden; es braucht Herrschaftsstrukturen, um das staatliche Kommando durchzusetzen – gegen alle, die bisher den Staat als den ihren beansprucht, geführt und verwaltet haben, deren Interessen mit dem politischen Wechsel in Frage gestellt, aber nicht außer Kraft gesetzt, angegriffen, aber nicht entmachtet sind. Die neue Führung bekommt es ständig mit der prinzipiellen Gegnerschaft von Seiten der ‚Leistungsträger‘ des alten Herrschaftssystems zu tun, die sich durch die demokratische Legitimation der neuen Führung nicht befrieden lassen, sondern mit jedem neuen Votum durch Massen, deren Ansprüchen sie eine Politik bestimmende Rolle keinesfalls zubilligen, nur neu herausgefordert fühlen. Also gerät der nationale Aufbruch zu einem dauernden Machtkampf mit den bisherigen Stützen und Nutznießern der Politik. Die alten Führungseliten und ihr Anhang in Staat und Gesellschaft, die Staatsbürokratie, die Justiz, Teile des Militärs leisten in Venezuela seit Beginn offenen und versteckten Widerstand in Form von Putschversuchen, Sabotage und dauernder Obstruktion. Chávez hat sich dadurch nicht beeindrucken lassen, sondern, soweit nicht schon vorher entschieden, durch die Widerstände nur darüber belehren lassen, wie ernst der ‚Kampf gegen die Oligarchie‘ ist, und ist selber entsprechend radikaler geworden.
Zunächst nimmt er die Durchsetzung seines politischen Kommandos in den Institutionen in Angriff: Der Machtapparat wird, soweit es geht, neu besetzt, die widerspenstige Bürokratie soweit möglich ausgewechselt und, wie gesagt, das Ölmanagement, nachdem es die Ölförderung monatelang lahmgelegt hat, samt Gewerkschaft ersetzt. Weil auf die alte Staatsverwaltung und auf bisherige Fachleute kein Verlass ist und sich zudem ganz neue Aufgaben der Volksbetreuung stellen, bekommt die alternative Volks-Hochschule den Auftrag, mit ‚Persönlichkeits-‚ und ‚Fachausbildung‘ eine zuverlässige Helferschar für die Staatsverwaltung und die Anleitung und Betreuung der massenhaften Initiativen und ‚Missionen‘ auszubilden. Außerdem werden verfassungsmäßige Instrumentarien für die Stärkung der Präsidentenmacht geschaffen, an der die Durchsetzung des politischen Programms wesentlich hängt: mehr Vollmachten, inzwischen ein Ermächtigungsgesetz, das die parlamentarischen Zustimmungsprozeduren aussetzt, demnächst die Möglichkeit einer dauerhaften Wiederwahl. Alles das, was hierzulande als Beweis für die ‚Machtversessenheit‘ des Präsidenten gilt, verdankt sich dem Wissen, dass sein Vorhaben auf unabsehbare Zeit auf die Bewältigung einer Notstandssituation hinausläuft. Durchgesetzt werden diese institutionellen Änderungen mit Hilfe von planmäßigen und außerplanmäßigen Abstimmungen und Wahlen, die Chávez regelmäßig die demokratische Legitimierung durch die Volksmehrheit verschaffen.
Mit der demokratischen Übung, die Massen als Stimmvieh für sich antreten zu lassen, gibt sich der Präsident, dem hiesige Kritiker vorwerfen, er wäre als ‚machtbesessener Populist‘ nur auf Akklamation durch ‚die Straße‘ aus, allerdings nicht zufrieden. Er hält es mit seinem Vorbild Castro, als dessen Bewunderer und Nacheiferer er antritt. Das Volk soll nicht als bloße Wählermannschaft und Staffage seiner Führer aufmarschieren und dann gehorchen; es wird ideell und praktisch mit dem Auftrag versehen, sich massenhaft politisch zu engagieren, weil es an der Durchsetzung der Politik unter Anleitung von oben als Helfer, Mitträger und Aktivist mitwirken soll und weil die Bevölkerung als entscheidende Stütze der Herrschaft im Machtkampf gebraucht wird. Dafür wird sie permanent agitiert. Wenn Chávez in seiner Sendung ‚Aló Presidente‘ den Bedürfnissen der einfachen Menschen öffentlich Gehör schenkt, ihrem Gerechtigkeitsempfinden Ausdruck verleiht, als Anleiter und Beaufsichtiger der Aufbauanstrengungen auftritt, der sich um alles kümmert und alles in ‚Bewegung‘ bringt, oder sich öffentlich als Vorkämpfer gegen die Volksfeinde betätigt, dann spricht er die Massen als Volk an, um sie von der Rolle, bloß gehorsames Volk zu sein, das seine Führung bestimmen lässt, wegzubringen. Um sie für den Kampf zu mobilisieren, den er für notwendig hält, macht er ihnen die Feindschaft, die das Fortschrittsprogramm provoziert, in Form von drastischen Feindbildern anschaulich und bietet ihnen ein Vorbild für den gemeinsamen Kampf. Sie werden ständig aufgerufen, gemeinsam mit ihrer Führung gegen die ‚Oligarchie‘ aufzustehen und die ‚Errungenschaften der Revolution‘ zu verteidigen. In diesem Sinne dürfen und sollen sie sich praktisch engagieren. In die Verfassung sind basisdemokratische Elemente einer Kontrolle der Repräsentanten, aber auch der Gesetzesbeschlüsse und ihrer Umsetzung eingebaut, damit das einfache Volk dann auch im alltäglichen Kleinkrieg gegen die widerstrebenden Teile der Gesellschaft tätig wird: Es soll die Unternehmungen und öffentlichen Tätigkeiten überwachen, die sozialen Werke und volksdienlichen Einrichtungen gegen Sabotage schützen und immer aufs Neue mit Aufmärschen seine Bereitschaft zur Verteidigung seiner neuen Herrschaft demonstrieren, um die politischen Gegner einzuschüchtern. Der mit der Gewaltfrage vertraute Volksfreund an der Macht rechnet nämlich damit und erfährt es ja auch laufend, dass seine Gegner von sich aus keinen Frieden mit dieser Herrschaft schließen. Also ist ihre Einschüchterung durch die glaubwürdige Drohung mit einer zu allem entschlossenen Volksbewegung nötig. Daher kümmert sich Chávez nicht nur um die Loyalität des Militärs, sondern auch darum, das Volk verteidigungsbereit zu machen – auch wegen der Bedrohung von außen.
Darüber hinaus erwächst aus dem Gang der an die Macht gewählten ‚Bewegung‘ unweigerlich der Bedarf, die politische Führung zu festigen und für verbindliche Richtlinien des neuen Regierens zu sorgen. Die bisher nur ans Sich-Durchschlagen gewöhnten, zum Teil erst frisch alphabetisierten Massen, die sich in Nachbarschaftszirkeln mobilisieren und politisieren lassen sollen, brauchen verlässliche Anleitung, eine Ausrichtung an verbindlichen gemeinsamen politischen Zielen, damit ihr Basistreiben nicht zu einem einzigen Durcheinander gerät. Ein Großteil der Staatsagenten passt sich nur opportunistisch an oder macht nur bedingt mit. Die engagierten Aktivisten zerstreiten sich wegen ihrer unterschiedlichen Vorstellungen, wie das politische Großexperiment vorankommen soll, ob die ‚Bewegung‘ sich überhaupt mehr ‚basisdemokratisch‘ spontan oder mehr ‚angeleitet‘ von oben zu entwickeln hätte. In der Führungsriege konkurrieren Vertreter verschiedener Parteien mit divergierenden Ansprüchen und Programmen um Einfluss. Zusammengehalten werden sie nicht durch programmatische Einigkeit, sondern durch die Teilhabe am Regieren und den gemeinsamen politischen Gegner. Manche machen von vornherein nur bedingt mit, anderen leuchten die Übergänge und Radikalisierungen nicht ein, die das Programm unter Leitung des rastlosen Präsidenten erfährt; sie springen ab. Und all diese Auseinandersetzungen werden aufgerührt, immer nur notdürftig gebremst und vereinheitlicht durch den Anführer der Bewegung. Daher kommt nicht nur bei ihm das Bedürfnis nach Konsolidierung der ‚Bewegung‘ in Gestalt einer neuen ‚Einheitspartei‘ auf. Damit ist dann allerdings ein neuer Kampf innerhalb dieser ‚Bewegung‘ eröffnet, wie die gegensätzlichen politischen Vorstellungen, Erwartungen und Ansprüche sich unter das Dach einer solchen Partei subsumieren lassen.
V. Der außenpolitische Kampf um die ‚zweite Befreiung Lateinamerikas‘
Das Programm des führenden ‚Linksnationalisten‘, sein Land nicht mehr und mehr zum Armenhaus verkommen zu lassen, mag sich bescheiden ausnehmen; es ist ein Aufbegehren gegen die Rolle, die eine solche Herrschaft nach dem Willen der den Weltmarkt beherrschenden Staaten, allen voran der USA ausfüllen soll, also auch eine Insubordination gegen die Weltordnungszuständigkeit der USA. Als Aufstand gegen die Vorherrschaft der USA ist es von seinem Betreiber auch gemeint: als Beendigung einer Politik, die mit Amerikas geschäftstüchtigen Interessen und machtvollem Einfluss kalkuliert und sich in eine amerikanische Weltordnung einfügt, um in der eine Rolle zu erobern. Chávez wehrt sich gegen die materiellen Beschränkungen, politischen Einengungen und strategischen Einordnungen, also gegen die Schranken der Souveränität, die die Vormacht mit ihren ‚Hinterhof‘-Ansprüchen seiner Nation zumutet. Er propagiert und führt einen Kampf darum, diese Schranken zu durchbrechen und international andere Verhältnisse zu erreichen: eine nicht mehr amerikanisch dominierte und – das ist für ihn dasselbe – nicht mehr der geschäftlichen Ausnutzung und politischen Unterordnung anderer Staaten dienende Staatenordnung, in der mit dem Respekt vor der Souveränität ihrer Herrschaften auch die Völker zu ihrem Recht kommen sollen. Auch hier versteht er sich ausdrücklich als Erbe und Fortsetzer des kubanischen Aufstands gegen die Oberimperialisten in Washington.
Damit will er zugleich seine nationale Sache absichern. Denn dass es mit einer nationalen Verweigerung nicht getan ist, sondern internationale Gegenmacht nötig ist, das ist ihm klar. Daher bemüht er sich mit den ihm zur Verfügung stehenden staatlichen Mitteln darum, nicht bloß mit anderen Staaten berechnende Zweckbündnisse zu schmieden, sondern eine Koalition möglichst gleich gesinnter Staaten zu bilden und die Weltöffentlichkeit dafür einzunehmen. Für seine Ideen einer besseren Weltstaatenordnung agitiert er deshalb nicht nur betont kämpferisch auf der offiziellen diplomatischen Bühne in der UNO und bei anderen Staatenversammlungen, sondern demonstrativ auch auf Alternativgipfeln und Veranstaltungen von Globalisierungsgegnern.
Seine Bemühungen um eine alternative Staatenordnung betreffen zunächst und vor allem Lateinamerika. Dessen Regierungen sollen sich auf ihre sozial und politisch entrechteten Völker besinnen und sich deswegen dafür stark machen, amerikanische ‚Bevormundung‘ abzuschütteln, und sich aus der Abhängigkeit von den USA befreien. Mit Berufung auf Bolívar propagiert Chávez die Idee einer neuen gesamtlateinamerikanischen Nation, eine ‚zweite Befreiung‘ Lateinamerikas vom ‚Neokolonialismus‘ der USA, also einen Zusammenschluss aller durch die US-Hegemonie geschädigten Länder des ‚Südens‘, die gemeinsam ein weltpolitisches Gegengewicht gegen die Vormacht des ‚Nordens‘ bilden sollen. In diesem Sinne entwirft er ein Gegenprogramm zu den von den USA eingerichteten oder geplanten Institutionen, mit denen die in ihrem lateinamerikanischen Hinterhof Abhängigkeitsverhältnisse zementieren, Sondersphären amerikanischen Kapitals, politischen Einflusses und strategischer Kontrolle errichten, aber auch zu den sonstigen Weltmarkt- und Weltaufsichtsinstrumenten unter US-Führung: Statt der ALCA, dem US-Projekt einer gesamtamerikanischen Sonderwirtschaftszone eine ALBA, ein eigenes lateinamerikanisches Wirtschaftsbündnis; das soll – so seine immer wieder verkündete Vision – dem sozialen Fortschritt der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern statt amerikanischer Bereicherung an ihnen dienen, das soll für echten wechselseitigen Nutzen unter ihnen bürgen, und das soll sie am Ende mit einer eigenen Einheitswährung endlich von der Dollarvormacht befreien; ferner ein gemeinsames lateinamerikanisches Entwicklungs- und Anti-Hungerprogramm; statt der US-NATO eine lateinamerikanische SATO; eine alternative Institution zum IWF, in der nicht immer nur die kreditmächtigen Metropolen das Sagen haben: ein komplettes Spiegelbild der kollektiven Instrumentarien gegenwärtiger imperialistischer Staatenkonkurrenz im antiimperialistischen Geist also.
Als materiellen Hebel setzt Chávez das Mittel ein, das ihm zur Verfügung steht: das Öl. Kuba wird Öl zum Sonderpreis verkauft und nicht gegen Dollar, sondern gegen Ärzte und andere Güter verrechnet, also ein Verkehr zwischen den Ländern nach dem Grundsatz beiderseitigen Nutzens statt aneinander Verdienens eröffnet – eine Art gegenseitiger Entwicklungs- und staatlicher Überlebenshilfe gegen amerikanische Unterwerfungsansprüche. Ferner tritt Chávez als materieller Unterstützer gegenüber den ärmsten Staaten der Region, den Karibikländern auf, liefert auch ihnen Öl zu Konditionen, die auf deren Devisennot Rücksicht nehmen – eine Wirtschaftshilfe, die ein Gegenbild zur Ausplünderung durch die USA darstellen und diese Länder aus der US-Abhängigkeit lösen soll. Darüber hinaus eröffnet er mit den beiden lateinamerikanischen Hauptmächten Brasilien und Argentinien Beziehungen im Geiste des gemeinsamen Kampfes um politische und ökonomische Unabhängigkeit gegenüber den Anforderungen der Weltmarktführungsmächte und ihrer Institutionen. Er projektiert einen lateinamerikanischen Energieverbund, der die Ölversorgung der Länder auf eigene Füße stellt und somit Liefer- wie Bezieherländern nützt. Er finanziert mit Öldollars Argentiniens Rückzahlungen an den IWF mit der politischen Perspektive, das Land im Kampf gegen die Bevormundung durch die internationalen Gläubiger zu unterstützen. Wegen der Sonderbündnisse von Kolumbien und Peru mit den USA tritt er aus dem Andenpakt aus und umgekehrt dem Mercosur bei, mit der erklärten Absicht, dieses Wirtschaftsbündnis als Vorbild für eine anti-US-amerikanische Einheit Lateinamerikas auszugestalten, als eine an nationalen Bedürfnissen ausgerichtete Alternative zu den geltenden Weltmarktbeziehungen.
Mit all dem rührt Chávez die Gegensätze im lateinamerikanischen Hinterhof der USA auf. Die Gegner Washingtons, Kuba und Bolivien, werden ideell wie materiell gegen die USA gestärkt. Andere Regierungen wie die Kolumbiens sehen sich wegen ihrer nationalen Verbindungen zu Washington angefeindet, erhalten umgekehrt von dort den Auftrag, sich gegen diese Störenfriede eindeutig auf die Seite der USA zu schlagen. Bei Argentinien und Brasilien finden die laufenden Anträge aus Caracas, sich gemeinsam mit Venezuela gegen die US-Hegemonie aufzulehnen, ein zwiespältiges Echo. Kirchner und Lula nehmen die diplomatischen und ökonomischen Angebote berechnend auf, um sie in ihre nationalen Programme eines ‚selbstbewussteren‘ Lateinamerika einzubauen, die wenig mit Chávez‘‚Bolivarianischem‘ Aufbruch gemein haben. Zwar ist das Leiden an der Vorherrschaft der USA Bestandteil auch ihres Nationalismus. Aber als Chefs von ‚Schwellenländern‘, die keinen Aufstand gegen den Weltmarkt unternehmen, sondern sich eine bessere Position in ihm erobern wollen, rechnen sie auf und rechten sie deshalb um besseren Zugang zum amerikanischen und europäischen Markt und mehr politisches Gewicht im Kreis der bestimmenden Mächte. Sie schätzen die Kredite Venezuelas, stehen aber den Verstaatlichungen und dem Energieprojekt zwiespältig gegenüber, zumal dadurch eigene nationale Unternehmen betroffen sind. Vor allem wollen sie sich nicht auf die radikale Linie des Hinterhofrebellen gegenüber den USA festlegen lassen. Als berufene lateinamerikanische Ordnungsmächte demonstrieren sie ihre nationale Unabhängigkeit gegenüber den USA, aber zugleich ihre Distanz zum venezolanischen Kurs und ihren Willen, Chávez zur Mäßigung zu bewegen und zur Ordnung zu rufen. So konkurrieren sie um ihre Führungskompetenz auf dem Subkontinent.
Dass sich das Leiden an amerikanischer Vorherrschaft bei anderen Regierungen aus eigenen Machtambitionen und keineswegs aus dem Eintreten für alternative Grundsätze zwischenstaatlichen Verkehrs speist, wenn deren Staatschefs gegen staatliche ‚Bevormundung‘ und eine ‚unipolare Weltordnung‘ diplomatisch zu Felde ziehen, kann Chávez also nicht verborgen bleiben. Das hält ihn aber nicht davon ab, auch dort Bündnispartner zu suchen, wo von einer gemeinsamen Kritik an den Weltmarktusancen und Weltmachtverhältnissen keine Rede sein kann. Auch außerhalb Lateinamerikas bemüht er sich um Kooperationen mit allen, die er durch die USA herausgefordert, geschädigt und angefeindet sieht. Nach dem Grundsatz: Amerikas Feinde sind unsere natürlichen Verbündeten, sucht er demonstrativ diplomatischen Verkehr mit den ‚Schurkenstaaten‘: Iran, Syrien, Weißrussland. Mit den Ölstaaten unter ihnen sucht er sich auf eine gemeinsame Opec-Politik zu einigen und betreibt mit dem Iran das Projekt, die Abrechnung des Öls auf Euro umzustellen. Auch bei imperialistischen Konkurrenten der USA präsentiert er sich als Mitstreiter in gemeinsamer Sache. Russland, China, Indien erklärt er zu natürlichen Verbündeten im Kampf um eine ‚multipolare‘ Weltordnung, mögen die darunter auch etwas ganz anderes verstehen als einen lateinamerikanischen Aufstand gegen Weltmarkt- und Weltmachtansprüche. Praktisch nutzt er deren Interessen dafür, Venezuela möglichst viele nützliche Beziehungen unabhängig von und gegen die USA zu eröffnen. Chinesische Investitionen, russische Waffen, am Ende auch Waffen- und andere Geschäfte mit europäischen Ländern wie Spanien, soweit die sich gegen Washingtons Willen darauf einlassen – das alles soll praktisch helfen bei der Bekämpfung der Abhängigkeit von den USA. Gleichzeitig lässt es sich Chávez aber nicht nehmen, überall dort, wo es geht, ideell und praktisch sein Alternativmodell volksdienlicher internationaler Beziehungen zu propagieren und damit seine auswärtigen Gegner, allen voran die US-Regierung, bloßzustellen: Armenviertel in den USA werden mit venezolanischem Öl versorgt, mit einigen amerikanischen Städten und mit London handelt er den Austausch verbilligten Öls gegen Hilfen beim Aufbau venezolanischer Dienstleistungen und Infrastruktur aus.
Wenn sich ausgerechnet ein Hauptöllieferant der USA als praktischer Kritiker aller amerikanischen Ansprüche aufführt, und das auch noch in ihrer originären Dollar- und Einflusszone, dann ist das für Washington untragbar. Seine ökonomische wie politische Vormacht beruht und besteht deshalb auch auf der Ausrichtung dieser Länder an den funktionellen Rollen, die sie für den Weltmarktführer und die oberste Weltordnungsmacht spielen, auch wenn die betroffenen Herrschaften mit ihren Ansprüchen dabei auf der Strecke bleiben und eher lauter Schäden bilanzieren. Die Unzufriedenheit, die bei den Unterlegenen in der Staatenkonkurrenz auf dem von den USA dominierten Weltmarkt und unter den von ihnen beaufsichtigten Machtverhältnissen notwendig aufkommt, ist für sie nicht hinnehmbar, zumal wenn sie als offen verkündetes nationales Aufbegehren in einer Region, die wie keine andere Amerika ‚gehört‘, praktisch wird. Venezuela ist insofern eine einzige Herausforderung: Mit seinen Sonderbeziehungen zu Kuba, mit seinen Einflüssen auf andere Länder, mit seinen Verbindungen zu Guerilla-Bewegungen, mit seinen Nachahmern bedroht es Amerikas Ordnung in der Region; und mit seiner Iran-Connection fügt es sich in das weltweite Bedrohungsszenario Amerikas ein. Die USA ordnen Venezuela deshalb als ‚nicht voll kooperative‘, also nach ihrer Definition an der Schwelle zum Schurkenstaat stehende Herrschaft in ihren Antiterrorkampf ein. Wenn sie auch nicht gleich offiziell ‚regime change‘ auf die Tagesordnung setzen: Ohne eine generelle Korrektur des nationalen Programms, also ohne eine Entmachtung der Führung, die dieses Programm so entschieden vertritt, ist für Washington auch dieser Fall nicht erledigt. Entsprechend agieren die USA mit ihrem Einfluss: Sie begrüßen und unterstützen die Umsturzversuche der Opposition im Innern, sie listen die Vergehen des Regimes auf, betreiben die Isolierung Venezuelas, erlassen ein Waffenembargo und tun einiges dafür, die Staatenumgebung und sich selber drohend gegen Venezuela aufzustellen.
PS. zum schlechten und zum guten Ruf eines antiimperialistischen Abenteuers
Die Chávez-Regierung unternimmt den ernsthaften Versuch, nach eigenen hohen Maßstäben der Fürsorge fürs Volk, der Massenfreundlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit Venezuela gut zu regieren. Sie unternimmt dieses Experiment inmitten einer Welt souveräner Staatsgewalten und der von denen protegierten Privatmacht des Kapitals, die für so eine Art guter Regierung überhaupt nichts übrig hat; deren mächtige Sachwalter stufen vielmehr schon jede Ausnahme von ihren, auf sie und ihren Nutzen zugeschnittenen Regeln des freien Kapitalverkehrs und einer funktionierenden Weltordnung als Schadensfall ein, der unbedingt eingegrenzt und über kurz oder lang ausgebügelt werden muss. Und nicht nur das. Chávez und seine Mannschaft unternehmen ihr Abenteuer einer volksfreundlichen Herrschaft mit den Mitteln eben der imperialistischen Welt, gegen die sie sich damit aufstellen: mit Gelderlösen aus dem Ölverkauf. Sie bedienen sich einer Einnahmequelle, die nicht wirklich ihrer eigenen Verfügungsmacht unterliegt: Autonomen Zugriff haben sie nur auf ihren Exportschlager, nicht auf die Zahlungsbereitschaft auswärtiger Interessenten, die damit eine kapitalistische Akkumulation in Schwung halten, wie Venezuela sie zwar angestrebt, aber nie hingekriegt hat; das Volk, über das sie außerdem politisch verfügen, gibt selber die Mittel für eine nennenswerte politische Macht, geschweige denn für gute Regierung im Sinne der „Bolivarianischen Revolution“ nicht her. Diese Geldquelle, mit der Venezuelas Regierung ihr Programm einer antiimperialistischen „good governance“ betreibt, bedarf im Gegenteil der beständigen Absicherung durch besondere politische Bemühungen um die zahlungsfähige Kundschaft: um ein fortdauerndes Geschäftsinteresse von Ölkonzernen aus den USA, ausgerechnet der Nation, gegen deren politische Vormundschaft und Zugriffsmacht die Chávez-Regierung sich verwahrt und wehrt; um die Weckung und die Pflege der kommerziellen und geschäftlichen Interessen anderer, mit den USA mehr oder weniger offen rivalisierender Großmächte der kapitalistischen Weltwirtschaft. Für den Erhalt der nationalen Geschäftsgrundlage unerlässlich ist außerdem ein gewisses Einvernehmen mit der Konkurrenz, den anderen Erdöl exportierenden Staaten. Das alles muss gelingen, um inmitten einer gnadenlos auf imperialistischen Erfolg programmierten Staatenwelt einen eigenen nationalen Sonderweg ausprobieren zu können.
Ausgerechnet dieses gewagte wacklige Experiment findet in der freien pluralistischen Weltöffentlichkeit ganz viel lautstarke Gegnerschaft – und auf der anderen Seite, unter Linken und Globalisierungskritikern, eine Menge Liebhaber.
Die freiheitlich-demokratischen Vorbehalte und Vorwürfe gegen Chávez und seine „Bolivarianische Revolution“ und insbesondere die Anfeindungen von Seiten des in Deutschland versammelten imperialistischen Sachverstandes sind von einem Geist der Unduldsamkeit geprägt und von einem Denunziationseifer getragen, als müsste die 4. Gewalt mal wieder den Anfängen einer kommunistischen Weltrevolution wehren. Das Bemühen des Präsidenten um die Konsolidierung seiner Herrschaft wird mit dem Verdikt „undemokratisch“ belegt; auch da, wo der Mann die solideste Legitimation durch gewonnene Volksabstimmungen vorweisen kann; dass es dabei nicht bloß um die förmliche Absegnung herrschender Verhältnisse durch deren Opfer, sondern um die Mobilisierung der Zu-kurz-Gekommenen für einen fortdauernden Machtkampf, insofern also wirklich nicht um ein Stück freiheitlich-demokratische Grundordnung geht, ist freilich wahr. Unterstellt wird selbstzweckhafte Machtgier – als gäbe es, wenn es darum ginge, im Schoß des Imperialismus nicht weit bequemere Methoden, dieses Bedürfnis auszutoben, als die Verwendung der Staatsgewalt für ein Volksernährungs- und -erziehungsprogramm, mit dem der Präsident sich lauter Feinde und vor allem die Weltmächte zu Feinden macht, von deren Geld seine Herrschaft abhängt. Dem Programm selbst wird sein notwendiges Scheitern vorausgesagt: Die Ölquellen müssten versiegen, die Infrastruktur zusammenbrechen, wenn die Erlöse daraus nicht mehr in die Taschen kompetenter ausländischer Konzerne und anderer privater Nutznießer fließen. Denn nur die hätten die ökonomische Potenz, Land und Leute zu „entwickeln“ – versichern in schamlos heuchlerischer Parteinahme für die „kleinen Leute“, denen Chávez eine glorreiche marktwirtschaftliche Zukunft verbaut, dieselben Experten, die ungerührt direkt daneben zur Kenntnis geben, dass alle bisherigen Versuche, das Kapital zum nationalen Entwicklungshelfer zu machen, sowohl die früheren staatskapitalistischen Experimente als auch die nachfolgende Politik des freihändlerischen Ausverkaufs der Nation, den ganzen lateinamerikanischen Kontinent nur in immer tieferes Massenelend geführt haben. Auf jeden Fall kann es sich beim Einsatz staatlicher Gelder für die Betreuung eines kapitalistisch nicht benutzten, also offensichtlich nutzlosen Volkes nur um sinnlose Zweckentfremdung eines Reichtums handeln, der nur in den Händen potenter Multis und in der Obhut des globalen Finanzgewerbes richtig aufgehoben ist: Dessen sind sich die zuständigen Meinungsbildner aus dem Reich des freiheitlichen Pluralismus völlig sicher und plädieren deswegen nicht etwa für geduldiges Abwarten, sondern gegen jegliches Gewähren-Lassen. Für ein buchstäblich ernst genommenes, mit Öleinnahmen finanziertes Armutsbekämpfungsprogramm ist in der globalen Marktwirtschaft einfach kein Platz, darauf besteht der marktwirtschaftliche Sachverstand und zugleich natürlich darauf, dass das nicht etwa gegen die Marktwirtschaft und ihren globalen Siegeszug spricht, sondern dafür, solchen systemwidrigen Abenteuern besser gleich als später ein Ende zu bereiten.
Gegen solche Anti-Chávez-Polemik werben etliche Komitees und Initiativen der globalisierungskritischen Linken um Solidarität mit Venezuela, seinen Armen und seinem Präsidenten. Durch die erbitterten Anfeindungen des Projekts eines „Bolivarianischen“ „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ lassen sie sich nicht irritieren – allerdings auch nicht darüber belehren, was für einen gnadenlosen Unvereinbarkeitsbeschluss die den Globus regierende bürgerliche Herrschaft gegen Abweichler vom demokratisch-marktwirtschaftlichen Kodex guten Regierens erlassen hat. Sie interessieren sich einfach nicht besonders für eine imperialistische Weltordnung, die es tatsächlich nur ganz schlecht verträgt, wenn auch nur eine Regierung irgendwo mit einem massenfreundlichen Umbauprogramm aus der Reihe tanzt; deren Hüter auf so etwas mit Ausgrenzung und Ächtung reagieren und deswegen Venezuela auf die Kandidatenliste für einen „regime change“ gesetzt haben. Die wenig aufbauende Einsicht, dass die Macht- und Unterdrückungsverhältnisse in der heutigen Staatenwelt ihren Grund in der Staatsräson der großen marktwirtschaftlichen Demokratien haben, die aus ihrer Macht und der Reichweite ihrer Interessen ihr exklusives Recht ableiten, weltweit „Verantwortung zu übernehmen“, und dass diese Verhältnisse deswegen auch nur dort zu beseitigen sind, wo die Weltordnungsgewalt, die dafür einsteht, tagtäglich reproduziert wird: Die Kritik würde allerdings auch schlecht zu der Hoffnung auf Weltverbesserung passen, die die Freunde Venezuelas auf den Adressaten ihrer Solidaritätsbekundungen setzen. Ausgerechnet Chávez‘ heikles Experiment mit dem „dual use“ staatlicher Öleinnahmen: mit der prekären Freiheit eines Souveräns, Geldeinkünfte aus dem internationalen Energiegeschäft für seine Volksmassen zu verwenden, nehmen sie als praktischen Beweis dafür, dass eine andere Welt möglich
sei – was ohne Zweifel stimmt, allerdings nur dann, wenn die Vorstellungen von einem anderen
, besseren Weltlauf außerordentlich bescheiden dimensioniert sind und außerdem die Betonung auf möglich!
liegen bleibt. Ganz so zurückhaltend sind die Freunde der „Bolivarianischen Revolution“ dann doch nicht. Sie lieben ein Venezuela, in dem sie ihre eigenen Lieblingsideale wiederzuerkennen meinen: ein Eldorado der Basisdemokratie – wo die Chávez-Mannschaft sich an der leidigen Notwendigkeit abarbeitet, eine hinreichende Massenbasis für ihr abweichendes Staatsprogramm zu mobilisieren, bei der Stange zu halten und auf Konsequenz einzuschwören; einen neu belebten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ – wo es vor Ort gerade mal darum geht, unter Einsatz von Petro-Dollars und -Euros Überlebensnöte der Massen in den Griff zu kriegen, Verelendung und Verwahrlosung einzudämmen und ein insgesamt eher unproduktives Volksbeschäftigungsprogramm geregelt zu kriegen. Sie setzen auf einen „möglichen“ Anfang vom Ende des US-amerikanischen „Dollar-Imperialismus“ – wo Venezuelas Regierung darum ringt, sich im Windschatten innerimperialistischer Rivalitäten überhaupt zu behaupten. So wird das Venezuela des Präsidenten Chávez zu einer weiteren Zwischenstation für Linke auf der immerwährenden Suche nach Gelegenheiten für ein „richtiges Leben im Falschen“ ...
[1] Standpunkt und praktische Konsequenzen des politischen Aufbegehrens gegen die Weltmarkt- und Weltordnungsgegebenheiten, das hierzulande von offizieller Seite als ‚Linksnationalismus‘abqualifiziert, von Seiten der Globalisierungsgegner umgekehrt als die neue hoffnungsvolle ‚Bewegung‘ hin zu besseren Weltverhältnissen gefeiert wird, werden hier am Fall Venezuela abgehandelt: Von Chávez wird ein solches nationales Programm unter dem Firmenschild ‚Bolivarianische Revolution‘ bzw. Aufbruch zu einem ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts‘ am entschiedensten vertreten, unter seiner inzwischen mehr als achtjährigen Präsidentschaft ist es praktisch am weitesten gediehen und verfügt mit den venezolanischen Öleinnahmen über die meisten Mittel. Chávez gilt deshalb seinen Feinden wie Freunden als gutes oder schlechtes Vorbild für andere ‚Nachahmer‘.
[2] Ausführlich abgehandelt werden die lateinamerikanischen Verhältnisse in GegenStandpunkt 3-03: Die argentinische Krise – Ein Fall von innovativem Dollar-Imperialismus; sowie in GegenStandpunkt 4-04: USA und Lateinamerika – Die amerikanische Vormacht betreibt die Neuausrichtung der Region!