Ein Update aus der Welt der Essenslieferanten

Von der Anwendung und Abwicklung einer Belegschaft zum Zwecke der Marktbeherrschung

Aus der Essenslieferbranche, die für ihre irregulären Arbeitsverhältnisse mit scheinselbstständigen Fahrradkurieren als Schmuddelecke der deutschen Arbeitswelt bekannt geworden ist und die lange Zeit eine gewerkschaftsfreie Zone war, ist 2025 zu vernehmen, dass die Gewerkschaft um einen Sozialplan für von Massenentlassungen bedrohte Teile der Lieferando-Stammbelegschaft ringt. Wie ist es dazu gekommen?

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Ein Update aus der Welt der Essenslieferanten
Von der Anwendung und Abwicklung einer Belegschaft zum Zwecke der Marktbeherrschung 

Aus der Essenslieferbranche, die für ihre irregulären Arbeitsverhältnisse mit scheinselbstständigen Fahrradkurieren als Schmuddelecke der deutschen Arbeitswelt bekannt geworden ist und die lange Zeit eine gewerkschaftsfreie Zone war, [1] ist 2025 zu vernehmen, dass die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) um einen Sozialplan für von Massenentlassungen bedrohte Teile der Lieferando-Stammbelegschaft ringt. Wie ist es dazu gekommen?

1. Wozu Lieferando sich eine Stammbelegschaft leistet

Der international engagierte Konzern Just Eat Takeaway hat sich vor gut zehn Jahren die Marke Lieferando zugelegt, um mit der notwendigen Kapitalgröße in den deutschen Essensliefermarkt einzusteigen, und das gleich mit dem erklärten Ziel, dort eine Monopolstellung zu erringen. Um sich möglichst schnell und zuverlässig den Zugriff auf die für ein solches Unterfangen benötigte Masse an Arbeitskraft zu verschaffen, hat das Unternehmen von Beginn an auf die Beschäftigungsform „regulärer“ Anstellungsverhältnisse gesetzt; die waren für es das passende, berechenbare Mittel, um auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen und sich dort auszubreiten. Der Konzern selbst gibt als den wesentlichen Vorteil dieser speziell für die Besetzung des deutschen Marktes gewählten Beschäftigungsform die „Rechtssicherheit“ an, die diese im Vergleich zum Rückgriff auf Leiharbeitsfirmen oder den juristischen Graubereich der Solo-Selbstständigkeit bietet. Des Weiteren gibt das Unternehmen an, mit der Wahl seines Beschäftigungsmodells auch Kosten für die Mitarbeiterakquise einzusparen, was seinerseits unterstreicht, in welchem Maßstab es auf ein schnell wachsendes Arbeitnehmerheer für seinen Expansionskurs gesetzt hat. So ist im Laufe der letzten Jahre bei Lieferando das Branchennovum einer Stammbelegschaft von Essenslieferanten zustande gekommen. Die zählt Stand Herbst 2025 knapp 10 000 sogenannte Rider, welche direkt bei Lieferando angestellt sind und in Deutschlands Großstädten für die Plattform das Essen ausliefern. Seit 2021 dürfen sie das sogar bevorzugt in Form unbefristeter Festanstellungen in jedem Arbeitszeitumfang zwischen Minijobkontingenten bis hin zur Vollzeitbeschäftigung, womit das Unternehmen sich gerne als guter Arbeitgeber präsentiert, der „die besten Kräfte“ für sich gewinnt.

Den Markt hat das Unternehmen so nach und nach um fast alle direkten Konkurrenten bereinigt, indem es sie aufgekauft oder verdrängt hat. Übernommen hat es etwa die in Deutschland tätigen Marken Lieferheld.de, Foodora, Pizza.de (2018) sowie McDelivery (2019), während der Konkurrent Deliveroo sich 2019 ohne Übernahme aus dem deutschen Markt zurückgezogen hat. Als nennenswerte Konkurrenten verbleiben derzeit Wolt und Uber Eats, die für ihre Lieferungen praktisch ausschließlich auf Subunternehmer und Freelancer zurückgreifen.

Den erreichten Stand des Projektes und den Beitrag der festangestellten Fahrer zu dieser Marktdurchdringung drücken Kenner und Bewunderer des Geschäftsmodells gerne an dem kostenlosen Werbeeffekt (betriebswirtschaftlicher und englischer ausgedrückt: „last mile visibility“) aus, der von den Angestellten ausgeht, wenn sie in oranger Berufskleidung mit dem Emblem ihres Arbeitgebers auf dem Rücken in der Stadt herumradeln und so dazu beitragen, dass eine zeitknappe Kundschaft das Angebot schneller Essenslieferungen möglichst mit der einen Bestellplattform assoziiert.

Dabei hat Lieferando dafür gesorgt, dass seine Festangestellten den Vergleich zu den bei der Konkurrenz üblichen Arbeitsbedingungen für Freelancer und Leiharbeitskräfte nicht zu scheuen brauchen, den es schließlich von Beginn an selbst praktiziert hat.

Die Fahrer verdienen bei Lieferando einen Stundenlohn in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns und unterliegen dabei einer zeitlichen Komplettüberwachung durch die Betriebsapp, mit der nicht nur der aktuelle Standort, sondern auch Wartezeiten vor den Restaurants und an der Haustür der Kundschaft, die nicht zu unzulässigen Pausen ausgedehnt werden sollen, lückenlos überwacht und dokumentiert werden; auch Bestätigungsabfragen und Kontrollanrufe gehören dazu. Damit es nicht bei der puren Leistungskontrolle bleiben muss, greift Lieferando zugleich auf die leistungssteigernden Segnungen der anderen Lohnform – des Stücklohns – zurück. Dazu wird den Arbeitnehmern ein ausgebufftes Bonussystem präsentiert: Wer pro Monat mehr Aufträge in der App annimmt und abarbeitet, kann sich – fein abgestuft – einen Zuschlag pro Auftrag dazuverdienen, der bis auf zwei Euro pro Lieferung ansteigen kann. [2] Zugleich wird den Arbeitskräften dabei auch nicht zu viel Freiheit in Sachen Leistungsbereitschaft gegen höheres Entgelt gelassen. Die Auftragsverteilung an die Fahrer erfolgt durch den Algorithmus, die Kuriere haben es also auch bei rascher Erledigung ihres Auftrages keineswegs in der Hand, ob und wann ihnen der nächste angeboten wird.

Was die benötigte Flexibilität bei der Attraktion und Repulsion von Arbeitskräften angeht, hält Lieferando sich auch in Zeiten der unbefristeten Arbeitsverträge (vor 2021 waren ohnehin Kettenbefristungen die Regel) schadlos. Arbeitgeberseitige Kündigungen des Arbeitsverhältnisses erfolgen oftmals noch während der bzw. kurz vor Ablauf der obligatorischen Probezeit; laut Betriebsrat wird im Schnitt der Hälfte der Leute innerhalb der Probezeit wieder gekündigt. Entsprechende Verstöße, die die Entlassung rechtfertigen, lassen sich leicht finden. Ohnehin gibt es eine hohe Rotation innerhalb der Belegschaft, da viele die Arbeitsbedingungen nicht lange aushalten. Aus beiden Gründen beträgt die durchschnittliche Verweildauer im Unternehmen nur einige Monate, sodass Regelungen zu Urlaubs- und Krankengeld sowie zum Kündigungsschutz oftmals nicht greifen.

2. Vom Lieferdienst zum Regiment über das Bestellwesen

Über die Zeit hat Lieferando sich so eine Marktposition erobert, die es ihm zunehmend gestattet, auch mit der reinen Vermittlung von Bestellungen einträgliche Geschäfte zu machen. Bei seinem sogenannten Marktplatzmodell, welches das Unternehmen parallel zum Liefermodell betreibt und den Restaurants und Imbissbuden als die für sie günstigere Variante anpreist, wie sie Teil der Plattform werden können, bleibt die Dienstleistung auf die Präsentation der Speisekarte, die Weiterleitung der Bestellung und die Abwicklung des Zahlungsverkehrs beschränkt – ohne dass Lieferando die Auslieferung übernimmt. Die Offerte, mittels Kooperation mit Lieferando den eigenen Kundenstamm beträchtlich erweitern zu können, hat sich mit der errungenen Marktstellung des Unternehmens für die untereinander konkurrierenden Restaurants inzwischen zu einem alternativlosen Angebot entwickelt: Wer für seine potentielle Kundschaft sichtbar sein will, der muss eben auf der Plattform präsent sein. Entsprechend lässt sich Lieferando die Reservierung eines Platzes auf der Online-Plattform bzw. in der Bestell-App mit ordentlichen Umsatzbeteiligungen vergüten. [3] Ausweislich der Geschäftszahlen macht das reine Kommissionsgeschäft für Lieferando inzwischen den weitaus größten Teil des Unternehmensumsatzes aus. Die Organisation eines möglichst billigen Lieferheeres, das es natürlich auch weiterhin braucht, damit die Bestellung zum Kunden kommt, bleibt dabei ganz den Restaurants selbst überlassen, die dafür ihrerseits auf alle bekannten Varianten prekärer Beschäftigung zurückgreifen: Von der bevorzugten Anwendung migrantischer Billigarbeitskräfte mit volatilem Aufenthaltsstatus über Freelancer bis hin zu Leiharbeitsfirmen ist alles dabei, was man an irregulären Arbeitsverhältnissen aus der Branche kennt.

3. Eine Marktstellung, die eine Stammbelegschaft überflüssig macht

Auf Grundlage seines erreichten Erfolgs geht Lieferando im Jahr 2025 dazu über, Teile seiner Stammbelegschaft für überflüssig zu erklären und durch billigere Leiharbeitskräfte zu ersetzen. Zunächst ist von 2 000 Entlassungen die Rede. Die davon Betroffenen erhalten dabei häufig zeitnah Angebote von sogenannten Flottendienstleistern wie Fleetlery, mit denen Lieferando künftig in großem Stil zusammenarbeiten will, um die Kosten für eine eigene Belegschaft zu reduzieren. Dort dürfen die Fahrer dann in ihren gewohnten Liefergebieten zu wesentlich schlechteren Konditionen mehr oder weniger nahtlos weiterradeln:

„Die Fahrer [bei den Flottendienstleistern] werden in der Regel als Selbstständige beschäftigt, die pro Auftrag bezahlt werden. Der Mindestlohn wird so außer Kraft gesetzt. Arbeitsmittel wie Fahrrad, Helm und Handy müssen sie selber stellen. Die Wartezeit bis zum nächsten Auftrag wird nicht entlohnt. Lohnfortzahlung bei Krankheit? Bezahlter Urlaub? Betriebsrat? Fehlanzeige. Wer nicht spurt, wird aus der App geworfen und hat keinen Zugang zu Aufträgen mehr.“ (stiftungmunda.de, Oktober 2025)

Um überhaupt in den Genuss der Arbeit bei einem Flottendienstleister zu kommen, müssen die Fahrer zuvor üblicherweise beträchtliche „Gebühren“ für den App-Zugang zahlen. Auch das Einklinken einer weiteren Kaskade von Subunternehmern, die dann ihrerseits einen Teil des Verdienstes als Tribut fordern, gehört in dieser Abteilung dazu. Die Ausarbeitung der unübersichtlichen Details dieses übersichtlichen Prinzips bleibt der investigativen Presse überlassen. Die Transformation der Belegschaft zum Leiharbeiterheer ist jedenfalls in vollem Gange, und an einigen großstädtischen Standorten werden die festangestellten Kräfte bereits jetzt um eine „Schattenflotte“ in unbekannter Größe ergänzt.

Zugleich zieht Lieferando in Erwägung, an ausgewählten Standorten künftig auch ganz auf eine Radlerflotte verzichten zu können und das Liefergeschäft einzustellen – ohne sich aus der jeweiligen Stadt zurückzuziehen. Schließlich verdient es ja jetzt schon den größeren Teil seines Geldes nicht mit der Auslieferung, sondern mit den Kommissionsgebühren, die die Restaurants pro Bestellung an die Plattform abdrücken. Für das Erringen des Monopols über das Ausliefern wie überhaupt über das Bestellen von Essen in Deutschland hat die Belegschaft ihren Dienst getan und ihre Funktion erfüllt, sodass sie jetzt in jeder Form zurechtgestutzt werden kann.

4. Die Drangsale der Gewerkschaft: negatives Abziehbild der erfolgreichen Karriere des Lieferdienstes

Die fruchtlosen Bemühungen der Gewerkschaft bei Lieferando dokumentieren und bestätigen den Werdegang dieser marktwirtschaftlichen Erfolgsgeschichte auf ihre Weise.

Zu Beginn hat die NGG in dem Branchennovum direkter Anstellungen ihre Chance gesehen, in der Essenskurierbranche Fuß zu fassen, weil sie endlich so etwas wie eine Belegschaft vor sich hatte, der sie sich als deren professionelle Interessenvertretung anbieten konnte. Dort war sie zunächst jahrelang mit dem Versuch beschäftigt, mittels der Forderung nach einem Tarifvertrag Einfluss auf die Lohn- und Leistungsbedingungen bei Lieferando zu nehmen: Neben einem Versicherungsschutz, Nacht- und Kilometerzuschlägen sowie der Anrechnung der Heimfahrt von der letzten Lieferung als Arbeitszeit hat sie v.a. einen Stundenlohn von 15 Euro gefordert. Lieferando hatte dazu nur zu vermelden, dass es im Branchenvergleich ohnehin Spitzenlöhne bietet, die sich sogar zu Summen deutlich oberhalb der geforderten 15 Euro hochrechnen lassen, wenn man Auftragsboni und Trinkgelder berücksichtigt, und die Gewerkschaftsforderungen ansonsten geflissentlich ignoriert.

Der Versuch der NGG ist erfolglos geblieben, weil das Unternehmen darauf besteht, dass Festanstellungen zu nichts anderem gut sind als dazu, allein der Unternehmensseite Verlässlichkeit, nämlich den freien Zugriff auf die Arbeitszeit der Beschäftigten zu garantieren. Deutsche Gewerkschaften mögen es ja so sehen, dass beides untrennbar zusammengehört, aber für Lieferando ging seine Präferenz einer ordentlichen Beschäftigungsform nie mit dem Wunsch nach einer Sozialpartnerschaft einher. In diesem Sinne hat es auch die Etablierung von gewerkschaftsnahen Betriebsräten stets bekämpft. Das Unternehmen argumentiert, dass es in etlichen Städten, in denen es zwar als Lieferdienst präsent ist, aber dort keine Büros unterhält, ja eigentlich überhaupt nicht als Betrieb aktiv ist und dass es von daher an diesen Standorten auch keinen Betriebsrat geben kann. Von allen gewerkschaftlich organisierten Streiks hat Lieferando sich stets demonstrativ unbeeindruckt gezeigt und vermeldet, für die werte Kundschaft seien keinerlei Verzögerungen entstanden.

Im Lichte der angekündigten Entlassungen haben sich die Bemühungen der Gewerkschaft im Laufe des Jahres 2025 dann zunehmend auf die Organisation von Protesten gegen das Outsourcing verschoben, die in erster Linie Eindruck auf die Politik machen sollen, auf dass die die Leiharbeit in der Branche regulieren oder gleich ganz verbieten möge. Außerdem hätte die NGG, wenn schon kein Tarifvertrag zur Mitgestaltung der Arbeitsverhältnisse zu haben war, gerne einen flächendeckend gültigen Sozialtarifvertrag für die Abwicklung dieser Jobs, was für sie auch deswegen entscheidend ist, weil sie in den vielen Städten, in denen sie keine Betriebsräte stellt, keinen Interessensausgleich oder Sozialpläne vereinbaren kann. Dafür organisiert sie im Jahr 2025 einige Ausstände, die das Unternehmen wiederum schlicht ignoriert.

So trostlos sehen die Perspektiven einer Arbeitnehmervertretung bei einem Unternehmen aus, das sich mit seinem Geschäftsmodell und seiner Position als Quasi-Monopolist in zunehmendem Maße unabhängig davon macht, sich überhaupt selbst die Hände mit der Organisation der Ausbeutung von Lohnarbeit schmutzig machen zu müssen. Es distanziert sich damit von der einzigen Sache, bei der die Gewerkschaft sich im Unternehmen überhaupt bemerkbar machen kann.

[1] Dazu siehe den älteren Artikel Vom Nutzen der wunderbaren Errungenschaft, sich aus eigener Kraft um sich selbst kümmern zu dürfen. Die Freiheit der Fahrradknechte, erschienen in GegenStandpunkt 3-18, sowie ein paar Bemerkungen aus dem Artikel Anmerkungen zur Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland, Abschnitt „Gig Economy – ruinöse Freiheit“, erschienen in GegenStandpunkt 2-23.

[2] Für den Teil der Angestellten, die nicht auf Fahrrädern, sondern (v.a. in ländlichen Gebieten) mit Kraftfahrzeugen unterwegs sind, sind die Auftragsboni inzwischen ersatzlos gestrichen worden. Die Praxis war nicht mit den gesetzlichen Vorschriften vereinbar, die Akkordlöhne in diesem Bereich verbieten, da sie Verstöße gegen die StVO provozieren und arbeitsmedizinisch verbürgt das Unfallrisiko erhöhen. Die städtischen Fahrradkollegen können ein Lied davon singen: Im Schnitt war jeder zweite von ihnen bereits in einen Unfall verwickelt.

[3] Die Logik dieser Umkehrung vom Geschäftsmittel zur Geschäftsbedingung wird in dem Artikel Zu einigen neueren Fortschritten in der Konkurrenz der Kapitalisten. Die Digitalisierung des Kapitalkreislaufs, erschienen in GegenStandpunkt 3-19, ausführlich erläutert.