Ein Nachtrag zu Pandemie V.
Volksgesundheit und Kapitalismus

Leserbriefe, die uns erreicht haben, bestreiten die von uns dargelegte Funktionalität der Seuchenpolitik, d.h. der staatlichen Fürsorge für die Gesundheit des Volkes im Interesse seiner kapitalistischen Benutzung. Sie verwerfen dazu allerdings nicht unser Argument für diese Funktionalität, sondern schon gleich das Faktum, das wir mit ihm erklären wollen.

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Ein Nachtrag zu Pandemie V.
Volksgesundheit und Kapitalismus

Zu den drei Abschnitten des Artikels ‚Exkurs zum Thema Volksgesundheit‘ haben uns bereits vor Redaktionsschluss einige kritische Rückmeldungen erreicht.

Zu 1.

Leserbrief 1: Corona – Volksgesundheit versus Geldverdienen

Die eigentümliche Ratio des Zwecks Volksgesundheit geht aus dem Verhältnis hervor, in das der Staat ihn stellt wird aufgelöst wie folgt: Wenn der Staat sich einer Infektionskrankheit annimmt und dafür sogar den normalen Geschäftsgang im Land partiell lahmlegt, dann geht es ihm um die Tauglichkeit seines Volks für diesen Geschäftsgang.

Mir leuchtet nicht ein, dass der Staat den Zweck Volksgesundheit bei seinen Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus in ein Verhältnis setzt zum Prozess des allgemeinen Geldverdienens, sodass die Verfolgung des Zwecks Volksgesundheit einem zweiten Zweck dient, nämlich der Wiederherstellung der Tauglichkeit des Volks für das allgemeine Geldverdienen, das er mit Zweck Nr. 1 gerade lahmlegt. – Festzuhalten ist doch, dass der Staat sich ganz prinzipiell um die Volksgesundheit kümmert, die er bedroht sieht – Richtschnur seines Handelns ist die Sicherstellung der Kriterien, die er selbst für Volksgesundheit definiert hat (siehe unten). Da setzt er erst einmal nichts in ein Verhältnis zu einem anderen Zweck, sondern verfügt die Maßnahmen, die er dazu für nötig hält. Aus diesen Maßnahmen folgen dann zweitens Einschränkungen für die Erwerbsquellen der Wirtschaftssubjekte (das Geldverdienen für die Erhaltung der Arbeitskraft und die Geldvermehrung für die Erhaltung des Kapitals): Diese Einschränkungen behandelt er als unerwünschte, aber unvermeidbare Folgen seines Tuns und sucht sie zu kompensieren.

Begründung:

Die existentiellen Grundlagen der Herrschaft des Staates sind sein Territorium und sein Volk. Er gebietet über sie zu dem Zweck, dass sie ihm eine Ausstattung seiner Herrschaft liefern, die ihm bei den Souveränen jenseits der Grenzen seines Territoriums Respekt verschafft. Auf Bedrohungen seines Territoriums wie seines Volks reagiert der Staat nicht mit Kosten-Nutzen-Abwägungen, sondern ganz prinzipiell. Es geht ja um die Grundlagen seiner Herrschaft, also seine eigene Existenz.

Durch die epidemische Verbreitung des Coronavirus, dem einstweilen weder mit Impfungen noch mit Medikamenten zu begegnen ist, sieht der Staat die Gesundheit und damit den Bestand seines Volks bedroht. Er reagiert ganz prinzipiell – wie im Krieg: Wenn ‚Not am Mann‘ ist, dann ist es – vorübergehend – aus mit den heiligen Prinzipien der freien Konkurrenz ums Geld, mit Recht und Macht des Eigentums und den Sitten seiner geschäftlichen Vermehrung. (Pandemie II.) Die erfolgreiche Bekämpfung des Virus zur Sicherung der Volksgesundheit hat absoluten Vorrang vor der vom Staat eingerichteten Benutzung des Volks mit ihren Prinzipien.

Klar ist: Volksgesundheit ist nicht die Allgemeinheit des allgemeinmenschlichen Interesses, gesund zu bleiben oder wieder zu werden (Pandemie V.).

Die Gewährleistung der Volksgesundheit, auf die sich der Staat seit 150 Jahren selbst verpflichtet, hat ihr Maß und Kriterium darin, dass das Gesundheitswesen jeden Bürger im Bedarfsfall medizinisch versorgt. Immer wieder wurde und wird von den Politikern und ihren wissenschaftlichen Beratern als absolute Priorität hervorgehoben, dass das Gesundheitswesen dem viralen Angriff standhalten muss, d.h. dass auf den Intensivstationen ausreichend Betten und Gerätschaften zur Versorgung von Corona-Notfällen zur Verfügung stehen müssen. Da gibt es nichts abzuwägen: Distanzgebote werden erlassen, um die Verbreitung des Virus so weit unter Kontrolle zu bringen, dass die als GAU definierte Triage in Deutschland (anders als in Italien und Spanien) nicht eintritt. Das deutsche Gesundheitssystem darf auf keinen Fall ‚kollabieren‘. Darum ist es dem Staat zu tun – nicht um ein Abwürgen des kapitalistischen Wirtschaftens, damit es nach der Abwehr und Überwindung des Virus wieder störungsfrei ‚brummt‘.

Die Folgen der gesundheitspolitischen Distanzmaßnahmen für die Wirtschaftssubjekte werden vom Staat als das behandelt, was sie sind: von ihm selbst verursachte Folgen, die er mit viel Geld zu kompensieren sucht. Die Kosten der Rettung der Volksgesundheit will er für die dadurch bedrohten Wirtschaftssubjekte so weit abmildern, dass sie in Zukunft wieder konkurrieren können.

Eine Kosten-Nutzen-Abwägung macht der Staat dabei nicht – Kritiker aus diversen Ecken der Gesellschaft machen solche Abwägungen und fragen, wieso Millionen ihre Erwerbsquelle verlieren oder in Kurzarbeit gehen müssen sowie Tausende von Betrieben stillgelegt und in Konkurs gebracht werden, nur um ein paar Tausend Rentnern mit Vorerkrankungen im hohen Alter ihr Leben ein wenig zu verlängern. Kosten-Nutzen-Abwägungen in dieser Richtung werden zurückgewiesen – die Vermeidung von Triage als Maßstab des Funktionierens des Gesundheitswesens und damit der Gewährleistung der Volksgesundheit gilt als alternativlos.

Der Staat setzt seinen Zweck Volksgesundheit nicht ins Verhältnis zum Prozess des allgemeinen Geldverdienens (Pandemie V.), sondern sucht die Volksgesundheit als Bedingung seiner eigenen Existenz zu retten – in Absehung vom Prozess des allgemeinen Geldverdienens ganz nach seinen eigenen Maßstäben, was für den Zweck Volksgesundheit zu gelten hat: Jeder Notfall muss medizinisch behandelt werden können. Dann erst kümmert er sich um die Folgen, die seine gesundheitspolitischen Maßnahmen für die Wirtschaftssubjekte haben, und sucht deren Not, die er verursacht hat, zu kompensieren.

Leserbrief 2: Schwierigkeiten mit ‚Pandemie V.‘

Auch wenn daran angeblich kein Zweifel bleibt: Ich verstehe nicht, woraus entnommen oder erschlossen wird, dass es dem Staat bei der partiellen Lahmlegung seines Landes um die Tauglichkeit seines Volkes für diesen Geschäftsgang geht.

Nach allem, was man seit Wochen hört und liest,

  • sind von den „schweren Verläufen“, die lange krank sind und in die Klinik müssen, in der übergroßen Mehrheit Leute weit jenseits des arbeitsfähigen Alters betroffen. Stellvertretend für alle: Wenn man die über Siebzigjährigen aus der Rechnung rausnimmt, wäre die Situation für den Rest der Bevölkerung so gefährlich wie die Influenza, und für die machen wir ja keinen Lockdown. (Kekulés Podcast letzten Montag)
  • Der Schaden, den der Staat mit seinen Maßnahmen der Wirtschaft zufügt, von der er lebt, ist um ein Zigfaches höher als alles, was in dieser Hinsicht von einem grassierenden Virus befürchtet wurde.
  • Ich kenne keine einzige Stellungnahme aus Politik oder Öffentlichkeit, die den Lockdown mit einem ansonsten drohenden Schaden für die Wirtschaft begründet. Stattdessen hört und liest man: die Überlastung des Gesundheitssystems muss vermieden werden, jeder, der einen Beatmungsplatz braucht, soll einen bekommen, Zustände wie in der Lombardei und eine Triage sollen vermieden werden. An die Jungen wird appelliert, mit den Alten solidarisch zu sein, auch wenn sie selber kaum betroffen sind.

Ganz offensichtlich ist Tauglichkeit für den Geschäftsgang nicht der Gesichtspunkt, unter dem der Staat sein Volk und dessen Gesundheit hier in den Blick nimmt.

Antwort der Redaktion

Beide Leserbriefe bestreiten die von uns dargelegte Funktionalität der Seuchenpolitik, d.h. der staatlichen Fürsorge für die Gesundheit des Volkes im Interesse seiner kapitalistischen Benutzung. Beide verwerfen dazu gar nicht erst unser Argument für diese Funktionalität, sondern schon gleich das Faktum, das wir mit ihm erklären wollen.

Zwar beziehen sie sich selbst – wie auch nicht bei diesem Thema – auf den Gegensatz zwischen den seuchenpolitischen Distanzgeboten, der verordneten, partiellen Sistierung des Wirtschaftslebens und dem Erfordernis unbedingter Kontinuität des kapitalistischen Wirtschaftens, für das Stillstand nicht nur Nicht-Wachstum, sondern unmittelbar Verlust und Niedergang bedeutet. Aber von der Abwägung der Regierung zwischen der notwendigen Rücksicht auf die Volksgesundheit und dem wirtschaftlichen Schaden, den diese Rücksicht verursacht, wollen sie nichts bemerkt haben. War es denn nicht vom ersten Tag der Beschränkungen des Alltags an und mit der Zeit immer mehr die einzige die Regierung und das ganze Land beherrschende Frage, wann (nicht zu früh!), wie radikal, wie lange der Shutdown unbedingt nötig ist, um das Seuchengeschehen unter Kontrolle zu bringen, und wie bald, welchen Sektoren in welchem Maß die Wiederaufnahme ihrer Geschäftstätigkeit wieder erlaubt werden kann? Ist ihnen entgangen, dass Deutschland sich dafür lobt, dass es das Infektionsgeschehen mit einem vergleichsweise kurzen, relativ milden Shutdown (der Industrie ist das Produzieren zu keinem Zeitpunkt verboten worden) heruntergebremst und die Wirtschaft damit viel weniger geschädigt hat als viele Nachbarstaaten?

Mit dem Nicht-Sehen der Abwägung bestreiten sie – darum geht es ihnen – das Verhältnis von Zweck und Mittel in ihr, auf das wir aufmerksam machen wollen. Wenn die Regierung täglich neu darüber entscheidet, wie viel Unterbindung des Geschäftslebens unbedingt nötig, wie viel, wie schnell eine Rückkehr zur Normalität aber möglich ist, dann ist doch klar, was leider sein muss und was endlich wieder sein soll. So charakterisieren die politischen Spitzen des Landes selbst die Volksgesundheit als unerlässliche Bedingung, die im Fall der Seuche einmal Vorrang haben muss, und den von der Seuchenbekämpfung unterbrochenen Alltag des Kapitalismus, der ein gesundes Volk nun einmal als seine entscheidende Ressource braucht, als Zweck ihrer Maßnahmen.

*

An die Stelle dieser Relation setzt der Autor des ersten Leserbriefs die Konstruktion einer expliziten Verhältnis- und Berechnungslosigkeit, welche den Zweck der Volksgesundheit als Absolutum auszeichnen soll: Festzuhalten ist doch, dass der Staat sich ganz prinzipiell um die Volksgesundheit kümmert, die er bedroht sieht. Dass er dafür doch auch so etwas wie Kriterien kennt, daran will der Autor zunächst vor allem unterstreichen, dass es die des Staates selbst sind: Richtschnur seines Handelns ist die Sicherstellung der Kriterien, die er selbst für Volksgesundheit definiert hat – gerade so, als stünde das kapitalistische Um-Zu, dem der Autor so energisch widerspricht, im Widerspruch dazu, dass dies das Kriterium des Staates ist.

Im Folgenden kommt es ihm auf die – verkehrte – Entgegensetzung an, dass von Berechnung nicht die Rede sein könne beim Schutz des Volkes, weil es die Grundlage der Herrschaft ist: Auf Bedrohungen seines Territoriums wie seines Volkes reagiert der Staat nicht mit Kosten-Nutzen-Abwägungen, sondern ganz prinzipiell. Es geht ja um die Grundlagen seiner Herrschaft, also seine eigene Existenz. Davon abgesehen, dass nichts darauf hindeutet, dass die Staatsgewalten wirklich ihre Existenz durch Corona infrage gestellt sehen: Es ist verkehrt, die Unterstreichung der Tatsache, dass das Volk eine Grundlage der Herrschaft darstellt, dagegenzuhalten, inwiefern es das ist: Mit seinem Grundlagen-Gedanken polemisiert der Autor ausgerechnet gegen die Benennung der ökonomisch nützlichen Rolle des Volkes: Indem es von der und für die kapitalistische Wirtschaftsweise lebt, verschafft es der bürgerlichen Herrschaft deren ökonomische Ausstattung; deswegen und dafür wird es vom Staat fürsorglich in Schutz genommen. Als wäre dieser fundamentale Zusammenhang von Volk und Kapitalismus nicht Grund genug für den Staat, gegen die Bedrohung seines Volkes durch eine Pandemie entschieden vorzugehen, als wäre das nichts ‚Prinzipielles‘, hält der Autor seinen Prinzipien-Gedanken eines unökonomischen Verhältnisses zwischen Staat und Volk dagegen und greift zu ganz unpassenden Verplausibilisierungen: Ausgerechnet wie im Krieg soll der Staat in der Corona-Krise reagieren! Dabei setzt der im einen Fall vorübergehend das allgemeine Geldverdienen zum Schutze der Gesundheit seines Volkes aus, während er es im anderen Fall zu erklecklichen Teilen für seine Selbstbehauptung als Souveränität gegenüber seinesgleichen opfert.

An späterer Stelle führt der Autor die Verhinderung der als GAU definierten Triage, die als Zeichen des Kollapses des Gesundheitswesens gilt, als staatliches Kriterium der gesundheitspolitischen Maßnahmen an. Es ist zwar überhaupt nicht zu bestreiten, dass (mit bangem Blick auf Italien) einiges unternommen worden ist, damit das deutsche Gesundheitssystem auf keinen Fall kollabiert – es wird in seiner Funktionstüchtigkeit ja mehr denn je benötigt zur Aufrechterhaltung der Volksgesundheit. Aber was gibt dieses immanente Erfolgskriterium der Seuchenpolitik schon her für die Bestimmung des Grundes, warum und wofür die Volksgesundheit im Kapitalismus nötig ist und geschützt wird? Den staatlichen Zweck des Gesundheitsschutzes kann man schließlich nicht als die Verhinderung von dessen Scheitern erklären. Der Autor wiederholt hier seinen Fehler, die Tatsache, dass die Gesundheit als Bedingung Fürsorge erfährt, zu einer selbstzweckhaften Bestimmung zu erklären und dagegen auszuspielen, wofür sie die Bedingung ist und damit letztlich da zu sein hat.

*

Der Autor des zweiten Leserbriefs gibt im ersten seiner drei Spiegelstriche, die begründen sollen, weshalb ganz offensichtlich ... Tauglichkeit für den Geschäftsgang nicht der Gesichtspunkt sein kann, unter dem der Staat sein Volk und dessen Gesundheit hier in den Blick nimmt, einen Einblick in seine Auffassung darüber, wie es zugehen müsste, damit er sich unserer Schlussfolgerung anschließen könnte: Dass das Volk durch den Staat als taugliche Grundlage und Manövriermasse des Kapitalismus gesundheitspolitisch bewirtschaftet wird, kann er sich nur so vorstellen, dass Leute jenseits des arbeitsfähigen Alters dann doch von einer Behandlung ausgenommen sein müssten, was jedoch offenkundig nicht der Fall ist.

Ihm ist nicht klar, was es heißt und was das alles einschließt, wenn der Staat sein Volk im Kapitalismus betreut, es also für ihn herrichtet: Der Staat bezieht sich dabei auf den Kapitalismus, den er organisiert, als die Existenzweise seiner ganzen Gesellschaft; er bezieht sich darauf als ein System, in dem, für das und von dem sein ganzes Volk seine Existenz bestreitet und kümmert sich in diesem Sinne um dessen Funktionieren. Es ist dieser im Ausgangspunkt durchaus egalitäre, all die Unterschiede und Gegensätze innerhalb seiner Gesellschaft relativierende Blick der Staatsgewalt auf das Volk und dessen Lebensmittel, der sich von den Kalkulationen der Kapitalisten abhebt, die mit nützlicher, d.h. produktiver Armut etwas anzufangen wissen, während die unnütze Armut sie nichts angeht. Erst auf Grundlage dieses Egalitarismus kümmert sich der Staat dann um die Unterschiede der diversen sozialen Charaktere, die die Konkurrenzgesellschaft hervorbringt, und betreut die verschiedenen Klassen nach ihren Rollen und deren Bedarf entsprechend unterschiedlich. In diesen staatlichen Bezug sind alle sozialen Charaktere des Kapitalismus eingeschlossen, was aufseiten der lohnabhängigen Klasse auch bedeutet, dass alle Lebensphasen der proletarischen Existenz, vom Kindesalter über ein Arbeitsleben und dessen Zwischenfälle hinweg bis zum Stadium der Vergreisung, als Gegenstände staatlicher Betreuung Berücksichtigung finden. Was der Staat so insgesamt leistet, ist allgemeine Festlegung der gesamten Bevölkerung auf den Kapitalismus als ihr ‚Lebensmittel‘; und das ist es auch, was die Fürsorge der Staatsgewalt gegenüber ihrem Volk letztlich als einen Dienst am in dieser Gesellschaft ökonomisch herrschenden Interesse, eben als einen Dienst am Kapital, qualifiziert.

Zu der staatlichen Betreuung sämtlicher einander widerstreitender ökonomischer und sozialer Aspekte der Klassengesellschaft im Sinne der Sicherstellung ihres Funktionierens gehört als deren Echo ein ausgiebig gepflegtes Beschwerdewesen, in dem partikulare Positionen gegen die – kostspielige – staatliche Betreuung anderer sozialer Schichten hetzen und die Notwendigkeit der Rücksicht auf sie im Sinn des Gemeinwesens bestreiten. Irgendein profilierungssüchtiger Schlaumeier findet sich im freiheitlich-demokratischen Diskurs immer, der auch vor Tabubrüchen nicht zurückschreckt und öffentlich beklagt, dass ‚wir Alte retten, die sowieso bald sterben, und damit an Wirtschaft und Wohlstand viel Schaden anrichten‘. Der Autor des Leserbriefs hat sich das Argument also gar nicht selber ausdenken müssen, es kursiert längst im politischen Streit um die Seuchenpolitik, und zwar als eine extreme Position der Kritik an ihr. Einlassungen dieser Art, die auch weniger radikal Grad und Art der Seuchenbekämpfung in Zweifel ziehen können, beweisen das Gegenteil dessen, wofür der Leserbriefschreiber sie sprechen lassen will, nämlich die Selbstverständlichkeit, mit der in der nationalen Debatte über Sinn und Unsinn des Shutdowns die Funktionalität der Seuchenpolitik für den Wirtschaftsstandort das Beurteilungskriterium ist. Dasselbe belegen ja auch die humanen Gegenargumente, die die Fortsetzung der Virusbekämpfung samt ihren Kosten damit begründen, dass eine drohende zweite Infektionswelle noch viel größere wirtschaftliche Schäden mit sich bringen könnte.

Nicht anders verhält es sich mit dem zweiten ‚Beweis‘, den der Autor für die Berechnungslosigkeit und damit die kapitalistische Nicht-Funktionalität der Sorge um die Volksgesundheit anführt: Der Schaden, den der Staat mit seinen Maßnahmen der Wirtschaft zufügt, von der er lebt, ist um ein Zigfaches höher als alles, was in dieser Hinsicht von einem grassierenden Virus befürchtet wurde. Diese Einschätzung entspricht zwar keineswegs dem Urteil der politischen Entscheidungsträger in mehr oder weniger allen von der Pandemie heimgesuchten Nationen, zitiert aber auch hier eine, längst von anderen artikulierte, extreme Position in der überall tobenden Debatte, ob sich die Seuchenschutzmaßnahmen in Anbetracht der Schäden, die sie verursachen, noch rechtfertigen lassen – etwa die Meinung Donald Trumps, der warnte, die Medizin dürfe nicht schlimmer sein als die Krankheit. Die vom Autor zitierte Streitposition belegt exakt das, was er mit seinem Zitat bestritten haben will: Der polemisch angeführte Vergleich der Schäden, die das Virus, und der Schäden, die seine Bekämpfung verursachen, beweist eben nicht die Abwesenheit des kapitalistischen Um-Zu in Fragen der Volksgesundheit, sondern argumentiert mit diesem Zusammenhang – im zitierten Fall im Namen der Wirtschaft gegen ihre Einschränkung.

Im Übrigen krankt das vom Autor vorgebrachte Argument, was der Wirtschaft doch offensichtlich schade, könne nie und nimmer ein Dienst am Kapital sein, auch daran, dass der Staat nicht nur in Fragen des Umgangs mit der Ressource ‚Gesundheit‘, sondern überhaupt im Umgang mit allen ‚Springquellen des Reichtums‘ dem Kapital beständig Schranken auferlegen muss, um die Bedingungen des Kapitals gegen dessen rücksichtslose Praxis zu sichern – und so dessen Erfolg überhaupt auf Dauer haltbar zu machen. Und gerade im Pandemiefall muss der Staat im Sinne der fälligen allgemeinen Gesundheitsschutzmaßnahmen als die notwendige Gewalt der kapitalistischen Produktionsweise deren widersprüchliche Ratio gegen ihre Akteure durchsetzen – um ihnen damit insgesamt einen wahrlich ‚systemrelevanten‘ Dienst zu erweisen. Der ist nicht damit zu dementieren, dass die Betroffenen diese notwendige Einschränkung ihres ökonomisch herrschenden Interesses mit entsprechend standesbewussten Beschwerden quittieren.

Zu 2.

Leserbrief 3

Die Einwände gegen Punkt 2. beziehen sich auf die durchgehende Unterstellung bzw. den dahingehenden Tenor, dass die staatlichen Maßnahmen auf Untertanen treffen, die

a) vom Staat finanzielle Entschädigung verlangen;

b) der Konsens zwischen Regierung und Regierten wäre zusätzlich belastet;

c) dass der Staat einen Widerspruchsgeist weckt;

d) Auch hier trifft der Staat ... auf wenig Gegenliebe;

e) Zur Vorstellung eines Widerstands gegen die Staatsgewalt, einer ideellen Aufkündigung des gewohnten staatsbürgerlichen Gehorsams führt die in der Privatsphäre akkumulierende Unzufriedenheit;

und die mit dem Staat unzufrieden bis gehorsamsverweigernd sind.

Das Gegenteil ist der Fall!

Abgesehen davon, dass ganz am Anfang des Lockdown die Politiker schon ihr Konzept der Wirtschaftshilfen und zur Kurzarbeiterregelung fix und fertig in der Tasche und vorgestellt hatten, bevor noch irgendeiner der „materiell Geschädigten“ auch nur „A“ sagen konnte. Die Wirtschaft – und zwar die oben und unten – war richtiggehend zufrieden bis erfreut mit „unseren“ Politikern, und sogar die zaghafte Frage danach, ob das alles reicht, kam erst später und dann auch nicht von den Kurzarbeitern (von wegen „die Staatsmacht“ lässt sich darauf ein).

Sicher gibt es die hier beschriebenen „kritischen“ Mitmacher auch, aber der weit überwiegende Teil der Bevölkerung ist damit nicht getroffen. So viel Einigkeit mit und Vertrauen in die Macher der Politik wie im Moment war noch nie. Die Zustimmungsraten gehen durch die Decke und jeder nimmt denen die Lüge ab, dass ihre Politik der Ausbund an Vernunft ist. Noch mehr: Der vorauseilende Gehorsam der Untertanen, die schön daheim bleiben, Abstand halten, Masken tragen und und und erfreut regelrecht die Regierenden, die mit ihrem braven Volk sturzzufrieden sind. (Das kommt z.B. im Artikel gar nicht vor.)

Also, wo ist er denn, der Widerspruchsgeist? (Bestenfalls gibt es jetzt bei den Lockerungen ein Gerechtigkeit einklagendes Gemecker, z.B. die 800qm-Regelung o.ä.)

Im Übrigen nimmt der Artikel an jedem Abschnittsende den fälschlich unterstellten Widerspruchsgeist zurück: ...mit der staatlichen Gesundheitspolitik versöhnt; ...hält sich die unausbleibliche Unzufriedenheit in Grenzen. Ja, was denn nun???

Wieso sollte auch ein Volk unzufrieden mit dem Staat sein, dessen Standpunkt, dass es auf die Volksgesundheit ankommt, doch alle teilen: Gesund bleiben, um arbeiten (und Wachstum mehren) zu können, ist das höchste Gut für Untertanen (nicht Gesundheit sans phrase). Na klar sind die unzufrieden, wenn das nicht geht – aber dass die Einschränkungen nötig, richtig und vernünftig sind, sieht jeder ein. Ihre Unzufriedenheit richtet sich gegen die Situation, die halt mal so ist, nicht gegen den Staat. Der macht ja alles richtig bis super. Das ist der verbreitete Standpunkt.

Aus meiner Sicht hätte der Artikel hier klarer das benennen und kritisieren müssen, was den Leuten so klar als Vernunft, als Notwendigkeit einleuchtet, z.B. dass wir doch unser tolles Gesundheitswesen keinesfalls überlasten dürfen (= es darf nicht notwendig werden, dass so viele Leute beatmet werden müssen, dass die Intensiv-Betten nicht ausreichen. Wenn es bloß 20 000 sind, die kurz vor dem Verrecken sind, dann bekommt unser System das schon noch gemanagt und diese Zahlen sind dann (als Maßstab) voll in Ordnung.

Was für ein gesunder, vernünftiger Standpunkt der Politik!

Antwort der Redaktion

In Teil 2 geht es um den Standpunkt, auf den die Staatsgewalt mit ihren Schutzmaßnahmen bei ihrem Volk trifft, die sie ihm verordnet: Die bürgerlichen Individuen sind wegen ihres instrumentellen Interesses an ihrer eigenen Gesundheit zur Bewährung in der Marktwirtschaft von den Konsequenzen des volksgesundheitlichen Instrumentalismus des Staates selbst schwer getroffen, führen sich dementsprechend auf und erweisen sich bis in die Sphäre der beleidigten Rechthaberei hinein als Produkte der Rollen, die die Rechts- und Wirtschaftsordnung ihnen zuweist: Sie bringen nur ein sehr bedingtes Verständnis für die notwendigen Maßnahmen auf. So sehr sie zu der grundsätzlichen Einsicht imstande sind, dass die Maßnahmen der Politik zur Eindämmung des Seuchengeschehens ‚nun einmal sein müssen‘ und eventuell sogar froh bis überrascht darüber sind, wie viel dem Staat ihre Gesundheit wert ist, so wenig heilt das für sie den Widerspruch, dass der Staat sie damit an der Verrichtung der Notwendigkeiten ihres (Arbeits-)Alltags hindert, denen sie für ihr Leben nachkommen müssen und selbstbewusst nachgehen wollen und nicht können, wenn er ihre Gesundheit auf diese Weise gegen ihre Verwendung schützt. Die sogar gesteigerte Zustimmung, die die Macher für ihr Management der Krise erfahren, belegt keineswegs, dass die den Bürgern damit nicht lauter Nöte verordnen, die sich – je länger, desto mehr – in Ungeduld und Ärger niederschlagen.

Der Autor der Zuschrift liest in den Ausführungen des Artikels eben nicht die Erläuterung, inwiefern und weshalb die Leute keineswegs auf dem Staatsstandpunkt stehen – dessen Standpunkt, dass es auf die Volksgesundheit ankommt, doch alle teilen –, sondern die Behauptung eines widerständigen Aufbegehrens, die er für maßlos übertrieben hält. Er entdeckt lauter Widersprüche in unserem Text, was die Einordnung der Unzufriedenheit auf einer Skala des radikalen Ungehorsams angeht, obwohl es darum überhaupt nicht geht. Dieses ‚Missverständnis‘ kommt dadurch zustande, dass er den Aufsatz von vornherein im Lichte der eigenen Erwartung daran liest, worum es eigentlich zu gehen hätte – und ihm dann vorhält, darin das Vermisste nicht wiederzuentdecken. Was ihm fehlt, ist die üble Nachrede, die Leute würden sich mal wieder als vorauseilend gehorsame Knechtsnaturen aufführen, wie der Staat sie sich braver nicht wünschen könnte. Er hat natürlich auch nichts anderes von diesen Leuten erwartet und mahnt an, sie bloß nicht besser darzustellen, als sie es wirklich sind – kritische Mitmacher will er nur ganz wenige kennen.

Der Autor vermisst bei den zum Zuhausebleiben verdonnerten Knechtsnaturen nicht nur die fällige Unzufriedenheit, er leistet sich dazu den Widerspruch, ihnen zu attestieren, dass sie, so wie sie gestrickt sind, auch gar keine Gründe für Unzufriedenheit haben: Gesund bleiben um arbeiten und Wachstum mehren zu können ist das höchste Gut für Untertanen. Wer vom Leben von vornherein nichts anderes will als eine dienende Rolle fürs Kapital, regt sich über nichts mehr auf und billigt alles, was dafür nötig ist. Von diesem Zerrbild, das der Autor sich von seinen Mitmenschen macht, sollte er Protest und Widerstand dann aber wenigstens nicht auch noch erwarten. Und von uns darf er nicht erwarten, dass wir das von ihm als unmöglich Erkannte leisten: Diesem Konstrukt einer perfekt zur kapitalistischen Ausbeutung passenden Individualität humanistische Empörung einzuhauchen über eine Politik, die tatsächlich auch mit Toten rechnet, wenn sie die Volksgesundheit vor einer Seuche rettet.

Zu 3.

„Das lasse ich mir nicht nachsagen, dass ich für einen besseren Staat wäre, bloß wenn ich feststelle, dass sie schon seit Jahren wissen, dass es die verschiedensten Coronaviren gibt... Sars ... Mers ... Und außerdem lassen sie sich von staatlich beauftragten Naturwissenschaftlern einschlägige Szenarien vorrechnen. Und der Staat, kapitalfreundlich, wie er nun mal ist, und sparsam, lässt es darauf ankommen, statt vorzusorgen für einen Fall, der womöglich gar nicht eintritt. Deswegen gehen die Kranken und Toten auf das Konto des bürgerlichen Staates. Und man kann nicht sagen, sie hätten es nicht wissen können.“

Doch, das sollte sich der Autor dieser Zeilen schon nachsagen lassen, denn – selbstverständlich in Form einer Fehlanzeige – plädiert er für eine gute Aufgabe, die er für die politische Herrschaft wüsste und der die wirkliche nicht nachkommt. Er konstatiert die Unterlassung dessen, was er für angebracht hielte, und zimmert daraus einen Vorwurf, der überhaupt nicht darauf zielt, zu bestimmen, was der Staat warum in Sachen Volksgesundheit unternimmt. Für seine Mängelrüge weiß er einen Grund: Der Staat ist kapitalfreundlich, neigt den Interessen des Kapitals zu, anstatt, darf man wohl annehmen, denen der Menschen. Der Vorwurf lautet auf Parteilichkeit des Staates in der Bewirtschaftung seiner Gesellschaft und mischt sich somit ein in die Abwägungen, die bürgerliche Staatsgewalten in Bezug auf Kosten und Nutzen ihrer Vorsorge für die Volksgesundheit ja tatsächlich unterschiedlich treffen. Darf man fragen, ob der staatliche Standpunkt der Volksgesundheit nicht mehr kapitalfreundlich wäre, wenn die Regierung mehr Masken und Beatmungsplätze in Reserve gehalten hätte? In der harschen Abrechnung mit einer Politik, die zu wenig des Guten tut, steckt eine einigermaßen harmlose Auffassung vom kapitalistischen Staat – an dessen Räson, die Betreuung des kapitalistischen Systems durch eine politische Herrschaft, die sein Funktionieren gegenüber allen Mitgliedern der Gesellschaft erzwingt und gewährleistet, reicht der Vorwurf kapitalfreundlicher Politik jedenfalls bei Weitem nicht heran. Der Kritiker sollte außerdem aufpassen, dass er sich bei seiner Abrechnung mit dem Staat nicht in Allmachtsphantasien der Art verrennt, mit korrekt angewandter politischer Gewalt wäre einfach alles zu bewerkstelligen: Sogar Krankheit und Tod, verursacht durch frisch mutierte Virus-RNA, soll die inzwischen schon verhindern können – wenn sie denn nur wollte...